Das Immunsupprimierte Kind W. Kaulfersch Abt. f. Kinder- und Jugendheilkunde Klagenfurt Unabhängig davon wie wir leben, wie wir essen, wie gut wir auf uns aufpassen, unterliegt unser Körper einer konstanten Attacke von Viren, Bakterien, Parasiten, Pilzen, Krebszellen, Allergenen und Toxinen Ursachen von Infektionen Erhöhte Infektionsanfälligkeit ↓ Physiologisch Pathologisch Physiologische Infektanfälligkeit Alter (Jahre) Respiratorische Infektionen pro Jahr SD Maximum <1 6,1 +/-2,6 11,3 1–2 5,7 +/-3,0 11,7 3–4 4,7 +/-2,9 10,5 5–9 5,5 +/-2,6 8,7 10 – 14 2,7 +/-2,2 7,2 TECUMSEH-STUDIE Altersspezifische Inzidenzen von respiratorischen Infektionen (nach Monto et al. 1971) 8 Infektionen pro Jahr in ersten zwei Lebensjahren 8 Infektionen normal pro Jahr in ersten zwei Lebensjahren normal Ätiologie / Pathogenese • Partielle „Unreife“ immunologischer Funktionen – ↓ T-Zell-unabhängige Immunantwort→ ↑ Anfälligkeit gegen bekapselte Bakterien – Antigen-Unerfahrenheit→ Erkrankung nach Erstkontakt mit ubiquitären Erregern • Anatomische Besonderheiten – Enge der Atemwege und HNO Bereich • Soziale Kontakte (Kinderkrippen/gärten) • Infektionserreger überwindet anatomische und physiologische Barriere Pathologische Infektanfälligkeit: A) Lokale Ursachen Infektionsort Mögliche Ursache Haut Ekzem, Verbrennung, Hygiene Atemwege Mukozilliäre Clearance (Asthma, BPD, CF, Ziliendyskinesiesyndrom) Ösophagotracheale Fistel Bronchiale Fehlbildungen Aspiration (Fremdkörper, GÖR) Sekretorischer IgA-Mangel HNO Adenoide ZNS Neuroporus, Liquorfistel Urogenitaltrakt VUR, obstruktive Abflussstörung, Fehlbildung Pathologische Infektionsanfälligkeit: B) Systemische Ursachen Betroffenes System Mögliche Ursache Primäre Immundefekte (genetisch) B-Zell-Defekte 60% T-Zell-Defekte 30% Phagozytendefekte 5% Komplementdefekte 5% Mehrheitlich männlich < 15. LJ. Sekundäre Immundefekte (erworben) Malnutrition HIV / EBV-Infektion Autoimmunerkrankungen Malignome Zytostatische Therapie Diabetes mellitus 100 verschiedene Immundefekte WHO-Liste Humorale Immundefekte selektiver IgA-Mangel Agammaglobulinämie CVID Geschlechtsprädominanz Transitorische Hypogammaglobulinämie des Säuglings Zellulärer Immundefekte 1:300 – 700 1:50.000 1:50-000 – 200.000 Junge zu Mädchen 5:1 Männer zu Frauen 1:1,4 variabel Isoliert, selten, meist in Kombination mit B-Zelldefekt Phagozyten- und Komplement- selten Defekte Diagnostik bei Verdacht auf Immundefekt Infektanfälligkeit Anamnese/Untersuchung physiologisch pathologisch 1. Allgemeiner Eindruck Gesund Chronischkrank 2. Familiäre Häufigkeit / Konsanguinität - + 3. Infekte -Unerwartete Erreger -Komplizierter Verlauf -Folgeschäden -Schutz vor Reinfekt + + + + - 4. Impfinfekte - + 5. Hypoplasie lymphat. Organe - + 6. Verzögerung von Wachstum und Entwicklung - + 10 Warnzeichen für PI (2 od. > Abklärung!) Jeffrey Modell Foundation Rekurrierende tiefe Haut- oder Organabszesse 66 77 11 8 oder > Otitiden pro Jahr 22 2 oder > schwere Sinusitiden pro Jahr Persistierende Candida Infekte an Haut oder Schleimhaut jenseits des 1. Lebensjahres 2 oder > Monate einer ineffektiven Therapie mit Antibiotika Notwendigkeit für intravenöse Antibiotika um Infekte zu heilen 88 2 oder > Pneumonien pro Jahr 2 oder > tiefsitzende Infektionen (Meningitis, Osteomyelitis, Empyem etc.) 99 Mangelnde Gewichts- oder Größenzunahme Positive Familienanamnese eines primären Immundefektes 33 44 55 10 Hosking-Schema (1977) <8 Punkte keine Diagnostik / >12 Punkte Diagnostik Allgemeine Merkmale Punktzahl Immundefekt in der Familie 10 Klinische Zeichen (Wiskott-Aldrich-S., DiGeorge-S.,Ataxia teleangiect.) 12 Pneumocystis-carinii-Pneumonie 12 Absolute Lymphopenie (< 1.000/mm³) 12 Impfkomplikationen (Polio Sabin, BCGitis) 10 Infektionen/Jahr Punkte/Episode Schwere Erkältungen 2 Pharyngitis, Tonsillitis, Sinusitis 2 Fieber ohne erkennbare Ursache 2 Otitis media 3 Infekte des unteren Respirationstraktes 3 Wässrige Durchfälle im 1. Lebensjahr 4 Superinfizierte Streptokokken-od. Staphylokokkeninfektionen 4 Staphylokokkenabszesse 6 Strukturierte Abklärung bei Infektanfälligkeit Orientierende Labordiagnostik Bildgebung •BSG, CRP •Gesamteiweiß, Albumin •Transaminasen, Cholinesterase •Ev. Gerinnung und Fibrinogen •Ev. Mikrobielle Kulturen •Blutbild und Differentialblutbild •Gesamt-Immunglobuline •Thorax Röntgen •US Abdomen •US Mediastinum •Etc. Unauffällig Auffällig ⇓ ⇓ Klinische Observanz Ad Spezialist Leitsymptome von Antikörpermangelsyndromen • > 6. Lebensmonat (mütterl. Leihimmunität) • Schwere bakterielle und virale Infektionen mit z.T. irreversiblen Residuen • Erreger oft bekapselte Bakterien • Immer Erregernachweis ! • Cave !: Impfpolio (Polio-Sabin) B-Zell-Differenzierung Primäre und sekundäre Immunantwort Screeninguntersuchungen (B-Zellen) • IgG, IgA, IgM, IgE im Serum • IgG-Subklassen 1-4 (schwierig < 2 Jahren) • AB Isohämagglutinine • B-Zell-Zahl (CD 19, CD20, CD27) • Spezifische Antikörper (ggf. nach Impfungen) gegen – Proteine: z.B. Tetanus, Diphterie, Masern, Polio – Polysaccharide: Pneumokokken, Hämophilus Leitsymptome zellulärer Immundefekte • < 6. LM • Lymphatische Organe fehlend oder vermindert • Meist kombiniert mit humoralen Immundefekt • Rezid. Pneumonien, chronische Durchfälle, Gedeihstörungen, BCGitis oder GvH-Reaktion, schwere Infekte mit opportunistischen Keimen, Viren, Pilzen, Pneumozystis-carinii, Varicellen, Herpes simplex, Candidiasis • Hautmanifestationen wie Ekzem, Seborrhoe, Abszesse, Teleangiektasien, Alopezie T-Zell-Proliferation Weitere Untersuchungen (T-Zellen) • Hauttest mit Recall-Antigenen (MultitestMerieux) • Oberflächenmarker – – – – T-Zellen+NK-Zellen (CD2) Reife T-Zellen (CD3) Wichtige Subpopulationen (CD4, CD8) HLA-Antigenexpression • Klasse I: Alle Zellen • Klasse II: B-Zellen, Monozyten – Adhäsionsmoleküle (CD11a, CD18) • Lymphozytentransformationstest – Mitogene: PHA, anti-CD3, ConA, PWM – Antigene: • Fremdantigene: Tetanus, Candidin, Tuberkulin (PPD) • Alloantigene: Gemischte Lymphozytenkultur (MLC) Komplementdefekte Leitsymptome von Komplementdefekten • C1, C4 und C2 Defekte – gelegentlich Infektneigung – Typisch Autoimmunerkrankungen • C1-Inhibitor-Mangel (Dysfunktion) – Hereditäres Angioödem (HANE) • Bei allen anderen Defekten (C5, C6, C7 u. C9) – Bakterielle Infektionen – Meningokokken Untersuchungen für Komplement • CH 50, AP50 (Globaltest der hämolytischen Funktion) • C1-Inhibitor bei Angioödem • Einzelkomplement – CH50 und AP50 normal: keine – CH50=Null, AP50 normal: C1, C2, C4 – AP50=Null, CH50 normal: Properdin, Faktor D – CH50=Null, AP50=Null: C3 – C9 • Kontrolle: selektive in vitro-Rekonstitution durch Zugabe der fehlenden Komponente. Phagozytenstörung Leitsymptome von Phagozytenstörungen • Rezidiv. Infektionen bald nach der Geburt – Stomatitis, Gingivitis, Peridontitis, Dermatitis, Lymphadenitis, Leberabszess, Osteomyelitis, Otitis media, Sinusitis, Pneumonie. • Granulzytopenie und Motilitätsstörungen: – Ulzera und Nekrosen • Störung der Mikrobenabtötung: – Abszessbildung • Entzündliche Zeichen oft schwach • Gram +/- Erreger (v.a. S. aureus) und Pilze Untersuchungen für Granulozyten • Absolute PMNL-Zahl 2 x wöchentlich über 4 Wochen (zykl. N.) – – < 1500/µl Neutropenie < 500/µl Agranulozytose • Ausstrich (Riesengranula) • Bei Neutropenie Suche nach Auto-(Allo)antikörpern • Ohne Autoantikörper: Knochenmarkspunktion • O²¯-Produktion mit löslichem und partikulärem Stimulus • Adhäsionsproteine (LFA-1-Mangel) (CD11a, CD18, CD15s) • Mannose-bindendes Protein • Polymorphismus des FcRIIa (CD32) Nachweis einer HIV-Infektion bei Kindern von HIVinfizierten Müttern in Abhängigkeit vom Alter • Kinder < 18 Monate – Die HIV-Infektion ist bewiesen, wenn HIV in zwei unabhängig voneinander entnommenen Blutproben mittels – PCR, – HI-Viruskultur oder – p24-Antigen nachgewiesen wurde. • Kinder > 18 Monate – Die HIV-Infektion ist bewiesen, wenn HIV-Antikörper beim Kind über das 18. Monat hinaus persistieren. Therapie der Immundefekte Therapie humoraler Immundefekte • 7-S Immunglobuline i.v. lebenslang – IgG Spiegel vor Substitution > 500 mg/dl • Antibiotische Therapie: i.v. • Symptomatische Behandlung – z.B. bei Autoimmunkomplikationen • Substitution C1-Inaktivator im akuten Anfall – Dauertherapie: Danazol, Stanazol Therapie zellulärer Immundefekte • Kausale Behandlung – Stammzellen der Lympho-Hämatopoese wie Knochenmark od. periphere Stammzellen – HLA-identischer Spender – HLA-nichtidentischer Spender (Eltern, Fremdspender) – 50% Überlebenschance • Supportive Maßnahmen – – – – T-Zell Defekt hat gleichzeitig auch Antikörpermangel Defekt 7S-Ig Substitution Infektprophylaxe mit Co-trimoxazol (Pneumozystis carinii !) Bei ADA Mangel – exogene Enzymsubstitution od. Gentherapie Therapie von Phagozytenstörungen • Neutrozytopenie: – G-CSF • Septische Granulomatose: – – – – – Antiinfektiöse Therapie: aggressiv u. gezielt Antimykotische Therapie mit Ampho-B, Itrakonazol lebenslang Co-trimoxazol Prophylaxe Ev. INF-γ s.c. KMT bei HLA identischem Spender • Leukozytenadhäsionsdefekt(LFA-1-Mangel): – KMT Prophylaxe und Therapie der physiologische Infektanfälligkeit • Eine physiologische Infektanfälligkeit bedarf keiner spezifischen Therapie • Eltern beruhigen und aufklären • Jede einzelne Infektion ernst nehmen • Untersuchung und individuelle Behandlung • Wichtige Rolle in der „Erziehung“ des Immunsystems“ • Hygienehypothese Geburt Ältere Geschwister Einzelkind Krabbelstube Stadtleben Landwirtschaft „sterile“ Umwelt Wurminfektionen Mikroben Gesund Hygiene-Hypothese Allergie Asthma Ekzeme Heuschnupfen Stillen: Blick D. ,Br J Midwifery 99;Metaanlyse • Schutzwirkung des Stillens über mindestens 4 Monate bezüglich Abwehr gastrointestinaler Infektionen und Otitis media belegt • Möglicherweise positiver Effekt hinsichtlich Abwehr von Infektionen der unteren Atemwege und Harnwegsinfektionen Kind Mutter Schutz der Schleimhäute Atemweg und Darm Mikroben Nahrungs-Antigene BrustDrüse DarmSH DarmImm.S. Brustmilch Blutgefässe SIgA SIgM Natürliche Schutzfaktoren Immunregulatorische Schutzfaktoren Lymphbahnen DarmDuctusLymphknoten thoracicus Rauchvermeidung: Pereira FA et al. Pediatrics 85 • Passivrauch-Exposition signifikanter Risikofaktor für erhöhte Inzidenz an Atemwegsinfektionen • Bei fehlender Passivrauch-Exposition Inzidenz von Infektionen der oberen und unteren Atemwege um ca. 30% reduziert Vermeidung von Infektionsexposition Fleming et al. Pediatrics 87 • 1/3 der Atemwegsinfektionen durch Kontakt zu anderen Kindern in Kinderbetreuungsstätten und im Haushalt • Fragliche Vermeidbarkeit durch hygienische Maßnahmen • Im Gegensatz zu Rauchen ist Kinderbetreuung aus psychosozialen und ethnischen Gründen bei normal entwickelten und gesunden Kindern ein nichtvermeidbares Risiko • Abwägen des Risikos bei bestimmten Grunderkrankungen Impfungen: STITKO 2001 • Impfungen gehören zu den sichersten und am besten belegten infektionspräventiven Maßnahmen • Hoher (nicht kompletter!) Schutz gegen häufige Infektionserreger • Gerade bei Kindern mit Infektionsanfälligkeit • Bei allen Kindern und v.a. solchen mit chronischen Erkrankungen auch Impfung gegen Influenza, Pneumokokken und Varicellen Roborierende Maßnahmen: Ernst et al. Ann Med 90 • Allgemeinkräftigende Maßnahmen zur „Stärkung“ des Immunsystems – – – – – Sportliche Betätigung Gesunde Ernährung Kneipp-Anwendungen Kalt-Warm-Bäder/Duschen Sauna-Bäder • Keine vergleichenden Studien zum Nachweis der Wirksamkeit (Ernst et al.) • Versuch wert – meist erst bei älteren Kindern/Jugendl. Echinacea-Präparate: Keine Studien bei Kindern – Cochrane Review 2000 • Keine Richtlinien - aber meist verordnete Medikamente • Nicht standartisierte pharmakologisch unterschiedliche Präparate • Verträglichkeit oraler Gaben gut (ev. allergische Reaktionen der Haut); Cave: alkoholische Lösungen bei Kindern ! • Bei Erwachsenen Reduktion der Infekt-Inzidenz von 33% bis 49% im Vergleich zu Plazebo • Bei Kindern Wirksamkeit bisher nicht ausreichend geklärt Vitamin C: Cochrane Metaanalyse – Douglas et al. 2000 • Häufig verwendet zur Therapie und Prophylaxe von Infektionen der oberen Luftwege (Common cold) • Bei Vit. C Dosen bis 1000 mg/Tag kein Benefit, hochdosierte Vit.C Kuren bei Kindern nicht getestet • Inzidenz von Infektionen gleichbleibend, ev. Reduktion der Symptomatik um 8%-9% • Bei normal ernährten Kindern kein Effekt auf Infektionsinzidenz Bakterielle-Extrakte: Bisher keine Metaanlyse, zahlreiche Einzelstudien • Bronchovaxom®, Luivac®, Ribomunyl® etc. • Extrakt aus Bakterien-Lysaten bzw. Ribosomen • Mögliche Wirkung in einigen Studien nachgewiesen. (Reduktion der Inzidenz sowie der Symptomatik um ca. 50%) • 11=Number needed to treat (NNTT) um bei einem Kind von 4 oder mehr Infektionen auf 3 oder weniger zu kommen! • Weitere gut kontrollierte Studien nötig ! Homöopathie: Meta-Analyse (98 Studien) – Linde et al. Lancet 97 • Möglicherweise über einen reinen Plazebo Effekt hinausgehend • Der beschriebene Rückgang des Antibiotikaverbrauches zeigt die Wirksamkeit einer intensiven medizinischen Beratung und Anbindung der Patienten („Shared Decision Making“) bzw. einen Aging-Effekt • Weitere Studien nötig ! ENDE