hammerschläge im ohr - Universitätsklinik für Hals-, Nasen

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bild der wissenschaft 01/2012, S. 93, 28.11.2011, 16:21, HPOLL
MEDIZINTECHNIK
HAMMERSCHLÄGE IM OHR
Bei extremer Schwerhörigkeit versagen selbst
die besten Hörgeräte. Doch ein neuartiges Ohr-Implantat
bringt einen Teil des Hörvermögens zurück.
P. Mosimann
von Christian Bernhart
ES SIND NICHT NUR alte Menschen, die bei
einem Gespräch achselzuckend nicken oder
sich hilflos abwenden, weil sie nichts verstanden haben. Schwerhörigkeit kann auch
junge Menschen treffen – und sich bis zur
völlig Taubheit verschlimmern. Wie bei
Susanna Müller aus Thörigen im Schweizerischen Emmental: Im Alter von 30 Jahren
ließ sie ihr Hörgerät selbst nachts stets auf
höchster Empfindlichkeitsstufe eingeschaltet. Sie hatte Angst, ihre beiden kleinen
Jungs zu überhören, wenn die aus einem
schlechten Traum aufschreckten und nach
ihr riefen. Ihr Mann Walter war womöglich
nicht da, denn als Briefträger stand er bereits um vier Uhr morgens auf und verließ
kurz darauf das Haus.
Die Schwerhörigkeit, unter der Susanna
Müller schon wenige Jahre nach der Schulzeit zu leiden begann, hat einen medizinischen Namen: Otosklerose – eine Erkrankung, deren Ursache noch ungeklärt
ist. Eine Masern-Virus-Infektion oder eine
erbliche Veranlagung könnten die Ursache
sein. Es trifft vor allem Frauen. Viele bemerken die ersten Anzeichen während der
Schwangerschaft. Deshalb ziehen Forscher
auch hormonelle Veränderungen als Auslöser der Otosklerose in Betracht.
ENTZÜNDUNG AM STEIGBÜGEL
Erste Symptome sind leichte Hörprobleme,
die meist schubweise auftreten, manchmal
begleitet von unangenehmen Ohrgeräu-
schen. Dass diese Probleme allmählich bis
zur Taubheit fortschreiten können, beruht
auf einem Entzündungsprozess, der hinter
dem Trommelfell im Mittelohr beginnt. Dort
befinden sich drei nur wenige Millimeter
große Gehörknöchelchen, die durch Muskeln und Bänder miteinander verbunden
sind. Sie verwandeln die akustischen
Schwingungen der Luft in mechanische
Vibrationen, die zur Gehörschnecke im
Innenohr weitergeleitet werden. Die Entzündung durch die Otosklerose beginnt am
heikelsten der drei Gehörknöchelchen: dem
Steigbügel, der über das sogenannte ovale
Fenster direkt mit dem Innenohr verbunden ist. Die Folge: Der Steigbügel verknöchert, sodass die Schwingungen nur noch
schlecht oder überhaupt nicht mehr übertragen werden können. Dieser Prozess ist
nicht zu stoppen und befällt allmählich
auch die Hörschnecke. Dort befinden sich
etwa 16 000 Haarzellen, die die Vibrationen
über die Hörnerven ins Hörzentrum des
Gehirns übermitteln, wo letztlich der Höreindruck entsteht. Schweizer Forscher am
Inselspital in Bern haben nun ein Implantat
entwickelt, das es erstmals ermöglicht, diesem Verfall Paroli zu bieten.
Die heute gebräuchlichen Hörhilfen sind
vor allem gegen Schwerhörigkeit im Alter
gedacht. Sie betrifft meist das Innenohr.
Wenn die durch Verschleiß geschwächten
KOMPAKT
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·
Behutsamer Eingriff: Bevor die Prothese implantiert wird, müssen die Chirurgen am Berner
Inselspital in einer mehrstündigen Operation das Innenohr entsprechend präparieren.
Ein künstliches Gehörknöchelchen
überträgt Schallwellen ins Innenohr.
Das Implantat verstärkt Töne extrem
gleichmäßig und ermöglicht so einen
naturgetreuen Klang – viel besser als
herkömmliche Hörhilfen.
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MEDIZINTECHNIK
Haarzellen dort nicht mehr sensibel genug
auf Bewegungen reagieren, versucht man,
den ins Ohr gelenkten Schall durch kleine
Lautsprecher zu verstärken. Mittlerweile ist
die Technik so weit fortgeschritten, dass sich
beim vollständigen Ausfall der Haarzellen
die Hörnerven in der Schnecke direkt durch
elektrische Impulse anregen lassen. Dafür
sorgen sogenannte Cochlea-Implantate. Für
die recht seltene Otosklerose, an der etwa
12 von 100 000 Menschen erkranken, haben die Ohrchirurgen, die Otologen, andere
technische Lösungen parat: Zunächst wird
der Steigbügel durch einen winzigen Kolben aus Teflon ersetzt – ein operativer Eingriff, der durch den äußeren Gehörgang
erfolgt. Außerdem gibt es Implantate, um
die Bewegungen der Gehörknöchelchen zu
intensivieren.
NUR NOCH BLECHERNER SINGSANG
Auch bei Susanna Müller, die mittlerweile
63 Jahre alt ist, brachten konventionelle
Hörhilfen irgendwann nichts mehr. Sie unterzog sich deshalb vier Operationen, in der
Hoffnung, ihre Kinder und Enkel weiter
verstehen und sich mit ihnen unterhalten
zu können. Ein Cochlea-Implantat im linken
Ohr verschaffte ihr bis vor Kurzem einen
letzten Höreindruck. Telefonieren konnte
die Schweizerin da aber schon nicht mehr.
Besonders bedrückend für die Naturliebhaberin war, dass sie Vogelstimmen über
das Implantat nur als lästige Störgeräusche
oder blechernen Singsang wahrnahm.
Doch seit ein paar Monaten hört Susanna
Müller den Gesang der Vögel wieder als
fröhliches Zwitschern. Und sie kann Gesprächen wieder mühelos folgen. Das neuartige Implantat aus Bern brachte ihr das
Hörvermögen zurück. Die Entwickler bezeichnen das Gerät mit dem Kürzel „DACS“,
das für „Direkte Akustische Cochlea Stimulation“ steht. „Es ist das beste Gerät, das
ich je hatte“, freut sich Susanna Müller. Die
neue Gehörprothese liefert einen viel naturgetreueren Klang als Cochlea-Implantate.
Denn die stimulieren durch elektrische
Impulse lediglich rudimentär die Hörnerven.
Dem DACS gelingt es dagegen, durch verstärkte akustische Schwingungen die Sinneszellen beim natürlichen Hörprozess anzuregen – und die eingeschränkte Beweglichkeit der Haarzellen durch intensive
mechanische Impulse auszugleichen.
Initiator der Entwicklung des Ohr-Implantats war der inzwischen emeritierte Berner
Ohrchirurgie-Professor Rudolf Häusler. Er
suchte nach einer neuen technischen Lösung, weil sich viele Patienten bei ihm über
die schlechte Qualität und die eingeschränkten Möglichkeiten der gebräuchlichen Hörgeräte beklagten und sie außerdem nur ungern außen am Ohr trugen. Häusler arbeitete mit dem Mikrotechniker Hans Bernhard
und dem Elektroingenieur und Audiologen
Christof Stieger vom medizintechnischen
Forschungsinstitut Artorg an der Universität
Bern zusammen. An der Entwicklung des
Implantats beteiligten sich auch die Hörsystem-Hersteller Cochlear und Phonak.
INTENSIVE STIMULATION
DACS setzt dort an, wo konventionelle Hörhilfen und Mittelohr-Implantate systembedingt an Grenzen stoßen. Zum einen überbrückt das Gerät die in ihrer Funktion eingeschränkten Gehörknöchelchen. Dazu regt
ein künstlicher Steigbügel am Eingang des
ovalen Fensters direkt das Innenohr an –
und zwar viel stärker als das die Gehörknöchelchen beim gesunden Menschen tun.
Diese Verstärkung ist nötig, weil die Haar-
Grafik: C. Stieger
TÖNE IM KNOCHENLABYRINTH
Das Ohr ist ein höchst komplexes Organ, das
nicht nur fürs Hören, sondern auch fürs Gleichgewicht zuständig ist. Beim Hören leitet die
knorpelige Ohrmuschel den Schall zunächst
in den äußeren Gehörgang, der in einer
leichten S-Krümmung zum Trommelfell
führt. Dieses Häutchen wird durch Schall
in Schwingung versetzt. Der sogenannte
Hammer, das erste von drei Gehörknöchelchen im Mittelohr, ist direkt mit der
Rückseite des Trommelfells verbunden
und nimmt die Schwingungen auf. Über
Bänder und Muskeln sind die drei Gehör2
knöchelchen Hammer, Amboss und Steig1
bügel miteinander verbunden. Ihre Aufgabe
ist es, die vom Trommelfell aufgenommenen
Schwingungen durch eine Hebelwirkung
zu verstärken und ins Innenohr zu leiten.
Dazu ist der Steigbügel direkt mit dem ovalen
Fenster des Innenohrs verknüpft.
Die schneckenartige Form des Innenohrs ist
funktionsbedingt. Das Innenohr ist ein aufgerolltes
Knochenlabyrinth mit einem verzweigten System von Gängen und
Hohlräumen. Darin werden die akustischen Schwingungen physi-
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kalisch registriert. Dazu erzeugt der Steigbügel über das ovale
Fenster in der Innenohr-Flüssigkeit eine Wellenbewegung, die sich
über den oberen Gang des Innenohrs bis zu Schneckenspitze
fortpflanzt. Von dort breitet sich die Strömung durch den unteren
Gang fort. Zwischen oberem und unterem Gang befindet sich
ein dritter Hohlraum, dessen Membranen die Vibrationen aufnehmen. Rund 16000 Haarzellen reagieren sensibel auf kleinste
Bewegungen und leiten die Signale über Neuronen zum
Hörnerv weiter. Die hohen Frequenzen
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werden beim Eingang und
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die tiefen an der Spitze der
Hörschnecke, der Cochlea,
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registriert. Über die Schne4
ckenspindel leitet der Hör7
nerv die Signale über die
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verzweigte Hörbahn weiter
zum Gehirn, wo schließlich der akustische Eindruck entsteht.
Ohr mit Hörstationen und Implantat: 1 Ohrmuschel,
2 äußerer Gehörgang, 3 Innenohr-Implantat (DACS),
4 Gehörknöchelchen, 5 Innenohr, 6 Hörschnecke (Cochlea) mit
Haarzellen, 7 Mittelohr, 8 ovales Fenster, 9 Trommelfell
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bel mit dem Aktor verbunden ist. Durch die
Kopfhaut oberhalb des Ohrs leitet nun der
Audioprozessor die Signale an den Empfänger weiter. Noch während der Narkose erfolgte der erste Testlauf des Implantats.
P. Mosimann (2)
Filigrane Technik: Ein
1,4 Zentimeter langer und
knapp 4 Millimeter dicker
Aktor aus Teflon (Bild
oben, links) im Implantat
klopft gegen den Eingang
zum Innenohr. Ein Mikrofon (rechts) nimmt die
Töne hinter dem Ohr auf.
Unten: Susanna Müller
hatte bereits vier OhrOperationen hinter sich,
als sie sich an die Experten in Bern wandte. Während andere Hörhilfen
der Oteosklerose-Patientin kaum nützten, kann
sie mit dem neuen Implantat wieder mühelos
Gesprächen folgen.
zellen im Innenohr, die durch die Erkrankung bereits in Mitleidenschaft gezogen
sind, intensiver stimuliert werden müssen,
damit sie in Aktion treten. Zum anderen
wandelt DACS den Schall – anders als
herkömmliche Hörhilfen – nur einmal um,
bevor die Signale ins Innenohr gelangen.
Wie bei einem konventionellen Gerät
nimmt ein Mikrofon hinter dem Ohr den
Schall auf, den ein Audioprozessor verstärkt. Doch während ein Hörgerät den
verstärkten Schall über einen kleinen Lautsprecher durch den äußeren Gehörgang
zum Trommelfell schickt, setzt DACS die
akustischen Wellen direkt in mechanische
Bewegung um. Bei gesunden Menschen bewegen sich die Gehörknöchelchen, die vom
Trommelfell angeregt werden. Beim Berner
Ohr-Implantat erledigt das ein winziger
Aktor. Er erzeugt Wellen in der InnenohrFlüssigkeit, die die Haarzellen anregen.
Da die menschlichen Gehörknöchelchen nur
4 bis 8 Millimeter groß sind und der Aktor
deshalb ebenfalls klein sein muss, waren
die Anforderungen an die Präzision des filigranen Geräts enorm. Den Schweizer Ingenieuren ist es gelungen, einen geeigneten
Aktor mit einem Durchmesser von 3,6 und
einer Länge von 14 Millimetern zu entwerfen. Damit er sich so hinter dem äußeren
Gehörgang fixieren lässt, dass die kleine
Koppelstange bis ins Innenohr reicht, muss
dort zunächst Platz geschaffen werden. Dazu ist ein operativer Eingriff erforderlich,
der drei bis fünf Stunden dauert.
KNOPFGROSSER EMPFÄNGER IM OHR
In einem speziell eingerichteten Operationssaal des Berner Inselspitals nahm der Chirurg Marco Caversaccio, der Nachfolger
Rudolf Häuslers als Leiter der Universitätsklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten (HNO), Kopf- und Halschirurgie, diese Operation bei Susanna Müller vor. Nachdem er ihr Innenohr in aufwendiger chirurgischer Feinarbeit entsprechend präpariert
hatte, machte er den knopfgroßen Empfänger am äußeren Gehörgang fest. Dort fixierte Caversaccio das Bauteil, das über ein Ka-
Die Vorteile des DACS haben sich inzwischen in ganz Europa herumgesprochen. In
einer Studie, an der sich mehrere medizinische Institute beteiligt haben, sind die Geräte bei 20 schwerhörigen Menschen implantiert worden – 8 davon durch Thomas
Lenarz, Direktor der Hals-Nasen-OhrenKlinik an der Medizinischen Hochschule
Hannover. Er ist überzeugt, dass das neue
Implantat dank seiner technischen Überlegenheit nicht nur Otosklerose-Patienten
zugutekommt: „Es ist die erste Methode, die
es ermöglicht, Patienten mit einer hochgradigen kombinierten Schwerhörigkeit des
Mittel- und Innenohrs zu behandeln.“
Herkömmliche Hörhilfen mit Lautsprechern
geben laute Töne oft verzerrt wieder, zudem lassen sich mit ihnen hohe Töne nur
bis zu einer Frequenz von maximal 5000
Hertz wahrnehmen. „Bei dem Berner Implantat erfolgt die Verstärkung dagegen
gleichmäßig über alle Frequenzen bis
10 000 Hertz“, betont Hans Bernhard, der
über die Entwicklung des Implantats an der
Eidgenössischen Technischen Hochschule
Lausanne promoviert hat. Diese Gleichmäßigkeit sorgt für einen guten Klang – Kinderlachen und Vogelstimmen hören sich
wieder ganz natürlich an.
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CHRISTIAN BERNHART berichtet in bdw regelmäßig über
neue Entwicklungen in der
Medizintechnik. Zum Glück
hat er ein gutes Gehör.
MEHR ZUM THEMA
INTERNET
Uniklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten am Inselspital Bern: hno.insel.ch/de
Deutscher Gehörlosen-Bund:
www.gehoerlosen-bund.de
Schweizerischer Verband Fachhilfe Gehörlosenorganisationen: www.sonos-info.ch
Österreichischer Gehörlosenbund:
www.oeglb.at
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