Psychologie und Psychiatrie für ZahnmedizinerInnen 03.12.14 Robert Hämmig Leitender Arzt Schwerpunkt Sucht Universitäre Psychiatrische Dienste Bern Zusammenfassung • 41-jährige Ärztin • Psychiatrisiert nach Intoxikation mit Fentanyl-Pflaster • Berichtet von einer Dextromethorphan (Bexin) Abhängigkeit • Früher Tramadol Abhängigkeit und stationäre Suchtbehandlung 2 Zusammenfassung • 1. Arbeitshypothese – Patientin leidet unter einer Suchtstörung • Fragen – Wie ist die Störung in ihrem persönlichen Kontext zu positionieren? – Besteht eine psychiatrische Co-Morbidität? – Suizidalität: ist die Intoxikation als suizidale Handlung zu beurteilen? 3 Fall • Die Patientin erzählt: – Sie ist als wohlbehütetes Einzelkind aufgewachsen – In der Schule war sie eher verträumt, keine Probleme mit dem Unterricht, wenig gefordert – Medizinstudium hat sie nach einem Unterbruch erfolgreich abgeschlossen – WB bis zur Fachärztin hat 10 Jahre gedauert 4 Kurzcharakteristik der PatientInnen • Anamnese – – – – – Familienanamnese Lebensgeschichte der PatientInnen Primärpersönlichkeit somatische Anamnese psychiatrische Anamnese • Befund – psychischer Befund – somatischer Befund – weitere Befunde • Beurteilung und Diagnose 5 Biographie / Anamnese • Äussere Biografie: „harte“ Fakten (grundsätzlich überprüfbar/objektivierbar) – – – – – – – – – Schwangerschaft Geburt Kindergarten Schulen Studium/Lehre Militär Berufswahl Beruf/Arbeit Arbeitslosigkeit 6 Biographie / Anamnese • Innere Biografie: „weiche“ Fakten (Empfindungen, nur teilweise verifizierbar) – – – – – – – – – Erwünschtheit frühkindliche Entwicklung Primordialsymptome, Neurotizismen Bezugspersonen, Erziehungsstil Erleben von Zärtlichkeit Pubertät, Geschlechtsrolle Freunde, Peer Group Reaktionen auf Verlust/Kränkungen Umgang mit Besitz, Ehrgeiz, Ordnung Allgemeines Lebensgefühl Religion, Hobbies, Interessen 7 8 Fall • Patientin erzählt weiter: – Seit ein paar Jahren ist sie Oberärztin in einem Spital – Die Arbeit mit Pat. gefällt ihr und fällt ihr leicht – Mit administrativen Sachen ist sie ständig im Verzug, im Büro herrscht Chaos – Sie liebe ihre Arbeit, hat Angst die Stelle zu verlieren 9 Fall • Und weiter: – Seit Jahren leide sie unter inneren Spannungen – Als Assistenzärztin habe sie einmal Tramal® eingenommen, das habe sie sehr entspannt → regelmässige Einnahme – Seit einiger Zeit vollständiger sozialer Rückzug, einziger Bezug: Partner 10 Fall • … und: – Ihre Situation bedrücke sie sehr – Ihre Gedanken kreisten ständig darum, wie es weiter gehen soll (mit ihrer Sucht, mit ihrer Arbeit), habe Zukunftsängste – An Selbstmord denke sie hin und wieder, habe aber keine konkreten Pläne – Sie schlafe schlecht, habe wenig Appetit – Im gesamten fühle sie sich nicht wohl 11 Fall • Ergänzungen der Pat.: – Sie glaube, sie sei ein bisschen „Borderline“ – Sie stehe unter einer neuropsychologischen Abklärung wegen ADHD – Sie befürchte von der Fentanylüberdosierung einen bleibenden Hirnschaden davon getragen zu haben 12 Psychischer Befund Äussere Erscheinung, Verhalten und Motorik Sprechverhalten, Sprache Bewusstsein und Vigilanz Orientierung Aufmerksamkeit und Gedächtnis Formales Denken Affektivität Befürchtungen, Ängste und Zwänge Wahn Sinnestäuschungen Ich-Störungen 13 Äussere Erscheinung, Verhalten und Motorik • • • • Habitus, körperliche Auffälligkeiten Kleidung, Selbstpflege Verhalten gegenüber dem Untersucher Motorik: – Gangbild, Begleitbewegungen – Sitzen – Bewegungsmuster (Tremor, Zittern etc.) – Mimik, Gestik 14 Sprechverhalten, Sprache • Sprechen – – – – – – – Menge Lautstärke, Betonung Artikulation Geschwindigkeit Rhythmus Emotionaler Gehalt Latenz (Pausen) • Sprachdefizite – – – – Verstehen, Repetieren, Formulieren Sprachfluss, grammatikalische Korrektheit Sinngehalt Lesen 15 Bewusstseinsstörungen • Quantitativ – – – – Benommenheit Somnolenz Sopor Koma • Qualitativ – Bewusstseinstrübung – Bewusstseinseinengung – Bewusstseinsverschiebung / Bewusstseinserweiterung 16 Orientierungsstörungen • • • • Zeitliche Orientierungsstörung Örtliche Orientierungsstörung Situative Orientierungsstörung Orientierungsstörung zur Person 17 Formale Denkstörungen • • • • • • • Hemmung Verlangsamung Umständlichkeit Einengung, Grübeln Perseveration Ideenflüchtiges / sprunghaftes Denken Sperrung des Denkens / Gedankenabreissen • Inkohärenz / Zerfahrenheit – Verlust des logischen Zusammenhangs – Begriffsverschiebung, Begriffszerfall, Gedankendrängen • Vorbeireden 18 Affektivität • Affektarm • Ratlos, deprimiert, hoffnungslos, ängstlich, euphorisch, dysphorisch, gereizt, innerlich unruhig, klagsam • Parathym • Affektlabil, affektinkontinent • Gestörtes Vitalgefühl, Insuffizienzgefühl, gesteigertes Selbstwertgefühl 19 Befürchtungen, Ängste und Zwänge • • • • • Misstrauen Hypochondrie Phobien Zwangsgedanken Zwangshandlungen 20 Wahn • Formale Aspekte – Wahnwahrnehmung (Wahrnehmung mit abnormer Bedeutung) – Wahneinfall (plötzliche wahnhafte Überzeugung) – Wahngedanken (Verfestigung im Denken) – Systematischer Wahn (vernetzte Wahngedanken) – Wahndynamik (emotionale Beteiligung) • Inhaltliche Aspekte – Beziehungswahn, Beeinträchtigungs- oder Verfolgungswahn, Eifersuchtswahn, Schuldwahn, Verarmungswahn, hypochondrischer Wahn, Grössenwahn, andere Wahninhalte 21 Sinnestäuschungen • Illusion (Fehldeutung von Sinneseindrücken) • Pseudohalluzination (Fehlwahrnehmung als solche erkannt) • Halluzination – – – – Stimmenhören Optische Halluzinationen Körperhalluzinationen Geruchs- & Geschmackshalluzinationen 22 Ich-Störungen • Depersonalisation (Störung der Identität) • Derealisation (Umgebung als fremd erlebt) • Gedankenausbreitung (Gedanken gehören nicht mehr der Person) • Gedankenentzug („gestohlene“ Gedanken) • Gedankeneingebung (Gedanken von aussen beeinflusst) • Andere Fremdbeeinflussungserlebnisse (Fühlen, Handeln, Wille) 23 Fall • Befund: – Gepflegte, altersentsprechend aussehende Frau. Wirkt gespannt. Freundlich zugewandt – Flüssige Sprache – Bewusstseinsklar – Allseitig orientiert – Konzentriert auf die Untersuchungssituation, Gedächtnis ungestört – Keine Störung des formalen Denkens, Gedankengang flüssig 24 Fall • Befund (Fortsetzung) – Wirkt ratlos, etwas herabgestimmt, innerlich unruhig, beeinträchtigtes Vitalgefühl – Befürchtet einen Hirnschaden von der Überdosierung erlitten zu haben, Zukunftsängste – Kein Wahn – Keine Sinnestäuschungen – Keine Ich-Störungen 25 Fall: Arbeitshypothesen • • • • Suchtstörung Depression ADHD im Erwachsenenalter Keine Persönlichkeitsstörung („Borderline“) • Intoxikation: eher «Betriebsunfall», nicht Suizidversuch 26 Interviewer Fähigkeiten und modifizierende Faktoren • • • • • Einleiten des Interviews Interview als klinische Prozedur Fragebogen Notizen machen Wichtigkeit von eingeschränkten Aktivitäten • Themenwechsel • Fragen stellen 27 Fragetypen • Offene Fragen (Eröffnungsfrage (z.B. „Wie geht es Ihnen?“, bei Problemen, die den Patienten emotional bewegen) • Gezielte Fragen (genauere Exploration von Beschwerden und Problemen) • Geschlossene Fragen (exakte Symptomexploration, Notfallsituation) • Suggestive Fragen (nicht verwenden!) 28 Erzählung des Patienten unterstützen: spezifische Interview Techniken • • • • • Distanz wahren Rapport herstellen Unterstützen Interpretation Zusammenfassen 29 Nicht-verbale Kommunikation • Berührung • Körpersprache – Depression – Ärger und Feindlichkeit – Angst • Kleidung und persönliche Hygiene • Schweigen 30 Schwachpunkte der Gesprächsführung • • • • Unterbrechen Mangelnde Strukturierung Einengung des Patienten Nichteingehen auf emotionale Äusserungen • Unklare und missverständliche Erklärungen 31 Kommunikation • Lateinisch communicare „teilen, mitteilen, teilnehmen lassen; gemeinsam machen, vereinigen“ • Aufnahme, Austausch und Übermittlung von Informationen zwischen zwei oder mehrerer Personen • wechselseitige Übermitteln von Daten oder von Signalen 32 33 Signale • • • • • Sprache Gestik Mimik Schrift, Bild oder Musik Autonome Signale • Um die Signale zu verstehen, braucht es eine gemeinsame Basis -> Kultur 34 Autonome Signale • Erröten (Schamröte, Zornesröte) • Erblasen (Angst, Zorn) • Pupillenreaktion • Zittern • Schwitzen • Geruch • etc. 35 Süditalienisches „Nein“ Desmond Morris: Der Mensch mit dem wir leben. Droemer Knaur 1978 36 Barriere-Signale Desmond Morris: Der Mensch mit dem wir leben. Droemer Knaur 1978 37 Abstand Desmond Morris: Der Mensch mit dem wir leben. Droemer Knaur 1978 38 Amygdala: die unbewusste Prüfstelle 39 Little shop of horrors (Frank Oz, 1986) 40 Strukturelle Probleme • Asymmetrien in der Kommunikation: – Begrüssung im Normalleben stehend mit Augenkontakt – Nähe und Distanz – Vermittlung von komplexen technischen Erklärungen durch Experten an Laien – Verbale Kommunikation durch Behandlung dem Patienten unmöglich – „Verkleideter“ Experte und „normal“ gekleideter Patient 41 Hinweise • Machtgefälle abbauen – im Dienste einer besseren Kooperation (compliance, adherence) – zur Angstreduktion • Gespräch im Sitzen mit gleicher Augenhöhe vor der Behandlung • Überprüfen, ob die Botschaft angekommen ist 42 Subjektive Faktoren der Wahrnehmung • Selektion • Generalisierung • Kategorisierung 43 Wahrnehmung: lernbar 44 Psychiatrie • Wahrnehmung des Untersuchers hat eine Schlüsselfunktion • Probleme: – Quantifizierung – Qualifizierung 45 Quantifizierung • Ausschaltung des „Wahrnehmungsfehler“ durch vom Untersucher unabhängige Psychologische Testverfahren 46 Qualifizierung • Begriff der Normalität • Wo liegt die Grenze zwischen Normalität und Abnormalität? 47 48