Pressezentrum Dokument: Sperrfrist: Freitag, 15. Juni 2001; 13:00 Uhr Programmbereich: Themenbereich 1: In Vielfalt glauben Veranstaltung: Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen Jüdisches Museum Referent/in: Prof. Dr. Martin Stöhr, Bad Vilbel Ort: Jüdisches Museum, Untermainkai 14-15 1/080 CO Leo Baeck und der Protestantismus Emil L. Fackenheim zum 85. Geburtstag am 17. 6. 2001 Der Zivilisationsbruch (Dan Diner) von Auschwitz ist auch ein Bruch in allen Wissenschaften; die protestantische Theologie nicht ausgenommen. Noch sind die Wissenschaften erst anfangsweise dabei, den Bruch wahrzunehmen und zu bearbeiten. Ein glänzender Vertreter der protestantischen Theologie, Adolf von Harnack, hat in ebenso unerhörten, aber sehr wohl gehörten, weil traditionell vertrauten Worten an diesem Bruch mitgearbeitet, der das Judentum wieder einmal als dunkle Folie des Christentums ausmalte. Das Erbe des 19. Jahrhunderts Hermann Cohen, neukantianischer Philosoph in Marburg, hatte 1880 gehofft, „dass es uns allmählich gelingen würde, in die ‘Nation Kants’ uns einzuleben“. 1 Aber, so schreibt er angesichts des deutschnationalen, christlichen Antisemitismus : „Es ist doch wieder dahin gekommen, dass wir bekennen müssen.“ Er vermeint, anders als Baeck später, auf gemeinsamem Boden zu stehen mit den „Männern einer nationalen Gesinnung, die von dem geistigen Inhalt nationaler Cultur erfüllt ist,“ deshalb „wage ich zu bekennen: dass ich in dem wissenschaftlichen Begriff der Religion zwischen dem israelitischen Monotheismus und dem protestantischen Christentum eine Differenz nicht zu erkennen vermag.“ Beide sind charakterisiert durch die „Ideen der Geistigkeit Gottes und der messianischen Verheissung“, also durch das „Wesen der Gottheit „ und „die geschichtliche Aufgabe, das sittliche Ideal des Menschengeschlechts.“2 Gershom Scholem charakterisiert das Judentum der Harnack – Zeit folgendermaßen: „Die Schattierungen im Religiösen reichten von betont jüdischer Religiosität im Sinne der liberalen jüdischen Theologie, also eines Festhaltens am monotheistischen Gottesglauben und an der prophetischen Ethik ziemlich puritanischer Färbung – jedoch unter Aufgabe des jüdischen Rituals – bis zur religiösen Indifferenz.“ 3 Der Protestantismus ist religiös ähnlich vielfältig, nur durchzieht ihn, wie Katholizismus und Orthodoxie, in den Darstellungen seines eigenen Selbstverständnisses sein Verständnis von Judentum als sei es auch dessen Verständnis von sich selbst. Diese definitorische Gewalt hört nicht hin, weiß aber doch Bescheid. So wird Judenverachtung gefördert.4 1 Aus: Walter Boehlich (Hg), Der Berliner Antisemitismusstreit.Frankfurt 1965. S. 124. a.a.O. S.127. 3 Gershom Scholem, Judaica 4 (Hg R. Tiedemann) Frankfurt/Main 1984. S. 238. 4 Vgl. Uriel Tal, Christians and Jews in Germany: Religion, Politics, and Ideology in the Second Reich 1870 – 1914. Ithaca/London 1975. Ders.,Theologische Debatte um das "Wesen des Christentum". In: Werner E. Mosse(Hg), Juden im Wilhelminischen Deutschland 1890 – 1914. Tübingen 1976, S.599 – 632. Zur Text wie von Autor/in bereitgestellt. 2 Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. 2 Das 19. Jahrhundert brachte jene grossen Gestalten im Judentum und im Christentum hervor, die Gelehrsamkeit in mancherlei Wissenschaften in einer oft sehr eigen geprägten Verankerung in ihrer jeweiligen Religion verbanden. Dazu gehören Leo Baeck ebenso wie Adolf von Harnack. Der in der christlichen Mehrheitsreligion Lebende nahm keine Notiz von dem Landsmann in der jüdischen Minderheitsreligion. Gleichberechtigung gab es de jure, aber noch lange nicht de facto. Das 19.Jahrhundert bringt neben dem Aufschwung der Wissenschaften und der Industrie auch eine wuchernde Blütezeit des Antisemitismus. War Judenfeindschaft bisher weitgehend religiös begründet, so äußerte sie sich jetzt sowohl in einem „Radau-Antisemitismus“ 5 auf den Straßen wie in einem Antisemitismus der Intellektuellen. Der Orientalist Paul de Lagarde in Göttingen zog aus seinem glühenden Judenhass die Aufforderung: „Es folgt für Deutschland, dass die Juden aus Deutschland auswandern, oder in ihm Deutsche werden müssen. Für „Palästina ist kein Raum in Deutschland“. Ein Deutscher war Christ oder er war kein Deutscher.6 Für Julius Langbehn, den „Rembrandtdeutschen“, bestand das Feindbild aus Juden, Freisinnigen und Sozialdemokraten. Die Juden sind für ihn „Talmudisten, Börsenjobber und Reporter.“ „Ihre Moral ist nicht die unsere. Sie würdigen Kunst und Wissenschaft herab. Sie sind demokratisch gesinnt; es zieht sie gern zum Pöbel.“7 Demokratieverachtung verbündet sich mit Nationalismus und Antisemitismus, der seine „schlagenden“ Argumente jetzt aus der Politik, der Ökonomie und immer wieder aus völkischen und rassistischen Einstellungen holt. Richard Wagners Schwiegersohn, der eingedeutschte Brite Houston Stewart Chamberlein, veröffentlicht 1899 „Die Grundlagen des XIX. Jahrhunderts“. Er bestimmt den Gegensatz von Ariern und Juden rassistisch. Der Kaiser war von diesem Buch entzückt, las es persönlich den Damen des Hofes vor und befahl Chamberlein wie Harnack zum Gespräch. Chamberlein schreibt an Cosima Wagner, Harnack „sei fast in jedem Punkt Opposition gewesen.“ Nur Chamberleins Goethe – Buch schätzte Harnack. 8 Heinrich von Treitschke, Historiker an der Berliner Universität, machte ein Schlagwort populär: „Die Juden sind unser Unglück.“9 Sein Kollege Theodor Mommsen widersprach leidenschaftlich. Er und Adolf Harnack wurden nicht nur wissenschaftliche Kollegen, sondern auch in der Abwehr des Antisemitismus Mitstreiter. Mommsen nannte Treitschke den „rechten Propheten“ des „ Wahns, der jetzt die Massen erfasst hat“. 10 Dem Freund Mommsen hielt Harnack 1903 die Predigt am Grabe, in der er dessen „unerbittlichen Wahrheitssinn“ unterstrich 11 Quer durch alle Volksschichten arbeitete der frühere Hofprediger Adolf Stoecker an der Umsetzung des Wortes von H.von Treitschke. Für ihn waren die Juden ein Fremdkörper im Leib des Christentums wie des Germanentums. 12 Als Sozialreformer verknüpfte er, nicht erst als der Kaiser ihn entlassen hatte („Christlich – sozial ist Unsinn!“) den überlieferten christlichen Antijudaismus mit Antisozialismus und Nationalismus. Es gelang Stoecker einige Jahre Präsident des Evangelisch – Sozialen Kongresses, einer Vereinigung von sozial engagierten Ökonomen und Theologen, zu sein. 1896 wurde er abgewählt. Harnack, der Gesamtthematik vgl. die materialreiche, im Blick auf das Luthertum ein wenig apologetische Darstellung von Walter Homolka, Jüdische Identität in der modernen Welt. Leo Baeck und der deutsche Protestantismus. Mit einer Einleitung von Albert Friedlander. Gütersloh 1994. 5 Eleonore Sterling, Er ist wie du. Frühgeschichte des Antisemitismus. München 1956. 6 Paul de Lagarde: Deutsche Schriften. Göttingen 1903.4.Aufl. S. 408 f. 7 Rembrandt als Erzieher. Leipzig 1891. S. 284. 8 Agnes von Zahn-Harnack, Adolf von Harnack. Berlin 1951. S. 272. Zur Biographie vgl. Winfried Döbertin, Theologe, Pädagoge, Wissenschaftspolitiker. Frankfurt/M ua 1985. Materialreich: Adolf von Harnach als Zeitgenosse 2Bde. Berlin 1996. 9 Walter Boehlich, S. 11. 10 a.a.O. S. 214 11 Erich Fascher, Adolf von Harnack. Grösse und Grenze. Berlin 1962. S. 35. 12 W. Jochmann, G. Brakelmann, Martin Greschat, Protestantismus und Politik. Werk und Wirkung Adolf Stoeckers. Hamburg 1982. Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. 3 später sein Nachfolger wurde, kommentierte diesen Vorgang eindeutig: „Den Antisemitismus auf die Fahnen des evangelischen Christentums zu schreiben ist ein trauriger Skandal.“ 13 II Adolf von Harnack Das Jahr 1900 markiert mit Nietzsches Tod und der beginnenden Zubereitung seines Nachlasses (durch seine antisemitische Schwester Elisabeth Foerster-Nietzsche) zu einem sozialdarwinistischen „Willen zur Macht“ von Übermenschen über Herdenmenschen und mit Nietzsches Wort gegen den Dekalog „Zerbrecht die alten Tafeln!“ mit vielen den Eintritt in ein mörderisches Jahrhundert. An diesen Anfang gehört auch Harnacks Vorlesung „ Das Wesen des Christentums“ vor 600 Hörern aller Fakultäten. Es war eine brillante Vorlesung, aber voll unreflektierter christlicher Antijudaismen. Sie zeigt, daß wissenschaftliches Denken nicht folgenlos ist, zumal das Erbe des 19. Jahrhunderts nicht nur durch Antisemitismus, bestimmt war, sondern auch durch eine kirchliche Wirklichkeit, die Dietrich Bonhoeffer, der 1930 bei der Gedenkfeier für Harnack in der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft für Harnacks Schüler sprach, folgendermaßen beschreibt: „Für den wilhelminischen Staat und seine Gesellschaft waren Kirche und Theologie vornehmlich unter drei Gesichtspunkten interessant: 1. pädagogisch: Kirche war einer der wichtigsten Garanten des Staates. 2. geistig: Religion galt als feinstes Produkt menschlicher Geistigkeit. 3. historisch und psychologisch: Religion war unter diesem Aspekt ein hervorragender Gegenstand der Wissenschaft“.14 In diese Welt wurde Adolf Harnack 1851 in Dorpat (Estland) als Sohn eines baltendeutschen Theologieprofessors geboren. Er begründet seinen Entschluß, Theologie zu studieren seinem Freund Stintzing: „Ich weiss nicht, ob du zu denen gehörst, die auf alles, was Religion und Theologie heisst, mit Verachtung oder doch mit Gleichgültigkeit hinuntersehen. Allein, mag man das Christentum auch ansehen wie man es wolle; ja auch zugegeben, es sei ein Irrtum; ist es dann nicht von dem größten Interesse. Der Geschichte dieses Irrtums nachzugehen und sich zu überzeugen, welche weltbewegenden Ereignisse, Umwälzungen diesen Irrtum hervorgerufen hat, in welche ungewohnten Bahnen er den Geist der Jahrhunderte gelenkt hat, wie er unsere ganze heutige Kultur und Bildung durchzogen hat und untrennbar von ihr ist.... Nicht eine Fülle fertiggemachter Glaubenssätze begehre ich, sondern jeden einzelnen Satz in dem Gewebe will ich mir selbständig produzieren und zu eigen machen.“15 Unbedingte Wahrheitsliebe, Ernstnehmen von Zweifel und Kritik sowie Eigenständigkeit des Urteils sprechen aus diesem Brief. Sie werden später von Freunden und Gegnern einhellig gelobt. Dorpat und Leipzig sind seine Studienorte. Eine erste Berufung nach Leipzig scheitert am Einspruch der Sächsischen Kirche. Keine Kirche wird ihn in den Prüfungsausschuß für die zukünftigen Pfarrer und Lehrer berufen. Gießen und Marburg bieten ihm, im liberalen Preußen, seine ersten Professuren. 1888 wird er nach Berlin berufen. Die evangelische Kirche versucht das zu verhindern, da er in der Zweinaturen – und in der Trinitätslehre sowie in Fragen der Wunder nicht den Normen traditioneller Lehrsätze entspricht. Er durchstößt die zeitgebundenen „Schalen“und legt sie auf ihren „Kern“ hin aus. Nur so sei heute das Christentum glaubwürdig zu vertreten. Schließlich mußten Bismarck und der Kaiser („Ich will keine Mucker“) die Berufung durchsetzen. Seine konservativen Gegner erreichten eine Parallelprofessur, die mit dem Schweizer Adolf Schlatter besetzt wurde. Im Blick auf die Ausgrenzung des nachbiblischen Judentums durch die Kirche dachte dieser nicht anders als sein liberaler Kollege. Bekannt geworden war Harnack durch seine Dogmengeschichte, die 1888 in 2. Aufl. erschienen 13 Fascher S. 26 Dietrich Bonhoeffer, Ges. Schriften Bd 5. S. 184. In dieser Vorlesung über die Theologiegeschichte des 20. Jahrhunderts behandelte Bonhoeffer, wahrhaftig keine Selbstverständlichkeit, auch die liberale jüdische Theologie und Philosophie des ersten Drittels des Jahrhunderts. 15 Agnes von Zahn-Harnack S. 23 Text wie von Autor/in bereitgestellt. 14 Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. 4 war. 16 In diesem stilistisch wie inhaltlich reichen Buch sind jene Aussagen über das nachbiblische Judentum enthalten, die Harnack nicht einer Kritik aussetzt und die Leo Baeck dogmatisch nennt. Dort heißt es z.B.: „Aus der positiven Stellung, in welche Jesus sich zu dem Judentum, d.h. zu der religiösen Überlieferung seines Volkes, gesetzt hatte, empfing das Evangelium seinen Halt“ – gegen antiken Enthusiasmus, gegen Gnosis und Polytheismus. Aus der positiven Verbindung Jesu mit seinem Volk sieht Harnack ein Problem erwachsen, nämlich die „Aufgabe, eine Theorie der Offenbarungsvermittlung zu ersinnen und damit den Unsicherheiten ein Ende zu machen....Diese Theorie barg, wie jede Theorie der Religion, die Gefahr in sich, die Kraft des Glaubens zu lähmen, denn die Menschen finden sich gern durch eine religiöse Theorie mit der Religion ab.“ Man mußte „die jüdische Kirche verlassen“, denn „das Evangelium war eine Botschaft an die Menschheit.“ Die „jüdische Kirche“, das jüdische Volk wurde als partikularistisch und national begrenzt dargestellt. So wird – aus einer ersonnenen Theorie, wie Harnack ehrlicherweise sagt – die Kirche zum „wahren Israel“. „Die jüdische Kirche aber, verharrend in ihren Unglauben, ist die Synagoge des Satans.“17 Harnack fügt noch hinzu, die inhaltliche Gemeinsamkeit unterstreichend und die Notwendigkeit zur Trennung behauptend: „Ein religiöser Glaube, der sich eine Gemeinschaft im Gegensatz zu anderen Gemeinschaften gründen will, ist doch genötigt, von diesen, was er braucht, zu entlehnen.“ 18 Dies ist der Hintergrund seiner antijudaistischen Ausführungen im „Wesen des Christentums“. Er hält diese Linie ein Leben lang durch und hat gleichzeitig freundschaftliche und nachbarschaftliche Verhältnisse mit jüdischen Wissenschaftlern. 1921 schreibt er in dem mit großer Liebe geschriebenen Buch über Marcion: „Das Alte Testament im 2. Jahrhundert zu verwerfen, war ein Fehler, den die große Kirche mit Recht abgelehnt hat; es im 16. Jahrhundert beizubehalten, war ein Schicksal, dem sich die Reformation noch nicht zu entziehen vermochte; es aber seit dem 19. Jahrhundert als kanonische Urkunde im Protestantismus zu konservieren, ist die Folge einer religiösen und kirchlichen Lähmung.“ 19 III Das Wesen des Christentums In der in vielen Auflagen gedruckten, in viele Sprachen übersetzten Vorlesung stellt Harnack sich die Aufgabe, mit „den Mitteln der geschichtlichen Wissenschaft und mit der Lebenserfahrung“ sowie ohne Apologetik Inhalt und Geschichte des Christentums darzustellen.20 Die christliche Religion ist für ihn „ewiges Leben mitten in der Zeit, in der Kraft und vor den Augen Gottes.“ (5) Er faßt die Verkündigung Jesu so zusammen: „Das Reich Gottes und sein Kommen, Gott der Vater und der unendliche Wert der Menschenseele, die bessere Gerechtigkeit und das Gebot der Liebe.“ (33) Spürbar wird seine Absicht, gegen Kautsky die These zu widerlegen, als stamme das Christentum aus dem Aufstand der Elenden. Gegen Nietzsches Umwertung aller Werte setzt er die christlichen Werte. „Absolute Urteile“ will er nicht fällen. Er verweist auf die Tatsache, daß die Inhalte der Predigt Jesu mit den Inhalten der prophetischen, ja der pharisäischen Verkündigung identisch seien. Das gilt für die „erste, jüdische Epoche des Christentums.“ (11) Einem solchen Gedanken könnten Baeck wie Cohen zustimmen. Harnack fügt aber sofort hinzu, daß im Judentum der Zeit Jesu, vor allem durch die Pharisäer, diese Verkündigung „beschwert, getrübt, verzerrt, unwirksam gemacht und um seinen Ernst gebracht wurde durch tausend Dinge, die sie auch für Religion hielten und so wichtig nahmen wie die Barmherzigkeit und das Gericht.“(31). Er 16 Freiburg 1888. Bd 1 (1.Aufl.1885. ) a.a.O. S. 41 f. 18 a.a.O. S. 42 f. An eine Rückgabe der "Leihgabe" ist nicht gedacht. 19 Adolf von Harnack, Marcion. Das Evangelium vom fremden Gott. Leipzig 1921. S. 217 20 Hier zitiert nach der Erstausgabe Leipzig 1900. Die Ziffern in den folgenden Klammern geben die Seitenzahlen an. Text wie von Autor/in bereitgestellt. 17 Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. 5 beantwortet die Frage, was neu am Christentum sei. mit seiner Meinung, daß hier „rein und kraftvoll“ in Erscheinung trete, was unter „Sand und Schutt“ des ritualisierten Judentums verborgen lag. Zum Neuen gehöre auch die singuläre Persönlichkeit des historischen Jesus und die Folgen seines Tuns. Harnack reflektiert kurz, daß zu den Folgen auch Negatives gehört, denkt dabei aber nicht an das Judentum, sondern selbstkritisch an das Christentum, von dem er schreibt: „Wie oft ist die Theologie nur das Mittel, um die Religion zu beseitigen“. (31) Von Israels Führern damals sagt er: „Sie dachten sich Gott als den Despoten, der über dem Zeremoniell seiner Hausordnung wacht, er (Jesus) atmete in der Gegenwart Gottes. Sie sahen ihn nur in seinem Gesetze, das sie zu einem Labyrinth von Schluchten, Irrwegen und heimlichen Ausgängen gemacht hatten, er sah und fühlte ihn überall. Sie besaßen tausend Gebote von ihm und glaubten ihn deshalb zu kennen; er hatte nur ein Gebot von ihm und darum kannte er ihn. Sie hatten aus der Religion ein irdisches Gewerbe gemacht – es gab nichts Abscheulicheres – , er verkündete den lebendigen Gott und den Adel der Seele.“(33). In derselben Vorlesung kann er sagen, daß Jesus in seinem Volk „eine reiche und tiefe Ethik vorfand. Es ist nicht richtig, die pharisäische Moral lediglich nach kasuistischen und läppischen Erscheinungen zu beurteilen.“ (45) Doch Jesus zieht einen scharfen Schnitt, weil er die Ethik „vom äußeren Kultus und technisch-religiösen Übungen“ trennt. Er geht zur Wurzel, d.h. auf die „Gesinnung“ zurück. (46). Für ihn ist Religion nichts „Statutarisches“ und Partikularistisches. Damit nimmt einen Begriff von Immanuel Kant auf, der das Judentum als starr und statutarisch gekennzeichnet hatte.21 Die von den Propheten und den griechischen Philosophen entwickelte Vorstellung von Gerechtigkeit bildete durch Paulus „ die überlieferte Religion um“. (49) Er wendet sich gegen jeden wirtschaftlichen Liberalismus des „Leben und Sterbenlassens“, gegen ein freies Spiel der Kräfte. Jesus stünde heute auf der Seite derer, die „die schwere Notlage des armen Volkes zu lindern und ihm bessere Bedingungen des Daseins“ schaffen. (64) Er lehnt „zwei unberufene Obrigkeiten“, die politische Kirche und die politischen Parteien ab. Er illustriert diese am Judentum, läßt sie aber auch als Kritik am Christentum gelten. Das macht sein Plädoyer für die Innerlichkeit des Glaubens („Mein Reich ist nicht von dieser Welt“) deutlich. Von daher kritisiert er die innerchristlichen Religionskämpfe: „Auf dem Boden der ‘Christologie’ haben die Menschen ihre religiösen Lehren zu furchtbaren Waffen geschmiedet.“ (79) Die christliche Unterdrückungsgeschichte gegenüber dem Judentum kommt nicht in den Blick. Sein Verständnis Jesu aber ist das Verständnis einer „Christologie von unten“, die die Menschlichkeit Jesu betont. „Nicht der Sohn, sondern allein der Vater gehört in das Evangelium, wie es Jesus verkündigt hat, hinein.“ Er ist der „Weg zum Vater“. (91) Dies wäre ein gemeinsamer Boden von Juden und Christen. Harnack beseitigt ihn sofort, wenn er sagt: „Es mußte einer aufstehen und erklären, das Alte ist aufgehoben.“ Dies tat Paulus. „Christus ist des Gesetzes Ende“. (Röm 10,4). Dieser Satz wurde wie oft auch als Totenschein des Judentums, das einem christlichen Gesetzesverständnis und nicht seinem eigenen Toraverständnis unterworfen war, gelesen. 22 IV Leo Baecks Antwort 21 Vgl. Fussnote 41 Die wörtliche Übersetzung heißt: "Der Messias ist das Ende der Tora" – ein durchaus jüdischer Satz des Paulus. Aber das Wort "Christus bezeichnete nicht mehr den Inbegriff messianischer Hoffnung. Es war bald als Eigenname aus der Geschichte und dem Verständnis herausgelöst. Text wie von Autor/in bereitgestellt. 22 Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. 6 Leo Baeck hatte, da seine Familie im Pfarrhaus des reformierten Pastors seiner Geburtsstadt Lissa lebte, früh Kontakt mit einem Protestantismus aufgeschlossener Art. Es war das Haus, in dem auch J.A.Comenius, der letzte Bruder der Böhmischen Brüder-Unität von l628 – l641 gelebt hatte, nachdem die beginnende Gegenreformation ihn mit tausend Exulanten aus Prag vertrieben und seine Bücher verbrannt hatte. Er schrieb dort seine wichtigsten pädagogischen und theologischen Bücher. Die Stadt atmete einen ökumenisch – offenen Geist. Baeck ging auf das Comenius – Gymnasium. Er war mit dem Protestantismus wohl vertraut. Immer wieder setzte er sich auf wissenschaftlichem Niveau auseinander, am konsequentesten in seinem Wesen des Judentums, das aus der Fortschreibung seiner Rezension des Harnack’schen Buches 1905 zum ersten Mal erschien. Bei der 50Jahrfeier der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums 1922 in Berlin sprach er über „Romantische Religion“. Er charakterisierte den lutherischen Protestantismus so, weil er Gefühl und Lehre, Staatstreue und ethische Indifferenz gefördert habe. Eine lutherische Antwort blieb aus, wenn man eine solche nicht in der Antwort des Vorsitzenden der Lutherischen Bischofskonferenz, Bischof H.C. Knuth, auf analoge Anfragen von Micha Brumlik im Jahr 2000 (!) sehen will.23 Im Jahr 1938, als die jüdischen Gotteshäuser niedergebrannt wurden, veröffentlichte er, gegen massive Schwierigkeiten der Zensur „Das Evangelium als Urkunde der jüdischen Glaubensgeschichte“. Dieses Buch war auch eine ausgestreckte Hand des intellektuellen und betenden Judentums in der Zeit der Verfolgung. Sie wurde von den Vertretern des intellektuellen und betenden Christentums – als wäre nichts geschehen – weder gesehen noch angenommen. Baeck arbeitet heraus, daß das Evangelium „ein jüdisches Buch deshalb (ist), durchaus und ganz deshalb, weil die reine Luft, die es erfüllt und in der es atmet, die der Heiligen Schrift ist, weil jüdischer Geist, und nur er, in ihm waltet, weil jüdischer Glaube und jüdische Hoffnung, jüdisches Leid und jüdische Not, jüdisches Wissen und jüdische Erwartung, sie allein es durchklingen – ein jüdisches Buch inmitten der jüdischen Bücher. Das Judentum darf an ihm nicht vorübergehen, es nicht verkennen, noch hier verzichten wollen. Auch hier soll das Judentum sein Eigenes begreifen, um sein Eigenes wissen.“24 Im KZ Theresienstadt begann er das Buch seines Vermächtnisses zu schreiben, das er kurz vor seinem Tode 1956 vollendete „Dieses Volk. Jüdische Existenz“. Nach dem Massenmord ging es um die Existenz, das Leben und Überleben eines konkreten Volkes. Das Buch schweigt vom Christentum. Baecks Schweigen ist nach E. L. Ehrlich „im rabbinischen Judentum... die wirksamste Polemik“. 25 Das jüdische Volk steht für Gottes Geschichte mit Israel und mit der Menschheit. Das Universale ist an das Partikulare geerdet. Edna Brocke stellt fest, daß für Baeck, so in seinem Vortrag 1956, die Unterschiede wichtiger geworden seien: „‘...Im Judentum ist Gott der offenbarende Gott, im Christentum ist der offenbarte Gott’„.26 Bis l938 wolle er die jüdischen Wurzeln des Christentums betonen, „...um Schlimmeres zu verhindern.“ 27 Das Schweigen der Christenheit verhinderte es nicht. Die jüdisch-christlichen Beziehungen ebenso offen wie kritisch zu bedenken, bleibt ihm lebenslang eine Aufgabe. Leo Bäck (so schrieb er sich damals) antwortete sehr rasch auf Harnacks Vorlesungen in einer ausführlichen Buchbesprechung in der „Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums“. 28 Baeck war auf jüdischer Seite der profundeste Kritiker. Die christlichen Rezensenten, wenn sie Harnack nicht lobten, kritisierten seine liberale Position und historische Einzelheiten, aber nicht seinen Antijudaismus. Baeck liest mit „Respekt“ und 23 Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt Nr.43, 46 und 48. 1999. Leo Baeck, Paulus, die Pharisäer und das Neue Testament. München 1961. S. 162. 25 Freiburger Rundbrief. XXV. 1973. S. 75-78. 26 Kirche und Israel 1990 S. 128. 27 a.a.O. S. 131. 28 Jahrgang 45. 1901. S. 97-120. 24 Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. 7 kritisiert zugleich die Diskrepanz zwischen dem „absichtsvollen Plan und methodischer Ausführung“. „Der Apologet hat den Historiker in die Flucht geschlagen“. Harnack halte nicht auseinander, was jener Zeit das Bedeutungsvolle war und das, was er selber heut dafür ansieht.“ (98) Die sperrigen Texte des Evangeliums z.B. über Besitzlosigkeit, das Verbot des Schwörens oder die Weltflucht fielen unter den Tisch. Es werde einfach „als wertvoll und damit als wahr statuiert, was er wünscht“.(99) L. Feuerbachs Nähe sei spürbar. Diese Geschichtsschreibung sei weder kantisch noch ganz aufrichtig, sondern „dogmatisch“. (100) Jesus als „hervorragende Persönlichkeit“ werde nicht aus seiner Zeit und seiner jüdischen Gemeinschaft heraus beurteilt. Was ihn von ihr unterscheide, sei für die Christenheit das Wesentliche. Diese Auffassung Harnacks hat im übrigen in einem breiten Strom der Bultmann – Schule unter den Neutestamentlern Karriere gemacht. Für die selektive Arbeit von Harnack gelte, daß er seine Religion als Jesu – Religion ausgebe. Dadurch werde „das Eindrucksvollste, die imposante, prophetische Erhabenheit der sittlichen Forderung, die sich eben in der Gleichgültigkeit gegen alle irdischen Rücksichten, in der Paradoxie der Postulierung zeigt, völlig „ beseitigt. (104) Diese Deutung stützt Baeck mit Abraham Geiger, einem Mitbegründer der Wissenschaft vom Judentum und des Reformjudentums, die Harnack allerdings unbekannt sind. Er meine Glaubenssätze könnten das Sittengesetz und seine Verwirklichung zur Seite schieben. Harnack habe „recht schauerliche Vorstellungen“ von den Pharisäern „völlig aus der Luft gegriffen“(106). Gleichzeitig könne er sagen, daß Jesu Verkündigung „auch bei den Propheten, sogar in der jüdischen Überlieferung seiner Zeit zu finden“ war. Dieses sei die Methode von Wellhausen, nach dem im Talmud alles steht, „was das Evangelium sagt, aber daneben leider noch vieles andere“. (107) Baeck verweist auf die sechs Jahrhunderte, aus denen Talmud und Midrasch viele diskutierende Stimmen zur Auslegung der Bibel und der Tradition sammelten. Er setzt daneben nicht nur das Neue Testament, sondern auch sechs Jahrhunderte christlicher Literatur. Diese enthielten „nicht gerade Schönes und Erhebendes, wie man besonders in Herrn Harnacks Schriften nachlesen kann.“ Zu vergleichen sei das Ganze beider Textkörper und das „Evangelium des Neuen Testamentes“ mit dem „Evangelium des Talmud“. (107) Baeck ist voller Bewunderung für die großen Leistungen Wellhausens und Harnacks, vermißt aber schlicht die Kenntnisse des nachbiblischen Judentums: „Einer kann nicht alles!“ Er fragt ironisch, was Harnack sagen würde, „wenn ein Buddhist bei einem Vergleich... die erhabensten Lehren Buddhas entgegensetzte den vielen Paragraphen des Gesetzes über die Sonntagsruhe oder den Synodalverhandlungen über Feuerbestattungen oder den Holsteinischen Pastorendebatten über den bei einem Prediger zulässigen Bart“ oder über die Kleiderordnung bei Militärgeistlichen, um dann „sieghaft über die Protestanten die Worte auszurufen, die Herr Harnack über die Pharisäer spricht: Das religiöse Denken und Fühlen ist ‘bei ihnen beschwert, getrübt, verzerrt, unwirksam gemacht und um seinen Ernst gebracht durch tausend Dinge, die sie auch für Religion halten und so wichtig nehmen, wie die Barmherzigkeit und das Gericht’ „.(109) Wenn „Herausdestillieren des „Kerns“ im Christentum legitim sei, dann auch im Judentum. Es dürfe nicht zwei Auslegungsmethoden geben (ll5f). Implizit stellt Baeck eine Regel für den Dialog für alle Relgionen auf. Sie hat sich allerdings bis heute nicht überall herumgesprochen. Sie heißt : Nicht die „eigene Religion nach ihren edelsten, reinsten und höchsten Elementen zu beurteilen, das Judentum dagegen nach gelegentlichen Auswüchsen und zeitweiligen inferioren Erscheinungen.“ (109 f). „Jesus sowohl wie Paulus war ein Rabbi.“ (110) 29 Aus der Vielzahl jüdischer Messiasvorstellungen destilliere Harnack eine heraus, die er fälschlicherweise dem Judentum abspricht. (116f) „Man muß die Juden kennen, wenn man das Evangelium verstehen will.“(118) Baeck zitiert 29 Baeck verweist Harnack zu Recht auf das Werk des Göttinger protestantischen Neutestamentlers Emil Schürer, das aus jüdischen Quellen gearbeitet ist: "Die Predigt Jesu in ihrem Verhältnis zum Alten Testament und zum Judentum" (1882), eine wichtige Vorarbeit zur lobenswerten "Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter Christi" (1901-1909). Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. 8 zustimmend A. Geiger: „Abssprechend über Gegenstände zu urteilen, zu deren selbständiger Erforschung es an den nötigen Voraussetzungen und Fähigkeiten gebricht, würde man sich wahrlich auf jedem Gebiete doppelt und dreifach bedenken; nur dem Judentum gegenüber glaubt man mit souveräner Willkür zu Werk gehen zu dürfen“. (118) Dieses Urteil wird nicht dadurch eingeschränkt, daß „das Buch viel Vortreffliches enthält“, und daß die „Kunst der Darstellung“ bemerkenswert sei. Baeck fragt am Ende seiner Besprechung, was das Neue, das „Bedeutungsvolle sei, daß durch Jesus gebracht und geschaffen wurde“. Seine Antwort heißt: „Für das Heidentum war der Tag gekommen, da es Israels Lehre in sich aufzunehmen beginnen konnte, und Gott hat die Seinen dazu erstehen lassen... Eine Mutter haßt nie ihr Kind, aber das Kind hat seine Mutter oft vergessen und verleugnet. Das Christentum hat sehr oft bitterlich wenig vom Geist seines Stifters gezeigt“. (119) Es ist festzuhalten: Harnack kritisiert auch das Christentum scharf. Er ist wie Baeck der Meinung, daß es eine der Religion unwürdige Praxis überall gibt. Nur, dem „Wesen des Judentums“ wird als wesentlich und unveränderlich zugeschrieben, was im Christentum als reformierbar gilt. Daß es im Judentum als unveränderlich gilt, beruht auf Harnacks Prämisse, daß das Christentum das Judentum im Hegelschen Sinn des Wortes aufgehoben habe, es also keine eigene Existenz mehr habe. Das Wesen des Christentums ist also nicht zu beschreiben ohne das „Unwesen“ des überwundenen Judentums zu benennen. Diese Haltung schließt ein, daß es jüdische Nachbarn und Kollegen gibt, die er nicht zu diesem überwundenen Judentum zählt. In dem aus der Buchbesprechung erwachsenen Buch „Das Wesen des Judentums“ 30 nimmt Baeck weniger Stellung zu Harnack als daß er sich, immer im kritisch-konstruktiven Gespräch mit der christlichen Tradition und besonders der protestantischen Theologie, zur Geschichte und Lehre des Judentums äußert. Durchaus wie sein Doktor – Vater Wilhelm Dilthey und wie Harnack kann er schreiben: „Das Wesen einer Religion kann am ehesten an dem religiösen Genie erforscht werden,“ z.B. an den Propheten. Die Kritik am Protestantismus konzentriert sich auf dessen gewissermaßen tatenlose Rechtfertigungslehre31 und Staatsnähe. Damit nennt Baeck die entscheidenden Faktoren, die den Protestantismus in der Nazizeit weitgehend an den gefährdeten Juden vorübersehen und vorübergehen ließ. V Harnack – ein Wissenschaftler im Widerspruch „Harnacks Werk ist durch Reichtum und Widerspruch gekennzeichnet...Sich mit Harnack zu befassen heißt, den Reichtum nicht arm, den Widerspruch nicht gegenstandslos zu machen“.32 Harnack war kein Antisemit. Er lehnte scharf den Antisemitismus Stoeckers ab. Er engagierte sich im sogenannten Bibel – Babel – Streit. 1902 hielt der Assyrologe Friedrich Delitzsch in Berlin einen Vortrag über die babylonischen Schöpfungsmythen, aus denen einige Zeit vorher das Gilgamesch-Epos durch George Smith entziffert worden war. Der Kaiser war anwesend, nahm öffentlich und dilettantisch, aber protestantisch und orthodox später Stellung. Delitzsch sprach dem Alten Testament jeden Eigenwert ab. Es sei ein Plagiat babylonischer Vorstellungen. Er tat dies mit antisemitischem Zungenschlag. Harnack nahm in den Preußischen Jahrbüchern Stellung, weigerte, sich mit den Ansichten des 30 Zuerst 1905, ab 1922 in erw. Aufl. Vgl. S. 46-53 im Nachdruck der 2. Aufl. Darmstadt o.J. An dieser Stelle sei darauf verwiesen, daß D.Bonhoeffer in der Zeit seines Widerstandes und befaßt mit der Rettung von Juden über die Schweizer Grenze, in seiner Auslegung der Bergpredigt "Nachfolge" dieselbe Kritik äußert und den Protestantismus wegen seiner Tatenlosigkeit aufgrund einer "billigen Gnade" kritisiert. 32 Zeitschrift für Kirchengeschichte 1988. S. 28. Dort weiterführende Literatur. In der FAZ vom 23. 2. und 2o.3.2000 wird ein Streit, wieweit Harnack völkisch – antisemitisch dachte, noch einmal geführt. Text wie von Autor/in bereitgestellt. 31 Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. 9 Kaisers oder denen von Delitzsch identifiziert zu werden. Er verteidigt das Alte Testament als „Gottesgeschichte in Israel“, die zu Christus führe. Das Gilgamensch – Epos stünde zum Alten Testament wie die Volkssage über Faust aus dem 16. Jahrhundert zu Goethes Faust.33 Anläßlich des Jubiläums der Berliner Universität schlug Harnack mit Walter Rathenau dem Kaiser vor, wissenschaftliche Institute einzurichten, die nur der Forschung dienten und gegenüber Staat und Industrie frei seien. Harnack schrieb für den Kaiser ein Memorandum, das Gehör fand. Die Kaiser – Wilhelm – Gesellschaft wurde gegründet (heute Max – Planck – Gesellschaft). Harnack wurde von 1911 bis 1930 der von allen Wissenschaftlern hochgeschätzte erste Präsident. Er berief jüdische Wissenschaftler wie Fritz Haber, oder Albert Einstein in Leitungsaufgaben der zuerst gegründeten naturwissenschaftlichen Institute. Harnack entwarf aber auch für den Kaiser einen Aufruf zum Kriegsanfang August 1914, dessen erste Hälfte Wilhelm II übernahm. Es war der übliche Patriotismus, der das Volk einen sollte. Deutschland fühlte sich im Verteidigungskrieg, von Feinden umringt. Im Gegensatz zu den Alldeutschen lehnte Harnack jede expansionistische Politik ab, auch die zugunsten seiner baltendeutschen Heimat. Seine Tochter zitiert ihn mit dem Satz: „...mit Alldeutschen, Antisemiten, alten preußischen Konservativen, die sich jetzt alle ‘deutschnational’ nennen, kann ich nicht gehen.“34 Er zeigte sich zugleich entsetzt über den antideutschen Ton im westlichen Ausland, den er auch bei wissenschaftlichen Freunden fand. Er unterzeichnete mit 92 Kollegen aus allen Fakultäten. im Oktober 1914 einen Aufruf, in dem es hieß: „Es ist nicht wahr, daß Deutschland diesen Krieg verschuldet hat...daß wir freventlich die Neutralität Belgiens verletzt haben ...daß unsere Kriegsführung die Gesetze des Völkerrechts mißachtet... ohne den deutschen Militarismus wäre die deutsche Kultur längst vom Erdboden getilgt.“ Zu den Unterzeichnern gehörten Wissenschaftler aller Lager, z.B. Peter Behrens, W. von Bode, Paul Ehrlich, Rudolf Eucken, Emil Fischer, Fritz Haber, Ernst Haeckel, Adolf v. Harnack, Gerhart Hauptmann, Engelbert Humperdinck, Paul Heyse, Max Klinger, Max Liebermann, Franz von Liszt, Walter Nernst, Wilhelm Ostwald, Max Planck, Wilhelm Röntgen, Adolf v. Schlatter, Siegfried Wagner, August v. Wassermann, Ulrich v. Wilamowitz – Moellendorff, Richard Willstätter.35 Diese Stellungnahme war für Karl Barth 1914 der Anlaß mit vielen seiner verehrten Lehrer zu brechen. Karl Barths dialektische Theologie entwarf sich auch als massive Kritik am Kulturprotestantismus und Liberalismus Harnackscher Prägung. „An ihrem ethischen Versagen zeigte sich mir daß auch ihre exegetischen und dogmatischen Voraussetzungen nicht in Ordnung sein könnten.“36 Harnack warf ihm vor, „ein Verächter der wissenschaftlichen Theologie zu sein.“37Harnack nahm 1919 als „Vernunftrepublikaner“ 38 Nach der Erwähnung der Harnackschen Kritik am nachbiblischen Judentum ist es fair, seine christliche Selbstkritik zu erwähnen. Er übt sie an vier Gestalten des Christentums, dessen erste, das Urchristentum, schon nach 120 Jahren zur „Kultusanstalt“(121) geworden sei. 33 Agnes von Zahn .- Harnack S. 266. Agnes von Zahn – Harnack S. 377. Während des 1. Weltkrieges schickt er dem Kaiser ein Memorandum, in dem er die Aufhebung des Dreiklassenwahlrecht und die Einführung des Frauenwahlrechts forderte. 34 36 Eberhard Busch: Karl Barths Lebenslauf. München 1975. S. 93. a.a.O. S. 160 38 so charakterisiert Bonhoeffer in seiner Vorlesung (über das ethische Problem der Revolution) am 31.l.1933 Harnack als Verteidiger der Weimarer Republik wie auch den Pazifisten und Sozialisten Günter Dehn, dessen Berufung an die Universität Halle 1932 an einem Bündnis der national – sozialistischen Studentenschaft und des Gewerbevereins gescheitert war. Die Machtübernahme durch die NSDAP einen Tag vorher bezeichnete Bonhoeffer als eine Revolution gegen die Weimarer Republik. Vgl. Christoph Strohm, Theologische Ethik im Kampf gegen den Nationalsozialismus. Der Weg D. Bonhoeffers mit den Juristen Hans v. Dohnani und Gerhard Leibholz in den Widerstand. München 1989. S. 18. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, daß Harnacks wie Dietrich Bonhoeffer von den Nazis wegen ihrer Beteiligung am Widerstand ermordet wurde. Text wie von Autor/in bereitgestellt. 37 Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. 10 Zwar habe der griechische Katholizismus den Polytheismus und das Heidentum beendet (137) und im Begriff des Logos beispielsweise eine dem hellenistischen Universum verständliche Begrifflichkeit für die Christologie geliefert. Der römische Kaiser wurde im selben Moment aber „christlicher Kaiser und orientalischer Despot“. (140) „Man braucht gar nicht zu den religiös und intellektuell völlig verwahrlosten Gliedern dieser Christenheit, zu Kopten und Abessyniern herunterzusteigen, um diese Entwicklung schaudernd zu erkennen – auch bei Syrern, Griechen und Russen steht es im ganzen nur wenig besser... Um diese Art von Religion aufzulösen hat sich Jesus Christus ans Kreuz schlagen lassen; nun ist sie unter seinem Namen und seiner Autorität wieder aufgerichtet.“ (148) Den römischen Katholizismus („in eine fremde Richtung abgeirrt“) kennzeichnet er als katholisch, als lateinische Fortsetzung des römischen Weltreiches und mit einigen einigen Lichtblicken in Gestalt von Heiligen z.B. Augustinus. (155) Sein erster Blick auf den Protestantismus veranlaßt ihn zu dem Aufruf: „Ach wie kümmerlich!“ Er nennt die Reformation in Europa die „größte und segensreichste Bewegung“ für die Kultur, „eine Religion ohne Priester, ohne Opfer, ohne Gnadenstücke und Zeremonien – eine geistige Religion.“ Sie ist geprägt durch Gottes Wort und glaubendes Vertrauen in Gott. (167) Für ihn ist das Evangelium „etwas so Einfaches, Göttliches und dazu wahrhaft Menschliches, wenn man ihm Freiheit läßt.“ (172) Er kritisiert aber am Protestantismus ein Staatsskirchentum, das das Gefühl der Verantwortlichkeit und Aktivität schwächt, eine Verachtung der Gebote und der daraus entstehenden sittlichen Laxheit“, sowie die Übernahme der alten Dogmen, z.B. der Trinität oder der Zweinaturenlehre. Harnacks Beschreibung und Kritik des Judentums und des Christentums leben von einer Art Dekadenztheorie. Nach ihr folgt z.B. auf den Gipfel des Judentums im Prophetentum und Messianismus der Abfall in eine starre Gesetzesreligion. Derselbe Abstieg geschieht mit dem Christentum vom Höhepunkt der Religion Jesu. An dieser Stelle muß man nur festhalten, daß dem Christentum eine Erneuerungsfähigkeit zugeschrieben wird. Diese verwirklicht sich in der Reformation. Auch wenn diese wieder erstarrt, ist auf Erneuerung zu hoffen. An ihr arbeitet z.B. der freie Kulturprotestantismus. Im Blick auf das Judentum gilt, daß ihm keine Erneuerungsfähigkeit zugeschrieben wird. Sie ist ihm mit dem Christentum ins Christentum hinein verschwunden. In der Sicht Harnacks ist das Christentum die Erneuerung des dann überflüssig gewordenen Judentums. VI Nach langem Schweigen und nach der Schoah – erste Signale eines protestantischen Hinhörens Die im und nach dem ersten Weltkrieg beginnende Erneuerung der protestantischen Theologie ist durch unterschiedliche Namen gekennzeichnet. In der dialektischen Theologie entwerfen Karl Barth und seine Freunde Rudolf Bultmann, Emil Brunner und Friedrich Gogarten (der sich später zu den Nationalsozialisten schlug) eine Wort – Gottes – Theologie, die in ihrer christozentrischen Ausprägung hilft, gegen die ideologischen Versuchungen des Nationalsozialismus und seine Führungsansprüche sich zu wehren. Paul Tillich setzt stärker die Tradition der liberalen Theologie fort, teilt aber mit der genannten Wort – Gotttes – Theologie ein streng theonomes Denken und eine Offenheit für die sozialen und kulturellen Wirklichkeiten seiner Gegenwart, sowie eine politische Verantwortung. Von ihnen gilt, wie von den Erneuerern protestantischen Denkens in den USA wie z.B. Reinhold Niebuhr oder in der Tschechoslowakei z.B. Josef L. Hromadka, daß sie ihre Neuansätze gewinnen, ohne jene jüdische Kritik am Protestantismus wahr – geschweige denn ernstzunehmen, wie sie beispielsweise Leo Baeck geübt hatte. Bei ihnen allen finden sich traditionelle Antijudaismen. Diese zu bedenken beginnt Karl Barth selbst, ansonsten wird es deren Schülergeneration Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. 11 sein, die antwortet auf die jüdischen Anfragen.39 In aller Deutlichkeit muß aber gesagt werden, daß es Auschwitz war, das im Christentum ein Nachdenken und Umdenken erst auslöste. Es war nicht die gerade im Protestantismus immer als Quelle der Erneuerung theologisch verankerte Heilige Schrift. Sie und die jüdische Geschichte neu zu studieren begann man erst im Schatten der Schoah. Das wirft die Frage auf, ob eine durch Antijudaismen vergiftete Theologie bei den Kirchenvätern vom Anfang der Kirchengeschichte bis zur Gegenwart sich nicht insgesamt unglaubwürdig gemacht hat? Noch schärfer gefragt: Liegen die Quellen des Giftes nicht schon im Neuen Testament? 40 Oder gilt hier, was auch in der Philosophie und in den Naturwissenschaften gilt, Richtiges muß als richtig geprüft und weiter bearbeitet werden, Falsches muß als Falsches benannt und überwunden werden. Der Protestantismus, in dessen Mitte seit der Reformation die historisch – kritische Forschung und eine eigenständige vertretene Aufklärung entstanden, sieht sich im Blick auf die Bibel wie auf die eigene Theologie- und Kirchengeschichte zur Sachkritik aufgefordert und in der Lage. Noch ist sie längst nicht so weit gediehen, wie es ein erneuerter Unterricht in der Schule und Hochschule, wie es Gemeindepraxis und Verkündigung verlangen. Obwohl Immanuel Kant in seiner Schrift „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ schrieb: „Der jüdische Glaube ist, seiner ursprünglichen Einrichtung nach, ein Inbegriff nur statutarischer Gesetze“, für eine theokratische, politische Größe; die moralischen Zusätze wurden „angehängt“. Sie sind „Zwangsgesetze“. 41 Hegel charakterisiert das Judentum: „Aber blinden Gehorsam unter die bösen Launen verworfener Menschen sich zur Maxime zu machen, war nur ein Volk von der höchsten Verdorbenheit, von der tiefsten moralischen Kraftlosigkeit fähig.“42 Schopenhauer schreibt nach seiner Lektüre des Alten Testamentes, daß er eine „innige Verehrung“ für Nebukadnezar empfinde, der Jerusalem zerstörte und die Juden deportiert habe. „Möge jedes Volk, daß sich einen Gott hält... rechtzeitig seinen Nebukadnezar finden und seinen Antiochus Epiphanes, der weiter keine Umstände mit ihnen (den Juden) macht.“ 43 Ich zitiere diese Äusserungen nicht zur Entlastung der Theologie, sondern um auf den „Sand und Schutt“ hinzuweisen, der in allen Wissenschaften, die Theologie eingeschlossen, weggeräumt werden muß. Immer wieder schlichen sich „zerreißfeste Weltanschaungen“ (Robert Musil) ein, die das, was Baeck „dogmatisch“ nennt, was verweigerte Realitätswahrnehmung und unbedachte Geschichtskonstruktionen sind, der wissenschaftlichen Selbstkritik entzogen. Die Neuanfänge geschahen am Rande der akademischen Theologie z.B. in der Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen beim Deutschen Evangelischen Kirchentag. Hier arbeiteten die drei letzten Studenten aus Leo Baecks in sein Wohnzimmer verbannter Hochschule der Wissenschaft vom Judentum in Berlin aktiv und prägend mit, Ernst Ludwig Ehrlich, Albert Friedlander und Nathan Peter Levinson. Dadurch wurde der Name Leo Baeck und seine Arbeit nicht nur sachkundig in diese Initiativen zur Erneuerung der Theologie eingeführt. Es entstand auch eine menschliche Brücke. 1961, 18 Jahre nach der Deportation Leo Baecks aus Berlin, kam es zu den ersten großen Veranstaltungen auf dem Evangelischen Kirchentag in Berlin. Diese Arbeitsgemeinschaft setze drei Schwerpunkte: Einmal sollten die christlichen Beiträge zum Antijudaismus aufgearbeitet werden (eine große Wochenzeitung malte die Gefahr „Ausverkauf der Kirchengeschichte“). Zum andern ging es um eine Solidarität mit den Überlebenden und dem Staat Israel sowie um eine Erziehung der jungen Generation gegenüber dem Wegschauen 39 F. W. Marquardt bezieht sich in seiner Darstellung und Kritik der Barth'schen Israellehre ("Die Entdeckung des Judentums für die christliche Theologie. Israel im Denken Karl Barths". Münschen 1967) ua auf Leo Baeck. 40 Vgl. W.P.Eckert, N.P.Levinson, M.Stöhr (Hg.), Antijudaismus im Neuen Testament? München 1966 41 1793. Drittes Stück. Zweite Abteilung. 42 Hegels theologische Jugendschriften. (Hg. von H. Nohl) Frankfurt/Main 1907. S. 70. 43 A. Schopenhauer, Sämtliche Werke. Bd 2. Leipzig 1932. S. 379. Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. 12 und Schweigen ihrer Eltern- und Lehrergeneration. 44 Aus dieser protestantischen Initiative erwuchsen auch die ersten Bemühungen Curricula und Schulbücher zu revidieren. Dies geschah vor allem unter der Leitung von Professor Heinz Kremers, Duisburg, in guter Abstimmung mit den entsprechenden Arbeiten in Freiburg. Der holländische Protestantismus war politisch – demokratisch sowie theologisch weiter. Das hängt nicht zuletzt mit der im Calvinismus vorhandenen Hochschätzung des Alten Testamentes zusammen. K.H.Miskotte hatte 1935 ein Buch gegen die Herabwürdigung des Volkes der Tora geschrieben. Er verglich „Edda en Tora“. Seine Kirche stellte schon 1949 das Gespräch mit dem Judentum auf gemeinsamer biblischer Grundlage der Mission unter den Völkern entgegen. Israel „solle ausgerottet werden“ schrien die „Barbaren“ – so beschreibt Miskotte den Weg, auf dem Israel theologisch enteignet wurde von den Völkern, die ihre Gotteserkenntnis eben diesem Israel verdanken. 45 Er bezieht sich auf Leo Baeck, Martin Buber und Joseph Klausner, aber auch auf die literarischen Versuche zu Jesus und Paulus von Joseph Jacobs, Schalom Asch, Max Brod oder Franz Werfel. Peter von der Osten – Sacken, Leiter des Berliner Instituts Kirche und Judentum, früher an der 1935 illegal von der Bekennenden Kirche gegründeten Kirchlichen Hochschule, jetzt an der Humboldt – Universität und einer der innovativen Forscher im Neuen Testament, fügt dieser Reihe noch die Namen Schalom Ben Chorin, Pinchas Lapide und Geza Vermes hinzu.46 Die beiden genannten protestantischen Wissenschaftler beziehen sich positiv auf Leo Baeck und folgen einem von Miskotte formulierten Grundsatz: „Nicht das Neue Testament interpretiert das Alte, sondern das Neue Testament bleibt total unverständlich, wenn es nicht vom Alten Testament her verstanden wird.“ 47 Von der Osten – Sacken hat in vielen Einzelforschungen entscheidend dazu beigetragen, daß der von Leo Baeck an Harnack kritisierte Grundsatz endlich überwunden wird, wonach der Originalton Jesu nur dort zu finden sei, wo er sich von seiner jüdischen Umwelt absetzt. Gerade die jüdische Umwelt, die Kenntnis ihrer Schriften, Diskussionen, Lebenspraxis und religiösen Strömungen erschließt die Botschaft Jesu neu. Seit 1975 hat die Evangelische Kirche in Deutschland in drei Denkschriften die Neuerkenntnisse vorsichtig, aber doch zukunftsweisend formuliert. 48 Die erste Studie löste die am klarsten sprechende offizielle Erklärung der Rheinischen Kirchensynode von 1980 aus.49 Viele Landeskirchen folgten nach intensiven Diskussionen in Gemeinden und Synoden. In den USA gehört Paul van Buren, ein anglikanischer Schüler von Karl Barth, wie Friedrich – Wilhelm Marquardt, zu den Wissenschaftlern, die in ihren systematischen Darstellungen des christlichen Glaubens sich völlig neu auf das Judentum beziehen, darunter immer wieder auf Leo Baeck. Hier wird nicht mehr über die Juden geredet und geurteilt, hier wird zugehört und diskutiert. Das führt zu einer Neuinterpretation der christlichen Überlieferung, die dialogisch angelegt ist und, gut protestantisch, die Bibel neu liest, dabei die bisher überlesenen Stellen ebenso entdeckt wie Nähe und Unterschied zur jüdischen Bibelauslegung. Dabei nimmt sie die Hebräische Bibel nicht als veraltetes Testament wahr, sondern als vollgültigen Teil der christlichen Bibel, vor allem aber als ein Buch, das im nachbiblischen Judentum wie im nachbiblischen Christentum zwei eigenständige, in sich jeweils vielgestaltige Fortsetzungsgeschichten hat. Die Re – Lecture der Bibel geschieht nicht enteignend, sondern so, daß die Israel – Geschichte mit ihren Grunddaten Exodus, Tora und Landverheißung in der Christentumsgeschichte ernstgenommen wird. Van Buren 44 Die ersten Arbeiten sind dokumentiert in: Dietrich Goldschmidt/Hans-Joachim Kraus (Hg),Der Ungekündigte Bund. Neue Begegnung von Juden und christlicher Gemeinde. Stuttgart 1962; Helmut Gollwitzer/Eleonore Sterling (Hg), Das gespaltene Gottesvolk. Stuttgart 1966. 45 K.H.Miskotte, Wenn die Götter schweigen. München 1963. S.315 46 Grundzüge einer Theologie im christlich – jüdischen Gespräch. München 1982. 47 K.H.Miskotte, Biblisches A B C. (1941 in Holland erschienen) Deutsch:Wittingen 1997. S.9. 48 1975 Christen und Juden I; 1990 II und 2000 III. alle Gütersloh. 49 Handreichung. Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden.Düsseldorf 1980. Der Ertrag vieler dieser Bemühungen ist in populärer Form dargestellt in: Frank Crüsemann ua (Hg), Ich glaube an den Gott Israels. Fragen und Antworten zu einem Thema, das im christlichen Glaubensbekenntnis fehlt. Gütersloh 1998. Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. 13 hat für diesen Erneuerungsprozeß, der den Kernpunkt des christlichen Glaubens zutiefst berührt, zwei Regeln aufgestellt: a)“Jede der Sache angemessene christologische Aussage wird deutlich machen müssen, daß sie eine Bestätigung des Bundes zwischen Gott und Israel ist. b)...so hoch sie auch sein mag, wird sie zum Ausdruck bringen müssen, daß sie Gott dem Vater die Ehre gibt.“ 50 In all diesen späten Antworten auf die Schoah und auf Leo Baeck und viele andere geht es entscheidend um eine Absage an jede Substutionstheorie, als habe die Kirche Israel ersetzt. Das führt auch zu einem neuen Verständnis der deutschen Übersetzung der für eine solche Theorie immer wieder benutzten Paulusaussage „Christus ist des Gesetzes Ende“ (Röm 10,4). Paulus schreibt diesen Satz im Zusammenhang seiner Warnung an die Gemeinde in Rom, sie solle sich nicht arrogant über Israel erheben, denn „nicht du trägst die Wurzel, die Wurzel trägt dich!“ (Römer 11, 18) Paulus überwindet in seinem letzten Brief, der von ihm erhalten ist, seine eigene innerjüdisch geführte Polemik, die aber eine antijüdische Wirkungsgeschichte entfaltete, aus seinem ersten Brief nach Saloniki (1.Thess 2,13-16). Eingeleitet hat er seinen Brief nach Rom mit einer siebenfachen Anerkennung der bleibenden „Heilsgüter“ eines nicht verworfenen Israel: Israel ist Gottes Sohn; Gottes Herrlichkeit und Gegenwart (Schechina) gehört ihm, wie Gottes Bundesschlüsse mit ihm, dazu die Tora, der Gottesdienst, die Verheissungen, die Erzväter. Und, so fügt Paulus (Römer 9,4+5) hinzu, dem Fleisch nach stammt Jesus aus Israel. Er schließt seinen Text, der aus lauter Verweisen auf die Hebräische Bibel besteht, mit dem Lob Gottes. Man muß sagen, daß diesen Paulus des Römerbriefes die Christenheit nicht ernstgenommen hat. Berthold Klappert nennt nach Leo Baeck, Martin Buber, David Flusser, Abraham J.Heschel und Emmanuel Levinas als die von der christlichen Theologie unbedingt zu hörenden „Zeugen und Lehrer des 20. Jahrhunderts“ 51 Sie wurden auf Kosten des jüdischen Volkes und zum Schaden der Christenheit von dieser schlicht übergangen. Klappert selbst gehört zu den protestantischen Theologen der Gegenwart, die Leo Baecks Formel aufgreifen, daß das Christentum „Neues im Judentum, aber jenseits des Judentums und erst recht nicht gegen das Judentum“ sei. 52 Er hat sein Gespräch mit Leo Baeck auf der Breite des Baeckschen Werkes in einem Nachwort zur dritten Auflage von Albert Friedlanders Biographie systematisch skizziert. 53 Der Berliner Theologe Friedrich – Wilhelm Marquardt hat sich 1983 auf einem Symposion der Evangelischen Akademie Arnoldshain der Frage gestellt, was bisher die protestantische Theologie Baeck schuldig blieb. Harnack antwortete seinem Kritiker nicht öffentlich. Marquardt nennt dies einen Ausdruck „tiefster Beziehungslosigkeit zwischen christlicher Theologie und jüdischem Denken“ 54 (40).Er unterstreicht, daß der theologische Liberalismus genau so wenig wie die konservative Theologie gegen Antijudaismus gefeit war. Bis auf wenige Ausnahmen kam es kaum zu wissenschaftlichem Austausch zwischen christlichen und jüdischen Gelehrten, auch als diese, selten genug, Zugang zu den Universitäten hatten. Marquardt schätzt unter den zahllosen Antworten auf Harnacks Buch die von Baeck am höchsten ein, weil er am klarsten die methodischen und inhaltlichen Schwächen des Buches benennt. Für Marquardt ist Harnack ein Vertreter, der theologischen, ja der „abendländischen Wissenschaft“ (45) insgesamt, die unempfindlich sei sowohl gegenüber den Voraussetzungen wie gegenüber den Folgen ihres Denkens. Sie blende die Wirklichkeit ab oder verdränge sie. So könne Wissenschaft „gemeingefährlich“ werden. Obwohl Baeck als jüdischer Wissenschaftler Harnacks Kritik an christlichen Dogmen begrüßen müßte, 50 zitiert nach Martin Stöhr in: Rudolf Weth (Hg.), Bekenntnis zu dem einen Gott. Neukirchen 2000. S. 92. Versöhnung und Befreiung. Neukirchen 1994. S. 21. 52 Berthold Klapper, Worauf wir hoffen. Das Kommen Gottes und der Weg Jesu Christi. Gütersloh 1997.S.119. 53 Albert Friedlander, Leo Baeck. Leben und Lehre. München 1990. S. 285-328. Er gehört mit Albert Friedlander und Werner Licharz zu den Herausgebern der Werke Baecks. (Gütersloh). 51 Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. 14 entdeckt er an den Stellen „Dogmen“ im Werk Harnacks, die jener nicht reflektiert. Harnack trage heutige Werturteile trotz seiner von Baeck bejahten historisch – kritischen Aufarbeitung der Christentumsgeschichte in dessen reale Geschichte ein. Er schildere also nicht das Wesen des Christentums, sondern das „Christentum seiner Werturteile“. Er folge hier dem großen Theologen Albrecht Ritschl. Marquardt kritisiert auch die Trennung Jesu von seinem Volk, die nur das von ihm ernstnehmen will, was ihn von dessen Tradition unterscheidet. So zitiert Harnack zwar die Wehrufe gegen die Pharisäer und Schriftgelehrten (Matth 23 + 24), ohne den ersten Satz zu zitieren, in dem Jesus sagt: „Auf dem Stuhle des Mose sitzen die Schriftgelehrten und Pharisäer. Alles, was sie sagen, das tut und haltet.“ (Matth 23, 2f) Jesus teilt die Pharisäerkritik mit vielen seiner Zeitgenossen, was auch in die rabbinische Literatur eingegangen ist, ebenso wie die Aufforderung, das Tun den Worten entsprechen zu lassen. Ein weiterer Kritikpunkt bei Marquardt gilt dem Begriff „Persönlichkeit“, er sei bürgerlich, werde aus Goethezitaten und nicht aus der Bibel belegt. Marquardt zitiert dagegen auch Goethes Zeilen mit Ironie: „Was soll mir euer Hohn über das All und Eine?/ Der Professor ist eine Person. Gott ist keine“. So entstehe bei Harnack eine geistesgeschichtliche Interpretation der christlichen Geschichte, die das Materielle und Materialistische des Lebens außer acht läßt. (52). Marquardt sieht Harnack am Werk, das Christentum zu entschärfen. Hier stimmt er Baecks Kritik zu. Dieser könne „das Evangelium viel radikaler rezipieren als Harnack.“ Das werde vor allem an der Bergpredigt deutlich. Baecks Kritik wird von Marquardt verschärft, nach der Harnack „die Sorge für das Recht Gott übergibt selbst aber im ethischen Rechtsverzicht“ lebt. Er zitiert als fundamental „jüdischen Praxiswiderspruch gegen die christliche Gottestheorie „ Baecks Erinnerung an die Gerechtigkeit Gottes, die sich zeige in der „Aufhebung jeglichen Sklaventums, Abschaffung der Tortur und jeder Menschenpeinigung...die Qualen eines Jahrhunderts sind die Illustration für diese Geschichte theoretischer und praktischer Ethik,“ erinnern an den Kern der Botschaft Jesu. Es gebe einen Weg von Gottes Attributen zur menschlichen Mobilisierung von Freiheit und Recht. Mit einem solchen Satz formuliert Marquardt eine zentrale „Lerneinheit“ auf dem christlich – jüdischen Schulweg. Marquardt arbeitet seit Jahrzehnten an einer Erneuerung der christlichen Theologie, die traditionskritisch sein muß und die dem Leben und Denken des jüdischen Volkes ohne dessen Verzeichnung entspricht. Er kritisiert mit Baeck die Ignoranz gegenüber den offen zutage liegenden Quellen, die Harnack und Wellhausen verbinden. Beide konnten zwar das Edle und Hochstehende am Judentum erkennen und anerkennen, aber es war für sie unter „Sand und Schutt“ versunken, sodaß Wellhausen, da das Judentum mit der Kirche zu Ende war, sich der arabischen Literatur zuwandte und Harnack einer durchgeistigten Interpretation des Christentums. Was Cohen von Wellhausen in einem dankbaren, aber kritischen Nachruf schrieb, gilt auch von Harnack: „Das Judentum in seinem Fortbestande über die Entstehung des Christentums hinaus wurde niemals für ihn ein historisches Problem der Religion und der religösen Kultur.“ 55 Cohen vermutet bei Wellhausen einen „naiven Kinderglauben“. Man könnte das auch von dem irenischen wie persönlich frommen Harnack sagen und hinzufügen, dass „Kinderglauben“ meint, einige überlieferte Elemente der eigenen Tradition nicht der aufklärenden Kritik auszusetzen. Was so harmlos klingt ist aber eine „gemeingefährliche“ geschichtsphilosophische Konstruktion über das Ende des jüdischen Volkes. Marquardt stimmt Baeck zu, daß es legitim sei, das Evangelium des Talmud mit dem Evangelium des Neuen Testamentes zu vergleichen. In beiden Büchersammlungen gebe es Befremdliches. Harnack schreibt dem Judentum einen essentiell und ewig auf ihm lastenden Schutt zu. Dieser sei im Christentum nur als entfernbare Schale verstanden. Der heutige Protestantismus hat zu einem kleinen Teil die Aufgabe angepackt, den „Kern“ der Überlieferung in die wissenschaftliche Sachkritik einzubeziehen. 55 Aus:Robert Raphael Geis/Hans-Joachim Kraus(Hg.), Versuche des Verstehens. Dokumente jüdischchristlicher Begegnung aus den Jahren 1918 –1933. München 1966. S. 46. Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. 15 Es ist konsequent, daß Marquardt in der Ausarbeitung seiner siebenbändigen Dogmatik den beeindruckenden Versuch macht, von einer „evangelischen Halacha“ zu sprechen. 56 Konsequent entwickelt Marquardt seine Christologie von der Wirklichkeit des „Juden Jesus von Nazaret“ her. Er tut das in drei Bänden unter der Überschrift „Das christliche Bekenntnis zu Jesus, dem Juden.“ Seine drei Bände der Eschatologie, der Lehre vom kommenden Reich Gottes und der Vollendung der Schöpfung, deren Hoffnung Juden und Christen verbindet, handelt er unter der Überschrift ab „Was dürfen wir hoffen, wenn wir hoffen dürften?“ und, ganz unorthodox, „Eia, wärn wir da. Eine theologische Utopie“57 Was jahrhundertelang selbstverständlich erschien, sich die jüdische Tradition anzueignen, indem man das jüdische Volk enteignete, ist hier als Denkweg radikal versperrt. Marquardt strebt keine jüdisch – christliche Mixtur an. Dazu ist ihm „die Fraglichkeit der christlichen Theologie“ zu sehr bewußt. Sie müsse endlich lernen, daß es „Unsinn“ (58) sei, die Tora als Gesetz zu verstehen und nicht als „Weisung zur Betätigung, Anwendung, Bezeugung der Religion“. (57) Die Tora stehe doch gegründet in der Befreiung Israels durch Gott, in seiner Erwählung und in seinem Bund mit Israel. Den geistesgeschichtlichen, ja nur ideengeschichtlichen Interpretationen des Christentums zB durch Harnack begegnet Marquardt mit dem theologisch realistischen Satz von Leo Baeck: „Das Beste im Judentum sind weit mehr noch als die Lehren die lebendigen Menschen.“ (58) Dies zu formulieren bedeutet heute an der Seite der lebenden, überlebenden Juden zu stehen. 58 Diesen Neuorientierungen vorausgegangen waren auf der internationalen Ebene 1946 eine Erklärung des Ökumenischen Rates der Kirchen, der heute über 330 Mitglieder umfaßt und damals noch im Aufbau war. Einmal versicherte man den Christen jüdischer Herkunft die Solidarität, die sie, beschämend genug, in der Verfolgungszeit ebenso wenig erfahren hatten wie die Juden. Eine zweite Resolution bekennt „bußfertig das Versagen der Kirchen, (um) im Geiste Christi eine menschliche Haltung zu überwinden, welche das Übel des Antisemitismus hervorgerufen hat“ und es heute verstärkt. Neben dem Kampf gegen jede Form des Antisemitismus wird die praktische Hilfe für die Überlebenden gefordert. Dazu gehören auch „neue Heimstätten (Homelands)“ sowie eine neue Beziehung zwischen Christen und Juden. Das gemeinsame Zeugnis von Juden und Christen für Gerechtigkeit, Wahrheit und Liebe ist für das Leben aller Menschen unerläßlich. Einige der hier beteiligten Autoren hatten während des Krieges an der Rettung von Juden gearbeitet. Ihre Bemühung, die jüdisch – christlichen Beziehungen zu erneuern, waren aus der lebendigen Begegnung mit Jüdinnen und Juden entstanden. Deren Fehlen und das Desinteresse daran auf christlicher Seite kennzeichnen weithin die Kirchengeschichte. Aus diesen schmalen Anfängen und den etwas längeren Erfahrungen im angelsächsischen Bereich kam es im Jahre 1946 in Oxford zur Gründung des International Council of Christians and Jews, der 1947 zur pädagogischen und theologischen Neuorientierung die 10 Selisburger Thesen formulierte. Diese unterstreichen (gegen jeden Marcionismus!), daß der Gott des Alten und des Neuen Testaments derselbe ist, daß Jesus wie seine Jünger und die ersten Apostel Juden sind, daß die Kreuzigung Jesu nicht den Juden angelastet werden dürfe, und man das Alte Testament nicht als ein vorläufiges Buch herabwürdigen dürfe. Ihm verdanke die Welt das Gebot der Nächstenliebe. Israels Berufung durch Gott ist nicht widerrufen. Diese Punkte werden bis heute im Ökumenischen Rat der Kirchen vertreten, was keineswegs heißt, daß sie überall bekannt sind. Nur in der Frage des Staates Israel, der wie der Ökumenische Rat der Kirchen 1948 gegründet worden war, und sofort durch ihn anerkannt wurde, kam es zu keinen weiterführenden Klärungen oder gar zu einer Solidarität. Das hat etwas mit der Mitgliedschaft arabischer Kirchen, mit der Tatsache zu tun, dass die Mehrzahl der 56 F.W.Marquardt, Von Elend und Heimsuchung der Theologie. Prolegomena zur Dogmatik. München l988. S.151 – 262. Dogmatik ist hier im Sinne von christlicher Theoriebildung, die jeder Generation neu aufgegeben ist, also nach Auschwitz die Fragwürdigkeit aller bisherigen Theoriebildungen anerkennen muß. 57 München und Gütersloh 1988 – 1997. 58 Vgl. auch den kleinen Sammelband B. Klappert, H.-J. Kraus, F.- W. Marquardt, M. Stöhr, Jesusbekenntnis und Christusnachfolge. München 1992. Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers. 16 Mitgliedskirchen aus der „Dritten Welt“ stammt, die die Schoah vor allem als ein Problem Deutschlands oder Europas ansehen, während man selbst mit elementaren Problemen des Hungers und der fehlenden Gerechtigkeit befasst sei. Auf der deutschen Ebene hatte die Synode der EKD 1950 ihre Mitschuld an Auschwitz durch „Unterlassen und Schweigen“ bekannt, nachdem das Stuttgarter Schuldbekenntnis von 1945, ohne das jüdische Volk zu erwähnen, im Blick auf einen Neuanfang bekannte: „Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Staaten gekommen.“ Auf derselben gesamtdeutschen Synode 1950 wird zum ersten Mal ausdrücklich die These verworfen, als habe die Kirche Israel abgelöst und als sei die Erwählung Israels widerrufen worden. 59 Dem Schuldbekenntnis folgten spät die Bemühungen, die Ursachen der Schuld zu erkennen und zu benennen und ein neues Verhältnis zwischen Juden und Christen zu begründen. Leo Baeck musste lange auf Antwort warten, um eine Denk – und Praxisfigur zu überwinden, die er selbstbewußt an Harnack kritisisiert hatte. Der von seiner Heidelberger Universität ausgeschlossene Philosoph, später Theologe, Hans Ehrenberg beschreibt Dogma und Verhalten der Judenverachtung so: „Das Judentum ist von der Kirche als Sprungbrett benutzt worden, um von ihm in die Vollendung und Vollkommenheit, ins Himmelreich, hineinzuspringen, und wenn es diesen Dienst geleistet hat, bekommt es einen Fußtritt. Und dieser Fußtritt zeigt, daß es mit dieser Exegese nicht recht ist.“60 Die Bemühung um eine rechte, menschenfreundliche Exegese der jüdischen und christlichen Geschichte ist angefangen, aber noch weiter zu treiben. 59 Alle zitierten Dokumente finden sich gesammelt in: R.Rendtorff/H.H.Henrix (Hg.), Die Kirchen und das Judentum 1945 – l985. Paderborn/München 1988. Ein 2. Band, hrsg. von W.Kraus/H.H.Henrix, erschien 2000. Rolf Rendtorff kommentiert die Dokumente in seinem Überblick "Hat denn Gott sein Volk verstoßen. Die evangelische Kirche und das Judentum seit 1945. München 1989. 60 Die Paradoxien des Evangeliums. München 1957. S.15. Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort. Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.