Nepersche Streifen

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Mathematiklehren 13 / Dezember 1985
Nepersche Streifen - ein selbstgebauter
und verständlicher Computer in der Grundschule
von Heinrich Winter
Der Aufschwung der Mathematik im 17. Jahrhundert beruhte wesentlich auf der Idee, Automaten oder Automatismen für die immer anspruchsvolleren Berechnungen des Handels, der Mechaniker, der Seefahrer, Geodäten
und Astronomen zu suchen. Gefunden wurden zahlreiche solcher Rechenmechanismen, neben den Logarithmen,
der Analytischen Geometrie und dem Calculus auch Apparate wie die Proportionalzirkel und die ersten
Rechenmaschinen und Systeme wie die Dualzahlarithmetik von Leibniz oder Nepers lange Zeit berühmten
Rechenstreifen, deren Wiederentdeckung für den Unterricht reizvoll und lehrreich zugleich ist.
1
Eine Nacherfindung
der Neperschen Streifen
Wir heften an die Flanell- oder Magnettafel diese beiden Streifen je aus 10 Quadraten von etwa 5 cm Seitenlänge [Abb. 1]). Natürlich können wir solche Streifen auch als Folien für den Tageslichtprojektor benutzen. Jedenfalls lassen wir jetzt den Schülern (3. bis 5. Klasse) Zeit,
herauszufinden, was es mit den merkwürdigen Zahlenkolonnen auf sich hat. Ohne Hilfe wird 1.a. rasch gesehen, daß auf einem Streifen die
Zahlen einer lxl-Reihe stehen, hier also die Zahlen der 7er- und der 3er-Reihe. Aber die Zahlen sind so "komisch" aufgeschrieben, die Zehner
von den Einern durch eine Schräglinie jeweils getrennt. Ob das etwas zu bedeuten hat?
Möglicherweise gibt der Lehrer den (massiven) Impuls. "Ich sehe auch die Zahlen der 73er-Reihe! " Oder notfall s noch gezielter-. "Ich sehe
auch das Ergebnis von 7 - 73". jetzt dauert es nicht mehr lange, bis viele Schüler die ersten 9 Vielfachen von 73 direkt ablesen können:
1 - 73 = 73, 2 - 73 = 146,. . ., 9 - 73 = 657
Dabei dämmert es, welchen Sinn die zunächst befremdlich erscheinende Schreibweise mit den Schräglinien hat. Es wird gut sein dann die
Sache im KJassengespräch restlos auiz'uiiären und an der Wandtafel suggestiv darzustellen. Beispiel: 7 - 73 (oder besser 73 - 7)
Abb. 2
5
1
1
Richtig interessant wird es erst, wenn große Zahlen inulupliziert werden sollen, z. B. 847 - 9. Da brauchen wir die Streifen für die 8er-, 4erund 7er-Reihe und können direkt ablesen (Abb. 3b).
3 Einer
6+ 6 Zehner (Übertrag)
2 + 3 + 1 Hunderter
Das Ergebruis wird von rechts nach links
7 Tausender
(warum nicht umgekehrt?) abgelesen (Abb. 2). also von rechts nach links
7 6 2 3.
1 Einer, nämlich der von 3 - 7 = 21 Dann:
9 + 2 = 11 Zehner, nämlich die 2 Zehner von 3 - 7 = 21 und die 9 Zehner von 70 - 7 = 490 = 4 H + 9 Z
10 der 11 Zehner ergeben einen Hunderter, der wird im Kopf übertragen, es bleibt 1 Zehner. Schließlich: 4 + 1 = 5 Hunderter, nämlich 4
Hunderter von 70.7 = 490 = 4 H + 9 Z und 1 H Übertrag.
Wenn die Schüler nicht spontan den Vorschlag machen, regt der Lehrer nun an, selbst solche ixi-Streifen herzustellen. Er sollte, um Zeit zu
sparen, genügend viele unbeschriebene, aber bereits mit Linien versehene Streifen (etwa 10 cm lang, 1 cm breit) bereit haben und austeilen (vgl.
Muster Abb. 3 a).
Ganze Scharen von weiteren Aufgaben zu denselben ausgelegten Streifen lassen sich bilden, deren Ergebnisse unmittelbar abgelesen
werden können. Nicht nur
847 3
847 5
USW.
sondern auch beispielsweise
847 - 30 8,47 3
84 - 3
847 - 300 8,47 5
84 - 7
usw.
USW. USW.
47 - 8
47-5
usw.
Es ist eine produktive Übung. Noch mehr Aufgaben gibt es, wenn eine noch größere Zahl, z. B. 9056, multipliziert werden soll (Abb. 3c).
Lord John Neper of Merchistan, der Schöpfer der Rechenstäbchen
Die Anzahl der Stellen des Multiplikanden (der malzunehmenden Zahl) kann beliebig groß sein, auch Nullen dürfen auftreten; u. U. müssen
wir mehrere Streifen von derselben ixi-Reihe machen, z. B. wenn 8440 multipliziert werden soll.
Aber bis jetzt haben wir nur mit einer 1-stelligen(oderevtl.miteiner"gl.itten"Iii3lierstelligen Zahl wie 70 oder 300) multipliziert. Könnten wir
vielleicht auch mit mehrstelligen Multiplikatoren rechnen? Versucht doch einmal, 847 - 72 herauszukriegen (in Abb. 3b)! Eine Möglichkeit ist
es, die Teilergebnisse 847 - 70 und 847 - 2 abzulesen, untereinander zu schreiben und schriftlich zu addieren, also
-oh
59290
1694
60984
Da brauchen wir allerdings noch Papier und Bleistift und müssen eine weitere Rech
nen, obwohl sie nur 3 Stunden hatten üben können. (Aber vielleicht hatten wir zu viele Aufgaben mit demselben oder ähnlichen Multiplikanden
dabei, was natürlich die Streifenrechner bevorteilt).
Ein neues Problern: Können wir mit den Streifen auch dividieren? Wer löst z. 13. 365127 : 57 nach der Streifenmethode?
Auf den Streifen haben wir nur Vielfache. Wir müssen also die Division über Malnehmen verstehen und lösen: Wievielmal ist 57 in 365127
enthalten?
Wir legen den 5er- und den 7er-Streifen und s
hen nun die 1- bis 9fachen von 57 (Abb. 4)
Wir schreiben
365127
Wir lesen ab
342000 57 - 6000
Wir subtrahieren
und erhalten
Wir lesen ab
Wir subtrahieren
und erhalten
Wir lesen ab
Wir subtrahieren
und erhalten
Also:
365127 57 = 6405 + 42 57
oder:
36512757 - 6405 + 42
23127
22800 = 57 - 400
327
285 = 57 - 5
42 (Rest)
nung ausführen. Wer sich sehr konzentriert, kann das Ergebnis aber auch direkt aus den Streifen ablesen:
4 Einer
1 + 8 + 9 = 18 Zehner = 8 Zehner + 1 Hunderter
0 + 6 + 4 + 8 + 1 = 19 Hunderter = 9 Hunderter + 1 Tausender
1 + 2 + 6 + 1 = 10 Tausender = 0 Tausender + 1 Zelintausender
5 + 1 = 6 Zehntausender.
Ein (rechts) angefügter Streifen mit den Multiplikatoren 1 bis 9 bietet dabei eine gute Orientierungs- und Ablesehilfe.
Eine unerschöpfliche Fülle von Aufgaben (mehrstelligerMultiplikand, zweistelligerMultiplikator) bietet sich an. Womöglich kann ein
Wettstreit zwischen Kindern, die schriftlich rechnen, und solchen, die "streifenrechnen", stattfinden. In einer4. Klassehabenwirdas einmal
gemacht, und die Streifenrechner gewan
Abb. 4
5
7
75 ~ZI7
;ZO ~Z4
;Z5 2 1
2
8
Z5 Z5
2
1
2
8
5
;Z 4
0
X
7 21
m9
~z0
Es "geht" also ganz ähnlich zu wie beim schriftlichen Dividieren. Die Streifen helfen allerdings bei den schwierigsten Prozeduren, nämlich
beim Auffinden der Teildividenden und Teilquotienten. Spaß kann es machen, Divisionen mit besonders großen Zahlen (z. B. 8stellige durch
4stellige) mittels der Streifen auszuftihren.
2
Neperschen Streifen/Stäbe
als Computer
Der Erfinder dieses Rechentnittels ist der schottische Lord of Merchiston John Napier (oder Neper), der von 1550 bis 1617 lebte. In seiner
Ufu*versalität - er beschäftigte sich u. a. kreativ mit Mathematik, Theologie und Agrarwissenschaften - und in seiner Begeisterung für alles
Maschinenhafte war er ein typischer Vertreter des Barocks. In die Mathematik ging er ein als einer der ersten, die die Logarithmusfunktion
genauer studierten und danach eine Logarithmentafel herstellten, durch die nach ihm benannten Neperschen Regeln der sphärlschen
Trigonometrie und eben durch die Erfindung der Neperschen Stäbe (virgulae numeratrices). Das waren quadratische Säulen, auf deren 4
Mantelrechtecken je eine lxl-Reihe genau so wie auf unseren Streifen notiert war. Die Streifen sind lediglich eine handwerkliche Vereinfachung.
Auf ihnen kann man 2 Reihen (Vor- und Rückseite), auf den Holzstäben 4 Reihen unterbringen (Abb. 5). Diese Erfindung Nepers verbreitete sich
rasch über Europa und löste geradezu Begeisterungsstürme aus, zu ihrem Lobpreis wurden sogar lateinische Oden geschmiedet (Cantor, S. 724).
Bis in unserjahrhundert hinein wurden die Stäbe als Rechenhilfsmittel benutzt (Paland, S. 47). Der Tübinger Professor Wilhelm Schickard
(1592-1635) entwickelte aus den Neperschen Stäben eine richtige Rechenmaschine für alle 4 Grundrechenarten - aus Holz übrigens - die erste
4Spezies-Maschine überhaupt ("Schickards Rechen-Uhr"). Mit dem Bau von Rechenmaschinen beschäftigten sich im späteren Barock dann
Geister allererster Klasse: B. Pascal (16231662) und vor allem G. W Leibmiz (1646-1716), der geradezu als der Erzvater der heutigen Informatik
angesehen werden kann. Die frühen mechanischen Rechenmaschinen scheiterten übrigens alle an Reibungsproblemen beim Zehnerübertrag. Erst
mit der Entwicklung der Feininecharu'k entstanden wirklich brauchbare Tischrechenmaschinen, die später dann auch elektrisch angetrieben
wurden. Und heute haben wir (etwa seit dem 2. Weltkrieg) die extrem leistungsfähigen elektronischen Rechemnaschinen, gegenüber denen die
Neperschen Streifen geradezu mitleiderregend primitiv und armselig erscheinen.
Und dennoch handelt es sich auch hier um Computer (= Rechner): Die Streifen haben Inforrnation in einer sinnreichen Ordnung gespeichert
und werden nach Maßgabe einer vorgegebenen (Multiplikations-)Aufgabe so ausgewählt und nebeneinander gelegt, daß das Ergebnis ohne
weiteren geistigen Einsatz abgelesen werden kann, also gewissermaßen vom Gerät ausgegeben wird. Der Benutzer der Maschine Nepersche
Streifen muß natürlich auch etwas können, er muß die Maschine bedienen, nämlich
6
. , ., ~~.~I:~,~~1ehren 13/Dezember 85
Nepersche Rechenstäbchen aus dem 18. Jahrhundert
i 1 ' 4' 1 5 it
2-Z
- Ziffern wahrnehmen und wiedergeben,
- eine Multiplikationsaufgabe als solche identifizieren und entsprechende Streifen nebeneinanderlegen,
- die durch den Multiplikator gegebene Zelle auffinden,
- die dort befindliche Ziffernfolge unter Beachtung möglicher Zehner-überträge ablesen.
Aber beim Vollzug einer Multiplikation mittels der Streifen braucht er nicht selbst eigentlich zu multiplizieren, die Maschine besorgt das für
ihn automatisch, wenn er sich nur an die Bedienungsanleitung hält. Freilich ist es kein reiner Automatismus: Beim Ablesen muß "im Kopf' (!)
addiert, evtl. Zehnerübertrag berücksichtigt und bei melirstelligen Multiplikatoten müssen Nebenrechnungen im Kopf oder auf dem Papier
ausgeführt werden.
Dafür hat unser Computer - im Gegensatz zum elektronischen Taschenrechner - den Vorteil der vollkommenen Transparenz. Die Schüler
können auf besonders suggestive Weise die Strategie beim Multiplizieren großer Zahlen erfahren: das stellengerechte Vorgehen in
multiplikativen Teilschritten bei gleichzeitigem Aufsummleren der Tellprodukte. Diese Strategie liegt ja auch dem schriftlichen Rechnen
zugrunde. Der Unterschied besteht nur darin, daß beim schriftlichen Rechnen der Kopf des Rechners als Speicher der ixi-Sätze dient, ansonsten
ist das schriftliche Verfahren genauso maschinell wie das Rechnen mit den Streifen.
Maschinenhaftes Rechnen, also Rechnen nach einer Art Rezept, ist ein wichtiger Strang des Arithmetikunterrichts in der Grundschule, und
insofern ist es zu rechtfertigen, wenn die Schüler auch am Beispiel der Neperschen Streifen eine Erfahrung zur Computer-Orlentlerung machen.
Einige weitere Geräte zum Rechnen sind: Finger (größtenteils berechtigterweise verpönt), Rechenzaun, Rechengeld, Papyscher Mirucomputer,
einfache Nomogramme, Verknüpfungstafeln und vor allem der Abakus.
Immer, wenn die Lösung einer Aufgabenstellung unmißverständlich und erfolgssicher in einer Liste von Verhaltensweisen, also rezeptartig,
dargestellt werden kann, wenn also ein Lösungsaigorithmus vorliegt, bietet sich die Frage an, ob man das Lösen nicht einer Art Apparatur
überlassen kann (einer Tabelle, einem mechanischen Gerät, einer elektronischen Anlage), denn der Mensch möchte frei sein für neue Aufgaben,
und er ist nur sehr begrenzt selbst als Maschine brauchbar, er macht Gott sei Dank zu viele Fehler bei Routinearbeit. Für die Grundschule ist es
aber erstens entscheidend wichtig, daß solche Rezepte (Normalverfahren, Algorithmen) selbst entdeckt und entwickelt werden, vollständig
einsichtig erscheinen und möglichst auf transparenten Geräten ausgeübt werden. Her liegt die Problematik des Einsatzes elektrorüscher Medien!
Zweitens muß dieses maschinenhafte Prozessieren in der Umgebung begrifflicher Zusammenhänge und in der Aufhellung umweltlicher
Situationen stehen. Das Sachrechnen, das Herzstück des Unterrichts in der Grundschule, ist ja in zwei entscheidenden Punkten eben gar nicht
computerhaft: Man muß immer zuerst die Situation ventehen und am Ende die errechneten Resultate bewerten können.
Literaturhinweise:
Cantor, M.: Vorlesungen über Geschichte de Mathematik, 2. Band, Nachdruck der Auflag von 1900, Stuttgart
1965
Menninger, K.: Zahlwort und Ziffer, Göttinge 1958
Paland, R.: Die Entwicklung mecharnischer Re chengeräte und -maschinen (Teil 11), mathema tica didactica 8 (1985), S. 45-56
Winter, 1-1.: Nepersche Streifen - ein neues al tes Rechenmittel für das
160-164
4./5.
Schuljahr, Zeit schrift für Naturlehre und Naturkunde
1968 H. 5, S.
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