SPIEGEL ONLINE - 11. Februar 2006, 12:09 URL: http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,399977,00.html Muslim-Führer Ramadan "Wir müssen der Vernunft mehr Gehör verschaffen" Die Wut vieler Muslime über die Mohammed-Karikaturen kühlt nicht ab. SPIEGEL ONLINE sprach mit dem Islam-Gelehrten Tariq Ramadan über die Überreaktion und den Antisemitismus in der islamischen Welt und wie moderate Stimmen stärker Gehör finden könnten. SPIEGEL ONLINE: Die Reaktionen der muslimischen Welt auf die zuerst in der dänischen Zeitung "Jyllands-Posten" veröffentlichten und später in anderen europäischen Blättern nachgedruckten Mohammed-Karikaturen haben nicht unbedingt dazu beigetragen, im Westen das Bild vom Islam zu verbessern. Eine Überreaktion der Muslime? Tariq Ramadan: Natürlich. Die Reaktion war viel zu heftig. Ich bin im Oktober nach Tariq Ramadan, 43, gilt als einer der führenden Gelehrten des IsDänemark gereist und habe dort muslimischen Führern geraten, nicht emotional zu lam. Im Jahr 2000 wählte ihn das reagieren, weil die Reaktionen und die Gefühle der Muslime in den Mittelpunkt des "Time Magazine" zu einer der Interesses rücken würden. Es wäre für uns am besten gewesen, eine emotionale Distanz wichtigsten Personen des 21. aufzubauen. Aber das einzige was man jetzt im Fernsehen sieht, sind wütende Gesichter, Jahrhunderts. Ramadan wurde in Schreie und Zorn. Das ist kein nach vorn gerichteter Weg für Muslime. Genf geboren und ist Schweizer SPIEGEL ONLINE: Aber diese Emotionen hängen sicher nicht nur mit ein paar Bürger. Sein Großvater, Hassan Karikaturen zusammen. Es sieht so aus, als hätte sich angestauter Frust seinen Weg al Banna, war ein Mitbegründer der ägyptischen Muslimbrudergebahnt. Geht es hier um ein viel grundsätzlicheres Problem? Ramadan: Natürlich, es begann damit, dass sich ein paar Leute durch die Karikaturen schaft. Er wurde 1949 ermordet. verletzt fühlten. Doch dann gelangten sie in den Nahen Osten. Einige Regierungen dort waren sehr glücklich, sich als die großen Helden des Islam darstellen zu können. Sie taten das natürlich, um beim eigenen Volk zu punkten. Zweitens wollten sie die Aufmerksamkeit ihrer in Diktaturen lebenden Völker in Richtung Westen lenken, um ihnen ein Ventil zu bieten, ihre Frustration ablassen zu können. Und es funktionierte: Es kam zur Konfrontation Muslime gegen den Westen. SPIEGEL ONLINE: Woher kommt diese enorme Abneigung gegen den Westen? Ramadan: In der islamischen Welt gibt es eine Reihe von Ländern, etwa Syrien und Iran, die unter enormem Druck des Westens stehen. Die Regierungen stellen sich selbst als Opfer dar und bringen ihre Bürger gegen den Westen auf. In Gaza, um von einem anderen Beispiel zu sprechen, herrscht die Vorstellung, dass der Westen von Demokratie spricht, aber Wahlergebnisse nicht akzeptiert, wenn die Stimmen ausgezählt sind. Hinzu kommt die weit verbreitete Sichtweise, dass Israel zu Lasten der Palästinenser unterstützt wird. Da kommt einiges zusammen und im Ergebnis führt das zu der Wahrnehmung, dass der Kampf gegen den Terrorismus auch ein Kampf gegen die Muslime ist. Die Karikatur Mohammeds mit einer Bombe im Turban war da nicht unbedingt hilfreich. SPIEGEL ONLINE: Muslime in Europa sprechen auch von einem Anti-Islam-Vorurteil. Ramadan: Wer als Muslim in Europa lebt, spürt es. Da sind die rechtsgerichteten Parteien - selbst wenn sie nicht viel Unterstützung haben. Aber selbst die etablierten Parteien akzeptieren und vertreten einen Kurs, der von Muslimen als dauerhafter Angriff wahrgenommen wird. SPIEGEL ONLINE: Aber es gibt doch auch eine Reihe von Parteien und viele Menschen, die sich für Toleranz einsetzen und ihr Bestes tun, um Muslime zu integrieren. Warum nur das Negative im Blick haben? Ramadan: Ich habe lange Zeit gesagt, dass wir Muslime uns von dieser Opfer-Mentalität befreien müssen. Aber sie ist eben da. Und es ist schwer, die Islamphobie und den vorhandenen Rassismus zu ignorieren. Viel gestatten sich das Gefühl, verletzt zu sein, und ihre Reaktion gerät außer Kontrolle. Führende Muslime in Europa tragen die Verantwortung, die Antwort der Muslime auf den Westen und die des Westens auf die Muslime mitzuprägen. Sie sollte freier von Emotionen sein. SPIEGEL ONLINE: Wie soll das möglich sein, wenn die muslimische Welt und einige radikale Muslimführer in Europa ständig betonen, dass der Westen Ursache allen Übels ist? Ramadan: Die mit Abstand meisten Muslime in Europa fühlen sich als Europäer. Mögen sie auch gelegentlich Probleme haben und mit Vorurteilen konfrontiert werden, zeigen sie, dass sie Bürger Europas sind und das Bild vom Islam ändern wollen. Wir müssen diesen Menschen mehr Aufmerksamkeit schenken als jenen lautstarken Radikalen am Rand, die glauben, dass die Europäer niemals Muslime akzeptieren werden. SPIEGEL ONLINE: Nur gibt es viele, die jenen Radikalen am Rand zuhören. Ramadan: Aber viele auch nicht. Die Medien sollten über die Muslime berichten, die versuchen, zu überzeugten Europäern zu werden, und die europäische Kultur akzeptieren. Sie brauchen Hilfe. Der Druck von Medien untergräbt unsere Arbeit: Alle sechs Monate gibt es ein Ereignis, das den Druck verstärkt und den Blick auf die Gefühle und gewalttätige Muslime richtet - wie zuletzt die Mohammed-Karikaturen. Aber diese Ereignisse untergraben den Prozess von Reform und Dialog. Heute gibt es keinen Dialog, da ist keine Debatte. Es ist ein Machtkampf und er ist sehr bösartig. SPIEGEL ONLINE: Was ein Hinweis für die These ist, die die Radikalen belegen wollen: nämlich, dass der Islam und der Westen unvereinbar sind. Ramadan: Exakt. Aber was Muslime in Europa erleben, wird enorme Auswirkungen auf die meisten islamischen Länder haben: Wir haben nun Erfahrungen damit, in Demokratien und freien Gesellschaften zu leben. Aber es gibt eine Gefahr. Wenn Muslime und Europäer als gleichwertige Bürger in Demokratien nicht imstande sein sollten, einander zu vertrauen, miteinander zu reden, wenn es uns nicht gelingen sollte, einen Weg des Zusammenlebens zu finden, senden wir ein Signal in die islamische Welt, dass es keinen Weg des Vertrauens für Muslime und den Westen gibt. Wir in Europa haben eine unglaublich große Verantwortung. Es ist wichtig, dass die Bürger in Europa eines verstehen: Wenn wir mehr voneinander wissen und uns mehr Respekt entgegenbringen, zeigen wir, dass es möglich ist. Derzeit senden wir also die exakt entgegengesetzte Botschaft. SPIEGEL ONLINE: Um nicht übermäßig pessimistisch zu sein, das klingt nach einer ziemlich großen Aufgabe. Ramadan: Es muss auf lokaler Ebene geschehen. Es ist an jedem Einzelnen zu entscheiden, ob er mehr über seine Mitbürger und die Muslime, die um ihn herumleben, erfahren will. Da ist viel Misstrauen zwischen den beiden Gruppen. Die Menschen müssen aus ihren intellektuellen, religiösen und kulturellen Ghettos ausbrechen und zu universellen Werten finden. Diese Werte existieren. Wir können nicht auf die nächste Krise warten, um dann zu reagieren. Es muss eine präventive Strategie sein, die auf einem wirklichen Verständnis darüber basiert, was Pluralismus erfordert. SPIEGEL ONLINE: Außerhalb Europas scheint die muslimische Welt nicht verstanden zu haben, dass Europa und der Westen sich der Freiheit der Presse verschrieben haben, der Meinungsfreiheit und anderen Werten der Demokratie Ramadan: Ich stimme zu. Viele in der muslimischen Welt glauben, dass europäische Regierungen für die Karikaturen verantwortlich sind. Sie kapieren nicht, dass dem nicht so ist. Diese Menschen leben unter Regimen, in denen der Präsident beides kontrolliert: die Regierung und die Presse. Das ist nicht die einzige Fehlinterpretation des Westens. Der Westen wird in der muslimischen Welt oft als eine verlorene Zivilisation wahrgenommen ohne moralische Standards und Ethik - was natürlich falsch ist. Es wäre wichtig, dass die in Europa lebenden Muslime ihnen sagen, dass es sogar im Westen unterschiedliche Meinungen zu den Karikaturen gab. SPIEGEL ONLINE: Sie sagen also, viele Muslime wissen nicht, dass es auch im Westen eine Debatte über die Karikaturen gibt? Ramadan: Und umgekehrt: Wenn man im Westen die Gewaltszenen in den islamischen Ländern sieht, hat man den Eindruck, das wären die Muslime. Das stimmt natürlich auch nicht. Es gibt in der islamischen Welt viele verschiedene Strömungen wie hier auch. Die Stimmen der Radikalen gewinnen deshalb die Oberhand, weil sie lauter schreien und mehr Widerhall finden. Wir müssen der Vernunft mehr Gehör verschaffen. SPIEGEL ONLINE: Welche Strömungen gibt es in der islamischen Welt? Ramadan: Da ist ein Machtkampf im Gange. In der Welt der Muslime hat man Angst vor Selbstkritik, weil man meint, dies stärke die andere Seite, den Westen. Wer zu viele kritische Fragen stellt, wird als einer betrachtet, der die Seiten gewechselt hat und zu einem Westler in muslimischer Kleidung geworden ist. Nahm man den Westen früher als politische Kolonialisten wahr, so denkt man heute an wirtschaftliche Kolonialisierung und kulturellen Imperialismus. Man sollte nicht vergessen, dass die große Mehrheit der arabisch-islamischen Länder keine Demokratien sind. Viele Menschen in Europa fragen zum Beispiel nach den Rechten der Christen in SaudiArabien. Welche Rechte aber haben die Saudis in Saudi-Arabien? Wie steht es um das Volk? Die gängige Meinung in den meisten islamischen Ländern ist, dass alle Probleme von außen kommen. Das stimmt nicht. Sie sind Folge der Tatsache, dass es keine wirkliche Freiheit gibt und keinen politischen Willen, die Probleme zu lösen. SPIEGEL ONLINE: Was halten sie von der Idee der größten iranischen Zeitung, einen Karikaturen-Wettbewerb zum Holocaust auszuschreiben? Warum wird jeder Provokation aus dem Westen mit Antisemitismus begegnet? Ramadan: Muslime müssen akzeptieren, dass es keine doppelten Standards geben kann. Wir setzen den israelisch-palästinensischen Konflikt - ein politischer Konflikt - mit allen Juden gleich. Alles was in diesem Zusammenhang verletzt und antisemitisch ist, müssen wir verurteilen. Der Holocaust sitzt an einer tiefen und schmerzempfindlichen Stelle des europäischen Gewissens. Dies auszunutzen, bedeutete, Menschen auszubeuten, die verletzt wurden, gelitten haben und ganz furchtbar misshandelt wurden. Das heißt, der Holocaust-KarikaturWettbewerb ist nicht akzeptabel. Er muss verurteilt werden. SPIEGEL ONLINE: Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem gegenwärtigen Karikaturen-Streit und dem möglichen Versuch Irans, die Atombombe zu bauen? Ramadan: Ja, den gibt es. Der Karikaturen-Streit verschafft der iranischen Regierung Legitimation, da sie als Verteidiger der muslimischen Welt gegen den Westen auftritt. Als freie Bürger und Demokraten sollten wir zwischen den beiden Extremen stehen - zwischen Iran und jenen, die einen Krieg gegen Iran fordern. Sollte es zu einem Zusammenprall der Kulturen kommen, werden beide Seiten verlieren. Kommt es dagegen zu einem Dialog der Kulturen, so werden beide Seiten Gewinn davontragen. Wir müssen kapieren, dass ob wir gewinnen oder verlieren, es zusammen tun werden.