Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman „Beim Häuten der Zwiebel“ von Günter Grass INHALTSVERZEICHNIS 1. EINLEITUNG - ZU ASPEKTEN VON GEDÄCHTNIS UND ERINNERUNG............................................................................................ 2 2. GEDÄCHTNISFORMEN NACH ALEIDA ASSMANN ................... 5 2.1. INDIVIDUELLES GEDÄCHTNIS ............................................................ 5 2.2 GENERATIONENGEDÄCHTNIS .............................................................. 9 3. AUTOBIOGRAPHISCHES GEDÄCHTNIS..................................... 13 3.1. EIGENSCHAFTEN DES AUTOBIOGRAPHISCHEN GEDÄCHTNISSES .... 13 3.2. EINFLUSS DER KINDLICHEN UND ADOLESZENTEN ERINNERUNGEN 16 3.3. GEDÄCHTNIS IM ALTER ................................................................... 20 3.4 EMOTIONALE UND TRAUMATISCHE ERLEBNISSE ............................. 24 4. RHETORIK DES GEDÄCHTNISSES ............................................... 28 4.1. ERFAHRUNGSHAFTIGER UND MONUMENTALER MODUS ................. 29 4.2. REFLEXIVER MODUS ........................................................................ 31 5. INSZENIERUNG DER ERINNERUNGEN IN DEM ROMAN VON GÜNTER GRASS „BEIM HAUTEN DER ZWIEBEL“ ...................... 33 5.1. ZUM INHALT ..................................................................................... 33 5.2. ZUR TEXTANALYSE .......................................................................... 34 5.2.1. Zu Aspekten der Autobiographie .............................................. 35 5.2.2. Intertextualität und Interdiskursivität ...................................... 39 5.2.3. Erzählinstanzen ......................................................................... 43 5.2.4. Erzählebene ............................................................................... 47 5.2.5. Zeitstruktur ................................................................................ 50 5.2.6. Raumdarstellung ....................................................................... 59 5.3. ZUR GEDÄCHTNISSTRUKTUR DES ERZÄHLERS ............................... 63 5.3.1. Darstellung der Beobachter- und Felderinnerungen .............. 63 5.3.2. Gedächtnisstütze ........................................................................ 65 5.3.3. Unzuverlässiges Erinnern ......................................................... 68 6. SCHLUSSBETRACHTUNGEN.......................................................... 71 7. LITERATURANGABEN ..................................................................... 74 Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ „Wenn ihr mit Fragen zugesetzt wird, gleich die Erinnerung einer Zwiebel, die gehäutet sein möchte, damit freigelegt werden kann, was Buchstab nach Buchstab ablesbar steht: selten eindeutig, oft in Spiegelschrift oder sonst wie verrätselt. Unter der ersten, noch trocken knisternden Haut findet sich die nächste, die, kaum gelöst, feucht eine dritte freigibt, unter der die vierte, fünfte warten und flüstern. Und jede weitere schwitzt zu lang gemiedene Wörter aus, auch schnörkelige Zeichen, als habe sich ein Geheimniskrämer von jung an, als die Zwiebel noch keimte, verschlüsseln wollen.“1 1. Einleitung - zu Aspekten von Gedächtnis und Erinnerung Erinnerung ist ein Thema, das in der deutschsprachigen Literatur der letzten zwanzig Jahre immer mehr Bedeutung gewann. Der Aspekt Erinnerung übt dabei eine wichtige Funktion aus, weil es nicht nur um die Fragen nach dem individuellen und kollektiven Gedächtnis geht, sondern auch den Entstehungsprozess von Erinnerungsgemeinschaften. Im Allgemeinen lässt sich sagen, dass es zu einem literarischen „Gedächtnisboom“2 gekommen ist. Einfluss darauf haben sowohl die politischen, als auch kulturellen und sozialen Änderungen, die aus dem Untergang des Dritten Reiches und dann auch des Real-Sozialismus resultieren.3 Diese Wandlungen, sowie das allmähliche Sterben der Zeitzeugen lenkten die Aufmerksamkeit der Belletristik auf die Auseinandersetzung mit der Geschichte. „Weil dies und auch das nachgetragen werden muß. Weil vorlaut auffallend etwas fehlen könnte. (…) Und auch dieser Grund sei genannt: weil ich das letzte Wort haben will.“ (S. 8) mit diesen Worten erklärt Günter Grass die Gründe für die Entstehung seiner Autobiographie - „Beim Häuten der Zwiebel“. Die vergangenen Vorkommnisse, wie z.B. Krieg, Holocaust, Vertreibung und Entstehung der zwei deutschen Staaten werden hier in einem neuen Licht präsentiert. Der Fokus wird nicht mehr auf die kollektive Schuld, sondern auf die 1 Grass, G.: Beim Häuten der Zwiebel. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2008, S. 9. (Seitenangaben fortlaufen im Text). 2 Schwarz, A./ Müller, S.L.: Iterationen. Geschlecht im kulturellen Gedächtnis. In: Quelleres. Jahrbuch für Frauen und Geschlechterforschung 2008. Stuttgart: Wallstein 2008, S. 13. 3 Vgl. Gansel, C./ Liersch, W. (Hrsg.): Zeit vergessen, Zeit erinnern. Hans Fallada und das kulturelle Gedächtnis. Göttingen: V&R unipress 2008. S. 7. Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ individuelle Lebensgeschichte gerichtet. Diese wird aus einer reflexiven und distanzierten Perspektive erinnert. Demnach kann man eine These riskieren, dass es sich nicht mehr um das „Was“ der Erinnerungen, sondern um das „Wie“ handelt.4 Im Mittelpunkt dieser Arbeit wird also die Frage nach den literarischen Möglichkeiten der Präsentation von Zeitzeugenerinnerungen gestellt. Dabei ist davon auszugehen, dass es eine ganze Reihe von literarischen Darstellungsweisen gibt, die sich besonders dazu eignen die individuellen, kollektiven und generationsspezifischen Erinnerungsformen zu schildern. Man kann hier beispielsweise solche narratologischen Konstrukte erwähnen, wie Raum– und Zeitdarstellung, Erzählinstanzen oder Intertextualität. Ihre Analyse unter Berücksichtigung der kognitionspsychologischen und gedächtniskulturellen Theorien ermöglicht eine tiefere Einsicht in den Prozess des Erinnerns. Solche interdisziplinäre Auseinandersetzung mit Erinnerungs- und Gedächtnismechanismen wird in dieser Arbeit thematisiert. Zu Beginn werden Aspekte des individuellen und Generationsgedächtnisses nach Aleida Assmann, Maurice Halbwachs und Astrid Erll diskutiert. Im Anschluss daran wird die Aufmerksamkeit auf Theorien von Hans Markowitsch, Harald Welzer, Daniel Schacter und Rüdiger kognitionspsychologischen Pohl gelenkt. Eigenschaften Auf und diese die Weise sozialen werden die Funktionen des autobiographischen Gedächtnisses, sowie dessen Gestalt in der Kindheit und im hohen Alter präsentiert. Berücksichtigt wird dabei auch der Einfluss von traumatischen und emotionalen Erinnerungen. Im nächsten Schritt wird der Einblick in die Möglichkeiten der literarischen Darstellungsweisen genommen. Die Präsentation von gedächtniskulturellen Funktionen der formalästhetischen Textstrukturen wird hier unter dem Begriff der „Rhetorik des Gedächtnisses“ verfasst. Im Rahmen dieser Arbeit werden auch einige Aspekte der Autobiographie besprochen. Besonders viel Interesse wird aber und vor allem den narratologischen Kategorien und ihrer Besprechung an konkreten Beispielen geschenkt. Auf diese Weise wird veranschaulicht, wie man durch Intertextualität und Intermedialität, Erzählweise, Erinnerungsprozess Letztendlich 4 und werden Eigenschaften einige von des Zeit- und Raumdarstellung den Gedächtnisses individuellen präsentieren Gedächtniseigenschaften, kann. wie: Gansel, C: ‚Das Prinzip Erinnerung‘ in der deutschen Gegenwartsliteratur nach 1989- Magisterseminar. Reader zum Magisterseminar, S. 2. Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ Beobachter- und Felderinnerungen, Gedächtnisstützen und unzuverlässiges Erinnern besprochen. Im Zentrum dieser Arbeit steht der Text von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“. Der Autor erzählt hier sowohl von sich selbst, als auch von seinen Bemühungen eigene Lebensgeschichte zu verfassen. „Beim Häuten der Zwiebel“ ist also Autobiographie, in der der Autor nicht nur die Auseinandersetzung mit der individuellen Vergangenheit, sondern auch den Gegensatz zwischen Erinnerung und Gedächtnis thematisiert.5 Am Beispiel dieses Textes werden zwei Aspekte des Erinnerungsprinzips untersucht: erstens die Inszenierung der Erinnerungen auf der narratologischen Ebene, zweitens die Darstellungsweise einiger Gedächtnisstrukturen des Erzählers. Eine Schlussbetrachtung mit Präsentation der Untersuchungsergebnisse rundet diese Arbeit ab. 5 Vgl. mehr dazu: Lohr, S. (12.08.2006): Interview mit Günter Grass. http://www.ndrkultur.de/feuilleton/nkult354.html (Zugriff am: 11.06.2009). Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ 2. Gedächtnisformen nach Aleida Assmann In diesem Kapitel sollen die Grundlagen der Gedächtnistheorie von Aleida Assmann erweitert werden. Die Professorin für Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaft unterscheidet vier Gedächtnisarten, nämlich das Gedächtnis des Individuums, der Generation, des Kollektivs und der Kultur. Diese vier Stufen werden nach Raum- und Zeitradius, Gruppengröße sowie nach Flüchtigkeit und Stabilität unterschieden. In dem Beitrag „Vier Formen des Gedächtnisses“ geht die Autorin von der subjektiven Erfahrung aus, „dass die Individuen an Gedächtnishorizonten von unterschiedlicher sozialer [Familie, Nachbarschaft, Gesellschaft, Nation, Kultur- M.B.] und zeitlicher Reichweite [Generation – M.B.] teilhaben.“6 Im Mittelpunkt dieses Kapitels stehen zwei von den oben erwähnten Gedächtnisarten, nämlich: das individuelle Gedächtnis und das Generationengedächtnis. Es soll hier der Versuch unternommen werden, einige Grundbegriffe und Mechanismen zu definieren, die die beiden Gedächtnisformen bestimmen. 2.1. Individuelles Gedächtnis In diesem Abschnitt soll der Aspekt des individuellen Gedächtnisses erfasst werden. Es werden hier sowohl die Eigenschaften dieser Gedächtnisform, als auch jene der persönlichen Erinnerungen dargestellt. Das menschliche Gedächtnis ist von der Erinnerungsfähigkeit abhängig, das heißt, die persönlichen Erinnerungen sind wie ein Stoff, aus dem die eigene Identität, Erfahrungen und Beziehungen gebaut werden. In Anlehnung an Aleida Assmann kann man also 6 Assmann, A.: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen, Wissen, Ethik 13/2002, S. 184. Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ folgendes feststellen: „Ohne sie [Erinnerungen – M.B.] können wir kein Selbst aufbauen und nicht mit anderen als individuellen Personen kommunizieren.“7 Das individuelle Gedächtnis lässt sich in: episodisches, semantisches und prozedurales Gedächtnis zerlegen, je nachdem, wie die Informationen erworben und behalten werden.8 Das episodische Gedächtnis lässt sich als Erinnerungsschatz bezeichnen, den das Individuum während des Lebens erworben hat. Grundlage dieser Gedächtnisform ist das dynamische Erinnern, das hießt, die Erinnerungen werden plötzlich bewusst und unter bestimmten Umständen wieder verfügbar. Innerhalb dieser Erinnerungsleistung lassen sich verschiedene Sorten von Erinnerungen unterscheiden, u.a. verfügbare, unverfügbare oder unzugängliche Erinnerungen.9 Das nächste Element, das das biographisch grundierte episodische Gedächtnis ergänzt, ist das semantische Gedächtnis. Mit diesem Begriff wird „(...) die Summe dessen gemeint, was wir nicht durch persönliche Erfahrungen, sondern durch gezieltes Lernen in uns aufnehmen.“10 Das ist also das auswendig Gelernte, das begriffliche und faktische Wissen, wie beispielsweise Multiplizieren oder Lesen. Solches kognitive Wissen11 bleibt im semantischen Gedächtnis solange es sich nicht verflüchtigt.12 Bemerkenswert ist die Tatsache, dass die Informationen, die sich in diesem Speichersystem befinden, unterliegen nicht dem psychologischen Prinzip der Unzuverlässigkeit. Dazu lässt sich das semantische Gedächtnis wie ein Muskel trainieren und mithilfe verschiedener Mnemotechniken13 systematisch erweitern.14. Neben diesen zwei Gedächtnissystemen differenzieren die Wissenschaftler die dritte Gedächtnisart – das prozedurale Gedächtnis. Es unterscheidet sich von den oben erwähnten dadurch, dass es niemals als ein vollständig bewusster Akt gelten wird, es kann auch nicht in das kognitive Wissen übersetzt werden. Als prozedurales Gedächtnis „versteht man ein Gedächtnis, das in 7 Assmann, A.: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen, Wissen, Ethik 13/2002, S. 184. Vgl. Assmann, A.: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen, Wissen, Ethik 13/2002, S. 183-186. 9 Vgl. Assmann, A.: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen, Wissen, Ethik 13/2002, S. 184. 10 Assmann, A.: Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen. Berlin: Erich Schmidt 2006, S. 183. 11 Kognitives Wissen bezieht sich auf alle Formen der Informationsaufnahme und der Informationsverarbeitung wie z.B. Wahrnehmen, Vorstellen, Denken und Bewerten. (Vgl. Clauß, G.: Wörterbuch der Psychologie. Leipzig: VEB bibliographisches Institut, 1981, S.319.) 12 Vgl. Schacter, D.L.: Wir sind Erinnerung. Gedächtnis und Persönlichkeit. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt 1999, S. 40. 13 Mnemotechnik ist eine Bezeichnung für die Benutzung sachfremder Lernhilfen zur leichteren Einprägung unterschiedlicher Lerninhalte. Die im Mittelalter recht verbreitete Mnemotechnik ist heute weitgehend vom sinnerfassenden Lernen verdrängt worden, mitunter in spielerischer Form noch in Gebrauch. (Vgl. Krüger, H. (red. Leitung): Schülerduden. Psychologie. Ein Lexikon zum Grundwissen der Psychologie. Mannheim: Dudenverlag 2002, S. 253.) 14 Vgl. Assmann, A.: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen, Wissen, Ethik 13/2002, S. 183-186. 8 Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ den Körper eingelassen wird.“15 Aleida Assmann gibt für dieses Erinnerungssystem solche Beispiele an, wie Radfahren, Schwimmen oder Klavierspielen. Das sind Fähigkeiten, die einmal gelernt, bleiben in dem Gedächtnis für immer. Zu anderen Komponenten dieses Typs gehören auch alltägliche Handlungen, wie das Zähneputzen oder das Essen. Diese Vorgänge können durch das ständige Wiederholen so automatisiert werden, dass sich die Individuen nur schwer an sie erinnern – habitualisierte Handlungen. Die Erinnerungen des individuellen Gedächtnisses verfügen nach Aleida Assmann über bestimmte Merkmale. Sie machen beispielsweise das menschliche Gedächtnis zum „dynamischen Medium subjektiver Erfahrungsverarbeitung.“16 Assmann bezeichnet solche Erinnerungen als perspektivisch, isoliert, fragmentarisch, flüchtig und labil. Die Erinnerungen der Individuen sind nicht nur perspektivisch, sondern auch unaustauschbar und unübertragbar.17 Sie unterscheiden sich von den Erinnerungen anderer Personen, weil jeder Mensch eigene Lebensgeschichte und eine spezifische Wahrnehmungsposition besitzt. Assmann nähert sich in diesem Sinne der Haltung von Daniel L. Schacter an, der betont, dass: „(…) unsere Erinnerungen (...) unverwechselbar zu uns [gehören- M.B.] und (...) mit denen anderer Menschen nicht zu vergleichen [sind – M.B.]. Das empfinden wir so, weil unsere Erinnerungen in der nicht abreißenden Kette von Ereignissen und Episoden verwurzelt sind, welche die Besonderheiten unseres alltäglichen Lebens ausmachen.“18 Man kann also feststellen, dass selbst durch einfache, alltägliche Ereignisse, wie z.B. Gespräch mit dem Nachbar oder Lesen eines Buches unterscheiden sich die menschlichen Erfahrungen und gleichzeitig Erinnerungen voneinander. Das, was individuell erlebt wurde, kann auf andere Personen nicht hundertprozentig übertragen werden. Nächstens schildert Aleida Assmann die Erinnerungen als ein Netz. Sie existieren nicht isoliert, sondern sind mit Erinnerungen der anderen verbunden. Die Anglistin folgt dem 15 Assmann, A.: Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen. Berlin: Erich Schmidt 2006, S. 185. 16 Assmann, A.: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München: C.H. Beck 2006, S. 25. 17 Assmann, A.: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen, Wissen, Ethik 13/2002, S. 184. 18 Schacter D.L.: Wir sind Erinnerung. Gedächtnis und Persönlichkeit. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt 1999, S. 38. Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ französischen Soziologen Maurice Halbwachs19, der meinte, dass „(...) das individuelle Gedächtnis immer schon sozial gestützt [ist – M.B.].“20 Dementsprechend kann der einsame Mensch keine Erinnerungen haben, weil diese im Prozess der zwischenmenschlichen Kommunikation entstehen und durch diese verfestigt werden. So nach Halbwachs hatte Caspar Hauser21 keine Erinnerungen, der einsame Robinson Crusoe aber schon, weil er im Geiste der sozialen Beziehungen erzogen wurde.22 Man kann also sagen, dass die Erinnerungen in den Menschen durch Überlappung und Anschlussfähigkeit hineinwachsen. Das bedeutet gleichzeitig, dass die Erinnerungen einer Person in Verbindung mit Erinnerungen anderer Person stehen und diese bestätigen können. Ein gutes Beispiel für diese Erinnerungseigenschaft schildert Film von Pete Travis unter dem Titel: „8 Blickwinkel“ (2008)23. Es wurde hier ein Terroranschlag auf den amerikanischen Präsidenten dargestellt. Acht Personen erzählen, was sie in dem dramatischen Moment gesehen haben, wobei sich ihre Aussagen gegenseitig bestätigen oder ausschließen. Der Regisseur zeigt hier die Kohärenz der Erinnerungen verschiedener Menschen und die damit verbundene Glaubwürdigkeit. Die Erinnerungen weisen nach Aleida Assmann noch eine andere Eigenschaft auf, sie sind fragmentarisch, also: „(…) begrenzt und ungeformt. Was als Erinnerung aufblitzt, sind in der Regel ausgeschnittene, unverbundene Momente ohne Vorher und Nachher. Erst durch Erzählungen erhalten sie nachträglich eine Form und Struktur, die sie zugleich ergänzt und stabilisiert.“24 Maurice Halbwachs – frz. Soziologe, betonte v.a. die verhaltensprägende Kraft der sozialen Klassen und stellte so die Verbindung zw. Soziologie und Sozialpsychologie her. (Vgl. Weiß, J./ Buhl, D. (red. Leitung): Die Zeit. Das Lexikon in 20 Bänden. Hamburg: Gerd Bucerius 2007. Bd. 6, S.193.) 20 Assmann, A.: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München: C.H. Beck 2006, S. 25. 21 Caspar Hauser – Findelkind unbekannter Herkunft, *(nach seinen Angaben) 30.4.1812, + Ansbach 17.12.1833; tauchte im Mai 1828 in Nürnberg auf und bezeichnete sich als K.H. Seinem Bericht zufolge war er mehr als 10 Jahre in aller Verborgenheit in einem dunklen Raum aufgewachsen. Der Findling, dessen geistige Entwicklung begrenzt blieb, nahm sich bes. Jurist P.J.A. Feuerbach an, der ihn nach zwei angebl. Attentatsversuchen 1829 und 1831 in die Obhut des Volksschullehrers J.G. Meyer nach Ansbach gab. Am dortigen Appellationsgericht arbeitete H. als Aktenkopist. In der Sozialpsychologie werden Verhaltensauffälligkeiten, die aufgrund von sozialer Isolierung entstanden, als Krh.-Syndrom bezeichnet. (Vgl. Brockhaus Enzyklopädie. Mannheim: Brockhaus, 2006. Bd. 12.) 22 Vgl. Erll, A.: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart, Weimar: Metzler 2005, S. 15. 23 Originaltitel: „Ventage Point“, Regie: Peter Travis, Drehbuch: Barry Levy. (Vgl. mehr dazu: Heidmann, P.: Das Gleiche ist nicht das Selbe. http://www.cineman.ch/movie/2008/VantagePoint/review.html (Zugriff am: 9.06.2009)) 24 Assmann, A.: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen, Wissen, Ethik 13/2002, S. 184. 19 Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ Pohl bestätigt diese Theorie dadurch, dass er das Gedächtnis mit einer Computer – Festplatte vergleicht. Das Gedächtnis ist nämlich kein Speichermedium, auf dem die Dateien in einem festen Format abgelegt werden und dann auch nach vielen Jahren in derselben Form abgerufen werden können.25 Die episodischen Inhalte, wie Lebensumstände oder Emotionen werden also im Gedächtnis in fragmentarischer Form abgelegt. Man kann deswegen eine Feststellung riskieren, dass der Prozess des Erinnerns dem Prozess der paläontologischen Untersuchung ähnlich ist. So wie der Paläontologe aus Knochenbruchstücken auf die Gestalt des Dinosauriers schließt, versucht auch die sich erinnernde Person verfügbare, fragmentarisch behaltenen Gedanken zu einem sinnvollen Ganzen zu kombinieren.26 Die Erinnerungen sind laut Aleida Assmann durch noch eine Eigenschaft gekennzeichnet: sie sind scilicet flüchtig und labil. „Insbesondere verändern sich die Relevanzstrukturen und Bewertungsmuster im Laufe des Lebens, so daß ehemals Wichtiges nach und nach unwichtig und ehemals Wichtiges in der Rückschau unwichtig werden kann.“27 Das bedeutet, die Erinnerungen ändern sich, weil sich die Personen und ihre Lebensumstände verändern. Manchmal gehen die Erinnerungen ganz verloren oder verblassen im Laufe der Zeit. Aleida Assmann in „Einführung in die Kulturwissenschaft“ führt ein passendes Beispiel an: bei dem Besuch sagte immer ihre Großmutter, dass sich ihre Kinder nie gezankt hätten. Die Wahrheit sah aber anders aus. Die Großmutter hat also die Streite ihrer Kinder aus dem Gedächtnis getilgt. Solche Verhaltensweise beweist nur die Theorie von Assmann, dass die Erinnerungen kein exakter Spiegel des vormaligen Geschehens sind, sondern fluktuieren und sich durch immer neue Rekonstruktionen an das Selbstbild in der jeweiligen Gegenwart anpassen.28 2.2 Generationengedächtnis 25 Vgl. Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: W. Kohlhammer 2007, S. 148. 26 Vgl. Neumann, B.: Erinnerung, Identität, Narration. Gattungstypologie und Funktionen kanadischer Fictions of Memory. Berlin u.a.: de Gruyter 2005, S. 26. 27 Assmann, A.: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen, Wissen, Ethik 13/2002, S. 184. 28 Vgl. Assmann, A.: Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen. Berlin: Erich Schmidt 2006, S. 181. Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ In diesem Punkt soll die Frage des Generationengedächtnisses, dessen Teilnehmer und Spezifik in Anlehnung an den schon erwähnten Beitrag von Aleida Assmann „Vier Formen des Gedächtnisses“ besprochen werden. Besonders viel Aufmerksamkeit wird dem Aspekt der Bildung eines Generationsprofils und dem Generationswandel auf der Makroebene der Gesellschaft gewidmet. Das Generationengedächtnis ist ein wichtiges Element in der Konstruktion des persönlichen Gedächtnisses und der Generationen – Identität. Man kann zwei Ebenen unterscheiden, auf denen es gebildet wird. Das Generationengedächtnis entsteht entweder auf der Mikroebene der Familie, oder auf der Makroebene der Gesellschaft. Im ersten Fall handelt es sich um Beziehungen zwischen Enkeln, Kindern und Eltern.29 Laut Aleida Assmann ermöglicht dieses Drei-Generationen-Gedächtnis das Zurechfinden in der Zeit. Man weißt zu welcher Generationsgruppe man gehört, „Kinder und Enkel nehmen einen Teil der Erinnerungen der älteren Familienmitglieder in ihren Erinnerungsschatz auf, (...).“30 Durch mündliche Erzählungen haben auch diejenigen am Gedächtnis teil, die das Erinnerte nicht persönlich erlebt haben. So findet ein Austausch lebendiger Erinnerungen zwischen Zeitzeugen und Nachkommen statt. „Das Generationengedächtnis reicht daher so weit, wie sich die Mitglieder der sozialen Gruppe zurückerinnern können.“31 Das bedeutet, dass Generationengedächtnis im familiären Kontext drei, manchmal vier Generationen umfasst, also ca. 120 Jahre. Die Makroebene der Gesellschaft bezieht sich hingegen in der Regel auf die Personen, die in einem Zeitraum von wenigen Jahren geboren wurden.32 Es ist eine Art des kollektiven und gleichzeitig kommunikativen Gedächtnisses. „Es sind Erinnerungen, die der Mensch mit seinen Zeitgenossen teilt. (...) Dieses Gedächtnis wächst der Gruppe historisch zu; es entsteht in der Zeit und vergeht mit ihr, genauer gesagt: mit seinen Trägern.“33 Es lässt sich also sagen, dass die Träger dieser Gedächtnisart zeitlich und 29 Vgl. Szydlik, M.: Generationenforschung. Zitiert nach: King, V.: Die Entstehung des Neuen in der Adoleszenz. Individuation, Generativität und Geschlecht in modernisierten Gesellschaften. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2004, S. 47. 30 Assmann, A: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen, Wissen, Ethik 13/2002, S. 185. 31 Erll, A.: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart, Weimar: Metzler 2005, S. 16. 32 Vgl. Szydlik, M.: Generationenforschung. Zitiert nach: King, V.: Die Entstehung des Neuen in der Adoleszenz. Individuation, Generativität und Geschlecht in modernisierten Gesellschaften. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2004, S. 47. 33 Assmann, J.: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: C.H. Beck 2005, S. 50. Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ räumlich begrenzte Gruppen sind, die sich daran erinnern, „was dem Selbstbild und den Interessen der Gruppe entspricht. Hervorgehoben werden dabei vor allem Ähnlichkeiten und Kontinuitäten, die demonstrieren, dass die Gruppe dieselbe geblieben ist.“34 Diese Gedächtnisart wird durch soziale Interaktionen (gemeinsame Erfahrungen und Handlungen) oder Weitererzählen) durch Kommunikation (Erzählen, Zuhören, Nachfragen, konstruiert. Dementsprechend kann man noch mal nach Aleida Assmann und Maurice Halbwachs wiederholen, dass der einsame Mensch keine Erinnerungen bilden kann.35 Sie entstehen und werden im Rahmen der sprachlichen Kommunikation verfestigt. Gemeint sind hier nicht nur Familie und Bekanntenkreis, sondern auch ganz unbekannte Personen, denn: „Individuen sind mit ihren Erinnerungen eingespannt in das größere Gedächtnis ihrer Gemeinde, ihrer Stadt, ihrer Generation.“36 A. Assmann führt ein Beispiel für diese Gedächtnisart an, nämlich in Memphis, wo Martin Luther King37 ermordet wurde, wurde keine Schule und keine Straße nach seinem Namen benannt. Die Stadt besitzt dagegen Straßen und Gebäuden, die anderen Opfern gewidmet sind.38 Dieser Fall veranschaulicht, wie ein traumatisches, beschämendes Ereignis durch eine Gemeinschaft verarbeitet werden kann. Das Generationengedächtnis wird durch den Wandel der Generationen bestimmt. Mit dem Eintritt jeder neuen Generation ändert sich das Erinnerungsprofil der Gesellschaft. Aleida Assmann beschreibt diesen Prozess so: „Mit jedem Generationswechsel, der nach einer Periode von ca. vierzig Jahren stattfindet, verschiebt sich das Erinnerungsprofil einer Gesellschaft merklich. Haltungen, die einmal bestimmend oder repräsentativ waren, rücken allmählich vom Zentrum an die Peripherie. Dann stellt man rückblendend fest, daß sich mit dem Dominanzwechsel der Generationen eine bestimmte Atmosphäre von Erfahrungen und Werten, Hoffnungen und Obsessionen aufgelöst hat und neue Prägungen an ihre Stelle getreten sind.“39 34 Erll, A.: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart, Weimar: Metzler 2005, S. 17. 35 Vgl. Assmann, A.: Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen. Berlin: Erich Schmidt 2006, S. 187-188. 36 Assmann, A.: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen, Wissen, Ethik 13/2002, S. 184. 37 King, Martin Luther Jr.- amerikan. Bürgerrechtler und Baptistenpfarrer, * Atlanta 15.1.1929, + (ermordet) Memphis 4.4.1968; King entwickelte unter dem Einfluss von H.D. Thoreu und M. Gandhi den gewaltlosen Widerstand und den zivilen Ungehorsam zur wirksamen Waffe der Bürgerrechtsbewegung der amerikan. Schwarzen. 1964 erhielt er als Wortführer einer friedl. Rasenintegration den Friedensnobelpreis. (Vgl. Brockhaus Enzyklopädie, Mannheim: Brockhaus 2006. Bd. 15.) 38 Vgl. Assmann, A.: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen, Wissen, Ethik 13/2002, S. 184. 39 Assmann, A.: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen, Wissen, Ethik 13/2002, S. 184. Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ Mit anderen Worten gesagt, das Generationengedächtnis ist eine Gemeinschaft der Gleichaltriegen, die durch dieselbe politischen, sozialen, kulturellen Ereignisse geprägt wurden. Ihre Erfahrungen und die daraus folgende Lebensanschauung müssen sich wesentlichen von den Erfahrungen und der Lebensanschauung anderer Generationen unterscheiden. Jeder Mensch wurde nämlich in seiner Altersstufe von verschiedenen historischen Ereignissen geprägt, die er gewollt oder ungewollt mit seinen Zeitgenossen teilt. Sie beeinflussen Überzeugungen, Haltungen, Weltbilder, Ethik oder kulturelle Deutungsmuster des Individuums. Wenn sich die Generationen wechseln, dann verschiebt sich auch das Erinnerungsprofil einer sozialen Gemeinschaft. Haltungen, die einmal repräsentativ oder bestimmend waren, werden allmählich vom Zentrum an die Peripherie verschoben. Ein bestimmtes zeitliches Milieu wird aufgelöst. An diese Stelle kommt eine neue Generation mit neuen Werten, Hoffnungen, Obsessionen und Erfahrungen.40 Beispielsweise in „Geschichtsvergessenheit - Geschichtsversessenheit“ schildern Aleida Assmann und Ute Frevert solche Situation: in den Jahren 1939 - 1945 wurden in Deutschland drei politische Generationen herausgebildet. Für die 1924 Geborenen galten andere Maßstäbe als für die 1927 oder 1930 Geborenen. Es ist ein Altersabstand von drei Jahren, der die ersten zur schuldigen Generation der jungen Soldaten, die zweiten zu der sog. skeptischen Generation und die dritten zur unbefangenen Generation machte. Wesentlich ist dabei die Tatsache, dass jede Altersgruppe dessen bewusst ist, dass sie sich sowohl von der vorhergehenden, als auch von der nachfolgenden unterscheidet, was nach Meinung des Soziologen Heinz Bude einen Einfluss auf die Kommunikation zwischen den Generationen hat: „(...) die Kommunikation zwischen den Generationen [dreht sich – M.B.] immer um eine Grenze des Verstehens, die mit der Zeitlichkeit des Erlebens zu tun hat.“41 Das bedeutet, dass die Generationskonflikte entstehen dann, wenn das kulturelle Profil einer Generation von der nachfolgenden Generationen definiert wird, die eine andere Sicht auf die Realität haben. Im Allgemeinen ist das Generationengedächtnis ein Netz, in dem sich die unterschiedlichen Einzelerinnerungen zusammenballen. Wichtigen Einfluss auf das Profil dieser Gedächtnisart haben vor allem die Erfahrungen und die Denkweise des 40 Assmann, A./ Frevert, U.: Geschichtsvergessenheit - Geschichtsversessenheit. Stuttgart: Deutsche VerlagsAnstalt 1999, S. 37. 41 Bude, H.: Generationen im sozialen Wandel. Zitiert nach: Assmann, A.: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München: C.H. Beck 2006, S. 27. Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ Individuums. Karl Mannheim ist überzeugt, die Erfahrungen, die im Alter zwischen 12 und 25 gesammelt werden, sind ausschlaggebend für die Etablierung der Lebensumschauung des Individuums: „Man nimmt an, daß das, was in diesem Zeitraum erlebt wurde, für die Persönlichkeitsentwicklung einschneidender ist und tiefe Spuren im Gedächtnis hinterläßt, als das, was im höheren Alter zu verarbeiten ist.“42 Beispielsweise Personen, die während seiner Jugend durch den Vietnam-Krieg betroffen wurden, scheinen mehr emotional an dieses Thema herantreten, als Personen, die Jahre später nach dem Krieg geboren wurden. Wenn die erste Gruppe von Grund aus die Idee des Krieges ablehnt, ist die zweite mehr objektiv und sieht in der militärischen Auseinandersetzung sogar wirtschaftliche Vorteile.43 Laut Mannheim sollen also die Erfahrungen der Jugendphase prägend für das Profil der ganzen Generation sein. 3. Autobiographisches Gedächtnis In diesem Kapitel soll der Aspekt des autobiographischen Gedächtnisses analysiert werden. Es werden hier nicht nur die Grundlagen dieser Gedächtnisart, sondern auch Charakteristik der Erinnerungsfähigkeiten in der Kindheit und im hohen Alter dargestellt. 3.1. Eigenschaften des autobiographischen Gedächtnisses Korte und dann auch Pohl vergleichen das autobiographische Gedächtnis mit einem Fluss. Er fängt als ein Rinnsal an, das nicht genau weiß, wohin es will, dann aber nimmt das Wasser aus anderen Bächen und Flüssen auf und wird immer stärker. Das Quellwasser vermischt sich mit neuen Inhalten, ab und zu kommen auch die Wasserfälle vor, die die Meilensteine im Lebenslauf markieren. Zunehmend fließt das Wasser ruhiger, denn es kommt wenig Neues hinzu. Das Erscheinungsbild des Flusses kann sich zwar im Laufe seines Weges verändern, aber alle Bestandsteile seiner 42 Assmann, A.: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen, Wissen, Ethik 13/2002, S. 185. Vgl. Wineburg, S.: Sinn machen: Wie Erinnerung zwischen den Generationen gebildet wird. In: Wezler, H. (Hrsg.): Das soziale Gedächtnis, Geschichte, Erinnerung, Tradierung. Hamburg: HIS Verlagsgesellschaft 2001, S. 189-204. 43 Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ Geschichte sind noch immer erhalten.44 Diese Fluss-Metapher ist zu unterstützen, denn auch Welzer definiert das autobiographische Gedächtnis als ein Wechselspiel von episodischen, semantischen Gedächtnisfunktionen. Das perzeptuellen, autobiographische prozeduralen Gedächtnis soll und also priming– als ein übergeordnetes System des episodischen Gedächtnisses betrachtet werden.45 Ähnliche Definition führte auch Brewer ein: “Ich denke, wir können das autobiographische Gedächtnis definieren, als das Gedächtnis für solche Informationen, die sich auf das Selbst beziehen.”46 Man kann also sagen, dass das wichtigste Kriterium der autobiographischen Erinnerungen darin besteht, ob sie einen Selbstbezug aufweisen. Dazu ist hier nicht nur “selbst erlebt” gemeint, sondern dass ein Erlebnis eine individuelle Bedeutsamkeit aufweist. Ein Beispiel präsentierte Pohl, als er zwei Arten der Erinnerungen beschrieb. Seiner Meinung nach ist die persönliche Relevanz völlig anders, wenn die Menschen selbst ein Erdbeben erleben, als wenn sie darüber aus Radio oder Fernsehen erfahren. In dem ersten Fall ist die persönliche Bedeutsamkeit größer, sodass es sogar die traumatischen oder emotionalen Erinnerungen verursachen kann. Demnach kann man sagen, dass die allgemeinen Nachrichten (z.B. erfahren über Erdbeben aus dem Fernsehen) lösen eher die narrativen Erinnerungen aus, während das Selbsterleben der Geschehnisse autobiographische Erinnerungen generiert.47 Innerhalb des autobiographischen Systems unterscheidet Aleida Assmann zwei Modi: zum einen Ich-Gedächtnis, zum anderen Mich-Gedächtnis. Während das eine verbal und deklarativ ist und darin besteht, Erinnerungen bewusst aufzurufen und ihnen durch die Haltung der Distanz die Form einer Erzählung zu geben, ist das andere flüchtig und diffus. Die Erinnerungen, die in Mich–Gedächtnis schlummern, lassen sich nicht bewusst abrufen. Sie melden sich unerwartet als gewisse Antwort für bestimmte äußere 44 Vgl. Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: W. Kolhammer 2007, S. 90. 45 Vgl. Welzer, H.: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München: C.H. Beck 2002, S. 144. 46 Brewer, W.F.: What is autobiographical memory? Zitiert nach: Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: W. Kolhammer 2007, S. 45. 47 Vgl. Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: W. Kolhammer 2007, S. 45. Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ Reize, wie z.B. Orte, Gegenstände, Gerüche und Geschmäcke, die hier als Gedächtnisauslöser funktionieren.48 „Das Mich-Gedächtnis ist nichts anders als ein potentielles System von Resonanzen, von Seiten, die zum Klingen gebracht werden können. Welche Seite getroffen wird, ob und wann eine Schwingung im labyrinthischen Netzwerk unserer Seele entsteht, ist nicht wirklich steuerbar, sondern beruht weitgehend auf Zufällen.“49 Demnach sind die herangezogenen Erinnerungen von dem aktuellen Hinweisreiz abhängig, der den Erinnerungsprozess in Gang setzt. Schacter bezeichnet das als einen assoziativen Abruf, beispielsweise ein plötzlich gehörtes Lieblingslied löst die Erinnerungen an Ort und Zeit aus, wann dieses zum ersten Mal gehört wurde, an Personen, die damals kennen gelernt wurden und an Gefühle, die damals empfunden wurden.50 Wenn man sich in solcher Erinnerung als handelnde Person sieht, dann ist das eine Beobachtererinnerung bzw. observer memories. Wenn man aber das ganze Geschehen aus den Augen der erlebenden, emotional involvierten Person sieht, dann hat man mit einer Felderinnerung bzw. field memories zu tun. Als erster mit diesen Erinnerungsarten beschäftigte sich Freud, er vertrat die Auffassung, dass die Beobachtererinnerungen modifizierte Versionen des ursprünglichen Ereignisses sind, das anfänglich aus der Feldperspektive wahrgenommen wurde. Im Gegensatz zu ten Beobachtererinnerungen, treten die Felderinnerungen vor allem, dann, wen man sich auf die Gefühle konzentriert. „Während field memories die emotionale Dimension von Zurückliegendem ‚wiederaufleben’ lassen und für das gegenwärtige Identitätsverständnis verfügbar machen, erlauben observer memories eine selbstreflektierte Distanz zu der Vergangenheit und deren aktive Vergegenwärtigung im Lichte aktueller Bedingungen.“51 Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die emotionale Intensität eines Erlebnisses die Art des Erinnerungsaktes bestimmt. Je mehr emotional das Event war, desto detaillierter wird es erinnert.52 48 Vgl. dazu ausführlich: Assmann, A.: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München: C.H. Beck 2006, S. 119-124. 49 Assmann, A.: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München: C.H. Beck 2006, S. 123. 50 Vgl. Schacter, D.L.: Wir sind Erinnerungen. Gedächtnis und Persönlichkeit. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1999, S. 115. 51 Neumann, B.: Erinnerung, Identität, Narration. Gattungstypologie und Funktionen kanadischer „Fictions of Memory“. Berlin u.a.: de Gruyter 2005, S. 30 - 31. 52 Vgl. Schacter, D.L.: Wir sind Erinnerungen. Gedächtnis und Persönlichkeit. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1999, S. 45-48. Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ Das individuelle autobiographische Gedächtnis ermöglicht das Erleben aller Lebensepisoden als ein kontinuierliches Ich. „Es stellt für einen selbst wie für die anderen sicher, dass man trotz der verschiedenen Zeit und der physischen und psychischen Veränderungen über die Lebensspanne hinweg immer mit ein und demselben ich zu tun hat.“53 Dementsprechend lässt sich sagen, dass dem Verhältnis zwischen einem aktualisierten Selbstkonzept und gegenwärtig verfügbaren autobiographischen Erinnerungen eine dynamische, gegenseitige Beeinflussung zugrunde liegt. Einerseits prägt das Selbstkonzept die Prozesse der Selektion und Interpretation von Erinnerungen, andererseits aber hängt das Selbstbild von den Erinnerungen ab. Die Selbsteinschatzung basiert nämlich auf persönlichen Erinnerungen. „Selbstschemata und autobiographische Erinnerungen sind also grundlegend aufeinander abgestimmt und werden aneinander angeglichen.“ 54 Für Anpassung der Erinnerungen an die Gegenwart gibt es zahlreiche Beispiele. Pohl im „Autobiographischen Gedächtnis“ schilderte ein: im Jahre 1972 wurde in den USA eine Umfrage durchgeführt, welcher Partei die Bevölkerung positiv steht - den Republikanern oder den Demokraten. Vier Jahre später wurde die Umfrage wiederholt, von denen, die ihre politische Orientierung inzwischen geändert hatten (22%), 91% behaupteten, dass sie der jetzt favorisierten Partei immer zugeneigt und ihre Präferenz in letzten vier Jahren nicht geändert hätten. Dieses Beispiel veranschaulicht die These, dass nur das erinnert wird, was mit dem gegenwärtigen Selbstbild in Einklang gebracht werden kann.55 3.2. Einfluss der kindlichen und adoleszenten Erinnerungen „Das autobiographische Gedächtnis wird die Geschichte des Selbst”, die schon in der Kindheit beginnt.56 Es ist aber nicht leicht zu sagen, ab wann Kinder über dieses Gedächtnis verfügen. Es entwickelt sich nämlich über mehrere qualitative Stufen 53 Markowitsch, H.J./ Welzer, H.: Das autobiographische Gedächtnis. Hirnographische Grundlagen und biosoziale Entwicklung. Stuttgart: Klett-Cotta 2005, S. 215. 54 Vgl. Neumann, B.: Erinnerung, Identität, Narration. Gattungstypologie und Funktionen kanadischer „Fictions of Memory“. Berlin: de Gruyter 2005, S. 31. 55 Vgl. Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: W. Kolhammer 2007, S. 164-165. 56 Nelson, K.: Erzählung und Selbst, Mythos und Erinnerung: Die Entwicklung des autobiographisches Gedächtnisses und des kulturellen Selbst. In: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen 15 /2002, S. 245. Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ hinweg und ist mit der Entstehung des Selbstkonzeptes eng verbunden. Die Kinderzeit ist deswegen wichtigerer Bestandteil der Persönlichkeit, denn es finden damals gravierende Reifungsprozesse statt. Je nach kognitiven, sprachlichen und kommunikativen Möglichkeiten bilden sich derzeit abstrakte Vorstellungen davon aus, wer man eigentlich ist.57 Markowitsch und Welzer haben eine Untersuchung durchgeführt, die darauf hinweist, dass das autobiographische Gedächtnis erst nach den ersten drei Lebensjahren entsteht.58 Diese These bestätigt Pohl: „Mit 3-3,5 Jahren gelingt es Kindern erstmals (mit mehr oder minder großer Unterstützung seines Erwachsenen), eine kohärente Geschichte über vergangene Ereignisse zu erzählen.“59 Bemerkenswert ist dabei die Tatsache, dass die jüngeren Ereignisse in der Regel ins Gedächtnis nicht berufen werden können. Dieses Phänomen nennt man Kindheitsamnesie. Die Wissenschaftler geben verschiedene Gründe der infantilen Amnesie an, zu den populärsten gehören Defizite bei der Sprachbeherrschung und Mangel des Selbstkonzeptes. Laut der Theorie des Sprachdefizits ist die sprachliche Entwicklung des Kindes mit der Entwicklung des Gedächtnisses verbunden: „Die Entwicklung der Sprache kann als eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Bildung und Festigung höherer Formen von Gedächtnis gelten. Da wir unsere ganze belebte und unbelebte Welt zu benennen pflegen und praktisch von Geburt an auch über Lautäußerungen (Weinen, Lachen) kommunizieren, stellt die Verankerung unserer Umwelt im sprachlichen Ausdruck ein Charakteristikum unseres Intellekts dar.“60 Das bedeutet, die Ereignisse werden sprachlich enkodiert und später in verbaler Form abgerufen. Die früheren, nicht-sprachlichen Erinnerungen (visuelle oder taktile Erlebnisse) sind nicht zugänglich, weil sie zu der dominanten, sprachlichen Abrufstruktur nicht passen. Die Theorie des Mangels an dem Selbstkonzept favorisiert dagegen Grad der Bedeutung und der Anpassung von episodischen Erinnerungen an das Selbstkonzept. Passende und wichtige Erinnerungen werden dabei besser erinnert, als die unpassenden und unbedeutenden. Da die Kleinkinder über kein Selbstkonzept 57 Vgl. Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: W. Kolhammer 2007, S. 91-93. 58 Vgl. mehr dazu: Markowitsch, H. J./Welzer, H.: Das autobiographische Gedächtnis. Hirnographische Grundlagen und biosoziale Entwicklung. Stuttgart: C.H. Beck 2005, S. 209-214. 59 Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: W. Kolhammer 2007, S. 96. 60 Markowitsch, H.J./ Welzer, H.: Das autobiographische Gedächtnis. Hirnographische Grundlagen und biosoziale Entwicklung. Stuttgart: Klett-Cotta 2005, S. 122. Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ verfügen, können die Erfahrungen nicht enkodiert werden, auch deswegen sind die episodischen Erinnerungen aus den ersten Lebensjahren nicht zugänglich. „Erst wenn die fortgeschrittene Selbstwahrnehmung eintritt, kann das autobiographische Gedächtnis seinen Anfang nehmen und für die Erinnerungen sorgen, die ein Leben lang abrufbar bleiben“.61 Das passiert erst mit dem dritten Lebensjahr, wenn sich das Kind als ein Individuum zu betrachten beginnt, das eine eigene Geschichte hat, die sich von den Geschichten anderer Menschen unterscheidet und chronologisch erzählbar ist – narratives Selbstverstehen. Nicht zufällig ist das auch ein Alter, in dem das Kind erstmals in einen außerfamiliären Sozialzusammenhang eingebunden wird, d.h. es ist in der Lage für eine beträchtliche Zeit ohne Mutter zu sein und mit neuen Vorgängen konfrontiert zu werden. Mit anderen Worten gesagt: das Kind erweitert den Kreis seiner sozialen Zugehörigkeiten und seiner kulturellen Räumen. Nelson resümiert diese Entwicklung folgendermaßen: „Die Lebensgeschichte des Kindes spielt in einem kulturellen Rahmen, der nach Zeitabschnitten und kulturellen Räumen differenziert ist: das Babyalter, das Erwachsenenalter, Schule, Zuhause, Spielplatz – alles hat seine eigenen Regeln und Teilnehmerrollen. Auf diese Weise entsteht, meist mit dem beginnenden Schulalter, ein autobiographisches Gedächtnis, das kulturell geformt und voll von selbstbezogenen Ereignissen und Bedeutungen ist.“62 Nelson folgend, kann man feststellen, dass das Kind verschiedene Rollen annimmt, je nach dem, wo und mit wem es seine Zeit verbringt. Es beginnt sich also aus der Perspektive anderer Menschen wahrzunehmen und wie Pohl bemerkte, die Einschätzungen über sich selbst von den anderen zu übernehmen. Auch deswegen gelten die Selbstbeschreibungen der Kinder im Alter von 4 – 7,5 Jahren als realistisch.63 Ab dem 12 Lebensjahr, als die unbelastete Zeit der Kindheit vorbei ist, kommt es zur weiteren Entwicklung des Selbstkonzeptes. Grund dafür sind teilweise die von außen (Eltern, Lehrer, Freunde) bestehenden Anforderungen, sich zu definieren, die Rollen zu übernehmen und in die Beziehungen einzugehen. Hinzu kommen psychische Reifungsprozesse (Pubertät), erste sexuelle Kontakte und schließlich Ziele, die sich das 61 Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: W. Kolhammer 2007, S. 116. 62 Nelson, K.: Erzählung und Selbst, Mythos und Erinnerung: Die Entwicklung des autobiographisches Gedächtnisses und des kulturellen Selbst. In: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen 15/2002, S. 245. 63 Vgl. Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: W. Kolhammer 2007, S. 97. Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ Ich selbst setzt. Für die Zusammenfassung dieser Periode eignen sich am besten die Worte von Vera King, die meint, dass: „(…) adoleszente Entwicklung (…) von der Auseinandersetzung mit der Möglichkeit geprägt [ist – M.B.], aus der Position des Kindes in die Position der Eltern einzutreten, vom Schüler zum Lehrer, vom Lehrling zum Meister im konkreten wie metaphorischen Sinne. Adoleszenz ist (…) als ein Bildungsprozess und Entwicklungsraum zu verstehen, in dem ein generativer Umschlag vorbereitet wird und insofern immer auch schon stattfindet (…).“64 Die zentrale Frage der Jugend ist also nichts anders, als die feste Etablierung innerhalb der Gesellschaft und dadurch die Bildung der Identität. Laut der Theorie von Pinquart und Silberreisen ist dieser Prozess durch die Verbesserung des abstrakten Denkens unterstützt, was nicht ohne Bedeutung für die Selbstwahrnehmung ist. 65 Wie das John Korte feststellte, gewinnen die Adoleszenten einen Standpunkt, „(…) von dem aus man erkennen kann, wie die unterschiedlichen Episoden des Lebens miteinander verknüpft sind, wie Geschichten aus einem Leben zur Geschichte des Lebens werden.“66 Die einzelnen, chaotisch gesammelten Erinnerungen aus der kindlichen Periode scheinen endlich eine chronologische Reihenfolge zu gewinnen und dadurch die Lebensgeschichte zu bilden, die das Ich aus einer zeitlichen Perspektive beobachten kann. Die Anforderungen der Gesellschaft und Diskrepanzen in dem sich entwickelnden Selbst67 können jedoch psychische Konflikte und Belastungen hervorrufen. Dass diese Konflikte wirklich dramatisch sein können, zeugt die Tatsache, dass eine eingehende Rekonstruktion der adoleszenten Vergangenheit in den psychoanalytischen Behandlungen häufig nicht möglich ist. Die massiven Stimmungsschwankungen und abrupten Veränderungen des Verhaltens werden oft als Affekte nachhaltig verdrängt.68 64 King, V.: Die Entstehung des Neuen in der Adoleszenz. Individuation, Generativität und Geschlecht in modernisierten Gesellschaften. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2004, S. 55. 65 Vgl. Pinquart, M./ Silberreisen, R.K.: Das Selbst im Jugendalter. Zitiert nach: Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: W. Kolhammer 2007, S. 98. 66 Korte, J.: Der Strom der Erinnerung: Wie das Gedächtnis Lebensgeschichte schreibt. Zitiert nach: Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: W. Kolhammer 2007, S. 99. 67 „Der Jugendliche hat einen erwachsenen Körper und verfügt über eine sexuelle und kognitive Reife. Er ist voll von Stolz auf sein Erwachsensein, seine Stärke, andererseits aber auch voll von Angst und Schuldgefühlen wegen seiner regressiven Wünsche.“ (Bohleber, W.(Hrsg.): Adoleszenz und Identität. Stuttgart: Verlag Internationale Psychoanalyse 1996, S.36.) 68 Vgl. Bohleber, W.(Hrsg.): Adoleszenz und Identität. Stuttgart: Verlag Internationale Psychoanalyse 1996, S. 7-8. Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ Eine spezifische Eigenschaft im Entwicklungsprozess der Adoleszenten ist das Agieren. Diese Erscheinung ist mit dem Bedürfnis des Jugendlichen verbunden, sich aus der mütterlichen Obhut zu befreien. Agieren im mnemonischen Sinne ist nichts anders, als sich Familiengeheimnisse, verbotene Erinnerungen oder von den Eltern verleugnete Ereignisse zu erinnern. „Es ist der Versuch des Jugendlichen, die gestörte Wirklichkeit wiederherzustellen bzw. seine unverarbeitete traumatische Vergangenheit zu bewältigen. Der Heranwachsende ist bestrebt, eine zeitliche und historische Kontinuität in seinem Selbsterleben zustande zu bekommen.“ 69 Zusammenfassend kann man sagen, dass das Agieren dem Adoleszenten verhilft, sein Selbst zu definieren. Wenn es an diesem Vorgang fehlt, dann kann es zu einer psychischen Krise kommen. Einen Beispiel dafür hat Dori Laub in „Der Prokreativen Vergangenheit: Das Fortleben historischer Traumatisierungen“ angeführt. Ein Mann konnte nämlich keine intimen Beziehungen bauen, weil ihm die Mutter nicht erzählen wollte, was mit seinem Vater geschah. Als Kind versuchte er zwar dieses Geheimnis zu lösen, konnte aber nicht, weil es ihm an den genaueren Informationen fehlte.70 Bei der Untersuchung des Gedächtnisses in der Kindheit und in der Adoleszenz muss man bedenken, dass die meisten Erinnerungen gerade aus diesen zwei Lebensabschnitten stammen. Mit dem zunehmenden Zeitabstand nimmt die Häufigkeit der Erinnerungen ab - Vergessenskurve71. Es kommt jedoch zur Abweichungen, beispielsweise aus den ersten Lebensjahren gibt es keine Erinnerungen und aus dem jüngeren Erwachsenalter finden sich deutlich mehr Erinnerungen als erwartet. Diese Häufung erklärt man damit, dass in dieser Zeit mehr Meilensteine als in den anderen Lebensabschnitten vorkommen.72 3.3. Gedächtnis im Alter 69 Bohleber, W.: Adoleszenz und Identität. Stuttgart: Verlag Internationale Psychoanalyse 1996, S. 35. Vgl. Laub, D.: Die prokreative Vergangenheit: Das Fortleben historischer Traumatisierung. In: Welzer, H.(Hrsg.): Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung. Hamburg: HIS Verlagsgesellschaft 2001, S.327-339. 70 Vergessenskurve – Ebbinghaus-Kurve, das Gelernte wird zunächst rasch, dann aber zunehmend langsamer vergessen. (Vgl. Krüger, H. (red. Leitung): Schülerduden. Psychologie. Ein Lexikon zum Grundwissen der Psychologie. Mannheim: Dudenverlag 2002, S.101.) 72 Vgl. Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: W. Kolhammer 2007, S. 102-103. 71 Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ In den späteren Lebensjahren verspüren viele Menschen das Bedürfnis, sich häufiger und intensiver mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen. Schacter in „Wir sind Erinnerung“ begründet diese Verhaltensweise, durch den Versuch eine Einstellung zum eigenen Leben zu finden, was sowohl dem Verständnis und der Integration des Selbst, als auch der Vorbereitung auf den Tod dienen sollte.73 Man kann also behaupten, dass die Erinnerungen an das frühere Leben die Versöhnung zwischen Vergangenheit und Gegenwart unterstützen. Pohl stellte fest, dass die Reflexion über das vergangene Leben beginnt schon im frühen Erwachsenenalter und nimmt mit den Jahren zu. „Die Analyse der abgerufenen Erinnerungen kann zu deren Erklärung und damit dem tieferen Verständnis der eigenen Entwicklung beitragen (…).“74 Schwerpunkt der Lebensrückschau liegt deswegen darin, die Vergangenheit in ein Ganzes zu integrieren. Als Bestimmungsstücke gelten hier nicht nur die autobiographischen Erinnerungen, sondern auch die emotionalen und motivationalen Komponenten, sowie der aktuelle soziale Kontext. In Praxis bedeutet das, dass das Ergebnis der Rückschau nicht nur von den tatsächlichen Erlebnissen einer Person abhängt, sondern auch von den damaligen Zielen und Möglichkeiten. Als Auslöser für die Reflexion gelten vor allem die sog. dynamischen Perioden, in denen ein stabiler Zustand verlassen wird. Besonders anfällige Phasen sind daher die Adoleszenz, das mittlere Erwachsenenalter und das höhere Erwachsenenalter.75 Nach Meinung von Schacter verschwinden viele Lebensepisoden ganz aus dem Gedächtnis. Die ältere Person ist jedoch in der Lage, die allgemeinen Umrisse seiner Vergangenheit festzuhalten, genauso wie die wichtigsten Vorgänge, die sie zugestoßen haben, beispielsweise Vorkommnisse des jungen Erwachsenenalters.76 Diese Altersstufe ist, wie das Welzer formulierte: „(…) Phase der >>Reminiscence Bumps<<, Erinnerungsberge, zu denen sich Inhalte auftürmen, die wir auch später noch behalten.“77 Es werden damals viele Dinge zum ersten Mal erlebt - Besuch der Universität, erste Arbeit, Verlassen des Elternhauses, Hochzeit oder Elternwerden. 73 Vgl. Schacter, D.L.: Wir sind Erinnerungen. Gedächtnis und Persönlichkeit. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1999, S. 477-480. 74 Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: W. Kolhammer 2007, S. 136. 75 Vgl. Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: W. Kolhammer 2007, S. 136-138. 76 Vgl. Schacter, D.L.: Wir sind Erinnerungen. Gedächtnis und Persönlichkeit. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1999, S. 496. 77 Welzer, H.: Kriege der Erinnerung. In: Gehirn & Geist 5/2005, S. 44. Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ Diese und andere lebenswichtigen Begebenheiten bilden den Kern der Biografie. In der Fachliteratur werden sie oft als Referenzpunkte bzw. Meilensteine bezeichnet. Sie gelten als gewisse Orientierungszeichen, die durch umfangreiche Details geprägt sind und ein gut organisiertes Netz bilden, dank dem ein rascher Zugriff zu den Erinnerungen ausführbar ist. „Zeitliche Orientierungspunkte besitzen eine aktive Rolle bei der Organisation des autobiographischen Gedächtnisses. Die Effekte dieser Orientierungspunkte können beim Enkodieren neuer Erinnerungen, bei der Konsolidierung und der Rekonstruktion gespeicherter Erinnerungen sowie dem Abruf alter Erinnerungen gesehen werden.“78 Das, was die Referenzpunkt – Erinnerungen von den anderen autobiographischen Erinnerungen differenziert, ist also die gute Organisation und die zeitliche Datierung. Wegen ihres emotionalen Charakters und durch die relativ häufige Wiederholung im Gedächtnis werden solche Memoiren fest behalten. Diese Fähigkeit - das Netz von den Fakten und Assoziationen nutzbar zu machen, bleibt auch im Alter weitgehend erhalten. Es lassen sich allgemeine Eigenschaften festsetzen, die für das Speichern und das Herbeirufen von Erinnerungen im hohen Erwachsenenalter typisch sind, beispielsweise die länger zurückliegenden Ereignisse scheinen stabiler und reicher zu sein, sie sind auch so real, wie in jüngeren Jahren. Die alten Erinnerungen gelten auch als statisch und abgeschlossen. Man kann sogar sagen, dass sie gegen die Veränderungen widerstandsfähig sind.79 Das lässt sich besonders beim Erzählen der Lebensgeschichten beobachten. Die Erzählungen der Senioren sind meistens interessanter, spannender und komplexer als die der jüngeren Erzähler. Schacter berichtet jedoch, dass wenn die beiden Altersgruppen dieselbe Geschichte hören, die sie nicht kannten, erinnern sich die älteren Probanden weniger und erzählen fehlerhafter als die jüngeren. Das bedeutet, die Erinnerungen an die unlängst stattgefundenen Ereignisse sind vage und unvollständig.80 Infolgedessen können die kurz zurückliegenden Ereignisse nicht so intensiv erlebt werden, wie das bei jüngeren Menschen vorkommt. Markowitsch und Welzer führen hier ein Beispiel an: „(…) wer mit 16 Jahren über den einen zarten Kuß 78 in Shum, M.S.: The role of temporal landmarks in autobiographical memory processes. Zitiert nach: Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: W. Kolhammer 2007, S. 82. 79 Vgl. Welzer, H.: Kriege der Erinnerung. In: Gehirn & Geist 5/2005, S. 44. 80 Vgl. Schacter, D.L.: Wir sind Erinnerung. Gedächtnis und Persönlichkeit. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1999, S. 454 - 485. Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ Schwärmerei geriet, wird mit 46 Jahren derartiges Verhalten weit weniger romantisch verarbeiten (…).“81 Das bedeutet, die Erinnerungsfähigkeit hängt zum Teil von Art der Emotionen ab, durch die der Mensch geleitet wird. Diese Fertigkeit verursacht seinerseits, dass die Erinnerungen für die Fälschung besonders auffällig sind. Erzählungen anderer Personen, Filme und Romane, die zu Herzen gehen, können in das individuelle Gedächtnis integriert werden. Dieses Phänomen bezeichnet man als Quellenamnesie. Das Event wird als solches richtig erinnert, die Quelle aber, aus der es stammt, wird verwechselt. Mit den Jahren wächst die Anfälligkeit und die fremden Erlebnisse werden als Teil der eigenen Geschichte erinnert - Scheinerinnerungen bzw. false memory. So beispielsweise erzählte Ronald Reagan82 während des Präsidentschaftswahlkampfs eine persönliche Geschichte aus dem Zweiten Weltkrieg, die, wie sich später zeigte, Wiedergabe einer Szene aus dem Film „A Wing and a Prayer“ war. Der amerikanische Präsident bemerkte die Fakten, nicht aber ihre Quelle. Im Gedächtnis befinden sich Ereignisse, die faktisch nie stattgefunden haben, die jedoch so glaubhaft erscheinen, dass sie als vergangene Erfahrungen behalten werden.83 Solche Quellentäuschung passiert ganz oft im Alltag. Das ist Konsequenz der aktiven Verarbeitung großer Menge von Informationen, die der Rezipient aus unterschiedlichen Quellen, wie z.B. Fernsehen, Gespräche mit anderen oder Beobachtung kriegt. Diese aufgenommenen Neuigkeiten interferieren miteinander so intensiv, dass die notwendige Konsolidierung der Erlebnisse belastet und beeinträchtigt wird. Demnach weiß man, dass es zu einem Geschehen gekommen ist, nicht aber woher man diese Information hat.84 Ältere Menschen sind besonders auffällig für die Erinnerungsfälschung, Grund dafür bilden sowohl die Vergesslichkeit, als auch Re-Enkodierung. Die Gedächtnisinhalte sind nämlich immer wieder berufen, rekonstruiert und mit der aktuellen Stimmung, mit dem aktuellen Stand integriert. So können nicht nur die aktuell rekonstruierten Erinnerungen, 81 Markowitsch, H.J./ Welzer, H.: Das autobiographische Gedächtnis. Hirnographische Grundlagen und biosoziale Entwicklung. Stuttgart: C.H. Beck 2005, S. 244. 82 Ronald Reagan – 40. Präsident der USA (1891-89), mit seinem polit. Programm erstrebte er die Erneuerung der internat. Führungsposition der USA v.a. im wirtschaftl. und militär. Bereich sowie die Stärkung des Selbstbewusstseins der amerikan. Bevölkerung. (Vgl. Brockhaus Enzyklopädie, Mannheim: Brockhaus, 2006. Bd. 22.) 83 Vgl. Welzer, H.: Krieg der Erinnerung. In: Gehirn & Geist 5/2005, S. 40-42. 84 Vgl. Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte . Stuttgart: W. Kolhammer 2007, S. 41. Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ sondern auch das zugrunde liegende Gedächtnis verfälscht werden.85 Aleida Assmann hat das Erinnern mit dem Übersetzen verglichen: „Die Operation des Übersetzens von Erinnerungen bedeutet immer zugleich auch Veränderung, Verlagerung, Verschiebung. Was einerseits als eine Form ihres Lebendighaltens betrachtet werden kann, kann auch als eine Gefahr und Bedrohung aufgefasst werden.“86 Diese Theorie bestätigt Vaillant, indem er ein Beispiel für die Wirkung der Rekonstruktion auf die Erinnerungen angibt. Seiner Meinung nach, sind die Menschen wie Raupen, die zu Schmetterlingen wurden und dann behaupten, dass sie in ihrer Jugend kleine Schmetterlinge waren. Resümierend lässt sich sagen, dass das Alterwerden und die damit verbundenen psychischen Prozesse die Menschen zu unwillkürlichen Lügner machen.87 3.4 Emotionale und traumatische Erlebnisse Wezler vergleicht die Emotionen zu Bewertungsoperatoren, die beurteilen, was gut oder schlecht für die Menschen ist. Demnach sind sie für das Vermögen notwendig, die Vergangenheit zu interpretieren – das Wichtige von dem Unwichtigen zu trennen.88 Emotionale bzw. traumatische Erlebnisse bleiben besonders gut in dem Gedächtnis behalten. Sie sind imstande den Lebenslauf einer Person, ihr Verhalten, ihre Einstellungen und Verständnis der Welt prägen. Demgegenüber werden alltägliche, emotional neutrale Geschehnisse nur oberflächlich gespeichert und gehen schneller in Vergessenheit. Pohl im „Autobiographischen Gedächtnis“ bestätigt diese These: „(...) Emotionen [können – M.B.] für eine Fokussierung der Aufmerksamkeit sorgen (...).“89 Auch deswegen können Hochzeit oder Autounfall oft Jahre später noch sehr gut erinnert werden. Bei den Menschen, die nicht mehr zu den Emotionen fähig sind, ist laut Markowitsch, das Gedächtnissystem stark zerstört. Da diese Personen die eingehenden Reize nicht emotional färben können, können sie auch nicht entscheiden, was für ihre 85 Vgl. Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: Verlag W. Kolhammer 2007, S. 149. 86 Assmann, A.: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München: C.H. Beck 2006, S. 124. 87 Vgl. Vaillant, G.E.: Adaptation of live. Zitiert nach: Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: W. Kolhammer 2007, S. 149. 88 Vgl. Wezler, H.: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München: C.H. Beck 2002, S. 145. 89 Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: W. Kolhammer 2007, S. 76. Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ Erinnerungen wichtig ist.90 Emotional gefärbtes Material wird also im Allgemeinen besser behalten als ein neutrales. Ereignisse, die unerwartet vorkommen und mit starken Gefühlen verbunden sind, können sich wie bei einem Blitzlicht-Foto ins Gedächtnis einbrennen. Der Moment wird mit allen Details unverändert festgehalten, sodass die Erinnerungen auch nach Jahren detailliert sind. Dabei geht es vor allem um die Umstände, unter denen man von dem Ereignis erfahren hat. 91 Dieses Phänomen wird flash-bulb-memories (Blitzlicht-Gedächtnis) genannt. Schacter in „Wir sind Erinnerung“ gibt ein Beispiel für solche Erinnerungsart an. Er berichtet nämlich, wie er von Kennedys Ermordung92 erfahren hat. Er war erst sieben Jahre alt und wusste nicht, was tatsächlich passierte, trotzdem erinnert er sich genau, was er in diesem Moment fühlte und was seine Familie damals machte. Das relativ gute Gedächtnis für derartige Erlebnisse kann dadurch erklärt werden, dass man so etwas nicht alle Tage erlebt – es ist eine Unterbrechung der alltäglichen Routine. Dem Ereignis wird also besonders viel Aufmerksamkeit geschenkt.93 In der Regel sind die Menschen aber nicht persönlich betroffen, sie sind eher „Zuschauer“. Nach McCloskey kann das verursachen, dass solche Erinnerungen nicht frei von Vergessen oder Verfälschungen sind: „(...) Erinnerungen an die Umstände, unter denen man von einem überraschenden, folgenreichen Ereignis erfahren hat, [unterliegen- M.B.] rekonstruktiven Verfälschungen (...) und (...) die Menge der aus dem Gedächtnis abrufbaren Informationen [nimmt – M.B.] über die Zeit ab.“94 Diese These bestätigen auch Neisser und Harsch, die eine Umfrage unter den Studenten nach Explosion der Challenger- Raumfähre95 durchgeführt haben. Es stellte sich heraus, dass ein paar Tage nach der Explosion alle Befragten imstande waren, die Details Vgl. Lenzen, M./ Lessmöllmann, A.: Die Sache mit dem geblümten Kleid – Interview mit H.J. Markowitsch. In: Gehirn & Geist 5/2005, S. 48. 90 91 Vgl. Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: W. Kolhammer 2007, S. 76. 92 Kennedys Ermordung – Dallas, 22.11.1963. die Hintergründe für seine Ermordung wurden bisher nicht restlos aufgeklärt. Dem immer wieder angezweifelten Bericht der >>Warren-Kommission<< (1964), wonach Lee Harvey Oswald als polit. Einzelgänger der alleinige Attentäter gewesen sei, steht die Feststellung eines Sonderausschusses des Kongresses (1976-79) gegenüber, dass an der Ermordung K.s wahrscheinlich zwei Schützen beteiligt waren und es sich sowohl um eine Verschwörung handelte. (Vgl. Brockhaus Enzyklopädie, Mannheim: Brockhaus, 2006. Bd.14.) 93 Vgl. Schacter, D.L.: Wir sind Erinnerrung. Gedächtnis und Persönlichkeit. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1999, S. 317. 94 McCloskey/ Wible/ Cohen: Is her a special flashbulb-memory mwchanism? Zitiert nach: Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: W. Kolhammer 2007, S. 75. 95 Explosion der Callenger-Raumfähre – Raumtransporter der NASA, der beim 10. Start am 28.01.1986 mit sieben Astronauten an Bord explodierte, 73 Sekunden nach dem Abheben von Cape Canaveral. (Vgl. Brockhaus Enzyklopädie, Mannheim: Brockhaus, 2006. Bd.5.) Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ anzugeben. Nach ein paar Monaten aber erinnerten sich die Studenten nur die Teile korrekt, und einige sogar alles falsch.96 Kurz gesagt, das Ereignis an sich, wird ziemlich genau erinnert, die Umstände aber nicht unbedingt. Anders sieht die Situation bei den traumatischen Erlebnissen: „Ein echtes Trauma entsteht im Prinzip nur dann, wenn man selbst betroffen ist. In der Regel sind dies Ereignisse, die extreme Angst auslösen, beispielsweise wenn man Zeuge bzw. Opfer von Gewalttaten ist, eine Naturkatastrophe überlebt oder einen schweren Unfall erleidet.“97 Für Pohl ist das Trauma dementsprechend ein schmerzhaftes, lebensbedrohendes oft unverständliches Erlebnis, das eine Person selbst erlebt hat. Man stellte auch fest, dass die Erinnerungen der Menschen, die persönlich betroffen wurden, weniger Fehler aufweisen, als die von Zeugen. Die Genauigkeit traumatischer Erlebnisse hat Schacter zusammengefasst, indem er schriebt: „Wenn jemand wirklich ein Trauma erlebt hat, wird der innerste Kern dieser Erfahrung fast immer genau erinnert; Gedächtnistäuschungen betreffen, wenn sie denn auftreten, fast immer bestimmte Einzelheiten.“98 Die betroffenen Personen erinnern sich oft völlig genau an das zentrale Moment des traumatischen Ereignisses, vergessen aber die peripheren Details. Zeugen eines Verbrechens können beispielsweise sehr genau ein zentrales Detail des Geschehens - die Waffe beschreiben. Informationen über periphere Details sind dagegen eher ungenau, man weißt beispielsweise nicht, wie der Aggressor aussah. Diesen Prozess nennt man Waffeneffekt.99 Manchmal aber sind die Erlebnisse so schmerzhaft, dass sie nicht verarbeitet werden können. Sie geraten scheinbar in Vergessenheit. Aleida Assmann charakterisiert diesen Zustand so: „Um das Ereignis überleben zu können, kommt ein psychischer Abwehrmechanismus zur Anwendung, den die Psychiater <Dissoziation> nennen. Damit ist die unbewusste Strategie einer Abspaltung gemeint, durch die 96 Vgl. Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: W. Kolhammer 2007, S. 74. 97 Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: W. Kolhammer 2007, S. 75. 98 Schacter, D.L.: Wir sind Erinnerung. Gedächtnis und Persönlichkeit. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt 1999, S. 337. 99 Schacter, D.L.: Wir sind Erinnerung. Gedächtnis und Persönlichkeit. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt 1999, S. 339. Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ das bedrohliche Erlebnis vom Bewusstsein der Person ferngehalten wird. Das Ereignis wird zwar registriert, aber gleichzeitig werden die Brücken zum Bewusstsein abgebrochen.“100 Man kann dementsprechend sagen, dass die Dissoziation eine Art Amnesie, eine gestörte Informationsverarbeitung ist. Die Erlebnisse werden hier ohne Verbindung zu Ich gespeichert. Die Pforten der Wahrnehmung werden also automatisch geschlossen, um das Bewusstsein zu schützen, sonst konnten die Rahmen der Identitätskonstruktion einer Person zusammenbrechen. Diese Theorie bestätigt Saß, indem er schreibt, dass sich die Dissoziation „(...) in einer oder mehreren Episoden [zeigt – M.B.], in denen eine Unfähigkeit besteht, sich an wichtige persönliche Informationen zu erinnern (...).“101 Kaszniak, Nussbaum, Berren und Santiago präsentieren in ihrem Beitrag „Amnesia as a consequence of male rape: A case raport“ Fall eines jungen Mannes, der sich nicht erinnern konnte, wie er heißt und wer er ist. Wusste aber, dass er vor kurzem in der Stadt war und einen Selbstmord begehen wollte. Nach der Therapie erinnerte er sich endlich sowohl ihren Namen und Lebensgeschichte, als auch ein vor kurzem erlebtes Trauma - Sexualmissbrauch.102 Man kann diesen Fall als ein Beweis für Schutzfunktion der Amnesie interpretieren. Es ist eine Reaktion auf die Schuld- und Schamgefühle der Opfer. Aleida Assmann vergleicht den Prozess der Dissoziation mit Beisetzung der Erinnerungen in eine Krypta: „Was in der Kapsel oder Krypta verschlossen ist, wird aber nicht etwa vergessen, sondern im Abseits konserviert und macht sich nach einem gewissen zeitlichen Interwall durch eine bestimmte Symptomatik bemerkbar.“103 Das bedeutet, dass das Trauma nicht in Wirklichkeit vergessen wird, sondern es sind Zeiträume, in denen man an das Trauma nicht denken muss. Diese Zeiten erscheinen aber retrospektiv so aus, als ob man die schrecklichen Erlebnisse vergessen hatte. Manchmal auftauchen traumatische Geschehnisse – wiedererlangte Erinnerungen entweder mithilfe einer Therapie oder zufällig, durch spezifische Hinweisreize, die in der Verbindung mit der damaligen Situation stehen.104 100 Assmann, A.: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München: C.H. Beck 2006, S. 93-94. 101 Saß, H./ Wittchen, H.U./ Zaudig, M.: Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen. Zitiert nach: Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: W. Kolhammer 2007, S. 204. 102 Vgl. Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: W. Kolhammer 2007, S. 204-205. 103 Assmann, A.: Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen. Berlin: Erich Schmidt 2006, S. 188-189. 104 Vgl. Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: W. Kolhammer 2007, S. 77. Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ Wezler führt ein Beispiel dafür an, indem er die Verhaltensweise der Opfer eines Autounfalls präsentiert. Der klingelnde Hupfton verursacht nämlich bei den Autounfallopfern die Muskelspannung, den veränderten Blutdruck und die beschleunigte Herzfrequenz. Das Signal löst also die Erinnerung an den Unfall aus. Das Widererleben von Trauma wird durch körperliche Symptome veranschaulicht.105 Zu den Kennzeichen der Dissoziation gehören auch: Träume, Flashbacks oder körperliche Reaktionen. Bemerkenswert ist noch die Tatsache, dass bei den häufig lokalisierten Amnesien entweder ganz spezifische Zeitabschnitte (Stunden oder Tage) oder spezifische Einzelheiten aus einer Periode, wie z.B. Gesicht des Täters ausgeblendet werden. 4. Rhetorik des Gedächtnisses Die Rekonstruktion von vergangenen Ereignissen gehört zu den zentralen Themen der neuesten deutschsprachigen Literatur. Sowohl ein Groschenroman als auch die kanonisierte Hochliteratur stehen in der neuesten Theorie des kulturellen Gedächtnisses als Dokumente, neben den anderen kulturellen Artefakten wie z.B. Gesetztexte oder politische Traktate.106 Nach Meinung von Erll kann die Rhetorik einen Einfluss auf die Betrachtung der Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses haben. Diese wird als „die Gesamtheit der Formen und Verfahren eines literarischen Textes“107 verstehen. Sie findet ihren Ausdruck in fünf unterschiedlichen Modi, hierzu gehören: erfahrungshaftiger, monumentaler, historisierender, antagonistischer und reflexiver Modus. Alle Modi gelten als „Ensemble textueller Darstellungsverfahren“108, das heißt, sie können durch solche literarischen Formen ausgedruckt werden, wie z.B. paratextuelle Gestaltung, Intertextualität, Erzähldiskurs, Raum- und Zeitdarstellung. In diesem Abschnitt werden nur drei von den erwähnten Modi besprechen, nämlich der erfahrungshaftige, monumentale und reflexive Modus. 105 Vgl. Welzer, H.: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München: C.H. Beck 2002, S. 147-151. 106 Vgl. Erll, A./ Roggendorf, S.: Kulturgeschichtliche Narratologie: Die Historisierung und Kontextualisierung kultureller Narrative. In: Nünning, A./ Nünning, V.: Neue Ansätze in der Erzähltheorie. Trier: WVT – Wissenschaftlicher Verlag 2002, S. 80. 107 Erll, A: Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses. In: Erll, A./ Nünning, A. (Hrsg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Berlin, New York: de Gruyter 2005, S. 268. 108 Erll, A.: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler 2005, S. 168. Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ 4.1. Erfahrungshaftiger und monumentaler Modus „Im erfahrungshaftigen Modus erscheint das Erzählte als Gegenstand des alltagsweltlichen kommunikativen Gedächtnisses.“109 Mit anderen Worten, es werden hier die kulturell-autobiographischen Erinnerungen präsentiert. Dieser Modus realisiert sich also durch die Inszenierung partikularer Erfahrungen von Individuen und sozialen Gruppen. In seinem Rahmen werden sowohl das Denken, Fühlen und Handeln der Figuren (spezifische Erfahrungen), als auch bestimmte Orte, Zeitpunkte, Verhaltens – und Redeweisen (lebensweltliche Details) geschildert. „Der erfahrungshaftige Modus zeichnet sich durch Verfahren aus, die Alltagshaltigkeit, sinnlicher Erfahrungsspezifität und Authentizität suggerieren.“110 Auf diese Weise wird der Leserschaft die sinnliche Wahrnehmung der literarischen Welt ermöglicht.111 Als nächster literarischer Vergangenheitsregister gilt der monumentale Modus. Das Dargestellte erscheint hier als „(…) verbindlicher Gegenstand eines übergreifenden kulturellen (nationalen, religiösen) Sinnhorizonts, als Mythos des verbindlichen kulturellen Gedächtnisses.“112 Das literarische Werk ist also nichts anders als das traditionshaltige und sinnstiftende Medium. Der Text beinhaltet eine Art Botschaft, die die Gegenwart überdauern und noch in der Zukunft verständlich sein sollte. Dieser These ist zu folgen, denn auch Aleida Assmann stellte fest: „(…) Texte und andere kulturelle Artefakte dürfen als Monumente verstanden werden, wenn sie über die Eigenschaft der Stilisierung hinaus eine an die Mit- und Nachwelt gerichtete Botschaft kodieren.“113 In der Assmannschen Terminologie werden also die literarischen Texte zu Verewigungsmedien, die das Kultursujet speichern und übermitteln.114 109 Erll, A.: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler 2005, S. 168. 110 Erll, A: Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses. In: Erll, A./ Nünning, A. (Hrsg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Berlin, New York: de Gruyter 2005, S. 268. 111 Vgl. Erll, A.: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler 2005, S. 169-176. 112 Erll, A.: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler 2005, S. 168. 113 Assmann, A.: Kultur als Lebenswelt und Monument. Zitiert nach: Erll, A.: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler 2005, S. 170. 114 Vgl. mehr dazu in: Assmann, A.: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: C.H. Beck 2006, S.179-190. Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ Beide Modi sind miteinander eng verbundene, ineinander greifende Formen. Durch ihre Vernetzung erfüllen die literarischen Texte erinnerungskulturelle Funktionen: erstens werden die Elemente des kulturellen Gedächtnisses um die Erfahrungshaftigkeit bereichert und dadurch kehren sie in die Gegenwart zurück, zweitens werden die individuellen und kommunikativen Erfahrungen, die in der außerliterarischen Wirklichkeit gesammelt wurden, exemplarisch als Gegenstand des kulturellen Gedächtnisses kodiert. Treffsicher hat diese Koexistenz Astrid Erll charakterisiert: „Das Oszillieren zwischen beiden Modi dient im literarischen Text daher der Überführung alltagsweltlicher Erinnerung in kulturelles Gedächtnis ebenso wie der Anreicherung von Inhalten des kulturellen Gedächtnisses durch Erfahrungshaftigkeit.“115 Zusammenfassend lässt sich sagen, die individuellen und kommunikativen Erfahrungen machen das kulturelle Gedächtnis lebhafter und gleichzeitig schonen sich selbst vor dem Vergessenwerden durch das Eindringen in das kulturelle Gedächtnis. In einem Text sind die beiden Modi durch die Art und Weise der literarischen Darstellung zu unterscheiden. Wichtige Rolle spielen dabei: Selektionsstruktur (der Text kann auf den kulturellen oder kommunikativen Gedächtnisrahmen basieren), paratextuelle Gestaltung (durch Mottos und Sprüche wird die kulturelle Tradition gerufen), Intertextualität (der Text nimmt Bezug auf die anderen klassischen Literaturwerke), Interdiskursivität (die sprachlichen Besonderheiten, wie die alltagssprachlichen oder archaischen Ausdrücke stiften den einen oder den anderen Modus), schließlich Intermedialität (Bezugnahme auf die privaten Fotos und Tonbandaufnahmen, oder auf die heiligen Schriften und Denkmäler macht den einen oder anderen Modus zur Dominante). Relevant sind auch solche Aspekte, wie erzählerische Vermittlung, Innenweltdarstellung und Raum- und Zeitdarstellung. Im Fall der erzählerischen Vermittlung hängt der Modus von Art der Erzählinstanz ab. Der auktoriale Erzähler wird mit dem Träger des kulturellen Gedächtnisses identifiziert, denn er kann „(…) das Erzählte im Fernhorizont der 115 Erll, A.: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler 2005, S. 175. Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ Vergangenheit und Zukunft einer Kultur verorten.“116 Wiederum bei dem IchErzähler (I-as-witness) wird der Text zur typischen Kommunikationssituation, was gleichzeitig zur Stiftung des kommunikativen Gedächtnisses führt. Zu den besonderen Leistungsvermögen der erinnerungskulturellen Literatur gehört auch die Innenweltdarstellung. Die interne Fokalisierung trägt nämlich zur Präsentation der Felderinnerungen. Gedankenberichte, erlebte Rede oder innerer Monolog können aber auch zum Gegenstand des kulturellen Gedächtnisses werden, denn sie verfügen über das Privileg, das auszudrücken, was normalerweise nichtartikulierbar ist, also die traumatischen und emotionalen Erlebnisse. Als letztes literarisches Darstellungsverfahren gilt die Raum– und Zeitdarstellung. Nach Erll gehören die raum-zeitlichen Konnotationen zu den sozialen Rahmen, in denen alltägliche Lebenserfahrungen verortet sind. Wenn sich die Räume aber um eine zusätzliche symbolische Dimension bereichern, dann gehen sie gleichzeitig in das kulturelle Gedächtnis.117 4.2. Reflexiver Modus Neben den zwei schon erwähnten Modi, existiert noch der reflexive Modus. Er kommt zum Vorschein, wenn „das literarische Werk eine erinnerungskulturelle Selbstbeobachtung ermöglicht.“118 Das Augenmerk wird auf die Gedächtnisreflexion gelenkt. Dieser Modus wird durch diese Darstellungsverfahren erstellt, die den literarischen Text zum Beobachtungsmedium zweiter Ordnung machen. Es werden hier nämlich die Probleme und Funktionsweisen des kollektiven Gedächtnisses inszeniert, was der Leserschaft die Teilnahme an der distanzierten Beobachtung von Erinnerungskulturen ermöglicht.119 116 Erll, A.: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler 2005, S. 172. 117 Vgl. mehr dazu: Assmann, A.: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: C.H. Beck 2006, S. 298-343. 118 Erll, A.: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler 2005, S. 168. 119 Vgl. Erll, A.: Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses. In: Erll, A./ Nünning, A. (Hrsg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Berlin, New York: de Gruyther 2005, S. 269. Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ Im Rahmen dieses Modus unterscheidet man zwei Arten der Darstellungsverfahren: erstens die explizite Thematisierung und zweitens die implizite Inszenierung der Beobachtung von Erinnerungen. Zu den impliziten Verfahren gehören sowohl die sprachlichen (Metaphorik) und strukturellen (Multiperspektivität) Besonderheiten, als auch die Präsentation der Bildung und der Kontinuation des kollektiven Gedächtnisses auf der Handlungsebene. Die Schilderung von Ritualen oder Reflexionen der Figuren über Vergangenheit zwingen den Leser zum Nachdenken über das kollektive Gedächtnis. In der expliziten Reflexion wird seinerseits der Zusammenhang zwischen der Kultur und dem Gedächtnis mithilfe der Figuren- und Erzählerrede, oder durch die Formen der Bewusstseindarstellung präsentiert. Dabei kann es um die sozialen Rahmen der individuellen Erinnerungen und des Generationengedächtnisses, oder um die Selektivität und die Anordnungsmuster von der Gedächtnisnarration gehen.120 Auf der Ebene der erzählerischen Vermittlung gibt es drei Darstellungsverfahren, die besonders gedächtnisreflexive Leistungsfähigkeiten aufweisen: Mit der Ich-Erzählung hat man vor allem in den Memoiren, Autobiographien und autobiographischen Romanen zu tun. In solchen Texten präsentiert die Instanz eines „gealterten, rückschauenden, kommentierenden, analysierenden, wertenden und damit sinnstiftenden erzählenden Ich“121 dem Leser die soziokulturell geprägten individuellen Erinnerungen. Bemerkenswert ist dabei, dass die literarische Darstellung der Rekonstruktion und die Aneignung der Vergangenheit eine Reflexion über den Zwiespalt zwischen den Erinnerungen und den tatsächlich vergangenen Ereignissen verursachen kann. Als eine Sonderform der Ich-Erzählung gilt das unzuverlässige Erzählen122. Schilderung der Unstimmigkeit von Erinnerungen, Gedächtnislücken oder Schwierigkeiten beim Abruf verursachen die Authentisierung der Erzählung, denn „Vergessen und Verdrängen gehören zur menschlichen Erinnerung.“123 120 Vgl. Erll, A.: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler 2005, S. 185 - 186. 121 Erll, A.: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler 2005, S. 186. 122 Mehr dazu: Kap. 5.3.2. Erll, A.: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler 2005, S. 187. 123 Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ Das aber, was erinnert und erzählt wird, muss überzeugend wirken, „um gedächtnisbildende Wirkung zu entfalten.“124 Letztes wesentliches Darstellungsverfahren ist die Muliperspektivität. In diesem Fall werden sowohl die privaten, als auch die öffentlichen Ereignisse durch eine multiperspektivische Fokalisierung vermittelt. Das heißt jedes Ereignis kann unterschiedliche Versionen haben, je nach dem aus Perspektive welcher Figur präsentiert wird. Gleichzeitig ist jede Äußerung der Protagonisten für die Weltauffasung der ganzen Gruppe repräsentativ.125 5. Inszenierung der Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Hauten der Zwiebel“ In diesem Kapitel wird der Versuch unternommen, das erinnerungs-kulturelle und psychologische Wissen in der Praxis zu beweisen. Durch die Untersuchung narratologischer Mittel, wie z.B. Raum- und Zeitdarstellung oder Erzählinstanz wird geprüft, nicht nur was, sondern auch wie erinnert wird. Am Beispiel des Romans von Grass sollen auch solche Aspekte des individuellen Gedächtnisses analysiert werden, wie z.B. Unzuverlässigkeit der Erinnerungen, Gedächtnisstützen und Struktur des Gedächtnisses. 5.1. Zum Inhalt Mattias Hoening aus „Spiegel“ bezeichnet „Beim Häuten der Zwiebel“ als: „(…) Kriegs- und Antikriegsbuch, Entwicklungs- und Heimatroman, Autobiografie und literarische Annalen einer Zeit des historischen Umbruchs.“126 In dem Roman beschreibt Grass seine Jugendjahre vom Kriegsbeginn bis zur Veröffentlichung des Bestsellers "Die Blechtrommel”. Das 480 Seiten umfassende Buch handelt von Kindheit in Danzig, Zeit in dem Uniform, Mitgliedschaft in Waffen-SS, amerikanischer Kriegsgefangenschaft, Berliner und Pariser Nachkriegsjahren. Neben den persönlichen 124 Erll, A.: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler 2005, S. 187. 125 Vgl. Erll, A.: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler 2005, S. 187-188. Hoenig, M. (16.08.2006): Grass „Beim Häuten der Zwiebel“. Ein literarisches Meisterwerk. http://www.stern.de/unterhaltung/buecher/:Grass%27-Beim-H%E4uten-Zwiebel-EinMeisterwerk/567814.html (Zugriff am 11.05.2009). 126 Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ Erinnerungen, wie z.B. Tod der Mutter, Sammeln der Bilder, erste Frauenerfahrungen, Auslandsreisen per Autostop und Studentenleben, wurden auch die historischen Ereignisse präsentiert. „Beim Häuten der Zwiebel" ist wie ein Archiv der deutschen Geschichte, in dem Hitlers Überfall auf Polen, Umbruch von Nazi-Diktatur zur demokratischen Bundesrepublik, dramatisches Schicksal der Vertriebenen, Währungsreform, Adenauer-Ära und die Gegenwart dargestellt wurden. Der Autor mit einer sichtbaren Distanz präsentiert nicht nur sein eigenes Leben, sondern auch Leben seiner Nächsten, also Geschichte der eigenen Familie, tragisches Lebensende von Paul Celan127 oder Kriegserlebnisse seiner Schulkameraden. In der Prosa kommen neben den Zusammenfassungen der in der Kindheit gelesenen Bücher, Fragmente des „Simplicissimus“ von Grimmelshausen und seiner eigenen Werken vor. Im Allgemeinen lässt sich sagen, dass „Beim Häuten der Zwiebel“ Geschichte von Schriftstellerwerden ist. Es wurden hier beispielsweise zahlreiche Details gegeben, wie die Erfahrungen, Personen und Vorkommnisse aus dem wirklichen Leben des Autors in die epischen Werke transformiert wurden. Dazu wurden die Erinnerungslücken mithilfe der Phantasie gedeckt, so dass der Roman als „(…)bunte Mischung aus Fakten und Imagination - eine Art Doku-Fiction“128 gelten kann, so beispielsweise behauptet Grass in einem Kriegslager den Papst Benedikt XVI kennen gelernt zu haben und mit dem Jazzmann Louis Armstrong129 zusammengespielt zu haben. 5.2. Zur Textanalyse Nach Meinung von Astrid Erll kann die Literatur als Darstellungsform des Gedächtnisses bezeichnet werden. Literarische Mittel, wie z.B. Erzähler oder Zeitdarstellung weisen „besonders gedächtnisaffene“ Eigenschaften auf.130 Auch deswegen wird hier die Analyse dieser Eigenschaften, sowie der Struktur des Romans Paul Celan – eigentl. Paul Antschel, geb. in Czernowitz in Bukowina (1920-1970); deutschsprachiger Schriftsteller; stand unter dem Einfluss des französischen Surrealismus, auch Holocaust und eigene jüdische Herkunft haben seine Werke thematisch gekennzeichnet. (Vgl. mehr dazu in: Steinecke, H.(Hrsg.): Deutsche Dichter des 20. Jahrhunderts. Berlin: Erich Schmidt 1994, S. 635-651.) 128 Mohr, P. (17.08.2006): Die Geheimnisse im Bernstein. http://www.titelmagazin.de/modules.php?op=modload&name=News&file=article&sid=4909&mode=thread&order=0&t hold=0 (Zugriff am 17.05.2009) 129 Louis Armstrong (1901-1971) - amerikan. Jazztrompeter und Sänger. Als Trompeter zeichnete er sich durch virtuose Beherrschung seines Instruments und unerschöpflichen Reichtum in der Improvisationen aus; als Vokalist trug er maßgeblich zur Entwicklung des Scatgesangs. (Vgl. Brockhaus Enzyklopädie, Mannheim: Brockhaus, 2006. Bd.2.) 130 Vgl. Erll, A.: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart, Weimar: Metzger 2005, S.71-72. 127 Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ von Grass in Anlehnung an die narratologische Theorie durchgeführt. In dieser Textuntersuchung werden neben den Fragen nach der paratextuellen Gestaltung die Fragen nach Erzählinstanz, Raum- und Zeitdarstellung, also nach dem WIE (discours)131 gestellt. 5.2.1. Zu Aspekten der Autobiographie Es bleibt kein Zweifel daran, dass „Beim Häuten der Zwiebel” eine Autobiographie ist. Günter Grass verfasst hier nämlich seine persönliche Lebensgeschichte. Davon zeugt schon der Textanfang: „Ob heute oder vor Jahren, lockend bleibt die Versuchung, sich in dritter Person zu verkappen: (…).“ (S. 7) Nach Meinung von Jochen Brems liegt dem Subjekt der Autobiographie die Intention zugrunde „seine Erinnerungen, d.h. die von ihm herstellten Sinn- und Bedeutungszusammenhänge seines Lebens mit der sozialen Außenwelt zu kommunizieren.“132 Die persönlichen Erinnerungen werden demnach mithilfe des sinnkonstituierenden Erzählers zu einem stabilen Ganzen zementiert, was gleichzeitig die Geschlossenheit der geschilderten Vorkommnisse suggeriert. Das Buch von Grass ist dementsprechend die Geschichte des Gewordenseins einer schriftstellerischen Identität. Davon zeugt nicht nur die Reflexion des Erzählers am Textende: „So lebte ich fortan von Seite zu Seite und zwischen Buch und Buch. Dabei bleib ich inwendig reich an Figuren. Doch davon zu erzählen, fehlt es an Zwiebeln und Lust.“ (S. 479) sondern auch die Aussagen, die sich in dem Roman ganz am Anfang befinden: „Warum überhaupt soll Kindheit und deren so unverrückbar datiertes Ende erinnert werden, wenn alles, was mir ab den ersten und seit den zweiten Zähnen widerfuhr, (…) zu Zettelkram wurde, der seitdem einer Person anhängt, die, kaum zu Papier gebracht, nicht wachsen wollte, Glas in jeder Gebrauchsform zersang, zwei hölzerne Stöcke zur Hand hatte und sich dank ihrer Blechtrommel einen Namen machte, der fortan zitierbar zwischen Buchdeckeln existierte und in weißnichwieviel Sprachen unsterblich sein will?“ (S. 8) 131 Vgl. mehr dazu: Martinez. M./ Scheffel, M.: Einführung in die Erzähltheorie. München: C.H. Beck 2007, S. 20-27. 132 Brems, J: Unterrichtsfach: Biographie: Der autobiographische Text als Medium biographischer Lernprozesse in der Erwachsenenbildung. Eine Studie. BoD – Books on Demand, 2002, S. 24. http://books.google.de/books?id=yAHVVfzvDwIC&printsec=frontcover&source=gbs_v2_summary_r&c ad=0 (Zugriff am: 22.06.2009). Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ Das hier angeführte Zitat ist nämlich eine direkte Anspielung auf „Die Blechtrommel“, den ersten Roman von Grass, der ihm weltweiten Ruhm gebracht hat. Der Erzähler erklärt hier auch, warum er Beschreibung der Jugendjahre für wesentlich hält. Selbst der Titel weist darauf hin, dass „(…) der Autor sich Schicht um Schicht zu sich selbst aufmacht (…)“133. Er schildert und kommentiert unterschiedliche Episoden aus eigenem Leben, die zu seiner schriftstellerischen Tätigkeit beigetragen haben. Demnach lässt sich sagen, dass sowohl der Anfang der Lebensgeschichte, als auch die Höhe- und Wendepunkte aus einem bekannten Endpunkt gedeutet wurden, was der Wahrung eigener Identität verhilft.134 Der Fokus der Autobiographie liegt auf den zeitlich zurückliegenden Erlebnissen. Genauso wie im Prozess der individuellen Erinnerungen, kann bei der Verfassung einer Autobiographie nur eine begrenzte Anzahl von den Vorkommnissen aufgenommen werden. Das Bedeutsame wird von dem Unbedeutsamen unterschieden und aus der großen Menge von Daten und Fakten werden nur einige Informationen ausgewählt.135 So beispielsweise findet man in „Beim Häuten der Zwiebel“ fast keine Informationen zur Messdienst (S. 71), viele aber zu den geschriebenen oder gelesenen Werken: „>>Kleckenburg<< heißt ein langes Gedicht, das ich Mitte der sechziger Jahre, also zu einer Zeit schrieb, in der der vierzigjährige Vater dreier Söhne und einer Tochter bereits bürgerlich gefestigt zu sein schien; (…) Das Gedicht handelt von meinem Herkommen und vom Geräusch der Ostsee: >>In Kleckenburg gebürtig, westlich von<<, und stellt Fragen: >>Geboren wann und wo, warum?<< Eine den Verlust und das Gedächtnis als Fundbüro beschwörende Suada in Halbsätzen: >>Die Möwen sind nicht Möwen, sondern<<.“ (S. 15) Auffallend in diesem Fragment ist die Detailliertheit, mit der das Gedicht beschreiben wurde. Zum Vorschein wurde nicht nur Inhalt des Poems gebracht, sondern es wurden auch die einzelnen Strophen zitiert. Diese Wahl und Genauigkeit der Beschreibung erklärt Pohl mit dem Phänomen subjektiver Wichtigkeit, dementsprechend behalten bzw. beschreiben die Menschen vorrangig die Dinge, die für sie wichtig sind.136 133 Wesener, S. (05.09.2006): Beim Häuten der Zwiebel. Ein Erinnerungsbuch von Günter Grass. http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/literatur/523469/ (Zugriff am 18.05.2009). 134 Brems, J: Unterrichtsfach: Biographie: Der autobiographische Text als Medium biographischer Lernprozesse in der Erwachsenenbildung. Eine Studie. BoD – Books on Demand, 2002, S. 24. http://books.google.de/books?id=yAHVVfzvDwIC&printsec=frontcover&source=gbs_v2_summary_r&cad=0 (Zugriff am: 22.06.2009). 135 Erll, A.: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart, Weimar: Metzger 2005, S. 144-147. 136 Vgl. Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: Kohlhammer 2007, S. 33. Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ Bei der Analyse der Struktur des Textes erwähnenswert ist noch die Tatsache, dass die Rückwendungen in chronologischer Reihenfolge präsentiert wurden.137 Die Memoiren beginnen mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, als einem symbolischen Schlusspunkt der Kindheit: „Auf engem Raum wurde meine Kindheit beendet, als dort, wo ich aufwuchs, an verschiedenen Stellen zeitgleich der Krieg ausbrach.“ (S. 7) und enden mit der Herausgabe des ersten Romans. Die inzwischen stattgefundenen Ereignisse werden mithilfe des Rückblicks präsentiert und bilden eine Art Brücke zwischen dem Vergangenen - self that was und dem Gegenwärtigen – self that is. Auf diese Weise gewinnt der Leser einen genauen Überblick über die Mechanismen, die die schriftstellerische Existenz des Autors geprägt haben.138 Der Rezipient erfährt beispielsweise, dass die kaschubischen Verwandten, das Leben in Danzig und die Arbeit in dem Steinmetzwerkstatt in den späteren literarischen Werken ihre Widerspiegelung gefunden haben: „Über Werkzeug wie Stockhammer, Bossier- und Scharriereisen wie über Schlesischen Marmor, Belgisch Granit, Travertin und Muschelkalkstein habe ich später, viel später ein ganzes Kapitel geschrieben, als es mir endlich möglich wurde, mich Wort nach Wort auf Papier zu entleeren, (…).“ ( S. 284 - 285) Solche Detailliertheit, genauso wie die Verwendung von den Lokaldialekten, die Beschreibung von den vergangenen Orten und Zeiten stiften die Glaubwürdigkeit der Autobiographie. In dem Buch von Grass sind zahlreiche Beispiele für diese Zeugnisse der Vergangenheit zu finden, z.B. in der Wiedergabe des Kaschubischen: „>>Mecht ne Zehnpfundje sein…<<“ (S. 40), oder in Beschreibung der NS-Tätigkeit: „Blind für alltäglich werdendes Unrecht im nahen Umfeld der Stadt – zwischen Weichsel und Haff, nur zwei Dörfer vom Nickelswalder Lansdchulheim des Conradinums entfernt, wuchs und wuchs das Konzentrationslager Stutthof139-, empörten mich einzig die Verbrechen pfäffischer Herrschaft und die Folterpraxis der Inquisition.“ (S. 38 - 39) 137 Vgl. mehr dazu: Stübig, H.: Die Autobiographie als pädagogische Quelle. Uberlegungen in Hinblick auf Fröbels „Brief an den Herzog von Meininger“. In: Heiland, H./ Neumann, K. (Hrsg.): Fröbels Pädagogik verstehen, interpretieren, weiterführen: internationale Ergebnisse zur neueren Fröbelforschung. Würzburg: Königshausen & Neumann 2003, S. 48. 138 Vgl. Neumann, B.: Fictions of Memory: Erinnerung und Identität in englischsprachigen Gegenwartsroman. In: Literatur in Wissenschaft und Unterricht 4/2004, S. 342. 139 Konzentrationslager Stutthof – nat.-soz., Konzentrationslager, östlich von Danzig, im September 1939 eingerichtet als Zivilgefangenlager, ab November 1941 Arbeitserziehungslager. In S. waren v.a. Juden aus Polen und dem Baltikum inhaftiert. Rund 65 000 – 85 000 Inhaftierte wurden direkt oder durch die Haftbedingungen umgebracht. (Vgl. Brockhaus Enzyklopädie, Mannheim: Brockhaus, 2006. Bd.26.) Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ Diese Authentizitätssuggestion wird zusätzlich durch die Felderinnerungen und das unzuverlässige Erinnern unterstützt. Im Fall von den Felderinnerungen gewinnt der Rezipient den „(…) Eindruck einer episodenhaften Unmittelbarkeit der Vergangenheit“140, denn sie ermöglichen die Wiedergabe des Vergangenen aus der Sicht „der erlebenden, emotional involvierten Person“141. Auf diese Weise wurde z.B. der Luftangriff präsentiert: „Jetzt sehe ich einen bildhübschen Leutnant, wie er aus offener Turmlucke gestikuliert, als hätte er mit bloßen Händen die Schußrichtung freischaufeln wollen, sehe jetzt schlesische Bauern, die nicht vom Fluchtgepäck lassen wollen, sehe puppenklein Kinder auf seitlich wegrutschenden Wagen, sehe eine Frau schreien, doch höre ich nicht ihr Geschrei (…)“ (S. 170) Der erlebende Erzähler, der seine individuelle Handlung und Betrachtungsweise der Situation beschreibt, kommt ziemlich selten vor. Solche Änderung der Erzählinstanz dient der Akzentuierung dieser Romanpassagen, die als emotional wesentlich gelten.142 Die hier präsentierte Erinnerung an Stummheit wegen der unerwarteten Attacke gewinnt dadurch an Suggestivität und scheint dem Rezipienten lebhafter zu sein. Das unzuverlässige Erinnern ist das zweite Mittel, das den Eindruck der Authentizität einführt. Die Darstellung der Abrufsschwierigkeiten von Erinnerungen erscheint in dem Roman oft. Der Autor nutzt den Prozess von dem Vergessen und Verdrängen aus, um die Phantasien, Reflexionen oder Gedächtnismetaphern bekannt zu machen.143 So beispielsweise bei Erinnerungsschwierigkeiten greift er nach Bernstein: „Wann immer mein anderes Hilfsmittel, die imaginierte Zwiebel, nichts ausplaudern will oder ihre Nachrichten mit kaum zu entschlüsselnden Lineaturen auf feuchter Haut verrätselt, greife ich ins Fach (…) und wähle unter den dort lagernden Stücken, gleich ob gekauft oder gefunden. Hier, dieses honiggelbe Stück, das durchsichtig und nur zum krustigen Rand hin milchig eingetrübt ist. Wenn ich es lange genug gegen Licht halte, das ständige Ticktack in meinem Kopf abstelle (…), erkenne ich anstelle des eingeschlossenen Insekts, (…), mich in ganzer Figur: vierzähnjährig und nackt.“ (S. 65) 140 Vgl. Neumann, B.: Fictions of Memory: Erinnerung und Identität in englischsprachigen Gegenwartsroman. In: Literatur in Wissenschaft und Unterricht 4/2004, S. 343. 141 Neumann, B.: Erinnerung, Identität, Narration. Gattungstypologie und Funktionen kanadischer „Fictions of Memory“. Berlin: de Gruyter 2005, S. 31. 142 Vgl. mehr dazu in: Basseler, M./ Birke, D.: Mimesis des Erinnerns. In: Erll, A./ Nünning, A. (Hrsg.) unter Mitarbeit von Birk, H. und Neumann, B.: Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Berlin, New York: de Gruyter 2005, S. 123-148. 143 Vgl. Erll, A.: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart, Weimar: Metzger 2005, S.186-187. Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ Das hier präsentierte Bernsteinmotiv, genauso wie die Zwiebel-Metapher durchflicht sich mit den im Roman beschriebenen Episoden. Dank ihrer Einführung gewinnt der Erzähler einen Abstand und ist dadurch imstande einige Sachen zu erklären und objektiv darstellen. Was die Theorie von Brems bestätigt, dass zu den Zielen der Autobiographie das Selbstverstehen und Rechtfertigung gehören.144 5.2.2. Intertextualität und Interdiskursivität Karl-Heinz Stierle stellte fest, dass kein Text am Punkt Null ansetzen kann.145 Literarische Werke speisen sich nämlich mit literarischen (Intertextualität) und außenliterarischen Bezogenheiten (Interdiskursivität). Auf diese Weise werden die kulturellen, beziehungsweise kommunikativen Begebenheiten und Spezifik einer Gesellschaft angehäuft und verewigt.146 Unter dem Begriff Intertextualität versteht man „(…) alle Bezüge eines literarischen Textes auf andere literarische und außerliterarische Texte.“147 Demzufolge lässt sich sagen, dass die Texte miteinander verknüpft sind, was einen Einfluss auf die Inszenierung von Erinnerungen ausübt. „Beim Häuten der Zwiebel“ ist hier keine Ausnahme. In seinem Roman schildert Grass nicht nur die von sich selbst geschriebenen Bücher, sondern auch solche, die er in seinem Leben gelesen hat, z.B. „Im Westen nichts neues“ von Remarque, Oscar Wildes’ „Das Bildnis von Dorian Grey“ oder „Stud. Chem. Helene Willfüer“ von Vicki Baum. 144 Brems, J: Unterrichtsfach: Biographie: Der autobiographische Text als Medium biographischer Lernprozesse in der Erwachsenenbildung. Eine Studie. BoD – Books on Demand, 2002, S. 24. http://books.google.de/books?id=yAHVVfzvDwIC&printsec=frontcover&source=gbs_v2_summary_r&cad=0 (Zugriff am: 22.06.2009). 145 Vgl. Scheiding, O.: Intertextualität. Zitiert nach: Erll, A./ Nünning, A. (Hrsg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Berlin, New York: de Gruyter 2005, S. 55. 146 Vgl. mehr dazu in: Assman, A.: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: C.H. Beck 1999, S.181-190. 147 Scheidling, O.: Intertextualität. In: Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Berlin, New York: de Gruyter 2005, S. 53. Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ Genette unterscheidet Techniken, mit deren Hilfe intertextuelle Bezuge in den Text involvieren werden (Trantextualität). Seiner Differenzierung nach findet man in dem hier analysierten Werk Beispiele für Inter- und Metatextualität.148 Intertextualität in genetteschem System ist „Präsenz eines Textes in einem anderen Text;“149 darunter soll man Zitate oder Plagiate verstehen. Im Roman von Grass gibt es beispielsweise Abschnitte aus dem Roman von Studienrat „In Stahlgewittern“ und dem Gedicht von Grass „Kleckenburg“: „Das Gedicht handelt von meinem Herkommen und vom Geräusch der Ostsee: >>In Kleckenburg gebürtig, westlich von<< und stellt Fragen: >>Geboren wann und wo, warum? << Eine dem Verlust und das Gedächtnis als Fundbüro beschwörende Suada in Halbsätzen: >>Die Möwen sind nicht Möwen, sondern<<.“ (S. 15) Die hier eingeführten Verse des Gedichtes dienen nicht nur der Erinnerung des Werkes und seiner Verewigung, sondern auch der Veranschaulichung der lyrischen Tätigkeit des Autors. In „Beim Häuten der Zwiebel“ wurden auch die Strophen der damals gesungenen Lider präsentiert, z. B.: „So sehe ich mich im Rückspiegel. Das lässt sich nicht wegwischen, steht nicht auf der Schiefertafel, neben der griffbereit der Schwamm liegt. Das bleibt. Noch immer, wenn auch lückenhaft mittlerweile, sitzen die Lieder fest: >>Vorwärts, Vorwärts schmettern die hellen Fanfaren, vorwärts, vorwärts, Jugend kennt keine Gefahren…<<“ (S. 44) Wenn der Text einen anderen kommentiert, dann liegt die Metatextualität vor.150 In dem Roman von Grass finden sich zahlreiche Beispiele für diese intertextuelle Technik. Der Autor erinnert sich beispielsweise an „Versuchung in Budapest“, den Roman, der zur Bücherbestand seiner Mutter gehörte: „ Verfaßt hat ihn Franz Körmendi, ein mittlerweile vergessener Schriftsteller. Im Jahr dreiunddreißig beim Propyläen Verlag in Berlin verlegt, handelt sein Buch fünfhundert Seiten lang von halt- und glücksuchenden Männern, die sich nach Ende des Ersten Weltkrieges in Kaffeehäusern langweilen, (…). Doch hauptsächlich geht es um einen Entwurzelten, der arm, aber strebsam die Stadt beiderseits Donau verläßt, die Welt sieht und mit reicher Frau heimkehrt, um 148 Vgl. mehr dazu in: Genette, G.: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Zürich, Frankfurt am Mein: Suhrkamp 1993, S.9-18. 149 Scheiding, O.: Intertextualität. In: Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Berlin, New York: de Gruyter 2005, S. 56. 150 Vgl. Martinez, M.: Dialogizität, Intertextualität, Gedächtnis. In: Arnold, H.L./ Detering, H. (Hrsg.): Grundzüge der Literaturwissenschaft. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1996, S. 442-443. Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ dort, in Budapest, einer trügerisch diffusen Liebe zu fallen. Dieser Roman liest sich immer noch drückfrisch (…).“ (S. 49) oder berichtet von seinen eigenen Büchern: „Oskar Matzerath überlebte als Medienmogul. Mit ihm seine Babka, (…) für die er, um ihren Geburtstag zu feiern, im zeitverschränkten Verlauf des Romans >>Die Rättin<< sogar (…) die Strapazen einer Reise in die Kaschubei auf sich nahm. Und weil der frühe Tod Tulla Pokriefkes nur vermutet werden konnte – tatsächlich wurde die Siebzehnjährige hochschwanger von Bord des sinkenden Flüchtlingsschiffes Wilhelm Gustloff gerettet -, stand sie, als endlich die Novelle >>Im Krebsgang<< reif zur Niederschrift war, als siebzigjährige Überlebende auf Abruf bereit.“ (S. 42 - 43) „Beim Häuten der Zwiebel“ nimmt also Bezug auf unterschiedliche Texte, die im Leben des Autors erschienen und sowohl zu seinem persönlichen, als auch zu dem kollektiven Gedächtnis gehören. Dieser These ist zu folgen, denn auch Renate Lachmann stellte fest, dass Schreiben eine Gedächtnishandlung ist, die im intertextuellen Sinne auf „Wiederholen und Erinnern der vergangenen Texten“ beruht. 151 Mit anderen Worten: die Erinnerungen über die Literatur konstruieren sich durch die Aktualisierung literarischer Phänomene auf der textuellen Ebene. Dazu wird auch ein Bestandteil der Kultur erinnert, beispielsweise bei der Präsentation des Romans von Körmendi wird die Dekadenz der zwanziger Jahre veranschaulicht und bei der Zusammenfassung von „Wilhelm Gustloff“ wird das Schicksal der Kriegsflüchtlinge zum Vorschein gebracht. Im Rahmen der Darstellungsverfahren von Erinnerungen kommt auch die Interdiskursivität vor. Diese zeichnet sich durch ihre Bezogenheit auf die außerliterarische Rede aus, hierzu gehören solche sprachlichen Besonderheiten, wie z.B. das mündliche Erzählen oder die alltagssprachlichen und gruppenspezifischen Ausdrücke.152 Grass nutzt diese bei Präsentation des Familienlebens: „Doch sehe ich ihn auch Grimassen schneiden, wenn er nichts tut, nur zwischen den Möbeln des Wohnzimmers rumsteht und dabei so abwesend zu sein scheint, dass die Mutter ihn anrufen muß: >>Wo biste nu schon wieder? Was denkste dir jetzt wieder aus? <<“ (S. 37) bei der Charakteristik seiner kaschubischen Verwandten: 151 Scheiding, O.: Intertextualität. In: Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Berlin, New York: de Gruyter 2005, S. 57. 152 Vgl. Erll, A.: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart, Weimar: Metzger 2005, S. 171. Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ „Dort wurde ich in der Tür einer Bauernkate von der Mutter des erschossenen Briefträgers, meiner Großtante Anna, mit dem unumstößlichen Satz begrüßt: >>Na, Ginterchen, bist aber groß jeworden<<“ (S. 18) oder bei der Erinnerung an Soldatenleben: „Laut >>Schörner-Befehl<< fahndeten Feldgendarmen – die Kettenhunde – nach Soldaten, die, gleich welchen Dienstranges, wenn ohne Marschbefehl, zu fassen und als Drückeberger, Feiglinge, Fahnenflüchtlinge vor mobile Feldgerichte zu stellen waren. Daraufhin wurden sie ohne Umstand und weit sichtbar erhängt. Eine Redensart galt als Warnruf: >>Heldenklau geht um! <<“ (S. 144) Solche spezifischen Ausdrücke, wie „Schörner-Befehl“, „Kettenhunde“, „Heldenklau geht um“, genauso wie die Wiedergabe der Kaschubenrede sind wichtige Bestandteile des Gruppenbildnisses. Ihre Verwendung in dem Roman trägt zur Unterstützung des erfahrungshaftigen Modus bei153 und dadurch zur Stiftung des Eindrucks von der Erinnerungsauthentizität. Die sprachlichen Besonderheiten bestärken nämlich die Überzeugung des Rezipienten, dass die Erinnerungen wahr sind. Der Erzähler kennt typische Begriffe und Eigenschaften der unterschiedlichen Gruppensprachen und dadurch beweist seine Zugehörigkeit zu diesen – kollektive Identität. Diese nach Jan Assmann „(…) beruht auf der Teilhabe an einem gemeinsamen Wissen und einem Gemeinsamen Gedächtnis, die durch das Sprechen einer gemeinsamen Sprache (…) vermittelt wird.“154 Zusätzlich sind die Erinnerungen an das Soldatenleben Form des Generationengedächtnisses, denn die Ausdrücke: „Iwan“ und „Schörner–Befehl“ sind nur den Soldaten des Zweiten Weltkrieges bekannt. Diese Theorie bestätigt wieder Jan Assmann: „Es sind Erinnerungen, die der Mensch mit seinen Zeitgenossen teilt. (...) Dieses Gedächtnis wächst der Gruppe historisch zu; es entsteht in der Zeit und vergeht mit ihr, genauer gesagt: mit seinen Trägern.“155 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sowohl die Intertextualität als auch die Interdiskursivität der Generationengedächtnisses Inszenierung dienen. des Zusätzlich kollektiven, durch die kulturellen Einführung und der interdiskursiven Passagen gewinnt der Text an der Authentizität und Lebhaftigkeit. 153 Vgl. Erll, A.: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart, Weimar: Metzger 2005, S. 171. 154 Assmann, J.: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: C.H. Beck 2005, S. 139. 155 Assmann, J.: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: C.H. Beck 2005, S. 50. Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ 5.2.3. Erzählinstanzen Der Erzähler ist ein Konstrukt von besonderer Art. Er ist immer anwesend, selbst wenn es von ihm nicht geredet wird. Nach Meinung von Wenzel liegt diese Tatsache an dem psychologischen Bereich, der Rezipient, kann sich nämlich keine Zeichenfolge ohne den Urheber vorstellen.156 In der narratologischen Analyse wird deswegen der Aspekt der Erzahlinstanz weit untersucht. Besonders bekannt ist dabei die Typologie von Stanzel, in der drei typische Erzählsituationen zu unterscheiden sind: die auktoriale, die personale und die Ich- Erzählsituation. Für den auktorialen Erzähler bezeichnend ist, dass er nicht zur Welt der handelnden Figuren gehört, man kann ihn eher „als Mittelsmann der Geschichte“ bezeichnen, der „(…) einen Platz (…) zwischen der fiktiven Welt des Romans und der Wirklichkeit des Autors und des Lesers einnimmt.“157 Dank der göttlichen Position hat er einen Überblick über Zeit, Raum und handelnde Figuren, so kann er das Erzählte bewusst anordnen und deuten. Für diese Instanz charakteristisch ist sowohl die berichtende Erzählweise, als auch die ihr untergeordnete szenische Darstellung.158 In „Beim Häuten der Zwiebel“ kommt diese Erzählweise vor allem dann vor, wenn die dargestellten Ereignisse dem persönlichen Erinnerungsschatz des Erzählers nicht zugehören. Auf diese Weise wurde die Geschichte des Caritas-Heims (S. 289 - 290) oder der Familie Heinrichs geschildert: „(…) Heinrichs’ Vater, der während der Freistaatzeit Mitglied der USPD, dann sozialdemokratischer Abgeordneter gewesen war und in Senat der Stadt gegen die damaligen Parteigrößten (…) opponiert hatte, (…) wurde im Frühherbst vierzig von der Gestapo verhaftet. Er kam in ein Konzentrationslager (…). Bald nach der Verhaftung des Vaters entschloß sich die Mutter zum Selbstmord. Worauf Wolfgang und seine Schwester zur Großmutter aufs Land geschickt wurden, weit genug entfernt, um von ihren Mitschülern vergessen zu werden. Der Vater jedoch kam nach der KZ-Haft in ein Strafbataillon, das während des Rußlandfeldzuges im Frontbereich Minen zu räumen hatte.“ ( S. 23) Vgl. Wenzel, P. (Hrsg.): WVT – Handbücher zum Literaturwissenschaftlichen Studium. Einführung in die Erzähltextanalyse. Kategorien, Modelle, Probleme. Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2004. Bd. 6, S. 111. 156 157 158 Stenzel, F.K.: Tehorie des Erzählens. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001, S. 16. Vgl. Martinez, M./ Scheffel, M.: Einführung in die Erzähltheorie. München: C.H. Beck 2007, S. 90. Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ Dank der übergeordneten Perspektive wurde die chronologische Anordnung des Geschehens behalten. Die Ereignisse wurden der Reihe nach geschildert: von politischer Tätigkeit des Vaters bis hin zu seiner Teilnahme an dem Russlandfeldzug. Auf diese Weise gewinnt die Leserschaft einen genauen Überblick über die NS-Vergangenheit. Der Kommentar: „(…) weit genug entfernt, um von ihren Mitschülern vergessen zu werden.“(S. 23) führt zur Bewertung des ganzen Geschehens und Stiftung seines Sinnes. Mithilfe des wenig involvierten Erzählers gewinnt diese private Geschichte eine neue Dimension. Dank der sachlichen Vermittlung und Beurteilung avanciert die Familiengeschichte zum Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses. Es ist wie eine belehrende Botschaft an die Mit- und Nachwelt.159 Im Stanzels Typenkreis ist der Weg von dem auktorialen zum Ich-Erzähler dadurch gekennzeichnet, dass sich der Erzähler immer mehr der dargestellten Welt annähert und letztendlich als Figur erscheint. „Im Vergleich zum körperlosen (…) auktorialen Ich nimmt die Person des Ich-Erzählers in dem Maße an „Leiblichkeit“ zu, wird zu einem „Ich mit Leib“ (…).“160 Diese Erzählweise bringt aber auch eine Bindung des Geschehens an das Dasein der Erzählerfigur und dadurch Einschränkung des Wissensund Wahrnehmungshorizontes.161 Der Ich-Erzähler ist demnach ein Zeuge des Erzählten, seine individuellen Erfahrungen und Beobachtungen von Erfahrungen der anderen werden zur Anschauung gebracht. So wird z.B. das erste Geplänkel mit den russischen Soldaten präsentiert: „ (…) nach nicht allzu langer Zeit sah ich (…) einen Lichtpunkt, der sich nähernd in zwei Punkte teilte. Nach vorschriftsmäßiger Meldung, >>Motorisiertes Fahrzeug, wahrscheinlich Schützenpanzer, in Sicht! <<, stellte ich mich auf die Mitte des Wegs, um gut erkennbar und laut Befehl den vermuteten Schützenpanzer zu stoppen: (…). Ein Blick genügte. Das konnte nur der Russe sein, der kein Licht sparte, sondern bedenkenlos … >>Der Iwan! << rief ich der Gruppe am Wegrand zu, nahm mir aber keine Zeit, die dem Feindpanzer dicht bei dicht aufsitzenden Schützen als einzelne zu erkennen und so zum ersten Mal einem lebenden Sowjetsoldaten von Gesicht zu Gesicht zu begegnen. Vielmehr scherte ich, bevor noch ein Schuß fiel, nach rechts aus, hechtete in die den Wegrand begrenzende Kieferschonung, war weg, aber nicht außer Gefahr. Was ich hörte war Geschrei in 159 Vgl. Erll, A.: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler 2005, S.169-172. 160 Stenzel, F.K.: Theorie des Erzählens. Theorie des Erzählens. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001, S. 258. 161 Vgl. mehr dazu in: Gansel, C.: Moderne Kinder- und Jugendliteratur. Ein Praxishandbuch für den Unterricht. Berlin: Cornelsen Verlag Scriptor 2005, S. 30-32. Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ zwei Sprachen, das von Salven übertönt wurde, bis schließlich nur noch die russischen Maschinenpistolen das Sagen hatten.“ (S. 154) Das Denken und Fühlen des Ich-Erzählers steht hier im Vordergrund: „Ein Blick genügte. Das konnte nur der Russe sein (…)“ (S. 154). Dank charakteristischer Soldatenrede, z.B. „Iwan“ als Bezeichnung für die russischen Krieger, oder fachkundigen Meldungen: „Motorisiertes Fahrzeug, wahrscheinlich Schützenpanzer, in Sicht!“ evoziert die Szene den Eindruck von Wirklichkeit und kann gleichzeitig als eine modellhafte Situation für die deutschen Soldaten des Zweiten Weltkrieges gelten. Dieses Zitat ist also ein Beispiel für das Generationengedächtnis, denn diese Gedächtnisart basiert auf der Gemeinschaft der Gleichaltriegen, die durch dieselbe politischen, sozialen, kulturellen Ereignisse geprägt wurden, hier ist das der Krieg.162 Die Erzählerinstanz wird demnach zum Träger des kommunikativen und gleichzeitig des generationsspezifischen Gedächtnisses.163 Demnach lässt sich auch sagen, dass man hier mit einem erfahrungshaftigen Modus zu tun hat, denn: „Zu diesem Modus führt eine Dominanz von Darstellungsverfahren, durch die der literarische Text als erfahrungsgesättiges Medium und die in ihm dargestellte Wirklichkeit als spezifische Lebenserfahrung einer Epoche oder sozialen Gruppe inszeniert werden.“164 „Beim Häuten der Zwiebel" kann man als einen autobiographischen Text bezeichnen. Für solche Texte charakteristisch ist die Darstellung der Erinnerungsprozesse, wobei man zwischen einem erlebenden und einem erzählenden Ich unterscheidet. Fall des erlebenden Ichs wurde schon durch das oben angeführte Beispiel veranschaulicht. Bei dem erzählenden Ich kommt die „(…) Instanz eines gealterten, rückschauenden, kommentierenden, analysierenden, wertenden und damit Sinn stiftenden“165 Ich. Der Erzähler rekonstruiert hier seine Erlebnisse und durch die Reflexion entdeckt nicht selten den Unterschied zwischen dem tatsächlich Passierten und dem Erinnerten. So beispielsweise wurde die Zugehörigkeit des Ich-Erzählers zur Waffen-SS beschrieben: „Eher werde ich die Waffen-SS als Eliteeinheit gesehen haben, die jeweils dann zum Einsatz kam, wenn ein Fronteinbruch abgeriegelt, ein Kessel, wie der von Demjansk, aufgesprengt oder Charkow zurückerobert werden mußte. Die doppelte 162 Assmann, A.: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen, Wissen, Ethik 13/2002, S. 184. Vgl. Erll, A.: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler 2005, S. 169-173. 163 164 Erll, A: Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses. In: Erll, A./ Nünning, A. (Hrsg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Berlin, New York: de Gruyter 2005, S. 268. 165 Erll, A.: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler 2005, S. 186. Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ Rune am Uniformkragen war mir nicht anstößig. Dem Jungen, der sich als Mann sah, wird vor allem die Waffengattung wichtig gewesen sein: (…). Auch ging von der Waffen-SS etwas Europäisches aus: in Divisionen zusammengefaßt kämpften freiwillig Franzosen, Wallonen, Flamen und Holländer (…). Also Ausreden genug. Und doch habe ich mich über Jahrzehnte hinweg geweigert, mir das Wort und den Doppelbuchstaben einzugestehen. Was ich mit dem dummen Stolz meiner jungen Jahre hingenommen hatte, wollte ich mir nach dem Krieg aus nachwachsender Scham verschweigen.“ (S. 126 - 127) In diesem Zitat steht die Selbstbeobachtung im Mittelpunkt. Der Ich-Erzähler berichtet von seinen Erfahrungen aus der sichtbaren Distanz. Das Vergangene wird hier nicht nur kommentiert, sondern auch negativ beurteilt: „Was ich mit dem dummen Stolz meiner jungen Jahre hingenommen hatte, wollte ich mir nach dem Krieg aus nachwachsender Scham verschweigen.“ (S. 127). Dem Rezipient wird den Unterschied zwischen Betrachtungsweise der Waffen-SS in der Jugend und jetzt veranschaulicht. Während des Krieges wurde diese Organisation durch den Erzähler als eine internationale, elitäre Division betrachtet, heute ist sie nichts mehr als Grund für Scham. Solche, durch die Zeit bedingte Meinungsänderung ist ein Beispiel für den reflexiven Modus, denn dieser liegt dann vor, „(…) wenn das literarische Werk eine erinnerungskulturelle Selbstbeobachtung ermöglicht.“166 In diesem Fragment wurde sowohl die Reflexion über die kulturbedingte Einstellung (Betrachtungsweise der SS jetzt und damals), als auch die sinnstiftende Erzählerfunktion (Beurteilung der SS) geschildert. Im Fall, wenn kein Erzähler der Geschichte als Vermittlungsinstanz auftritt, handelt es sich um einen personalen Erzähler. Für den Leser entsteht damals „ (…) die Illusion, er befände sich selbst auf dem Schauplatz des Geschehens oder er betrachte die dargestellte Welt mit den Augen der Romanfigur, die jedoch nicht erzählt, sondern in deren Bewusstsein sich das Geschehen gleichsam spiegelt.“167 Dementsprechend lässt sich sagen, dass die Hinweise auf die Erzählinstanz kaum erkennbar sind, der Erzähler tritt nicht mehr als persönlicher Sprecher. Er ist anonym und obwohl er die Geschichte aus der Sicht einer am Geschehen beteiligten Figur schildert, bleibt neutral und verzichtet auf Kommentare und Reflexionen. 166 Erll, A: Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses. In: Erll, A./ Nünning, A. (Hrsg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Berlin, New York: de Gruyter 2005, S. 268. 167 Stenzel, F. K.: Tehorie des Erzählens. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001, S. 17. Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ In „Beim Häuten der Zwiebel“ gibt es kein Beispiel für diese Erzählensart. Der Sprecher ist niemals anonym und neutral, denn das geschilderte Geschehen gehört zur Biographie des Erzählers. Die präsentierten Geschehnisse sind Nacherzählungen mit den Kommentaren und Reflexionen. Selbst wenn das Geschilderte einen neutralen Charakter aufweist und der Rezipient die Illusion der Beteiligung gewinnt, kommen die Kommentare oder Pronomen vor, die den Ich-Erzähler entlarven, z.B. „Blieb ich stehen und vermied jedes Geräusch, stand sogleich der oder das still, ein Tier, Mensch oder Fabelwesen, wer oder was auch immer Schritte im dunklen Wald machte. Ein Jemand trat auf, mal näher, dann wieder entfernter, um abermals näherzukommen, zu nah. Vorsicht. Nicht laut schlucken! Deckungen hinter Baumstämmen suchen. Was unterm Drill militärischer Ausbildung gelernt worden ist. Die Waffe entsichern, wie bestimmt andererseits eine Waffe entsichert wird.“ (S. 158) Wenn man den ersten Satz auslässt, dann scheint diese Szene von einem personalen Erzähler dargestellt zu werden. Der Leser hat den Eindruck, dass er selbst an dem Geschehen beteiligt ist. Man verspürt die vorhandenen Angst und Spannung. Der Einschub aber: „Was unterm Drill militärischer Ausbildung gelernt worden ist.“ (S. 158), genauso wie der erste Satz deuten auf eine andere Erzählerinstanz hin. Die ganze Geschichte ist also keine direkte Übermittlung, sondern aus der Distanz geschilderte Nacherzählung. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass „Beim Hauten der Zwiebel“ eine Autobiographie ist. Der Erzähler konzentriert sich auf seinen persönlichen Erfahrungen, auch deswegen ist die Ich-Erzählung eine dominierende Darstellungsform. 5.2.4. Erzählebene Unter Einbeziehung der Erzähltheorie von Gerard Genette sollen die narrativen Ebenen der Erzählung an den Textbeispielen diskutiert werden. „Jedes Ereignis von dem in einer Erzählung erzählt wird, liegt auf der nächshöheren diegetischen Ebene zu der, der hervorbringende narrative Akt dieser Erzählung angesiedelt ist.“168 Demzufolge unterscheidet Genette neben der extradiegetischen Ebene, die intradiegetische und metadiegetische Stufe. 168 Genette, G.: Die Erzählung. München: Wilhelm Fink Verlag 1998, S. 163. Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ Die erste Ebene das ist die extradiegetische Ebene, also die Erzählung des Rahmenerzählers. Der Erzähler gilt in diesem Fall als Autor-Erzähler. Diese Erzählstufe tritt schon am Anfang des Romans in den Reflexionen des redenden Subjekts: „Ob heute oder vor Jahren, lockend bleibt die Versuchung, sich in dritter Person zu verkappen: Als er annähernd zwölf zählte, doch immer noch liebend gern auf Mutters Schoß saß, begann und endete etwas. Aber läßt sich, was anfing, was auslief, so genau auf den Punkt bringen? Was mich betrifft schon.“ (S. 7) Es kommt hier zur Begründung der Erzählweise (Betrachtung eigener Figur in der dritten Person) und zur Äußerung des Zweifels an die Genauigkeit dessen, worüber berichten wird. Auch am Ende des Buches erscheint die Zusammenfassung des AutorErzählers: „So lebte ich fortan von Seite zu Seite und zwischen Buch und Buch. Dabei blieb ich inwendig reich an Figuren. Doch davon zu erzählen, fehlt es an Zwiebeln und Lust.“ (S. 479) Diese beiden Aussagen bilden eine extradiegetische Rahmenerzählung. Mithilfe solcher Narration wurde akzentuiert, dass die in dem Roman beschriebenen Vorkommnisse zur Vergangenheit gehören. Ihre Präsentation dient nur der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und ihrer Einordnung. Diese These bestätigt Schacter, indem er schreibt, dass die Erinnerung ein Versuch ist, „(…)eine Einstellung zum eigenen Leben zu finden, die dem Verständnis und der Integration des Selbst und vielleicht auch der Vorbereitung auf den Tod dient.“169 Das extradiegetische Erzählen kommt in dem Text auch in Form von Einschüben zum Vorschein und bricht die intradiegetische Erzählung durch, z.B.: „Dort sollte auf militärisches Gerät, die zugesagten Panzer vom Typ Tiger gewartet werden. Das Warten zog sich in die Länge, war aber bei regelmäßiger Verpflegung und unter schlapper Dienstaufsicht erträglich. Sogar für Kinobesuche fand sich Zeit. (…) Diese Zeitspanne kommt mir als nicht datierbar und wie aus verschiedenen Handlungsabläufen gestückelter Film vor, der mal in Zeitlupe, dann überschnell abläuft, (…). Allenfalls ist mir als Person in festen Umrissen ein Unteroffizier vor Augen, der nach dem Essenfassen zwischen uns am langen Holztisch sitzt: das übliche Frontschwein. Als er plötzlich dringend aufs Klo muß, stellt er seinen noch vollen Teller unter Bewachung, indem er der rechten Augenhöhle mit geübtem Zweifingergriff eine gläserne Kugel entnimmt und diese hellblau auf einen handtellergroßen Fleischlappen legt, (…).“ (S. 136 - 137) In diesem Fragment wurde beispielsweise die Beschreibung des Soldatenlebens durch die Bemerkung des Erzählers über die Eigenschaften seines eigenen Gedächtnisses 169 Schacter, D.L.: Wir sind Erinnerung. Gedächtnis und Persönlichkeit. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag 1999, S. 476. Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ durchgebrochen. Danach beobachtet man den Rückkehr des Berichtenden zur Vergangenheit und ausführliche Beschreibung der Verhaltensweise eines Unteroffiziers. Durch die Einführung der Bemerkungen des extradiegetischen Erzählers in die intradiegetische Ebene der Erinnerungen wird sein Verhältnis zu diesen betont. „Jede Analyse des episodischen Gedächtnisses muß die subjektive Erfahrung dessen berücksichtigen, der das Erinnern leistet (…)“170 Diese Bemerkung von Schacter weist darauf hin, dass die Beziehung zwischen dem Erinnernden und dem Erinnerten einen engen Charakter hat. Die dominierende Erzählensebene ist die intradiegetische. Hierzu gehören sowohl die Geschichten aus dem Leben des Erzähler-Autors, als auch die Berichte von den gelesenen bzw. geschriebenen Büchern. Die Wiedergabe der vergangenen Ereignisse befindet sich also eine Ebene niedriger als die Reflexionen und Kommentare, die an das Publikum gerichtet sind.171 Bemerkenswert ist dabei, dass sich sowohl die Erinnerungen von Ereignissen als auch die von Literaturwerken auf demselben Niveau befinden. Grund dafür ist die Tatsache, dass Erinnerung an ein Ereignis die Erinnerung an das geschriebene oder gelesene Buch auslöst, z.B. als der Erzähler von dem Nachkriegsleben der Eltern berichtet macht er sich sofort Gedanken an „Die Blechtrommel“: „Die Bruchbriketts gab es als Deputat. Als die Eltern endlich Wohnung in dem werknahen Dorf Oberaußem fanden, bekamen sie sogar größere Mengen vom >>schwarzen Gold<< zugeteilt, heil in länglicher Form und als Eierbriketts. Das Werk, in dem der Vater Arbeit gefunden hatte, war eine Industrieanlage, die aus gereihten Schornsteinen mächtig Dampf machte und Fortuna Nord hieß, wie später eines der >>Blechtrommel<< - Kapitel, in dessen Verlauf auf dem Friedhof des Bergearbeiterdorfes Oberaußem eine Leiche umgebettet wird und Oskar Matzerath, während die Leiche Stück nach Stück ans Licht kommt, einen Monolog hält in dessen Verlauf er die abgewandelte Hamletfrage stellt: >>Heiraten oder Nichheiraten?<<“ (S. 273 - 274) Solche Verbindung unterschiedlicher Erinnerungen ist mit der Feststellung von Pohl zu erklären, dass die „Informationen die zusammengehören, (…) miteinander verbunden [sind –M.B.].“172 Der gemeinsame Nenner, dank dem der Erzähler die Erinnerung an 170 Schacter, D.L.: Wir sind Erinnerung. Gedächtnis und Persönlichkeit. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag 1999, S. 40. 171 Vgl. Martinez, M./ Scheffel, M.: Einführung in die Erzähltheorie. München: C.H. Beck 2007, S. 7576. 172 Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: W. Kohlhammer 2007, S. 22. Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ das Buch mit der Erinnerung an die Arbeit des Vaters verbindet, ist der Name des Betriebes – „Fortuna Nord“. Auch deswegen befinden sich die beiden Erinnerungen auf derselben Erzählebene. Ganz anders sieht die Situation, wenn sich der Erzähler in seine Erinnerungen vertieft. Damals kommt die dritte Erzählstufe vor, die man als metadiegetische bezeichnet. Diese Ebene lässt sich als eine Binnenerzählung in der intradiegetischen Geschichte definieren.173 Beispielsweise in dem Roman von Grass findet man solche Versenkung in die Vergangenheit bei der Beschreibung der intimen Erfahrung mit einer Frau: „Angenommen, wir flüsterten im Heu, abwechselnd oder nur ich. Weißnichtmehrwas in einem Heuhaufen an Flüsterworten zu finden wäre. Nur daß Inge plötzlich sachlich sprach, als hätte sie sich erklären müssen, blieb hängen. Familiäre Kriegsumstände. Das zerbombte Reihenhaus am Bochumer Stadtrand. Ihr Verlobter sei gefallen, da unten auf dem Balkan, schon vor zwei Jahren, weil dort überall Partisanen. Der wäre als Bergmann eigentlich unabkömmlich gewesen >>uk geschrieben<< sagte sie -, dann aber habe man ihn gleich nach Stalingrad doch noch und zwar zu den Pionieren geholt. Erst zur Ausbildung nach GroßBoschpol, dann ab an die Front und später, wie er geschrieben hatte, nur nach zum Brückenbau in die Berge…“ (S. 238 - 239) Der intradiegetische Erzähler präsentiert zuerst seine Frauenerfahrung, dann aber steigt eine Stufe hinunter und gibt die Worte der Frau wieder. Diese präsentiert ihrerseits die Geschichte des gestorbenen Verlobten. Dementsprechend kann man sagen, dass es in der Erzählung der zweiten Stufe eine Binnengeschichte gibt - metadiegetische Erzählung. Im Fall des Romans „Beim Häuten der Zwiebel“ hat man mit der „erinnerten Erinnerung“174 zu tun. Dieses Beispiel ist eine Veranschaulichung für den Unterschied zwischen den narrativen und autobiographischen Erinnerungen. Die narrativen Erinnerungen sind nach Pohl solche Ereignisse, von denen man gehört hat, aber nicht persönlich erlebt, in diesem Fall ist das die tragische Lebensgeschichte des Verlobten. Die episodischen Erinnerungen hingegen beziehen sich an die selbsterlebten Vorkommnisse. In dem hier angegebenen Beispiel ist das die intime Situation.175 Auch deswegen befinden sich die beiden Geschehnisse auf unterschiedlichen Erzählebenen. 5.2.5. Zeitstruktur 173 Vgl. Martinez, M./ Scheffel, M.: Einführung in die Erzähltheorie. München: C.H. Beck 2007, S. 76. Vgl. Genette, G. Die Erzählung. München: Wilhelm Fink Verlag 1998, S.165. 175 Vgl. Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte Stuttgart: Verlag W. Kolhammer 2007, S. 45. 174 Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ In diesem Abschnitt soll der Aspekt der Zeitstruktur analysiert werden. Wenn man die Theorie von Gerard Genette berücksichtigt, dann lässt sich das Verhältnis zwischen der Zeit der erzählten Geschichte (erzählte Zeit) und der Zeit der Erzählung (Erzählzeit) unterscheiden.176 „Unter Erzählzeit hat man sich die Zeit vorzustellen, die ein Erzähler für das Erzählen seiner Geschichte benötigt und sie im Fall eines Erzähltextes, der keine konkreten Angaben über die Dauer des Erzählens enthält, einfach nach dem Seitenumfang der Erzählung bemisst. Die erzählte Zeit meint demgegenüber die Dauer der erzählten Geschichte.“177 In „Beim Häuten der Zwiebel“ entspricht die Erzählzeit – in der ungekürzten Ausgabe des Deutschen Taschenbuch Verlags GmbH & Co. KG – einem Umfang von 479 Druckseiten, während die in diesem Rahmen erzählte Geschichte etwa siebzig Jahren umfasst. Der Konnex zwischen diesen beiden Zeiten kann mit Hilfe dreier Faktoren systematisiert werden, nämlich der Ordnung (in welcher Reihenfolge wird das Geschehen in einer Erzählung vermittelt), der Dauer (wie lange beansprucht die Darstellung eines Geschehens in der Erzählung) und der Frequenz (wie oft wird ein sich wiederholendes oder nicht wiederholendes Geschehen in einer Erzählung präsentiert).178 Nach Genette kann das Geschehen entweder chronologisch oder achronologisch dargestellt werden. In „Beim Häuten der Zwiebel“ lässt sich die chronologische Reihenfolge nur in intradiegetischen Erzählungen, in denen von anderen Protagonisten bzw. Events berichtet wird, finden: „Der Krieg zählte wenige Tage, als ein Cousin meiner Mutter, Onkel Franz, der als Briefträger zu den Verteidigern der Polnischen Post am Heveliusplatz gehörte, bald nach Ende des kurzen Kampfes wie fast alle Überlebenden auf deutschen Befehl standrechtlich erschossen wurde. Der Feldrichter, der die Todesurteile begründete, aussprach und unterschrieb, durfte noch lange nach Kriegsende unbeschadet in Schleswig- Holstein als Richter urteilen und Urteile unterschrieben.“(S. 15 - 17) In diesem Geschehen wird man mit einem zeitlichen Nacheinander konfrontiert. Zuerst wird der Leser darüber informiert, dass der Krieg schon ein paar Tage andauerte, daraufhin erfährt man, dass der Cousin der Mutter an der Verteidigung der Post teilnahm, letztendlich, dass sein Richter noch nach dem Krieg als freier Mensch lebte. „Beim Häuten der Zwiebel“ ist eine Autobiographie, die voll von achronologischen 176 Vgl. Genette, G.: Die Erzählung. München: Wilhelm Fink Verlag 1998, S. 21-22. Martinez, M./Scheffel, M.: Einführung in die Erzähltheorie. München: C.H. Beck 2007, S. 31. 178 Vgl. Martinez, M./Scheffel, M.: Einführung in die Erzähltheorie. München: C.H. Beck 2007, S. 32. 177 Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ Präsentationen der Ereignisse ist. Beispielsweise berichtet der Ich-Erzähler im Kapitel „Während lautlos der Krebs“ gleichzeitig von seinem jetzigen Leben, seiner Freundin aus der Jugendzeit, dem neuen Papst, seinen Sommerferien in den 60’er Jahren und seiner Vorbereitungen zur Hochzeit (S. 438). Dieser Bericht ist Beispiel für die Wirkung des individuellen Gedächtnisses, weil die Erinnerungen „für sich genommen fragmentarisch, d.h. begrenzt und ungeformt [sind –M.B.]. Was als Erinnerung aufblitzt, sind in der Regel ausgeschnittene, unverbundene Momente ohne Vorher und Nachher.“179 Diese zeitliche Dissonanz kann durch zwei grundsätzlich unterschiedliche Formen realisiert werden: In der Rückwendung (Lämmert) bzw. Analepse (Genette) „wird ein Ereignis nachträglich darstellt, das zu einem früheren Zeitpunkt stattgefunden hat als dem, den die Erzählung bereits erreicht hat“180 Beispielsweise in dem Kapitel „Was mir zur Hochzeit geschenkt wurde“ erinnert sich der Ich-Erzähler an das Treffen der Gruppe ’47181, an dem er seine Gedichte vorlesen sollte. Damals ließ ihn Hans Werner Richter182 laut und deutlich Lesen, was Erinnerung aus der Zeit des Weltkrieges auslöste. Der Erzähler erinnert sich an eine Situation, als sein Kumpel Joseph „aus einem schwarz eingebundenen Büchlein sein frommes Zeug mit so leiser und fast verhauchten Stimme vorgelesen hat.“ (S. 461). Die Prolepse (Genette) bzw. Vorausdehnung (Lämmert) bezieht sich auf ein Geschehen, das im Augenblick des Erzählens noch zur Zukunft der erzählten Geschichte gehört.183 Die beiden Events, d.h., das Gegenwärtige und Zukünftige, verknüpfen sich miteinander dank der freien Assoziationen, denn „Informationen, die zusammengehören, sind miteinander verbunden.“184 z.B. „Die geschlitzte Gasmaskenbüchse blieb auf dem Verbandsplatz. Den Splitter der sowjetischen Granate jedoch, der mich verschont und so den späteren Vater von 179 Assman, A.: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen, Wissen, Ethik 13/2002, S. 184. Martinez, M./Scheffel, M.: Einführung in die Erzähltheorie. München: C.H. Beck 2007, S. 33. 181 Die Tagungen von Autoren und Journalisten. Bis in die Sechzigerjahre hinein wurde die >>Gruppe 47<< als Repräsentantin gesellschaftskritischer Schriftsteller wahrgenommen. (Vgl. Kraft, T. (Hrsg.): Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartslliteratur seit 1945. München: Nymphenburger Verlag 2003, S. 1032.) 182 Mitgründer der Zeitschriften „Ruf“(1945-46) und „Der Ruf .Unabhängige Blätter der jungen Generation“ (1946-47) Sein persönlicher Kontakt zu engagierten Schriftsteller und Journalisten war der Ausgangspunkt für ein Autorentreffen (Gruppe’47) (Vgl. Kraft, T. (Hrsg.): Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1945. Nymphenburger Verlag 2003, S. 1032.) 183 Vgl. Martinez, M./Scheffel, M.: Einführung in die Erzähltheorie. München: C.H. Beck 2007, S. 37. 184 Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: W. Kohlhammer 2007, S. 22. 180 Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ Söhnen und Töchtern gnädig zum Überleben gemacht hatte, hätte ich gerne in ganzer Länge meinen Kindern, später den Enkelkindern gezeigt: (...).“ (S. 173) Der Ich-Erzähler kombiniert hier zwei, in verschiedenen Zeitabständen stattgefundene Ereignisse, nämlich sein Aufenthalt im Lazarett während des Weltkrieges und seine spätere Vaterschaft, zu der es gekommen ist, nur weil, der Splitter ihn verschont hat. An diesem Beispiel sieht man, dass die Erinnerungen nicht wahllos angehäuft sind, sondern auf ihre Art „sortiert“. Als nächstes Merkmal der Zeitstruktur gilt die Dauer, die das Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit betrifft: „Eine annähernde Übereinstimmung von Erzählzeit und erzählter Zeit liegt wohl nur dann vor, wenn im eigentlichen Sinne nicht mehr erzählt, sondern szenisch dargestellt wird (...).“185 In der Forschung unterscheidet man: Szene, Dehnung, Raffung, Ellipse und Pause. Diese Zeitstrukturen spiegeln hier das Innen – und Außenleben des Protagonisten wieder. Mit Hilfe der Szenen (zeitdeckendes Erzählen) wurden die besonders traumatischen und emotionalen Erinnerungen präsentiert, beispielsweise einen Angriff beschreibt der Erzähler so: „Zwischen Löffel und Löffel sagte mein Obergefreiter: >>Das sind T-34<< Ich, sein Echo: >>Sind T-34<< Auf der gegenüberliegenden Seite war oberhalb der verteilten Abbaufläche eine zählbare Menge Panzer aus einem Waldstück aufgefahren.“ (S. 169) Auffallend dabei ist die Genauigkeit der ausgemalten Szene, einen Einfluss darauf haben die Eigenschaften des autobiographischen Gedächtnisses. Nach Pohl können sich nämlich, solche überraschend auftretenden und mit starken Emotionen verknüpften Ereignisse, wie bei einem Blitzlicht- Foto in einem einzigen Augenblick in das Gedächtnis „einbrennen“. Dieses Moment ist mit allen Details unveränderbar festgehalten, sodass Erinnerungen auch nach langer Zeit (hier nach fast sechzig Jahren) höchst detailliert ausfallen.186 Das zeitdeckende, szenische Erzählen wird in dem Roman „Beim Häuten der Zwiebel“ mit anderen narrativen Tempi kombiniert. Wenn man den Roman als ein Ganzes betrachtet, dann fällt sofort auf, das während viele Episoden zeitlupig (Dehnung) beschrieben wurden, sind die anderen Ereignisse mithilfe der Raffung präsentiert. So widmet der Erzähler viel Platz der Beschreibung 185 Martinez, M./Scheffel, M.: Einführung in die Erzähltheorie. München: C.H. Beck 2007, S. 39. Vgl. Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: W. Kohlhammer 2007, S. 73. 186 Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ von Zigarettenbildern, die er als Kind sammelte (S. 11 - 14), oder seinem ersten Besuch an der Kunstakademie: „(...)als mir plötzlich, bereits auf dem Rückweg, die Kunst in Gestalt eines alten Mannes begegnete, der dem aus Stummfilmzeiten überlieferten Abbild eines Künstlers glich. Wie mir ging ihm weiß der Atem vom Mund. Erst knapp zwei Jahre später wußte ich Genaueres: mein Gegenüber, der alte Mann, den eine schwarze Pelerine hüllte, ein Schal schwarz vermummte und breitkrempig ein Künstlerhut aus schwarzem Filz verschattete, mochte Mitte fünfzig sein, hieß Enseling und verstand sich als Kunstprofessor, bestallt mit Anspruch auf lebenslange Pension.“ (S. 280 281) Ganz anders aber präsentiert er seine Arbeit in dem Bergwerk (S. 251 - 257), oder das spätere Leben in Paris: „In Paris tanzten Anna und ich offen und eng. In Paris waren wir glücklich und ahnten nicht, wie lange noch. In Paris kam de Gaulle an die Macht und lernte ich, die Knüppelgewagt der französischen Polizei zu fürchten. In Paris wurde ich zusehends politischer. In Paris setzten sich vor fließender Wand etliche Tuberkulome in meiner Lunge fest, die erst in Berlin auskuriert wurden. In Paris liefen mir die Zwillinge auf Avenue d’Italie in verschiedene Richtung davon, so daß ich nicht wußte, wem zuerst hinterdrein.“ (S. 479) Diese zwei narratologischen Zeitstrukturen (Dehnung und Raffung) können in Anbetracht des autobiographischen Gedächtnisses erklärt werden, nämlich: „Autobiographische Erinnerungen können von spezifischen Lebensthemen (life themes) dominiert sein (...) sie [haben –M.B.] sich als prägend für das Individuum herausgestellt (...) und auf diese Weise seinen Lebensweg bestimmen.“187 Dieser Auffassung von Pohl folgend, kann man feststellen, dass die Kunst eins von den Lebensthemen des Protagonisten ist. Deswegen ruft er, anders als bei Beschreibung des Lebens im Paris, die genaue Erinnerung an die Zigarettenbilder (S. 11 – 14) herbei und im Zeitlupentempo beschreib er das Treffen mit dem Kunstprofessor. Manche Lebensettapen scheinen aber dem Ich–Erzähler völlig unwichtig zu sein, deswegen überspringt er diese Abschnitte mithilfe von Ellipsen188 und beschleunig dadurch das Erzähltempo. So berichtet er über eine Gipsfigur, die er selbst gemeißelt hat und verzichtet auf Genese seines persönlichen Erfolgs: „Wahrscheinlich ist mir deshalb das knapp meterhohe und immerfort lächelnde Mädchen bis ins gegenwärtige Alter bedeutsam geblieben, wenngleich mir der Gips damals mitsamt den anderen, nur mittelhohen Figuren dergestalt gleichgültig 187 Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: W. Kohlhammer 2007, S. 133. 188 Ein Zeitabschnitt des dargestellten Geschehens, der in der erzählerischen Darstellung ausgespart wird. (Vgl. Martinez, M./Scheffel, M.: Einführung in die Erzähltheorie. München: C.H. Beck 2007, S. 187.) Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ gewesen ist, daß ich sie alle beim nächsten Ortwechsel, Ende zweiundfünfzig, im Atelier stehenließ, worauf ein Mitschüler die verweiste Meterhohe mit sich nahm. Erst ein Jahrzehnt später, als ich schon Ruf, Namen und Geld genug hatte, gab er Nachricht, so daß ein Bronzeguß für ihr Fortleben sorgen konnte.“( S. 339) Im Vergleich mit der relativ umfangreichen Beschreibung der Figur, ist der Abstand des Ich- Erzählers zu seinem späteren Leben deutlich sichtbar. Die Erinnerungen vom Ruhm scheinen ihm zweitrangig zu sein. In diesem Falle muss man der Feststellung von Aleida Assmann zustimmen, dass sich „(...) die Relevanzstrukturen und Bewertungsmuster im Laufe des Lebens [verändern].“189 Das bedeutet, dass die früher wichtigen Episoden, also hier der persönliche Erfolg, unwichtig werden können, und umgekehrt, die früher belanglosen Events gewinnen im Laufe der Zeit an Bedeutung, z.B. die Skulptur, die der Ich- Erzähler mitzunehmen vergessen hat, scheint ihm jetzt relevant zu sein. In „Beim Häuten der Zwiebel“ befinden sich auch gegensätzliche Momente, in denen die Erzählung stillsteht (Pause) und der Ich-Erzähler die Reflexionen über sein Leben anstellt oder es kommentiert. Auf diese Art und Weise analysiert und beurteilt er in dem unten angeführten Beispiel seine bisherige, literarische Tätigkeit: „Wer von Berufs wegen genötigt ist, über die Jahre hinweg sich selbst auszubeuten, der wird zum Verwerter von Resten. Viel blieb nicht. Was sich dank greifbarer Hilfsmittel formen, verformen, schließlich in Sprüngen vorwärts, dann wieder gegenläufig erzählen ließ, haben als allesfressende Monster die Romane geschluckt und in Wortkaskaden ausgeschieden. (...). Nach so viel Kot – was alles zu Buche schlug – keimte die Hoffnung, endlich zum Hohlraum geworden, besenrein leergeschrieben zu sein.“ (S. 329) Solche Reflexionen – die Lebensrückschau, dienen der Analyse der abgerufenen Erinnerungen. So „kann zu deren Erklärung und damit dem tieferen Verständnis der eigenen Entwicklung beitragen oder auch zu evaluativen Schlussfolgerungen kommen, die ebenfalls direkt mit entsprechenden emotionalen Reaktionen verknüpft sind.“190 Der Ich-Erzähler entschuldigt sich hier für seine jetzige Arbeit und erklärt anhand der Lebensrückschau, warum sie so aussieht. Die letzte wichtige Frage für die Nachforschung der Zeitverhältnisse wurde von Genette unter der Kategorie Freguenz eingeführt. Frequenz betrifft einerseits die Frage, wie oft ein bestimmtes Ereignis in der angenommenen Geschichte vorkommt, andererseits wie 189 Assmann, A.: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen, Wissen, Ethik 13/2002, S. 184. Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: W. Kohlhammer 2007, S. 136. 190 Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ häufig es im Text dargestellt wird. Genette unterscheidet mit Hilfe von Kombinationslogik vier Kategorien: ein wiederholtes Ereignis wird wiederholt oder einmal erzählt, ein einmaliges Ereignis wird einmal oder wiederholt erzählt. Aus diesen vier Möglichkeiten lassen sich drei Wiederholungsarten unterscheiden: die singulative, die repetitive, und die iterative Erzählung. 191 Die singulative Form ist die häufigste Form, in ihren Rahmen „(.) besteht zwischen der Wiederholungszahl des Ereignisses und der seiner Erzählung ein Abbildungsverhältnis von eins zu eins.“192 Es wird also einmal erzählt, was sich nur einmal ereignet hat. Beispielsweise in dem Kapitel „Was mir zur Hochzeit geschenkt wurde“ malt Grass sein Leben in Paris aus. Diese Beschreibung basiert auf den Einzelereignissen, die für Konstruktion der Pariser Wirklichkeit bezeichnend sind: „Schließlich kaufte uns Annas Vater in der Avenue d’Italie einen Hinterhofanbau, dessen obere zwei Zimmerchen von einem schmalen Korridor verbunden wurden, an den die winzige Küche und das Bad mit Sitzbadewanne grenzten.“ (S. 473) „In Paris hörten Anna und ich von weit her, daß in West- und Ostberlin kurz nacheinander Gottfried Benn und Bert Brecht gestorben waren und so ihre zahlreichen Epigonen zu Weisenkindern gemacht hatten. Ich schrieb ein Gedicht als Nachruf auf beide.“ (S. 474) „In Paris kauften wir einen gebrauchten Kinderwagen, der den ungleichen Zwillingsbrüdern nebeneinander Platz bot.“ (S. 476) Man hat den Eindruck, dass die hier präsentierten Geschehnisse freie Assoziationen sind, die dem Erzähler während der Beschreibung der Pariser Geschichte eingefallen sind. Sie passierten nur einmal und sie wurden in dem Roman auch nur einmal dargestellt. Diese Informationen, aus so verschiedenen Bereichen, wie Immobilien, Literatur und Elternschaft gehören zusammen, der gemeinsame Anhaltspunkt ist nämlich das Leben in der französischen Hauptstadt. Nach Meinung von Aristoteles ist die zeitliche und räumliche Nähe (Kontiguität) ein wichtiges Organisationsprinzip. Diese These bestätigt Pohl: „Wenn von Assoziationen die Rede ist, denkt man meist nur an die Organisation nach der bedeutungshaltigen Ähnlichkeiten, aber ebenso stellt die zeitliche Nähe (Kontiguität) ein wichtiges Ordnungsprinzip dar.“ 193 191 Vgl. Genette, G.: Die Erzählung. München: Wilhelm Fink Verlag 1998, S. 81-114. Martinez, M./Scheffel, M.: Einführung in die Erzähltheorie. München: C. H. Beck 2007, S. 45 193 Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2007, S. 23. 192 Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ Dementsprechend lässt sich sagen, dass die zeitlich und räumlich zusammenhängenden Informationen miteinander verbunden sind. Diese Gedächtniseigenschaft beobachtet man, wenn man z.B. an den letzten Urlaub denkt. Neben den urlaubstypischen Informationen werden nämlich auch ganz spezifische Episoden erinnert. Ein weiterer Fall der Frequenz ist die repetitive Erzählung, die „ (…) durch die Formel <wiederholt erzählt, was sich einmal ereignet hat> bestimmt [wird – M.B.].“194 Diese Form eignet sich besonders zur Veranschaulichung, wie ein – und dasselbe Ereignis durch die gleiche Figur zu verschiedenen Zeitpunkten wahrgenommen, erlebt oder gewertet wird.195 Im Fall von „Beim Häuten der Zwiebel“ kann es jedoch keine Rede von der Betrachtungsweise aus verschiedenen Zeitpunkten sein, denn „Beim Häuten der Zwiebel“ ist eine Autobiographie, auch deswegen wurden alle Ereignisse aus derselben Zeitperspektive dargestellt. Es lässt sich hier aber eine Reihe von Vorgängen finden, die in unterschiedlichen beispielsweise: Tod Momenten der Mutter, immer wieder Kriegsausbruch auftauchen, oder das hierzu gehören Schreiben von „Blechtrommel“. Schon ganz am Anfang des Romans wird Einfluss der Biografie des Autors auf „ Die Blechtrommel“ veranschaulicht: „Warum überhaupt soll Kindheit und deren so unverrückbar datiertes Ende erinnert werden, wenn alles, was mir ab den ersten und seit den zweiten Zähnen widerfuhr, (…) zu Zettelkram wurde, der seitdem einer Person anhängt, die, kaum Papier gebracht, nicht wachsen wollte, Glas in jeder Gebrauchsform zersang, zwei hölzerne Stöcke zur Hand hatte und sich dank ihrer Blechtrommel einen Namen machte, der fortan zitierbar zwischen Buchdeckeln existierte und in weißnichtwieviel Sprachen unsterblich sein will?“ (S. 8) Dann an einer anderen Textstelle wird genau erklärt, warum ein bestimmtes Ereignis die Widerspiegelung in dem Roman gefunden hat: „Jedenfalls war die Familienrunde um den Kaffeetisch noch ganz und gar teils schriftdeutsch, teils schweizerdeutsch in Wechselreden verstrickt, als ein Knabe, etwa dreijährig, (…), behängt mit einer Kindertrommel das verrauchte Wohnzimmer betrat und mit hölzernen Stöcken auf das runde Blech einschlug. (…) Ein Auftritt mit Nachhall, ein Bild, das bleib. Doch sollte es noch lange dauern, bis endlich der Riegel offenstand, die Treibgut mitführende Bilderschwemme freigesetzt wurde und Wörter zuließ, die mir seit meiner Kindheit den Sparstumpf füllten.“ (S. 384) 194 Martinez, M./ Scheffel, M.: Einführung in die Erzähltheorie. München: C.H. Beck 2007, S. 46. Vgl. mehr dazu: Wenzel, P. (Hg.): WVT – Handbücher zum Literaturwissenschaftlichen Studium. Einführung in die Erzähltextanalyse. Kategorien, Modelle, Probleme. Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2004. Bd. 6, S. 103. 195 Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ Schließlich endet „Blechtrommel“: der Roman mit Beschreibung der Veröffentlichung von „Und als dann im Herbst neunundfünfzig der Roman >>Die Blechtrommel<< in erster Auflage erschien, fuhren Anna und ich von Paris aus zur Frankfurter Buchmesse, wo wir bis in den Morgen hinein tanzten.“ (S. 479) Die hier angeführten Beispiele veranschaulichen, dass die Veröffentlichung von „Blechtrommel“ eine besonders herausragende, emotionale Begebenheit für den Erzähler ist. Davon zeugt nicht nur das mehrmalige Abrufen desselben Ereignisses, sondern auch die detaillierte Beschreibung und Verknüpfung mit anderen Erinnerungen, z.B. mit dem Besuch bei den Eltern einer Freundin oder mit dem Feiern mit der Frau. Die riesigen Emotionen, die die Publikation von „Blechtrommel“ begleiteten, sind Bewertungsoperatoren, die entschieden, dass gerade dieses Event wichtiger als andere ist, und die mehrmalige Erwähnung verdient hat.196 Die letzte Möglichkeit von Frequenz ist die iterative Erzählung. Dabei kann man einmal erzählen, was wiederholt passiert ist. Diese Variante eignet sich sowohl für das Zusammenfassen von den Ereignissen, als auch für die Beschreibung der konstanten Erscheinungen z.B. in Rahmen der täglichen Lebensordnung, was eine Art Rahmen für die weiteren, genauer beschriebenen Vorkommnisse schafft. So beispielsweise wurde der Rekrutenalltag dargestellt: „Jedes zweite Wochenende war dienstfrei. Wir durften, so hieß es, >>zu Muttern<< nach Hause. Und jedesmal kappte die Enge der Zweizimmerwohnung die Spitzen meiner Vorfreude auf den Besuch. Da half kein Vanillepudding mit Mandelsplittern, dessen Zutaten der Vater, ein Familienkoch aus Neigung, den knappen Lieferungen abgezweigt und für festliche Anlässe gehortet hatte.“ (S. 77) Solche Zeitbestimmungen wie: „jedes zweite Wochenende“, „jedes Mal“ und „immer“ zeugen davon, dass die hier beschriebene Situation mehrmals passierte. Der Schwerpunkt liegt hier auf der allgemeinen Veranschaulichung des Alltags, was eine Basis für nachfolgende Geschehnisse bildet, nämlich für die freiwillige Anmeldung zur U-Boot-Flotte (S. 77 - 78). Nach Meinung von Welzer folgen unsere autobiographischen Erzählungen den Organisationsprinzipien, die sozial gebildet wurden. Damit eine Geschichte kommunikativ wäre, muss sie einen Anfang, einen Mittelteil und einen Schluss haben. Auch deswegen bevor der Erzähler zur 196 Vgl. mehr dazu: Welzer, H.: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München: C.H. Beck 2002, S. 145-160. Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ Beschreibung seiner Fronterlebnisse übergeht, erklärt er zuerst, warum er sich angemeldet hat.197 5.2.6. Raumdarstellung Bei der Analyse der literarischen Raumdarstellung (Schauplatz, Setting) spielt die Feststellung von Gerhard Hoffman eine wichtige Rolle, bei dem Raum gehe es nämlich um etwas mehr als nur um einen Hintergrund für die Entwicklung der Handlung und das Auftreten der Figuren. In Anlehnung an diese Feststellung und die philosophische Untersuchungen des Raumes von Elisabeth Ströcker unterscheidet Wenzel: den gestimmten Raum, Aktionsraum und Anschauungsraum. Ausgangspunkt bei dieser Gliederung ist die phänomenologische Betrachtung des Raumes, das heißt, bei der Entwicklung der Raummodelle bildet die Wahrnehmung lebensweltlicher Erfahrungen eine signifikante Rolle. Mit anderen Worten: Es wird danach gefragt, auf welche Weise Individuen, in der „wirklichen Wirklichkeit“ Räume wahrnehmen.198 Für den gestimmten Raum ist die Bestimmung durch die atmosphärische Aufladung charakteristisch. Es geht hier nämlich um die Stimmung oder Atmosphäre, die in einem Raum herrscht. Dabei kann diese durch eine Reihe von Faktoren beeinflusst werden, wie z.B. die Assoziationen, die der Schauplatz bei dem Wahrnehmenden auslöst, oder bestimmte Situationen, in denen sich der Wahrnehmende befindet. Bemerkenswert ist noch, dass die Stimmung durch die gleiche Figur zu unterschiedlichen Zeitpunkten different verspürt werden kann. Nach Meinung von Wenzel „(…) können diese Unterschiede im Erleben einer Figur auf ihre Entwicklung, auf eine Veränderung ihrer inneren Situation, hindeuten.“199 Beispielsweise in „Beim Häuten der Zwiebel“ wird das Familienhaus unterschiedlich beschrieben, je nach dem sich das Alter und die Lebensbedürfnisse des Protagonisten änderten. So während der Kindheit erscheint das Zuhause als Platz der Ruhe: „Und in der Enge der Zweizimmerwohnung finde ich mich vorm Bücherschrank meiner Mutter (…). Ein stirnhohes Schränkchen nur. Blaue Scheibengardinen 197 Vgl. Welzer, H.: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München: C.H. Beck Verlag 2002. S. 185-186. 198 Vgl. Wenzel, P. (Hrsg.): WVT – Handbücher zum Literaturwissenschaftlichen Studium. Einführung in die Erzähltextanalyse. Kategorien, Modelle, Probleme. Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2004. Bd. 6, S. 69-70. 199 Vgl. Wenzel, P. (Hrsg.): WVT – Handbücher zum Literaturwissenschaftlichen Studium. Einführung in die Erzähltextanalyse. Kategorien, Modelle, Probleme. Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2004. Bd. 6, S. 73. Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ schützten die Büchrücken vor zuviel Licht. Eierstäbe schmückten als Zierleisten. Ganz aus Nußbaum soll es das Gesellenstück eines Lehrlings sein, (…). Seitdem stand das Schränkchen rechts vom Wohnzimmerfenster, gleich neben der Nische, die mir gehörte. Unterm Bord des linken Wohnzimmerfensters, das dem Klavier und den aufgeschlagenen Noten Seitenlicht gab, hausten das Poesiealbum und die Puppen und Streicheltiere meiner Schwester, (…)“ (S. 53) In der späteren Zeit jedoch, wird die Elternwohnung als ein unangenehmer, ekelhafter Platz dargestellt: „Zu Hause aber wurde mir das Klo auf der Zwischenetage, das vier Mietparteien benutzten, mehr und mehr peinlich bis ekelhaft, weil es immer verdreckt von den Nachbarskindern oder besetzt war, wenn es nötig wurde. Eine Stinkzelle, deren Wände Finger beschmiert hatten. (…) Das Zweizimmerloch. Die Falle der Herkunft. Dort engte alles den Wochenendheimkehrer ein. (…) Wenn ihm auch nicht mehr zugemutet wurde, im Elternschlafzimmer, in dem überdies die Schwester schlief, ins Bett zu kriechen, blieb er dennoch im Wohnzimmer, wo die Couch aufgebettet für die Nacht auf ihn wartete, (…).“ (S. 77 - 78) In Zeit der Kindheit war die Wohnung der Eltern bestimmt nicht größer, auch die Toilette war nicht sauberer. Die Raumwahrnehmung des Protagonisten hat sich aber mit dem zunehmenden Alter verändert. Die Erinnerung an die Stimmung des Wohnzimmers bleibt jedoch konstant, obwohl die spätere Wahrnehmung einen reziproken Wert darstellt. Erklärung dieses Zustandes bietet die Theorie von Welzer an, laut der, die älteren Erinnerungen statisch und abgeschlossen sind, was verursacht, dass sie den Veränderungen gegenüber resistent bleiben. Auch deswegen in kindlichen Erinnerungen bleibt das Zuhause ein gemütlicher, sicherer Platz, obwohl der Erwachsene eine schmale, unbequeme Wohnung sieht.200 Um einen Aktionsraum handelt es sich in dem Fall, „(…) wenn der Raum zum Aushüfen von Handlungen genutzt wird.“201 Die Einführung solches Schauplatzes ermöglicht eine nähere Charakteristik der Figur, dabei geht es aber nicht um die komplexen Handlungen, sondern um eher einzelne Verhaltensweisen. Ein gutes Beispiel dafür kann die Schilderung von der Angst und Abgeschiedenheit in einem dunklen Wald sein. Der Erzähler beschreibt diese Situation so: „Jetzt schläft er, sitzend an einem Baum gelehnt. Jetzt schreckt er auf, friert aber nicht, obgleich ihm sein Mantel, der bei Weißwasser verlorenging, vorhin noch gefehlt hat. Nun wirft er bei Tageslicht wie die Baumstämme einen Schatten, findet 200 Vgl. Welzer, H.: Kriege der Erinnerung. In: Gehirn & Geist 5/2005, S. 44. Wenzel, P. (Hrsg.): WVT – Handbücher zum Literaturwissenschaftlichen Studium. Einführung in die Erzähltextanalyse. Kategorien, Modelle, Probleme. Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2004. Bd. 6, S. 71. 201 Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ aber nicht aus dem Wald heraus, stolpert ohne es zu merken im Kreis, (…). Nun kaut er, während es schon wieder eindunkelt und ein Käuzchen ruft, letzte Krümel, ist hungrig und gottverlassen unter ziemlich bewölktem Nachthimmel. Ganz und gar im Dunkel gefangen, lernt er eine weitere Lektion, sich zu fürchten, spürt die Fürcht, wie sie ihm rücklings aufsitzt, will sich an Kindergebete erinnern, (…)ruft womöglich seine Mutter an (…), bleibt aber im dunklen Wald mutterseelenallein, bis wirklich etwas geschieht. “ (S. 157 - 158) In dem hier angeführten Beispiel wurde veranschaulicht, welchen Einfluss auf den Protagonisten die Waldeinsamkeit ausübt. Er fühlt sich „gottverlassen“ und „mutterseelenallein“, vor Angst versucht er alte Gebete ins Gedächtnis zu rufen. Angesichts der Gefahr und der rohen Natur ist aus einem tapferen Soldaten nichts übrig geblieben, vor Augen der Rezipienten erscheint ein betender, seine Mutter rufender Junge. Von Bedeutung ist dabei die oberflächliche Beschreibung des Waldes. Außer Information von einem „ziemlich bewölktem Nachthimmel“, wird dem Leser nichts mehr bekannt gegeben, der Schwerpunkt wird auf die Verhaltensweise der Figur gelenkt. Das eigene Benehmen scheint dem Protagonisten am wichtigsten zu sein, auch deswegen wurde es eingehend behalten. Derselben Meinung ist Pohl: „Das wichtigste Selektionskriterium ist sicherlich die subjektive Wichtigkeit, je nach Bedürfnis und Situation. Wir speichern vorrangig die Dinge, die für uns wichtig sind.“202 Als dritten Raum unterscheidet Wenzel den Anschauungsraum, für den das Sehen eine entscheidende Rolle spielt. Diese Raumstruktur wird durch die Objektivität gekennzeichnet, damit die Figuren ihre räumliche Existenz aufweisen konnten und der Autor eine Verstehensgrundlage für die Leser schaffen vermag. Auf den ersten Blick scheint also dieser Schauplatz nichts mehr als eine Art Hintergrundfolie zu sein, vor der sich das „eigentliche“ Geschehen abspielt. 203 In dem Kapitel „Übertage und untertage“ wurde z.B. ein Bergbaudorf genau geschildert: „Mein Arbeitsplatz, das Bergwerk Siegfried I, war nahe dem Dorf Groß Giesen im Kreis Sarstedt zu finden. (…) Etwa zwischen Hildesheim und Hannover lag das Dorf in flacher Gegend, geeignet für den Zuckerrübenanbau. Nur am südwestlichen Horizont hügelte bläulich das Weserbergland. Und aus dem frühsommerlich grün bestandenen Flächen ragten der Förderturm der Schachtanlage, die Steinmühle, das Kesselhaus mit seitlich angebauter Waschkaue, zudem das villaartige Gebäude der Betriebsleitung und der alles an Höhe überbietende, teils in Kegelform weiß 202 Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2007, S. 33. 203 Vgl. Wenzel, P. (Hrsg.): WVT – Handbücher zum Literaturwissenschaftlichen Studium. Einführung in die Erzähltextanalyse. Kategorien, Modelle, Probleme. Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2004. Bd. 6, S. 77. Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ aufgeschüttete, teils abgeflacht langgestreckte Abraumhügel, auf den tagaus, tagein weiteres ausgelaugtes Gestein, der Abraum gekippt wurde: (…)“ (S. 251) Die Lokalisation und die Landschaft des Dorfes wurden ziemlich genau beschrieben, genauso wie das Bergwerk selbst. Dem Rezipienten wurde beispielsweise der Überblick über die Lage der einzelnen Gebäuden präsentiert, sodass kein Zweifel daran besteht, dass dieser Ort und die dort stattgefundenen Ereignisse real sind. In Worten von Halbwachs kann man Bestätigung für diese Theorie finden, denn nach seiner Meinung, braucht die Wahrheit eine konkrete Form des Ereignisses, damit sie sich in Erinnerung der Gruppe festsetzen konnte.204 Das kleine Dorf wurde hier also in eine Erinnerungsfigur transformiert. Auch wenn der Raum neutral beschrieben wurde, ist er für die Konstruktion der Erinnerungen von der hervorragenden Bedeutung. Die Erinnerungen wurden nämlich verfestigt und beglaubigt, denn sie im Boden verankert sind.205 Manchmal die räumlichen Gegebenheiten erhalten ihre Bedeutung nicht nur aus dem konkreten Text, indem sie vortreten sind, sondern haben innerhalb der bestimmten, historischen Kontexte eine besondere Bedeutung. „Durch Konventionalisierung von Mitbedeutungen können bestimmte Orte Symbolcharakter erhalten.“206 Solche Orte sind nicht von dem Betrachter mit Bedeutung aufgeladen, sondern sind aus sich heraus bedeutsam, wie z.B. Tower für Engländer oder Versailles für Franzosen. In „Beim Häuten der Zwiebel“ wurde beispielsweise Johanniskirche als ein Symbolraum dargestellt: „Wann immer ich mich in das Innere der gotischen Hallenkirche schlich – das Portal war stets nachlässig versperrt -, fand ich im staub und Geröll sowie zwischen den gelagerten Steinen menschliche Knochen und Knöchlein, wobei unsicher bleibt, ob sie spätmittelalterlicher Herkunft waren oder mich an die Männer, Frauen und Kinder erinnern sollten, von denen es hieß, sie seien, als die Stadt und alle Kirchen brannten, in der hellauf brennenden Johanniskirche zu Tode gekommen.“ (S. 117) Die hier beschriebene Kirche, ist nicht nur eins von den zahlreichen, Danziger Gotteshäusern, das noch lange Zeit nach dem Krieg in Trümmern stand. Die Johannes Kirche gilt hier als ein Platz, wo hunderte von Menschen ums Leben gekommen sind. 204 Vgl. Assmann, J.: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: C.H. Beck 2005, S. 37-39. 205 Vgl. Assmann, A.: Erinnerungsraume. Formen und Handlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: C.H. Beck 1999, S. 298-300. 206 Wenzel, P. (Hrsg.): WVT – Handbücher zum Literaturwissenschaftlichen Studium. Einführung in die Erzähltextanalyse. Kategorien, Modelle, Probleme. Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2004.Bd. 6, S. 82. Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ Es ist ein Ort, der als Symbol des Niedergangs des Deutschen Reiches, der Zerstörung von Danzig und Grausamkeit der sowjetischen Soldaten gilt. 5.3. Zur Gedächtnisstruktur des Erzählers Das autobiographische Gedächtnis ist ein kompliziertes System unterschiedlicher Mechanismen, mit deren Hilfe die „schlummernden“ Erinnerungen geweckt werden.207 Bei der Analyse des Widerrufs von Memoiren stellten die Wissenschaftler fest, dass diese in Form von Beobachter- und Felderinnerungen erscheinen können und dass bei diesem Prozess die sog. Gedächtnisstützen, also Fotos und alte Dokumente behilflich sind. Sie gelten als Beweise der Vergangenheit und schonen einigermaßen vor der Unzuverlässigkeit der Erinnerungen. In diesem Kapitel werden gerade diese drei Aspekte des Gedächtnisses am Bespiel einiger Textabschnitte des Romans von Grass untersucht. 5.3.1. Darstellung der Beobachter- und Felderinnerungen In diesem Punkt soll der Aspekt der Beobachter- und Felderinnerungen in Anlehnung an Daniel L. Schacter analysiert werden. Schacter in „Wir sind Erinnerung“ unterscheidet zwei zentrale Modi des autobiographischen Erinnerns: die Felderinnerungen (field memories) und die Beobachtererinnerungen (observer memories). Die Felderinnerungen „(…) reaktualisieren vergangenes, situationsspezifisches Wissen aus den Augen der erlebenden, emotional involvierten Person;“208 Das vergangene Ereignis wird aus der ursprünglichen Perspektive dargestellt, die damaligen Emotionen werden unverändert ins Gedächtnis gerufen. Dementsprechend lässt sich also sagen, dass sich die Felderinnerungen durch große emotionale Intensität und Festigkeit gegen die nachfolgenden Schematisierungen zeichnen. In solcher Form wurden die lebenswichtigen Ereignisse präsentiert, wie z.B. der erste Besuch an der Kunstakademie 207 Vgl. Assmann, A.: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen, Wissen, Ethik 13/2002, S. 184. Neumann, B.: Erinnerung, Identität, Narration. Gattungstypologie und Funktionen kanadischer „Fictions of Memory“. Berlin: de Gruyter 2005, S. 30. 208 Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ (S. 280), das erste Telefongespräch mit Anna (S. 428 - 429), der Auftritt vor Gruppe’47 (S. 456) oder der Besuch bei den zukünftigen Schwiegereltern: „Die Pforte verlockte zur Flucht. Warum nicht gleich und sofort? Über die Terrassenbrüstung wäre mit einer Flanke der Sprung in den Garten zu schaffen gewesen; beweglich genug für rasche Abgänge war ich ohnehin. (…) Was hatte ich hier zu suchen? Welcher Gnadenbeweis hätte mich, den hartgesottenen Zweifler, erlösen können? Zwischen Zwinglianern und Calvinisten kam sich der heidnische Katholik verirrt, wie ein versprengter Papist aus Zeiten der Hugenottenkriege vor. Zudem stand kein Gläschen Pflümli in Griffweite. Weg, nur weg! Schon hatte ich verstohlen die innere Brusttasche meiner Jacke abgetastet – in ihr steckte der Reisepaß -, schon saß ich – vom Kopf her – auf dem Sprung, nur die Beine zögerten noch, schon holte ich tief Atem und sah dabei nicht ohne Anstrengung an Anna vorbei, die womöglich mit mir litt und Schlimmes ahnte, (…)“ (S. 428 - 429) Sichtbar ist, dass sich der Erzähler vor allem auf seinen Gefühlen und nicht auf dem tatsächlichen Geschehen konzentriert. Die emotionale Seite wurde in diesem Fragment bis ins Kleinste dargestellt, z.B. die Fragen, die sich der Protagonist damals stellte, der Wunsch nach Alkohol und Flucht, schließlich die Reaktion des Körpers auf eine stressige Situation. Obwohl das Geschehen vor über vierzig Jahren stattgefunden hat, ist der Widerruf durch eine große Lebhaftigkeit gekennzeichnet. Neben den Felderinnerungen erscheinen auch die Beobachtererinnerungen. Nach Freuds Auffassung sind solche Memoiren nichts anders als modifizierte field memories. Die vergangenen Ereignisse werden also aus einer Perspektive geschildert, die das Individuum mit der Zeit gewinnt.209 Die sich erinnernde Person sieht sich selbst als eine handelnde Person. Zu solchen Erinnerungen gehören beispielsweise die Geschehnisse aus der Jugend: „Ich sehe ihn lesen. Das, nur tut er mit Ausdauer. Dabei stöpselt er beide Ohren mit den Zeigefingern, um in enger Wohnung gegen den fröhlichen Lärm der Schwester abgeschirmt zu sein. Jetzt trällert sie, kommt näher. Er muß aufpassen, denn gern schlägt sie ihm das Buch zu, will mit ihm spielen, immer nur spielen, ist ein Wirbelwind. Nur auf Distanz ist ihm seine Schwester lieb.“ (S. 37) Sowohl der Satz „Ich sehe ihn lesen.“, als auch Präsentation eigener Geschichte aus Position des auktorialen Erzählers betonen die Distanz aus der das Geschehen dargestellt wurde. Zwar ist hier die Rede von Leserleidenschaft und dem emotionalen Verhältnis zu eigener Schwester, aber das Ganze wurde auf eine neutrale Weise beschrieben, sodass es mehr an eine Filmszene als an ein reales Geschehen erinnert. 209 Vgl. Schacter, D.L.: Wir sind Erinnerung. Gedächtnis und Persönlichkeit. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt 1999, S. 45. Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ Solche Erinnerungsperspektive erlaubt „(…) eine selbstreflektierte Distanz zu der Vergangenheit und deren aktive Vergegenwärtigung im Lichte aktueller Bedingungen.“210 Demnach lässt sich sagen, dass die Entsinnung eines Ereignisses von dem gegenwärtigen Selbstkonzept abhängt. Dieser These ist zu folgen, denn auch Neumann stellte fest, dass „Zwischen einem aktualisierten Selbstschemata und gegenwärtig verfügbaren autobiographischen Erinnerungen besteht ein Verhältnis dynamischer, wechselseitiger Beeinflussung: Selbstschemata prägen die Selektion und Deutung von identitätsrelevanten Erinnerungen (…).”211 Der Erzähler – ein Schriftsteller, veranschaulicht auf eine objektive Weise, dass ihm die Literatur schon in der Kindheit mehr wert war, als das Spielen mit der Schwester. 5.3.2. Gedächtnisstütze Die Erinnerungen sind nach Aleida Assmann flüchtig und labil. Sie verändern sich im Laufe der Zeit oder geraten völlig in Vergessenheit.212 Der Abruf solcher unzugänglichen Erinnerungen kann im Alltag auf zweifache Weise vorkommen: entweder gezielt, mithilfe alter Dokumente, Fotos und Tonbandaufnahmen, oder zufällig durch emotionale Reize, die unerwartet erscheinen und die vergessenen Erinnerungen aufwachen.213 In dem Roman von Grass wurden beide Fälle des Abrufs von Geschehnissen präsentiert. Der Erzähler versucht seine Lebensgeschichte durch die ihm zugänglichen Dokumente chronologisch zu ordnen und mit dem geschichtlichkulturellen Kontext verbinden. So beispielsweise blättert er die Alben mit Zigarettenbildern (S. 11 - 14) oder die alten Zeitungen durch, um das Bild seiner Kindheitsstadt und gleichzeitig sein eigenes Bild zu rufen: Neumann, B.: Erinnerung, Identität, Narration. Gattungstypologie und Funktionen kanadischer „Fictions of Memory“. Berlin: de Gruyter 2005, S. 31. 211 Neumann, B.: Erinnerung, Identität, Narration. Gattungstypologie und Funktionen kanadischer „Fictions of Memory“. Berlin: Walter de Gruyter 2005. S. 31. 212 Vgl. Assmann, A.: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen, Wissen, Ethik 13/2002, S. 184. 210 213 Vgl. Schacter, D.L.: Wir sind Erinnerung. Gedächtnis und Persönlichkeit. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag 1999, S. 40. Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ „Während der aus den Beständen des Archivs herbeigeschaffte Zeitungsjahrgang neununddreißig durchblättert wird, nehme ich nur flüchtig wahr, was sich im >>Danziger Vorposten<< als Beginn des Krieges an Alltäglichkeiten niedergeschlagen hat. Zwar kritzelt das angejahrte Ich in seine Kladde, welche Filme während der ersten Septemberwoche in Langfuhr und in den altstädtischen Kinos liefen, zum Beispiel im >>Odeon<< am Dominikswall >>Wasser für Canitoga<< mit Hans Albers, zugleich aber fängt sein abschweifender Blick jenen vierzehnjährigen Jungen ein, der drei Lesetische weiter entrückt sitzt und sich in einer reich bebilderten >>Knackfluß-Kunstler-Monographie<< verliert.“ (S. 51 - 52) Durch die Lektüre der alten Zeitung erinnert sich der Erzähler nicht nur an die damalige Wirtschaftssituation, an das Kinorepertoire und teilweise auch an das Stadtbild, sondern auch an seine Freizeitbeschäftigung. Ähnlich wirkt ein anderes Erinnerungsmedium, nämlich die Fotografie:214 „Allenfalls geling es mir, mit Hilfe der wenigen Fotos, die meine Mutter nach Kriegsende in den Westen gerettet hatte, ein weiteres Selbstbild des Heranwachsenden zu entwerfen. (…) Ernst bis verdüstert gleiche ich einem früh pubertierenden Schüler, dem Aufsässigkeit gegenüber Paukern zuzumuten ist: wenn man ihn reizt, könnte er handgreiflich werden. Und so kam es denn auch dazu, dass ein feinster Musiklehrer, (…), mich, nur mich rügte und zu schütteln wagte, worauf ich ihn mit meiner Linken an der Krawatte packte (…).“ (S. 50) Das Foto gilt hier als Erinnerungsauslöser, durch sein Ansehen erinnert sich der Erzähler an die Schuljahre und den Konflikt mit seinem Lehrer. In beiden Fällen sind die Erinnerungen bewusst abgerufen und in Form einer Erzählung dargestellt, in der die sich erinnernde Peron als Subjekt erscheint. Laut Aleida Assmann hat man hier mit dem Ich-Gedächtnis zu tun, denn diese Gedächtnisform „(…) ist das Produkt einer bewussten und intentionalen (Re-) Konstruktion der Vergangenheit, die dem jeweiligen Selbstbild einer Person in Übereinstimmung gebracht wird.“215 Neben dem Ich-Gedächtnis unterscheidet Assmann noch eine weitere Form, nämlich Mich-Gedächtnis. In dieser Erinnerungsform melden sich die Erinnerungen unerwartet, als Antwort für bestimmte äußere Reize, wie z.B. Orte, Gegenstände, Gerüche und Geschmäcke, die als Gedächtnisauslöser funktionieren.216 Beispielweise als der Erzähler Gdańsk besuchte und sich an seine erste Liebe erinnerte: 214 Vgl. mehr dazu in: Erll, A.: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart, Weimar: Metzler 2005, S. 126-130. 215 Assmann, A.: Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen. Berlin: Erich Schmidt 2006, S. 182. 216 Vgl. dazu ausführlich: Assmann, A.: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München: C.H. Beck 2006, S. 119-124. Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ „Und als wir gegen Ende der neunziger Jahre wieder einmal Gdańsk besuchten und in einer Privatwohnung zwischen kleinem Publikum auf engstem Raum die gelungene Aufführung der Theaterfassung meiner Erzählung >>Unkenrufe<< als deutsch-polnisches Kammerspiel sahen, kam Ute und ich nach der Vorstellung an einem Altbau im ehemaligen Brunshöferweg vorbei. >>Hier wohnte sie<<, sagte ich und kam mir lächerlich vor. Was ich verloren hatte, war anfangs kaum, dann aber doch leidlich zu verschmerzen.“ (S. 91 - 92) Blick des Hauses im Brunshöferweg erinnert dem Erzähler an seine erste unerfüllte Liebe. Dieser Rückkehr in die Vergangenheit wurde durch den Besuch eines bestimmten Ortes verursacht, den Aleida Assmann als Gedächtnisort bezeichnet. Solcher Platz gilt als ein Verschränkungspunkt der sinnlichen Gegenwart, also des Gebäudes, in seiner materiellen Dimension und der historischen Vergangenheit also der Liebesgeschichte.217 Demnach lässt sich sagen, dass die hier herangezogene Erinnerung von dem aktuellen Hinweisreiz abhängt, was Schacter als einen assoziativen Abruf bezeichnet. Eine andere Art des Abrufs, ist der strategische, zielgerichtete Abruf. Die sich erinnernde Person sucht langsam und vorsätzlich nach den Erinnerungen.218 Auch diese Abrufsart erscheint in „Beim Häuten der Zwiebel“, als sich der Erzähler auf den Bernstein konzentriert, um die fehlenden Erinnerungen zu finden: „Wann immer mein anderes Hilfsmittel, die imaginierte Zwiebel, nichts ausplaudern will oder ihre Nachrichten mit kaum zu entschlüsselnden Lineaturen auf feuchter Haut verrätselt, greife ich ins Fach überm Stehpult meiner Behlendorfer Werkstatt und wähle unter den dort lagernden Stücken, gleich ob gekauft oder gefunden. (…) Wenn ich es lange genug gegen Licht halte, das ständige Ticktack in meinem Kopf abstelle (…), also ganz und gar bei mir bin, erkenne ich anstelle des eingeschlossenen Insekts, (…), mich in ganzer Figur: vierzehnjährig und nackt.“ (S. 65) In diesem Fragment präsentiert der Erzähler eine Art Mnemotechnik, die durch Erreichung eines Ruhestands und durch das Schenken der Aufmerksamkeit einer quasi neutralen Sache die Kindheitserinnerungen aufweckt. Diese Maßnahme dient dem gezielten Abruf von den vergessenen Erinnerungen. Zusammenfassend kann man sagen, dass die Erinnerungen im großen Maße von den Gedächtnisstützen abhängig sind. Dank diesen Hilfsmaßnahmen kann man nicht nur 217 Vgl. Assmann, A.: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: C.H. Beck 1999, S. 338. 218 Vgl. Schacter, D.L.: Wir sind Erinnerung. Gedächtnis und Persönlichkeit. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag 1999, S. 115. Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ den Zugang zu den vergangenen Ereignissen finden, sondern auch diese beweisen. Selten passiert, dass plötzlich und ohne einen Grund zu haben, erinnert sich der Mensch an etwas. Die Erinnerungen sind fast immer durch einen Reitz gesteuert, sogar der eigene Gedanke kann zum Abruf der Vergangenheit führen. 5.3.3. Unzuverlässiges Erinnern „Es ist offensichtlich, daß Menschen nicht nur je nach Lebensalter unterschiedliche Formen des Zugriffs auf ihre Erinnerungen zeigen, sondern daß auch diese Erinnerungen selbst Gegenstand höchst vielfältiger Umdeutungen, Umschriften, Neuerfindungen etc. sind.“219 Dementsprechend kann man sagen, dass nicht alle lebensgeschichtlichen Erinnerungen wahr sind und deshalb sollte man ihnen mit großem Vorbehalten trauen. Dieser These folgt auch der Erzähler in dem Roman „Beim Häuten der Zwiebel“. Er ist nämlich seiner Erinnerungsunzuverlässigkeit bewusst. Mehrmals wiederholt er, dass nicht alles, was in dem Buch steht, war ist, denn „(…) Erinnerung liebt das Versteckspiel der Kinder.“ (S. 8) und „oft gibt die Lüge oder deren kleine Schwester, die Schummelei, den haltbarsten Teil der Erinnerung ab;“ (S. 9) In diesem Abschnitt wird also der Versuch unternommen werden einige Beispiele des unzuverlässigen Erinnerns zu illustriert und zu besprechen. Makowitsch und Welzer geben einige Gründe für das Erscheinen solcher falschen Erinnerungen. Manche Memoiren verschwinden einfach, wenn sie selten oder gar nicht in Anspruch genommen sind. In „Beim Häuten der Zwiebel“ wurden diese Gedächtnislücken in Form von unbeantworteten Fragen geschildert, z.B. bei der Beschreibung des auf dem Dachboden gefundenen Koffers: „Unter Gerümpel und zwischen ausrangierten Möbeln wartete ein besonderer Koffer auf mich; so jedenfalls deutete ich den Fund. Lag er unter verschlissenen Matratzen? Tippelte auf dem Leder gurrend eine Taube, die sich durch die Dachluke verflogen hatte? Hinterließ sie, von mir aufgescheucht, frischen Taubenmist? Wurde der verknotete Bindfaden sofort aufgedröselt? Griff ich zum Taschenmesser? Hielt mich Scheu zurück? Trug ich den eher kleinen Koffer treppab und überließ ihn brav der Mutter?“ (S. 58 - 59) 219 Markowitsch, H.J./ Welzer, H.: Das autobiographische Gedächtnis. Hirnographische Grundlagen und biosoziale Entwicklung. Stuttgart: Klett-Cotta 2005, S. 28. Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ Der Erzähler ist hier nicht sicher, wie der Koffer aussieht, wann er ihn gefunden hat und wie dieser nach Hause gebracht wurde. Jedenfalls in weiterem Fragment wurde der Kistengehalt bis ins Kleinste beschrieben (S. 59 - 61). Dieses Gedächtnisphänomen lässt sich mit der Feststellung von Pohl erklären, dass der Mensch vorrangig diese Dinge speichert, die ihm wichtig sind.220 Das Aussehen des Koffers hat für den Erzähler keine Bedeutung, das aber was drin steckt, gilt als wesentlich. Ähnlich sieht die Situation bei den traumatischen Erinnerungen aus. Nach Meinung von Schacter ist deren Kern fast immer genau erinnert und die Gedächtnistäuschungen betreffen nur Einzelheiten.221 So vergisst der Erzähler die peripheren Details – Ortsname oder Faktoren, die zu dem Angriff beigetragen haben: „Wie wir hinter die russische Linie geraten sind und in den Keller des Hauses, das mehr einer Kate glich, gefunden hatten, ist unklar. Nun sollte uns der Ausbruch auf die gegenüberliegende Straßenseite und in eines der Häuser retten, die noch von unseren Leuten verteidigt wurden. Den Feldwebel, eine lange Latte mit schräg sitzender Feldmütze, höre ich sagen: >>Jetzt oder nie! << Der Name der umkämpften Ortschaft, die in der sandigen Lausitz lag (…), blieb unbekannt oder wurde von mir vergessen. (…)“ (S. 146 - 147) erinnert sich aber völlig genau an das zentrale Moment dieses traumatischen Ereignisses – Tod eines Soldaten: „Ich will einen zappelnden, bald nur noch zuckenden Haufen gesehen haben. Jemand – der lange Feldwebel? – überschlug sich im Fallen. Dann rührte sich nichts mehr. Allenfalls sah ich ein aus dem Haufen regendes Vorderrad: wie es sich drehte und drehte.“ (S. 148) Solche detaillierte Abrufsmöglichkeit des traumatischen Ereignisses, bei dem gleichzeitigen Vergessen des Nebenfadens, nennt man Waffeneffekt.222 Der Erzähler ist hier, wie die Opfer eines Raubüberfalls, die sich genau an die Waffe erinnert, weiß aber nicht wie der Täter aussieht. Wenn man aber die Beschreibung dieses Vorkommnisses zu Ende liest, dann kommt zum Vorschein noch ein anderer Aspekt der Unzuverlässigkeit von Erinnerungen, nämlich die Quellentauschung: „Es kann aber auch sein, daß diese Beschreibung des Gemetzels nur ein nachgeliefertes Bild ist, das inszeniert wird, weil ich schon vor dem 220 Vgl. Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: W. Kohlhammer 2007, S. 33. 221 Vgl. Schacter, D.L.: Wir sind Erinnerung. Gedächtnis und Persönlichkeit. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag 1999, S. 337. 222 Vgl. Schacter, D.L.: Wir sind Erinnerung. Gedächtnis und Persönlichkeit. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt 1999, S. 339. Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ schlußmachenden Geballer meinen Posten im Kellerfenster geräumt hatte und nichts sah, nichts sehen wollte.“ (S. 148) Der Erzähler äußert hier die Bezweiflung an die Echtheit dieses Vorkommnisses. Seiner Meinung nach, konnte die Szene mit dem toten Soldaten und dem sich immer noch drehenden Vorderrad eine Übertragung sein. Solche Quellentäuschung erscheinen ganz oft im Alltag. Das ist, nach Meinung von Pohl, Ergebnis der Verarbeitung großer Informationsmenge, die aus unterschiedlichen Quellen stammt, wie z.B. das Fernsehen, die Bücher oder die Beobachtungen. Am Ende weiß man einfach nicht mehr, welche Geschehnisse zu privaten Erinnerungen gehören und welche nur Übertragungen sind.223 Manchmal sind die Erinnerungen nicht zugänglich wegen der Kindheitsamnesie. In dem Roman von Grass erscheinen z.B. fast keine Erinnerungen aus der frühen Kindheit. Das Geschehen beginnt erst als der Erzähler zwölf Jahre alt ist. Nur bei manchen Themen kommt es zu der tieferen Versinkung in der Vergangenheit, z.B. bei der Erinnerung an das kindliche Ratespiel: „Schon als zehnjähriger Knabe konnte ich auf ersten Blick Hans Baldung, den man Grien nannte, von Matthias Grünewald, Frans Hals von Rembrandt und Filippo Lippi von Ciamabue unterscheiden. (…) Auf Wunsch abgefragt von der Mutter, die die Bildtitel und Namen der Künstler mit zwei Fingern verdeckte kamen des Sohnes Antworten treffsicher.“ (S. 13 - 14) Das Spiel mit dem Erkennen von Malern wird durch den Erzähler – zukünftigen Künstler nur deswegen erwähnt, weil es zu dem Selbstkonzept passt. „Erst wenn die fortgeschrittene Selbstwahrnehmung eintritt, kann das autobiographische Gedächtnis seinen Anfang nehmen und für die Erinnerungen sorgen, die ein Leben lang abrufbar bleiben“.224 Erwähnung des Spieles bestätigt den späteren artistischen Status des Erzählers und deswegen wurde in dem Roman präsentiert. Als letztes Beispiel für die Unzuverlässigkeit der Erinnerungen wird die Kodierung falscher Informationen besprochen. In diesem Fall wurde aber die Unwahrhaftigkeit der Angaben demaskiert. Der Erzähler präsentiert nämlich seine Betrachtungsweise der Waffen-SS während des Krieges: 223 Vgl. Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: Verlag W. Kolhammer 2007, S. 41. 224 Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: W. Kolhammer 2007, S. 116. Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ „Eher werde ich die Waffen-SS als Eliteeinheit gesehen haben, die jeweils dann zum Einsatz kam, wenn ein Fronteinbruch abgeriegelt, ein Kessel, wie der von Demjansk, aufgesprengt oder Charkow zurückerobert werden mußte. Die doppelte Rune am Uniformkragen war mir nicht anstößig. Dem Jungen, der sich als Mann sah, wird vor allem die Waffengattung wichtig gewesen sein: (…). Auch ging von der Waffen-SS etwas Europäisches aus: in Divisionen zusammengefaßt kämpften freiwillig Franzosen, Wallonen, Flamen und Holländer, viele Norweger, Dänen, sogar neutrale Schweden an der Ostfront in einer Abwehrschlacht, die, so hieß es, das Abendland vor der bolschewistischen Flut retten werde.“ (S. 126 - 127) Während der Nazidiktatur wurde die SS durch den Erzähler als eine hochgeschätzte Militäreinheit betrachtet. Heute assoziiert er diese Organisation eindeutig mit den schlimmsten Kriegsverbrechen: „Selbst wenn mir tätige Mitschuld auszureden war, blieb ein bis heute nicht abgetragener Rest, der allzu geläufig Mitverantwortung genannt wird.“ (S. 127) Diese Ansichtsrevision beweist nur die Theorie von Markowitsch und Welzer, dass die Erinnerungen kein genauer Spiegel des vormaligen Geschehens sind, sondern dass das auf die Wahrheit der Erinnerungen die Manipulation einen Einfluss haben kann.225 Wenn es nämlich nicht entdeckt würde, wofür die SS verantwortlich ist, dann würde der Erzähler weiter glauben, dass er Soldat einer elitären Einheit war. 6. Schlussbetrachtungen Abschließend soll knapp eine Antwort auf folgende Fragen gefunden werden: Wie werden die Erinnerungen in Günter Grass’ Text auf der narratologischen Ebene inszeniert und welche Strukturen des individuellen Gedächtnisses lassen sich in dem Roman finden. Die Analyse des Romans von Günter Grass beginnt mit der Gattungsklassifikation. Die Untersuchung hat bewiesen, dass „Beim Häuten der Zwiebel“ eine Autobiographie ist. Davon zeugt die Art und Weise der Präsentation von Erinnerungen: Geschlossenheit und chronologische Darstellung der Vorkommnisse, Reaktualisierung subjektiver Vergangenheitserfahrungen mithilfe eines beurteilenden, dominierenden Ich-Erzählers und Eindruck der Authentizität, die der Autor durch Detailrealismus, Felderinnerungen 225 Vgl. Markowitsch, H. J./ Welzer, H.: Das autobiographische Gedächtnis. Hirnographische Grundlagen und biosoziale Entwicklung. Stuttgart: Klett-Cotta 2005, S. 28. Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ und Unzuverlässigkeit des Erinnerns gewinnt. Dazu wird in dem Text die Frage nach dem Gewordensein der schriftstellerischen Identität gestellt und diese durch Schilderung unterschiedlicher Ereignisse beantwortet, die eine Art Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart bilden.226 Die Analyse zeigt eindeutig, dass in dem Roman alle Gedächtnisarten der Assmannschen Klassifikation vorhanden sind. In den individuellen Erinnerungen des Erzählers erschienen beispielsweise Elemente des kulturellen und generationsseozifischen Gedächtnisses. Der Erzähler zitiert und kommentiert in den inter- und metatextuellen Passagen die gelesenen und selbst verfassten Bücher und Gedichte. Die Erinnerung an die einzelnen Werke ist gleichzeitig Erinnerung an die Geschichte überhaupt, denn das reale Leben kann die Bücherthematik prägen. Neben dem Bezug auf die literarischen Texte, erscheint in „Beim Häuten der Zwiebel“ die außenliterarische Rede - Interdiskursivität. Die Wiedergabe des Soldatenjargons, der Alltagssprache und des kaschubischen Dialekts stiften das Gedächtnis von kollektiver Identität des Erzählers und dadurch auch die Authentizität des Erzählten. Auch Änderung der Erzählinstanz suggeriert den Wechsel zwischen den individuellen und kollektiven Erinnerungen. Da „Beim Häuten der Zwiebel“ eine Autobiographie ist, kommt der Ich-Erzähler als eine dominierende Form vor. Diese Erzählinstanz ist bei den Felderinnerungen und Reflexionen (individuelles Gedächtnis) vorhanden. Der auktoriale Erzähler hingegen tritt bei den narrativen Erinnerungen227, die durch ihre Veröffentlichung zum Generationengedächtnis gehören. Die Analyse des Textes umfasst auch die Untersuchung der Erzählebenen nach der Klassifikation von Genette. In dem Roman von Grass lassen sich demnach drei Formen der Ebene unterschieden: die extradiegetische Ebene des Autor-Erzählers, wo durch Reflexion die Distanz zur Vergangenheit dargestellt wird, die intradiegetische Ebene der richtigen Erzählung, wo neben der Lebenserinnerungen die Erinnerungen an die Bücher erscheinen und schließlich die metadiegetische Ebene, auf der sich die wiedergegebenen Geschichten befinden. Im Mittelpunkt der narratologischen Untersuchung steht die Analyse der Zeitdarstellung. Diese ermöglicht das Beweisen unterschiedlicher Eigenschaften des individuellen 226 Gedächtnisses. So zeugt die achronologische Darstellung der Vgl. Neumann, B.: Fictions of Memory: Erinnerung und Identität in englischsprachigen Gegenwartsromanen. In: Literatur in Wissenschaft und Unterricht 4/2004, S. 342-343. 227 Vgl. Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: W. Kolhammer 2007, S. 45. Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ Erinnerungen von dem fragmentarischen Charakter des autobiographischen Gedächtnisses. Die Prolepsen und Analepsen beweisen, dass die persönlichen Erinnerungen nicht wahllos angehäuft sind, sondern auf ihre Art „sortiert“. Einführung von Szenen soll die Aufmerksamkeit auf die traumatischen oder besonders emotionalen Memoiren lenken und die Pausen geben die Möglichkeit für die Einführung von Reflexionen. Raffung und Dehnung hingegen dienen der Unterscheidung zwischen wichtigen und unwichtigen Informationen. Ähnliche Funktion üben die Ellipse und die repetitive Erzählung (Frequenz) aus. Die letzte Form der Zeitdarstellung ist die iterative Erzählung, mit deren Hilfe die sich wiederholenden Erinnerungen nur einmal geschildert werden, was der Geschichtewiedergabe nach den sozialen Regeln verhilft.228 Im letzten Punkt der narratologischen Untersuchung wurde der Raum analysiert. In „Beim Häuten der Zwiebel“ lassen sich alle drei Raumarten der Wenzelschen Klassifikation finden. Neben dem gestimmten Raum, bei dem der statische Charakter von Erinnerungen durch die genaue Inszenierung der vergangenen Atmosphäre gezeigt wird, erscheinen auch der Anschauungsraum und der Aktionsraum. Während der erste der Präsentation von traumatischen und emotionalen Erinnerungen dient, verfestigt der andere die vergangenen Vorkommnisse, denn diese nach Meinung von Halbwachs eine konkrete Form brauchen.229 Im nächsten Kapitel der Arbeit wurde der Roman von Grass unter dem Gesichtspunkt einiger Eigenschaften des individuellen Gedächtnisses analysiert. Berücksichtigt waren dabei die Beobachter- und Felderinnerungen, Gedächtnisstützen und das unzuverlässige Erzählen. Die Untersuchung hat unter Beweis gestellt, dass die dominierende Form von Erinnerungen die Beobachtererinnerungen sind. Die Felderinnerungen kommen nur dann vor, wenn das Ereignis vom besonderen Belang für den Erzähler ist. Es stellte sich auch heraus, dass die Erinnerungen im großen Maße von den Gedächtnisstützen abhängen. Dank solchen Hilfsmaßnahmen, wie z.B. alte Zeitungen und Fotos kann man nicht nur den Zugang zu den vergangenen Ereignisseen finden, sondern auch diese beweisen. Der in dem Roman dargestellte Prozess des Abrufs von Erinnerungen veranschaulicht auch, dass diese fast immer durch einen Reitz gesteuert sind, sogar der Besuch eines alten Ortes kann zum Abruf der Vergangenheit führen - assoziativer 228 Vgl. Welzer, H.: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München: C.H. Beck Verlag 2002. S. 185 - 186. 229 Vgl. Assmann, J.: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: C.H. Beck 2005. S. 37 – 39. Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“ Abruf230. Neben (unzuverlässiges den Memoiren Erzählen), die erscheinen in Form im der Roman Gedächtnislücken unbeantworteten Fragen, der fragmentarischen Erinnerungen (Waffeneffekt) und Quellentauschungen231 erscheinen. Manchmal werden die Vorkommnisse falsch kodiert oder wegen Kindheitsamnesie völlig verschwiegen. „Beim Häuten der Zwiebel“ ist eine Autobiographie, deren primäre Funktion die Schilderung von Erinnerungen ist, was auch in der Arbeit bewiesen wurde. Die Analyse der Romans veranschaulicht auch, wie unterschiedliche Darstellungsverfahren der Schriftsteller benutzen kann, um die individuellen und kollektiven (generationsspezifischen) Arten des Gedächtnisses zu präsentieren. 7. Literaturangaben 1. Grass, G.: Beim Häuten der Zwiebel. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2008. 2. Assmann, A.: Kultur als Lebenswelt und Monument. In: Assmann A./ Harth, D. (Hrsg.): Kultur als Lebenswelt und Monument. Frankfurt a. M.: Fischer 1991. 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