Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter

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Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem
Roman „Beim Häuten der Zwiebel“ von Günter
Grass
INHALTSVERZEICHNIS
1. EINLEITUNG - ZU ASPEKTEN VON GEDÄCHTNIS UND
ERINNERUNG............................................................................................ 2
2. GEDÄCHTNISFORMEN NACH ALEIDA ASSMANN ................... 5
2.1. INDIVIDUELLES GEDÄCHTNIS ............................................................ 5
2.2 GENERATIONENGEDÄCHTNIS .............................................................. 9
3. AUTOBIOGRAPHISCHES GEDÄCHTNIS..................................... 13
3.1. EIGENSCHAFTEN DES AUTOBIOGRAPHISCHEN GEDÄCHTNISSES .... 13
3.2. EINFLUSS DER KINDLICHEN UND ADOLESZENTEN ERINNERUNGEN 16
3.3. GEDÄCHTNIS IM ALTER ................................................................... 20
3.4 EMOTIONALE UND TRAUMATISCHE ERLEBNISSE ............................. 24
4. RHETORIK DES GEDÄCHTNISSES ............................................... 28
4.1. ERFAHRUNGSHAFTIGER UND MONUMENTALER MODUS ................. 29
4.2. REFLEXIVER MODUS ........................................................................ 31
5. INSZENIERUNG DER ERINNERUNGEN IN DEM ROMAN VON
GÜNTER GRASS „BEIM HAUTEN DER ZWIEBEL“ ...................... 33
5.1. ZUM INHALT ..................................................................................... 33
5.2. ZUR TEXTANALYSE .......................................................................... 34
5.2.1. Zu Aspekten der Autobiographie .............................................. 35
5.2.2. Intertextualität und Interdiskursivität ...................................... 39
5.2.3. Erzählinstanzen ......................................................................... 43
5.2.4. Erzählebene ............................................................................... 47
5.2.5. Zeitstruktur ................................................................................ 50
5.2.6. Raumdarstellung ....................................................................... 59
5.3. ZUR GEDÄCHTNISSTRUKTUR DES ERZÄHLERS ............................... 63
5.3.1. Darstellung der Beobachter- und Felderinnerungen .............. 63
5.3.2. Gedächtnisstütze ........................................................................ 65
5.3.3. Unzuverlässiges Erinnern ......................................................... 68
6. SCHLUSSBETRACHTUNGEN.......................................................... 71
7. LITERATURANGABEN ..................................................................... 74
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
„Wenn ihr mit Fragen zugesetzt wird, gleich die Erinnerung einer Zwiebel, die gehäutet sein
möchte, damit freigelegt werden kann, was Buchstab nach Buchstab ablesbar steht: selten
eindeutig, oft in Spiegelschrift oder sonst wie verrätselt. Unter der ersten, noch trocken
knisternden Haut findet sich die nächste, die, kaum gelöst, feucht eine dritte freigibt, unter
der die vierte, fünfte warten und flüstern. Und jede weitere schwitzt zu lang gemiedene
Wörter aus, auch schnörkelige Zeichen, als habe sich ein Geheimniskrämer von jung an, als
die Zwiebel noch keimte, verschlüsseln wollen.“1
1. Einleitung - zu Aspekten von Gedächtnis und Erinnerung
Erinnerung ist ein Thema, das in der deutschsprachigen Literatur der letzten zwanzig
Jahre immer mehr Bedeutung gewann. Der Aspekt Erinnerung übt dabei eine wichtige
Funktion aus, weil es nicht nur um die Fragen nach dem individuellen und kollektiven
Gedächtnis
geht,
sondern
auch
den
Entstehungsprozess
von
Erinnerungsgemeinschaften. Im Allgemeinen lässt sich sagen, dass es zu einem
literarischen „Gedächtnisboom“2 gekommen ist. Einfluss darauf haben sowohl die
politischen, als auch kulturellen und sozialen Änderungen, die aus dem Untergang des
Dritten Reiches und dann auch des Real-Sozialismus resultieren.3 Diese Wandlungen,
sowie das allmähliche Sterben der Zeitzeugen lenkten die Aufmerksamkeit der
Belletristik auf die Auseinandersetzung mit der Geschichte. „Weil dies und auch das
nachgetragen werden muß. Weil vorlaut auffallend etwas fehlen könnte. (…) Und auch
dieser Grund sei genannt: weil ich das letzte Wort haben will.“ (S. 8) mit diesen Worten
erklärt Günter Grass die Gründe für die Entstehung seiner Autobiographie - „Beim
Häuten der Zwiebel“. Die vergangenen Vorkommnisse, wie z.B. Krieg, Holocaust,
Vertreibung und Entstehung der zwei deutschen Staaten werden hier in einem neuen
Licht präsentiert. Der Fokus wird nicht mehr auf die kollektive Schuld, sondern auf die
1
Grass, G.: Beim Häuten der Zwiebel. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2008, S. 9.
(Seitenangaben fortlaufen im Text).
2
Schwarz, A./ Müller, S.L.: Iterationen. Geschlecht im kulturellen Gedächtnis. In: Quelleres. Jahrbuch
für Frauen und Geschlechterforschung 2008. Stuttgart: Wallstein 2008, S. 13.
3
Vgl. Gansel, C./ Liersch, W. (Hrsg.): Zeit vergessen, Zeit erinnern. Hans Fallada und das kulturelle
Gedächtnis. Göttingen: V&R unipress 2008. S. 7.
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
individuelle Lebensgeschichte gerichtet. Diese wird aus einer reflexiven und
distanzierten Perspektive erinnert. Demnach kann man eine These riskieren, dass es sich
nicht mehr um das „Was“ der Erinnerungen, sondern um das „Wie“ handelt.4 Im
Mittelpunkt dieser Arbeit wird also die Frage nach den literarischen Möglichkeiten der
Präsentation von Zeitzeugenerinnerungen gestellt. Dabei ist davon auszugehen, dass es
eine ganze Reihe von literarischen Darstellungsweisen gibt, die sich besonders dazu
eignen die individuellen, kollektiven und generationsspezifischen Erinnerungsformen
zu schildern.
Man kann hier beispielsweise solche narratologischen Konstrukte
erwähnen, wie Raum– und Zeitdarstellung, Erzählinstanzen oder Intertextualität. Ihre
Analyse
unter
Berücksichtigung
der
kognitionspsychologischen
und
gedächtniskulturellen Theorien ermöglicht eine tiefere Einsicht in den Prozess des
Erinnerns. Solche interdisziplinäre Auseinandersetzung mit Erinnerungs- und
Gedächtnismechanismen wird in dieser Arbeit thematisiert.
Zu Beginn werden
Aspekte des individuellen und Generationsgedächtnisses nach
Aleida Assmann, Maurice Halbwachs und Astrid Erll diskutiert. Im Anschluss daran
wird die Aufmerksamkeit auf Theorien von Hans Markowitsch, Harald Welzer, Daniel
Schacter
und
Rüdiger
kognitionspsychologischen
Pohl
gelenkt.
Eigenschaften
Auf
und
diese
die
Weise
sozialen
werden
die
Funktionen
des
autobiographischen Gedächtnisses, sowie dessen Gestalt in der Kindheit und im hohen
Alter präsentiert. Berücksichtigt wird dabei auch der Einfluss von traumatischen und
emotionalen Erinnerungen. Im nächsten Schritt wird der Einblick in die Möglichkeiten
der
literarischen
Darstellungsweisen
genommen.
Die
Präsentation
von
gedächtniskulturellen Funktionen der formalästhetischen Textstrukturen wird hier unter
dem Begriff der „Rhetorik des Gedächtnisses“ verfasst. Im Rahmen dieser Arbeit
werden auch einige Aspekte der Autobiographie besprochen. Besonders viel Interesse
wird aber und vor allem den narratologischen Kategorien und ihrer Besprechung an
konkreten Beispielen geschenkt. Auf diese Weise wird veranschaulicht, wie man durch
Intertextualität und Intermedialität, Erzählweise,
Erinnerungsprozess
Letztendlich
4
und
werden
Eigenschaften
einige
von
des
Zeit- und Raumdarstellung den
Gedächtnisses
individuellen
präsentieren
Gedächtniseigenschaften,
kann.
wie:
Gansel, C: ‚Das Prinzip Erinnerung‘ in der deutschen Gegenwartsliteratur nach 1989- Magisterseminar.
Reader zum Magisterseminar, S. 2.
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
Beobachter- und Felderinnerungen, Gedächtnisstützen und unzuverlässiges Erinnern
besprochen.
Im Zentrum dieser Arbeit steht der Text von Günter Grass „Beim Häuten der Zwiebel“.
Der Autor erzählt hier sowohl von sich selbst, als auch von seinen Bemühungen eigene
Lebensgeschichte zu verfassen. „Beim Häuten der Zwiebel“ ist also Autobiographie, in
der der Autor nicht nur die Auseinandersetzung mit der individuellen Vergangenheit,
sondern auch den Gegensatz zwischen Erinnerung und Gedächtnis thematisiert.5 Am
Beispiel dieses Textes werden zwei Aspekte des Erinnerungsprinzips untersucht: erstens
die
Inszenierung der Erinnerungen auf der narratologischen Ebene, zweitens die
Darstellungsweise einiger Gedächtnisstrukturen des Erzählers. Eine Schlussbetrachtung
mit Präsentation der Untersuchungsergebnisse rundet diese Arbeit ab.
5
Vgl. mehr dazu: Lohr, S. (12.08.2006): Interview mit Günter Grass.
http://www.ndrkultur.de/feuilleton/nkult354.html (Zugriff am: 11.06.2009).
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
2. Gedächtnisformen nach Aleida Assmann
In diesem Kapitel sollen die Grundlagen der Gedächtnistheorie von Aleida Assmann
erweitert werden. Die Professorin für Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaft
unterscheidet
vier Gedächtnisarten, nämlich das Gedächtnis des Individuums, der
Generation, des Kollektivs und der Kultur. Diese vier Stufen werden nach Raum- und
Zeitradius, Gruppengröße sowie nach Flüchtigkeit und Stabilität unterschieden. In dem
Beitrag „Vier Formen des Gedächtnisses“
geht die Autorin von der subjektiven
Erfahrung aus, „dass die Individuen an Gedächtnishorizonten von unterschiedlicher
sozialer [Familie, Nachbarschaft, Gesellschaft, Nation, Kultur- M.B.] und zeitlicher
Reichweite [Generation – M.B.] teilhaben.“6 Im Mittelpunkt dieses Kapitels stehen zwei
von den oben erwähnten Gedächtnisarten, nämlich: das individuelle Gedächtnis und das
Generationengedächtnis. Es soll hier der Versuch unternommen werden, einige
Grundbegriffe und Mechanismen zu definieren, die die beiden Gedächtnisformen
bestimmen.
2.1. Individuelles Gedächtnis
In diesem Abschnitt soll der Aspekt des individuellen Gedächtnisses erfasst werden. Es
werden hier sowohl die Eigenschaften dieser Gedächtnisform, als auch jene der
persönlichen Erinnerungen dargestellt.
Das menschliche Gedächtnis ist von der Erinnerungsfähigkeit abhängig, das heißt, die
persönlichen Erinnerungen sind wie ein Stoff, aus dem die eigene Identität, Erfahrungen
und Beziehungen gebaut werden. In Anlehnung an Aleida Assmann kann man also
6
Assmann, A.: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen, Wissen, Ethik 13/2002, S. 184.
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
folgendes feststellen: „Ohne sie [Erinnerungen – M.B.] können wir kein Selbst
aufbauen und nicht mit anderen als individuellen Personen kommunizieren.“7 Das
individuelle Gedächtnis lässt sich in: episodisches, semantisches und prozedurales
Gedächtnis zerlegen, je nachdem, wie die Informationen erworben und behalten
werden.8 Das episodische Gedächtnis lässt sich als Erinnerungsschatz bezeichnen, den
das Individuum während des Lebens erworben hat. Grundlage dieser Gedächtnisform ist
das dynamische Erinnern, das hießt, die Erinnerungen werden plötzlich bewusst und
unter bestimmten Umständen wieder verfügbar. Innerhalb dieser Erinnerungsleistung
lassen sich verschiedene Sorten von Erinnerungen unterscheiden, u.a. verfügbare,
unverfügbare oder unzugängliche Erinnerungen.9 Das nächste Element, das das
biographisch grundierte episodische Gedächtnis ergänzt, ist das semantische
Gedächtnis. Mit diesem Begriff wird „(...) die Summe dessen gemeint, was wir nicht
durch persönliche Erfahrungen, sondern durch gezieltes Lernen in uns aufnehmen.“10
Das ist also das auswendig Gelernte, das begriffliche und faktische Wissen, wie
beispielsweise Multiplizieren oder Lesen. Solches kognitive Wissen11
bleibt im
semantischen Gedächtnis solange es sich nicht verflüchtigt.12 Bemerkenswert ist die
Tatsache, dass die Informationen, die sich in diesem Speichersystem befinden,
unterliegen nicht dem psychologischen Prinzip der Unzuverlässigkeit. Dazu lässt sich
das semantische Gedächtnis wie ein Muskel trainieren und mithilfe verschiedener
Mnemotechniken13 systematisch erweitern.14. Neben diesen zwei Gedächtnissystemen
differenzieren die Wissenschaftler die dritte Gedächtnisart – das prozedurale
Gedächtnis. Es unterscheidet sich von den oben erwähnten dadurch, dass es niemals als
ein vollständig bewusster Akt gelten wird, es kann auch nicht in das kognitive Wissen
übersetzt werden. Als prozedurales Gedächtnis „versteht man ein Gedächtnis, das in
7
Assmann, A.: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen, Wissen, Ethik 13/2002, S. 184.
Vgl. Assmann, A.: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen, Wissen, Ethik 13/2002, S. 183-186.
9
Vgl. Assmann, A.: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen, Wissen, Ethik 13/2002, S. 184.
10
Assmann, A.: Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen. Berlin: Erich
Schmidt 2006, S. 183.
11
Kognitives Wissen bezieht sich auf alle Formen der Informationsaufnahme und der Informationsverarbeitung
wie z.B. Wahrnehmen, Vorstellen, Denken und Bewerten. (Vgl. Clauß, G.: Wörterbuch der Psychologie.
Leipzig: VEB bibliographisches Institut, 1981, S.319.)
12
Vgl. Schacter, D.L.: Wir sind Erinnerung. Gedächtnis und Persönlichkeit. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt
1999, S. 40.
13
Mnemotechnik ist eine Bezeichnung für die Benutzung sachfremder Lernhilfen zur leichteren Einprägung
unterschiedlicher Lerninhalte. Die im Mittelalter recht verbreitete Mnemotechnik ist heute weitgehend vom
sinnerfassenden Lernen verdrängt worden, mitunter in spielerischer Form noch in Gebrauch. (Vgl. Krüger, H.
(red. Leitung): Schülerduden. Psychologie. Ein Lexikon zum Grundwissen der Psychologie. Mannheim:
Dudenverlag 2002, S. 253.)
14
Vgl. Assmann, A.: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen, Wissen, Ethik 13/2002, S. 183-186.
8
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
den Körper eingelassen wird.“15 Aleida Assmann gibt für dieses Erinnerungssystem
solche Beispiele an, wie Radfahren, Schwimmen oder Klavierspielen. Das sind
Fähigkeiten, die einmal gelernt, bleiben in dem Gedächtnis für immer. Zu anderen
Komponenten dieses Typs gehören auch alltägliche Handlungen, wie das Zähneputzen
oder das Essen. Diese Vorgänge können durch das ständige Wiederholen so
automatisiert werden, dass sich die Individuen nur schwer an sie erinnern –
habitualisierte Handlungen.
Die Erinnerungen des individuellen Gedächtnisses verfügen nach Aleida Assmann über
bestimmte Merkmale. Sie machen beispielsweise das menschliche Gedächtnis zum
„dynamischen Medium subjektiver Erfahrungsverarbeitung.“16 Assmann bezeichnet
solche Erinnerungen als perspektivisch, isoliert, fragmentarisch, flüchtig und labil. Die
Erinnerungen
der
Individuen
sind
nicht
nur
perspektivisch,
sondern
auch
unaustauschbar und unübertragbar.17 Sie unterscheiden sich von den Erinnerungen
anderer Personen, weil jeder Mensch eigene Lebensgeschichte und eine spezifische
Wahrnehmungsposition besitzt. Assmann nähert sich in diesem Sinne der Haltung von
Daniel L. Schacter an, der betont, dass:
„(…) unsere Erinnerungen (...) unverwechselbar zu uns [gehören- M.B.] und (...)
mit denen anderer Menschen nicht zu vergleichen [sind – M.B.]. Das empfinden
wir so, weil unsere Erinnerungen in der nicht abreißenden Kette von Ereignissen
und Episoden verwurzelt sind, welche die Besonderheiten unseres alltäglichen
Lebens ausmachen.“18
Man kann also feststellen, dass selbst durch einfache, alltägliche Ereignisse, wie z.B.
Gespräch mit dem Nachbar oder Lesen eines Buches unterscheiden sich die
menschlichen Erfahrungen und gleichzeitig Erinnerungen voneinander. Das, was
individuell erlebt wurde, kann auf andere Personen nicht hundertprozentig übertragen
werden.
Nächstens schildert Aleida Assmann die Erinnerungen als ein Netz. Sie existieren nicht
isoliert, sondern sind mit Erinnerungen der anderen verbunden. Die Anglistin folgt dem
15
Assmann, A.: Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen. Berlin: Erich
Schmidt 2006, S. 185.
16
Assmann, A.: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München:
C.H. Beck 2006, S. 25.
17
Assmann, A.: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen, Wissen, Ethik 13/2002, S. 184.
18
Schacter D.L.: Wir sind Erinnerung. Gedächtnis und Persönlichkeit. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt 1999,
S. 38.
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
französischen Soziologen Maurice Halbwachs19, der meinte, dass „(...) das individuelle
Gedächtnis immer schon sozial gestützt [ist – M.B.].“20 Dementsprechend kann der
einsame
Mensch
keine
Erinnerungen
haben,
weil
diese
im
Prozess
der
zwischenmenschlichen Kommunikation entstehen und durch diese verfestigt werden. So
nach Halbwachs hatte Caspar Hauser21 keine Erinnerungen, der einsame Robinson
Crusoe aber schon, weil er im Geiste der sozialen Beziehungen erzogen wurde.22 Man
kann also sagen, dass die Erinnerungen in den Menschen durch Überlappung und
Anschlussfähigkeit hineinwachsen. Das bedeutet gleichzeitig, dass die Erinnerungen
einer Person in Verbindung mit Erinnerungen anderer Person stehen und diese
bestätigen können. Ein gutes Beispiel für diese Erinnerungseigenschaft schildert Film
von Pete Travis unter dem Titel: „8 Blickwinkel“ (2008)23. Es wurde hier ein
Terroranschlag auf den amerikanischen Präsidenten
dargestellt. Acht Personen
erzählen, was sie in dem dramatischen Moment gesehen haben, wobei sich ihre
Aussagen gegenseitig bestätigen oder ausschließen. Der Regisseur zeigt hier die
Kohärenz der Erinnerungen verschiedener Menschen und die damit verbundene
Glaubwürdigkeit.
Die Erinnerungen weisen nach Aleida Assmann noch eine andere Eigenschaft auf, sie
sind fragmentarisch, also:
„(…) begrenzt und ungeformt. Was als Erinnerung aufblitzt, sind in der Regel
ausgeschnittene, unverbundene Momente ohne Vorher und Nachher. Erst durch
Erzählungen erhalten sie nachträglich eine Form und Struktur, die sie zugleich
ergänzt und stabilisiert.“24
Maurice Halbwachs – frz. Soziologe, betonte v.a. die verhaltensprägende Kraft der sozialen Klassen und
stellte so die Verbindung zw. Soziologie und Sozialpsychologie her. (Vgl. Weiß, J./ Buhl, D. (red. Leitung):
Die Zeit. Das Lexikon in 20 Bänden. Hamburg: Gerd Bucerius 2007. Bd. 6, S.193.)
20
Assmann, A.: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München:
C.H. Beck 2006, S. 25.
21
Caspar Hauser – Findelkind unbekannter Herkunft, *(nach seinen Angaben) 30.4.1812, + Ansbach
17.12.1833; tauchte im Mai 1828 in Nürnberg auf und bezeichnete sich als K.H. Seinem Bericht zufolge war er
mehr als 10 Jahre in aller Verborgenheit in einem dunklen Raum aufgewachsen. Der Findling, dessen geistige
Entwicklung begrenzt blieb, nahm sich bes. Jurist P.J.A. Feuerbach an, der ihn nach zwei angebl.
Attentatsversuchen 1829 und 1831 in die Obhut des Volksschullehrers J.G. Meyer nach Ansbach gab. Am
dortigen Appellationsgericht arbeitete H. als Aktenkopist. In der Sozialpsychologie werden
Verhaltensauffälligkeiten, die aufgrund von sozialer Isolierung entstanden, als Krh.-Syndrom bezeichnet. (Vgl.
Brockhaus Enzyklopädie. Mannheim: Brockhaus, 2006. Bd. 12.)
22
Vgl. Erll, A.: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart, Weimar: Metzler 2005, S. 15.
23
Originaltitel: „Ventage Point“, Regie: Peter Travis, Drehbuch: Barry Levy. (Vgl. mehr dazu: Heidmann, P.:
Das Gleiche ist nicht das Selbe. http://www.cineman.ch/movie/2008/VantagePoint/review.html (Zugriff am:
9.06.2009))
24
Assmann, A.: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen, Wissen, Ethik 13/2002, S. 184.
19
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
Pohl bestätigt diese Theorie dadurch, dass er das Gedächtnis mit einer Computer –
Festplatte vergleicht. Das Gedächtnis ist nämlich kein Speichermedium, auf dem die
Dateien in einem festen Format abgelegt werden und dann auch nach vielen Jahren in
derselben Form abgerufen werden können.25 Die episodischen Inhalte, wie
Lebensumstände oder Emotionen werden also im Gedächtnis in fragmentarischer Form
abgelegt. Man kann deswegen eine Feststellung riskieren, dass der Prozess des
Erinnerns dem Prozess der paläontologischen Untersuchung ähnlich ist. So wie der
Paläontologe aus Knochenbruchstücken auf die Gestalt des Dinosauriers schließt,
versucht auch die sich erinnernde Person verfügbare, fragmentarisch behaltenen
Gedanken zu einem sinnvollen Ganzen zu kombinieren.26
Die Erinnerungen sind laut Aleida Assmann durch noch eine Eigenschaft
gekennzeichnet: sie sind scilicet flüchtig und labil. „Insbesondere verändern sich die
Relevanzstrukturen und Bewertungsmuster im Laufe des Lebens, so daß ehemals
Wichtiges nach und nach unwichtig und ehemals Wichtiges in der Rückschau unwichtig
werden kann.“27 Das bedeutet, die Erinnerungen ändern sich, weil sich die Personen und
ihre Lebensumstände verändern. Manchmal gehen die Erinnerungen ganz verloren oder
verblassen
im
Laufe
der
Zeit.
Aleida
Assmann
in
„Einführung
in
die
Kulturwissenschaft“ führt ein passendes Beispiel an: bei dem Besuch sagte immer ihre
Großmutter, dass sich ihre Kinder nie gezankt hätten. Die Wahrheit sah aber anders aus.
Die Großmutter hat also die Streite ihrer Kinder aus dem Gedächtnis getilgt. Solche
Verhaltensweise beweist nur die Theorie von Assmann, dass die Erinnerungen kein
exakter Spiegel des vormaligen Geschehens sind, sondern fluktuieren und sich durch
immer neue Rekonstruktionen an das Selbstbild in der jeweiligen Gegenwart
anpassen.28
2.2 Generationengedächtnis
25
Vgl. Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: W.
Kohlhammer 2007, S. 148.
26
Vgl. Neumann, B.: Erinnerung, Identität, Narration. Gattungstypologie und Funktionen kanadischer Fictions
of Memory. Berlin u.a.: de Gruyter 2005, S. 26.
27
Assmann, A.: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen, Wissen, Ethik 13/2002, S. 184.
28
Vgl. Assmann, A.: Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen. Berlin:
Erich Schmidt 2006, S. 181.
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
In diesem Punkt soll die Frage des Generationengedächtnisses, dessen Teilnehmer und
Spezifik in Anlehnung an den schon erwähnten Beitrag von Aleida Assmann „Vier
Formen des Gedächtnisses“ besprochen werden. Besonders viel Aufmerksamkeit wird
dem Aspekt der Bildung eines Generationsprofils und dem Generationswandel auf der
Makroebene der Gesellschaft gewidmet.
Das Generationengedächtnis ist ein wichtiges Element in der Konstruktion des
persönlichen Gedächtnisses und der Generationen – Identität. Man kann zwei Ebenen
unterscheiden, auf denen es gebildet wird. Das Generationengedächtnis entsteht
entweder auf der Mikroebene der Familie, oder auf der Makroebene der Gesellschaft.
Im ersten Fall handelt es sich um Beziehungen zwischen Enkeln, Kindern und Eltern.29
Laut
Aleida
Assmann
ermöglicht
dieses
Drei-Generationen-Gedächtnis
das
Zurechfinden in der Zeit. Man weißt zu welcher Generationsgruppe man gehört,
„Kinder und Enkel nehmen einen Teil der Erinnerungen der älteren Familienmitglieder
in ihren Erinnerungsschatz auf, (...).“30 Durch mündliche Erzählungen haben auch
diejenigen am Gedächtnis teil, die das Erinnerte nicht persönlich erlebt haben. So findet
ein Austausch lebendiger Erinnerungen zwischen Zeitzeugen und Nachkommen statt.
„Das Generationengedächtnis reicht daher so weit, wie sich die Mitglieder der sozialen
Gruppe zurückerinnern können.“31 Das bedeutet, dass Generationengedächtnis im
familiären Kontext drei, manchmal vier Generationen umfasst, also ca. 120 Jahre.
Die Makroebene der Gesellschaft bezieht sich hingegen in der Regel auf die Personen,
die in einem Zeitraum von wenigen Jahren geboren wurden.32 Es ist eine Art des
kollektiven und gleichzeitig kommunikativen Gedächtnisses. „Es sind Erinnerungen, die
der Mensch mit seinen Zeitgenossen teilt. (...) Dieses Gedächtnis wächst der Gruppe
historisch zu; es entsteht in der Zeit und vergeht mit ihr, genauer gesagt: mit seinen
Trägern.“33 Es lässt sich also sagen, dass die Träger dieser Gedächtnisart zeitlich und
29
Vgl. Szydlik, M.: Generationenforschung. Zitiert nach: King, V.: Die Entstehung des Neuen in der
Adoleszenz. Individuation, Generativität und Geschlecht in modernisierten Gesellschaften. Wiesbaden: VS
Verlag für Sozialwissenschaften 2004, S. 47.
30
Assmann, A: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen, Wissen, Ethik 13/2002, S. 185.
31
Erll, A.: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart, Weimar: Metzler
2005, S. 16.
32
Vgl. Szydlik, M.: Generationenforschung. Zitiert nach: King, V.: Die Entstehung des Neuen in der
Adoleszenz. Individuation, Generativität und Geschlecht in modernisierten Gesellschaften. Wiesbaden: VS
Verlag für Sozialwissenschaften 2004, S. 47.
33
Assmann, J.: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen.
München: C.H. Beck 2005, S. 50.
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
räumlich begrenzte Gruppen sind, die sich daran erinnern, „was dem Selbstbild und den
Interessen der Gruppe entspricht. Hervorgehoben werden dabei vor allem Ähnlichkeiten
und Kontinuitäten, die demonstrieren, dass die Gruppe dieselbe geblieben ist.“34 Diese
Gedächtnisart wird durch soziale Interaktionen (gemeinsame Erfahrungen und
Handlungen)
oder
Weitererzählen)
durch
Kommunikation
(Erzählen,
Zuhören,
Nachfragen,
konstruiert. Dementsprechend kann man noch mal nach Aleida
Assmann und Maurice Halbwachs wiederholen, dass der einsame Mensch keine
Erinnerungen bilden kann.35 Sie entstehen und werden im Rahmen der sprachlichen
Kommunikation verfestigt. Gemeint sind hier nicht nur Familie und Bekanntenkreis,
sondern auch ganz unbekannte Personen, denn: „Individuen sind mit ihren
Erinnerungen eingespannt in das größere Gedächtnis ihrer Gemeinde, ihrer Stadt, ihrer
Generation.“36 A. Assmann führt ein Beispiel für diese Gedächtnisart an, nämlich in
Memphis, wo Martin Luther King37 ermordet wurde, wurde keine Schule und keine
Straße nach seinem Namen benannt. Die Stadt besitzt dagegen Straßen und Gebäuden,
die anderen Opfern gewidmet sind.38 Dieser Fall veranschaulicht, wie ein traumatisches,
beschämendes Ereignis durch eine Gemeinschaft verarbeitet werden kann.
Das Generationengedächtnis wird durch den Wandel der Generationen bestimmt. Mit
dem Eintritt jeder neuen Generation ändert sich das Erinnerungsprofil der Gesellschaft.
Aleida Assmann beschreibt diesen Prozess so:
„Mit jedem Generationswechsel, der nach einer Periode von ca. vierzig Jahren
stattfindet, verschiebt sich das Erinnerungsprofil einer Gesellschaft merklich.
Haltungen, die einmal bestimmend oder repräsentativ waren, rücken allmählich
vom Zentrum an die Peripherie. Dann stellt man rückblendend fest, daß sich mit
dem Dominanzwechsel der Generationen eine bestimmte Atmosphäre von
Erfahrungen und Werten, Hoffnungen und Obsessionen aufgelöst hat und neue
Prägungen an ihre Stelle getreten sind.“39
34
Erll, A.: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart, Weimar: Metzler
2005, S. 17.
35
Vgl. Assmann, A.: Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen. Berlin:
Erich Schmidt 2006, S. 187-188.
36
Assmann, A.: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen, Wissen, Ethik 13/2002, S. 184.
37
King, Martin Luther Jr.- amerikan. Bürgerrechtler und Baptistenpfarrer, * Atlanta 15.1.1929, + (ermordet)
Memphis 4.4.1968; King entwickelte unter dem Einfluss von H.D. Thoreu und M. Gandhi den gewaltlosen
Widerstand und den zivilen Ungehorsam zur wirksamen Waffe der Bürgerrechtsbewegung der amerikan.
Schwarzen. 1964 erhielt er als Wortführer einer friedl. Rasenintegration den Friedensnobelpreis. (Vgl.
Brockhaus Enzyklopädie, Mannheim: Brockhaus 2006. Bd. 15.)
38
Vgl. Assmann, A.: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen, Wissen, Ethik 13/2002, S. 184.
39
Assmann, A.: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen, Wissen, Ethik 13/2002, S. 184.
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
Mit anderen Worten gesagt, das Generationengedächtnis ist eine Gemeinschaft der
Gleichaltriegen, die durch dieselbe politischen, sozialen, kulturellen Ereignisse geprägt
wurden. Ihre Erfahrungen und die daraus folgende Lebensanschauung müssen sich
wesentlichen von den Erfahrungen und der Lebensanschauung anderer Generationen
unterscheiden. Jeder Mensch wurde nämlich in seiner Altersstufe von verschiedenen
historischen Ereignissen geprägt, die er gewollt oder ungewollt mit seinen Zeitgenossen
teilt. Sie beeinflussen Überzeugungen, Haltungen, Weltbilder, Ethik oder kulturelle
Deutungsmuster des Individuums. Wenn sich die Generationen wechseln, dann
verschiebt sich auch das Erinnerungsprofil einer sozialen Gemeinschaft. Haltungen, die
einmal repräsentativ oder bestimmend waren, werden allmählich vom Zentrum an die
Peripherie verschoben. Ein bestimmtes zeitliches Milieu wird aufgelöst. An diese Stelle
kommt eine neue Generation mit neuen Werten, Hoffnungen, Obsessionen und
Erfahrungen.40 Beispielsweise in „Geschichtsvergessenheit - Geschichtsversessenheit“
schildern Aleida Assmann und Ute Frevert solche Situation: in den Jahren 1939 - 1945
wurden in Deutschland drei politische Generationen herausgebildet. Für die 1924
Geborenen galten andere Maßstäbe als für die 1927 oder 1930 Geborenen. Es ist ein
Altersabstand von drei Jahren, der die ersten zur schuldigen Generation der jungen
Soldaten, die zweiten zu der sog. skeptischen Generation und die dritten zur
unbefangenen Generation machte. Wesentlich ist dabei die Tatsache, dass jede
Altersgruppe dessen bewusst ist, dass sie sich sowohl von der vorhergehenden, als auch
von der nachfolgenden unterscheidet, was nach Meinung des Soziologen Heinz Bude
einen Einfluss auf die Kommunikation zwischen den Generationen hat: „(...) die
Kommunikation zwischen den Generationen [dreht sich – M.B.] immer um eine Grenze
des Verstehens, die mit der Zeitlichkeit des Erlebens zu tun hat.“41 Das bedeutet, dass
die Generationskonflikte entstehen dann, wenn das kulturelle Profil einer Generation
von der nachfolgenden Generationen definiert wird, die eine andere Sicht auf die
Realität haben.
Im Allgemeinen ist das Generationengedächtnis ein Netz, in dem sich die
unterschiedlichen Einzelerinnerungen zusammenballen. Wichtigen Einfluss auf das
Profil dieser Gedächtnisart haben vor allem die Erfahrungen und die Denkweise des
40
Assmann, A./ Frevert, U.: Geschichtsvergessenheit - Geschichtsversessenheit. Stuttgart: Deutsche VerlagsAnstalt 1999, S. 37.
41
Bude, H.: Generationen im sozialen Wandel. Zitiert nach: Assmann, A.: Der lange Schatten der
Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München: C.H. Beck 2006, S. 27.
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
Individuums. Karl Mannheim ist überzeugt, die Erfahrungen, die im Alter zwischen 12
und 25 gesammelt werden, sind ausschlaggebend für die Etablierung der
Lebensumschauung des Individuums: „Man nimmt an, daß das, was in diesem Zeitraum
erlebt wurde, für die Persönlichkeitsentwicklung einschneidender ist und tiefe Spuren
im Gedächtnis hinterläßt, als das, was im höheren Alter zu verarbeiten ist.“42
Beispielsweise Personen, die während seiner Jugend durch den Vietnam-Krieg
betroffen wurden, scheinen mehr emotional an dieses Thema herantreten, als Personen,
die Jahre später nach dem Krieg geboren wurden. Wenn die erste Gruppe von Grund
aus die Idee des Krieges ablehnt, ist die zweite mehr objektiv und sieht in der
militärischen Auseinandersetzung sogar wirtschaftliche Vorteile.43 Laut Mannheim
sollen also die Erfahrungen der Jugendphase prägend für das Profil der ganzen
Generation sein.
3. Autobiographisches Gedächtnis
In diesem Kapitel soll der Aspekt des autobiographischen Gedächtnisses analysiert
werden. Es werden hier nicht nur die Grundlagen dieser Gedächtnisart, sondern auch
Charakteristik der Erinnerungsfähigkeiten in der Kindheit und im hohen Alter
dargestellt.
3.1. Eigenschaften des autobiographischen Gedächtnisses
Korte und dann auch Pohl vergleichen das autobiographische Gedächtnis mit einem
Fluss. Er fängt als ein Rinnsal an, das nicht genau weiß, wohin es will, dann aber nimmt
das Wasser aus anderen Bächen und Flüssen auf und wird immer stärker. Das
Quellwasser vermischt sich mit neuen Inhalten, ab und zu kommen auch die
Wasserfälle vor, die die Meilensteine im Lebenslauf markieren. Zunehmend fließt das
Wasser ruhiger, denn es kommt wenig Neues hinzu. Das Erscheinungsbild des Flusses
kann sich zwar im Laufe seines Weges verändern, aber alle Bestandsteile seiner
42
Assmann, A.: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen, Wissen, Ethik 13/2002, S. 185.
Vgl. Wineburg, S.: Sinn machen: Wie Erinnerung zwischen den Generationen gebildet wird. In: Wezler, H.
(Hrsg.): Das soziale Gedächtnis, Geschichte, Erinnerung, Tradierung. Hamburg: HIS Verlagsgesellschaft 2001,
S. 189-204.
43
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
Geschichte sind noch immer erhalten.44 Diese Fluss-Metapher ist zu unterstützen, denn
auch Welzer definiert das autobiographische Gedächtnis als ein Wechselspiel von
episodischen,
semantischen
Gedächtnisfunktionen.
Das
perzeptuellen,
autobiographische
prozeduralen
Gedächtnis
soll
und
also
priming–
als
ein
übergeordnetes System des episodischen Gedächtnisses betrachtet werden.45
Ähnliche Definition führte auch Brewer ein: “Ich denke, wir können das
autobiographische Gedächtnis definieren, als das Gedächtnis für solche Informationen,
die sich auf das Selbst beziehen.”46 Man kann also sagen, dass das wichtigste Kriterium
der autobiographischen Erinnerungen darin besteht, ob sie einen Selbstbezug aufweisen.
Dazu ist hier nicht nur “selbst erlebt” gemeint, sondern dass ein Erlebnis eine
individuelle Bedeutsamkeit aufweist. Ein Beispiel präsentierte Pohl, als er zwei Arten
der Erinnerungen beschrieb. Seiner Meinung nach ist die persönliche Relevanz völlig
anders, wenn die Menschen selbst ein Erdbeben erleben, als wenn sie darüber aus
Radio oder Fernsehen erfahren. In dem ersten Fall ist die persönliche Bedeutsamkeit
größer, sodass es sogar die traumatischen oder emotionalen Erinnerungen verursachen
kann. Demnach kann man sagen, dass die allgemeinen Nachrichten (z.B. erfahren über
Erdbeben aus dem Fernsehen) lösen eher die narrativen Erinnerungen aus, während das
Selbsterleben der Geschehnisse autobiographische Erinnerungen generiert.47
Innerhalb des autobiographischen Systems unterscheidet Aleida Assmann zwei Modi:
zum einen Ich-Gedächtnis, zum anderen Mich-Gedächtnis. Während das eine verbal
und deklarativ ist und darin besteht, Erinnerungen bewusst aufzurufen und ihnen durch
die Haltung der Distanz die Form einer Erzählung zu geben, ist das andere flüchtig und
diffus. Die Erinnerungen, die in Mich–Gedächtnis schlummern, lassen sich nicht
bewusst abrufen. Sie melden sich unerwartet als gewisse Antwort für bestimmte äußere
44
Vgl. Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: W.
Kolhammer 2007, S. 90.
45
Vgl. Welzer, H.: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München: C.H. Beck 2002,
S. 144.
46
Brewer, W.F.: What is autobiographical memory? Zitiert nach: Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis.
Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: W. Kolhammer 2007, S. 45.
47
Vgl. Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: W.
Kolhammer 2007, S. 45.
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
Reize, wie z.B. Orte, Gegenstände, Gerüche und Geschmäcke, die hier als
Gedächtnisauslöser funktionieren.48
„Das Mich-Gedächtnis ist nichts anders als ein potentielles System von
Resonanzen, von Seiten, die zum Klingen gebracht werden können. Welche
Seite getroffen wird, ob und wann eine Schwingung im labyrinthischen
Netzwerk unserer Seele entsteht, ist nicht wirklich steuerbar, sondern beruht
weitgehend auf Zufällen.“49
Demnach sind die herangezogenen Erinnerungen von dem aktuellen Hinweisreiz
abhängig, der den Erinnerungsprozess in Gang setzt. Schacter bezeichnet das als einen
assoziativen Abruf, beispielsweise ein plötzlich gehörtes Lieblingslied löst die
Erinnerungen an Ort und Zeit aus, wann dieses zum ersten Mal gehört wurde, an
Personen, die damals kennen gelernt wurden und an Gefühle, die damals empfunden
wurden.50 Wenn man sich in solcher Erinnerung als handelnde Person sieht, dann ist
das eine Beobachtererinnerung bzw. observer memories. Wenn man aber das ganze
Geschehen aus den Augen der erlebenden, emotional involvierten Person sieht, dann hat
man mit einer Felderinnerung bzw. field memories zu tun. Als erster mit diesen
Erinnerungsarten beschäftigte sich Freud, er vertrat die Auffassung, dass die
Beobachtererinnerungen modifizierte Versionen des ursprünglichen Ereignisses sind,
das anfänglich aus der Feldperspektive wahrgenommen wurde. Im Gegensatz zu ten
Beobachtererinnerungen, treten die Felderinnerungen vor allem, dann, wen man sich auf
die Gefühle konzentriert.
„Während field memories die emotionale Dimension von Zurückliegendem
‚wiederaufleben’ lassen und für das gegenwärtige Identitätsverständnis
verfügbar machen, erlauben observer memories eine selbstreflektierte Distanz zu
der Vergangenheit und deren aktive Vergegenwärtigung im Lichte aktueller
Bedingungen.“51
Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die emotionale Intensität eines Erlebnisses
die Art des Erinnerungsaktes bestimmt. Je mehr emotional das Event war, desto
detaillierter wird es erinnert.52
48
Vgl. dazu ausführlich: Assmann, A.: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und
Geschichtspolitik. München: C.H. Beck 2006, S. 119-124.
49
Assmann, A.: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München:
C.H. Beck 2006, S. 123.
50
Vgl. Schacter, D.L.: Wir sind Erinnerungen. Gedächtnis und Persönlichkeit. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt
1999, S. 115.
51
Neumann, B.: Erinnerung, Identität, Narration. Gattungstypologie und Funktionen kanadischer „Fictions of
Memory“. Berlin u.a.: de Gruyter 2005, S. 30 - 31.
52
Vgl. Schacter, D.L.: Wir sind Erinnerungen. Gedächtnis und Persönlichkeit. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt
1999, S. 45-48.
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
Das individuelle autobiographische Gedächtnis ermöglicht das Erleben aller
Lebensepisoden als ein kontinuierliches Ich. „Es stellt für einen selbst wie für die
anderen sicher, dass man trotz der verschiedenen Zeit und der physischen und
psychischen Veränderungen über die Lebensspanne hinweg immer mit ein und
demselben ich zu tun hat.“53 Dementsprechend lässt sich sagen, dass dem Verhältnis
zwischen
einem
aktualisierten
Selbstkonzept
und
gegenwärtig
verfügbaren
autobiographischen Erinnerungen eine dynamische, gegenseitige Beeinflussung
zugrunde liegt. Einerseits prägt das Selbstkonzept die Prozesse der Selektion und
Interpretation von Erinnerungen, andererseits aber hängt das Selbstbild von den
Erinnerungen
ab.
Die
Selbsteinschatzung
basiert
nämlich
auf
persönlichen
Erinnerungen. „Selbstschemata und autobiographische Erinnerungen sind also
grundlegend aufeinander abgestimmt und werden aneinander angeglichen.“ 54 Für
Anpassung der Erinnerungen an die Gegenwart gibt es zahlreiche Beispiele. Pohl im
„Autobiographischen Gedächtnis“ schilderte ein: im Jahre 1972 wurde in den USA eine
Umfrage durchgeführt, welcher Partei die Bevölkerung positiv steht - den
Republikanern oder den Demokraten. Vier Jahre später wurde die Umfrage wiederholt,
von denen, die ihre politische Orientierung inzwischen geändert hatten (22%), 91%
behaupteten, dass sie der jetzt favorisierten Partei immer zugeneigt und ihre Präferenz
in letzten vier Jahren nicht geändert hätten. Dieses Beispiel veranschaulicht die These,
dass nur das erinnert wird, was mit dem gegenwärtigen Selbstbild in Einklang gebracht
werden kann.55
3.2. Einfluss der kindlichen und adoleszenten Erinnerungen
„Das autobiographische Gedächtnis wird die Geschichte des Selbst”, die schon in der
Kindheit beginnt.56 Es ist aber nicht leicht zu sagen, ab wann Kinder über dieses
Gedächtnis verfügen. Es entwickelt sich nämlich über mehrere qualitative Stufen
53
Markowitsch, H.J./ Welzer, H.: Das autobiographische Gedächtnis. Hirnographische Grundlagen und
biosoziale Entwicklung. Stuttgart: Klett-Cotta 2005, S. 215.
54
Vgl. Neumann, B.: Erinnerung, Identität, Narration. Gattungstypologie und Funktionen kanadischer
„Fictions of Memory“. Berlin: de Gruyter 2005, S. 31.
55
Vgl. Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: W.
Kolhammer 2007, S. 164-165.
56
Nelson, K.: Erzählung und Selbst, Mythos und Erinnerung: Die Entwicklung des autobiographisches
Gedächtnisses und des kulturellen Selbst. In: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und
Lebensverlaufsanalysen 15 /2002, S. 245.
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
hinweg und ist mit der Entstehung des Selbstkonzeptes eng verbunden. Die Kinderzeit
ist deswegen wichtigerer Bestandteil der Persönlichkeit, denn es finden damals
gravierende
Reifungsprozesse
statt.
Je
nach
kognitiven,
sprachlichen
und
kommunikativen Möglichkeiten bilden sich derzeit abstrakte Vorstellungen davon aus,
wer man eigentlich ist.57
Markowitsch und Welzer haben eine Untersuchung durchgeführt, die darauf hinweist,
dass das autobiographische Gedächtnis erst nach den ersten drei Lebensjahren
entsteht.58 Diese These bestätigt Pohl: „Mit 3-3,5 Jahren gelingt es Kindern erstmals
(mit mehr oder minder großer Unterstützung seines Erwachsenen), eine kohärente
Geschichte über vergangene Ereignisse zu erzählen.“59 Bemerkenswert ist dabei die
Tatsache, dass die jüngeren Ereignisse in der Regel ins Gedächtnis nicht berufen
werden können. Dieses Phänomen nennt man Kindheitsamnesie. Die Wissenschaftler
geben verschiedene Gründe der infantilen Amnesie an, zu den populärsten gehören
Defizite bei der Sprachbeherrschung und Mangel des Selbstkonzeptes. Laut der Theorie
des Sprachdefizits ist die sprachliche Entwicklung des Kindes mit der Entwicklung des
Gedächtnisses verbunden:
„Die Entwicklung der Sprache kann als eine der wichtigsten Voraussetzungen
für die Bildung und Festigung höherer Formen von Gedächtnis gelten. Da wir
unsere ganze belebte und unbelebte Welt zu benennen pflegen und praktisch von
Geburt an auch über Lautäußerungen (Weinen, Lachen) kommunizieren, stellt
die Verankerung unserer Umwelt im sprachlichen Ausdruck ein
Charakteristikum unseres Intellekts dar.“60
Das bedeutet, die Ereignisse werden sprachlich enkodiert und später in verbaler Form
abgerufen. Die früheren, nicht-sprachlichen Erinnerungen (visuelle oder taktile
Erlebnisse) sind nicht zugänglich, weil sie zu der dominanten, sprachlichen
Abrufstruktur nicht passen. Die Theorie des Mangels an dem Selbstkonzept favorisiert
dagegen Grad der Bedeutung und der Anpassung von episodischen Erinnerungen an das
Selbstkonzept. Passende und wichtige Erinnerungen werden dabei besser erinnert, als
die unpassenden und unbedeutenden. Da die Kleinkinder über kein Selbstkonzept
57
Vgl. Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: W.
Kolhammer 2007, S. 91-93.
58
Vgl. mehr dazu: Markowitsch, H. J./Welzer, H.: Das autobiographische Gedächtnis. Hirnographische
Grundlagen und biosoziale Entwicklung. Stuttgart: C.H. Beck 2005, S. 209-214.
59
Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: W.
Kolhammer 2007, S. 96.
60
Markowitsch, H.J./ Welzer, H.: Das autobiographische Gedächtnis. Hirnographische Grundlagen und
biosoziale Entwicklung. Stuttgart: Klett-Cotta 2005, S. 122.
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
verfügen, können die Erfahrungen nicht enkodiert werden, auch deswegen sind die
episodischen Erinnerungen aus den ersten Lebensjahren nicht zugänglich. „Erst wenn
die
fortgeschrittene
Selbstwahrnehmung
eintritt,
kann
das
autobiographische
Gedächtnis seinen Anfang nehmen und für die Erinnerungen sorgen, die ein Leben lang
abrufbar bleiben“.61 Das passiert erst mit dem dritten Lebensjahr, wenn sich das Kind
als ein Individuum zu betrachten beginnt, das eine eigene Geschichte hat, die sich von
den Geschichten anderer Menschen unterscheidet und chronologisch erzählbar ist –
narratives Selbstverstehen. Nicht zufällig ist das auch ein Alter, in dem das Kind
erstmals in einen außerfamiliären Sozialzusammenhang eingebunden wird, d.h. es ist in
der Lage für eine beträchtliche Zeit ohne Mutter zu sein und mit neuen Vorgängen
konfrontiert zu werden. Mit anderen Worten gesagt: das Kind erweitert den Kreis seiner
sozialen Zugehörigkeiten und seiner kulturellen Räumen. Nelson resümiert diese
Entwicklung folgendermaßen:
„Die Lebensgeschichte des Kindes spielt in einem kulturellen Rahmen, der nach
Zeitabschnitten und kulturellen Räumen differenziert ist: das Babyalter, das
Erwachsenenalter, Schule, Zuhause, Spielplatz – alles hat seine eigenen Regeln
und Teilnehmerrollen. Auf diese Weise entsteht, meist mit dem beginnenden
Schulalter, ein autobiographisches Gedächtnis, das kulturell geformt und voll
von selbstbezogenen Ereignissen und Bedeutungen ist.“62
Nelson folgend, kann man feststellen, dass das Kind verschiedene Rollen annimmt, je
nach dem, wo und mit wem es seine Zeit verbringt. Es beginnt sich also aus der
Perspektive anderer Menschen wahrzunehmen und wie Pohl bemerkte, die
Einschätzungen über sich selbst von den anderen zu übernehmen. Auch deswegen
gelten die Selbstbeschreibungen der Kinder im Alter von 4 – 7,5 Jahren als realistisch.63
Ab dem 12 Lebensjahr, als die unbelastete Zeit der Kindheit vorbei ist, kommt es zur
weiteren Entwicklung des Selbstkonzeptes. Grund dafür sind teilweise die von außen
(Eltern, Lehrer, Freunde) bestehenden Anforderungen, sich zu definieren, die Rollen zu
übernehmen und in die Beziehungen einzugehen. Hinzu kommen psychische
Reifungsprozesse (Pubertät), erste sexuelle Kontakte und schließlich Ziele, die sich das
61
Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: W.
Kolhammer 2007, S. 116.
62
Nelson, K.: Erzählung und Selbst, Mythos und Erinnerung: Die Entwicklung des autobiographisches
Gedächtnisses und des kulturellen Selbst. In: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und
Lebensverlaufsanalysen 15/2002, S. 245.
63
Vgl. Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: W.
Kolhammer 2007, S. 97.
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
Ich selbst setzt. Für die Zusammenfassung dieser Periode eignen sich am besten die
Worte von Vera King, die meint, dass:
„(…) adoleszente Entwicklung (…) von der Auseinandersetzung mit der
Möglichkeit geprägt [ist – M.B.], aus der Position des Kindes in die Position der
Eltern einzutreten, vom Schüler zum Lehrer, vom Lehrling zum Meister im
konkreten wie metaphorischen Sinne. Adoleszenz ist (…) als ein
Bildungsprozess und Entwicklungsraum zu verstehen, in dem ein generativer
Umschlag vorbereitet wird und insofern immer auch schon stattfindet (…).“64
Die zentrale Frage der Jugend ist also nichts anders, als die feste Etablierung innerhalb
der Gesellschaft und dadurch die Bildung der Identität. Laut der Theorie von Pinquart
und Silberreisen ist dieser Prozess durch die Verbesserung des abstrakten Denkens
unterstützt, was nicht ohne Bedeutung für die Selbstwahrnehmung ist. 65 Wie das John
Korte feststellte, gewinnen die Adoleszenten einen Standpunkt, „(…) von dem aus man
erkennen kann, wie die unterschiedlichen Episoden des Lebens miteinander verknüpft
sind, wie Geschichten aus einem Leben zur Geschichte des Lebens werden.“66 Die
einzelnen, chaotisch gesammelten Erinnerungen aus der kindlichen Periode scheinen
endlich
eine
chronologische
Reihenfolge
zu
gewinnen
und
dadurch
die
Lebensgeschichte zu bilden, die das Ich aus einer zeitlichen Perspektive beobachten
kann. Die Anforderungen der Gesellschaft und Diskrepanzen in dem sich entwickelnden
Selbst67 können jedoch psychische Konflikte und Belastungen hervorrufen. Dass diese
Konflikte wirklich dramatisch sein können, zeugt die Tatsache, dass eine eingehende
Rekonstruktion
der
adoleszenten
Vergangenheit
in
den
psychoanalytischen
Behandlungen häufig nicht möglich ist. Die massiven Stimmungsschwankungen und
abrupten Veränderungen des Verhaltens werden oft als Affekte nachhaltig verdrängt.68
64
King, V.: Die Entstehung des Neuen in der Adoleszenz. Individuation, Generativität und Geschlecht in
modernisierten Gesellschaften. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2004, S. 55.
65
Vgl. Pinquart, M./ Silberreisen, R.K.: Das Selbst im Jugendalter. Zitiert nach: Pohl, R.: Das
autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: W. Kolhammer 2007, S.
98.
66
Korte, J.: Der Strom der Erinnerung: Wie das Gedächtnis Lebensgeschichte schreibt. Zitiert nach: Pohl, R.:
Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: W. Kolhammer 2007,
S. 99.
67
„Der Jugendliche hat einen erwachsenen Körper und verfügt über eine sexuelle und kognitive Reife. Er ist
voll von Stolz auf sein Erwachsensein, seine Stärke, andererseits aber auch voll von Angst und Schuldgefühlen
wegen seiner regressiven Wünsche.“ (Bohleber, W.(Hrsg.): Adoleszenz und Identität. Stuttgart: Verlag
Internationale Psychoanalyse 1996, S.36.)
68
Vgl. Bohleber, W.(Hrsg.): Adoleszenz und Identität. Stuttgart: Verlag Internationale Psychoanalyse 1996, S.
7-8.
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
Eine spezifische Eigenschaft im Entwicklungsprozess der Adoleszenten ist das Agieren.
Diese Erscheinung ist mit dem Bedürfnis des Jugendlichen verbunden, sich aus der
mütterlichen Obhut zu befreien. Agieren im mnemonischen Sinne ist nichts anders, als
sich Familiengeheimnisse, verbotene Erinnerungen oder von den Eltern verleugnete
Ereignisse zu erinnern.
„Es ist der Versuch des Jugendlichen, die gestörte Wirklichkeit
wiederherzustellen bzw. seine unverarbeitete traumatische Vergangenheit zu
bewältigen. Der Heranwachsende ist bestrebt, eine zeitliche und historische
Kontinuität in seinem Selbsterleben zustande zu bekommen.“ 69
Zusammenfassend kann man sagen, dass das Agieren dem Adoleszenten verhilft, sein
Selbst zu definieren. Wenn es an diesem Vorgang fehlt, dann kann es zu einer
psychischen Krise kommen. Einen Beispiel dafür hat Dori Laub in „Der Prokreativen
Vergangenheit: Das Fortleben historischer Traumatisierungen“ angeführt. Ein Mann
konnte nämlich keine intimen Beziehungen bauen, weil ihm die Mutter nicht erzählen
wollte, was mit seinem Vater geschah. Als Kind versuchte er zwar dieses Geheimnis zu
lösen, konnte aber nicht, weil es ihm an den genaueren Informationen fehlte.70
Bei der Untersuchung des Gedächtnisses in der Kindheit und in der Adoleszenz muss
man
bedenken,
dass
die
meisten
Erinnerungen
gerade
aus
diesen
zwei
Lebensabschnitten stammen. Mit dem zunehmenden Zeitabstand nimmt die Häufigkeit
der Erinnerungen ab - Vergessenskurve71. Es kommt jedoch zur Abweichungen,
beispielsweise aus den ersten Lebensjahren gibt es keine Erinnerungen und aus dem
jüngeren Erwachsenalter finden sich deutlich mehr Erinnerungen als erwartet. Diese
Häufung erklärt man damit, dass in dieser Zeit mehr Meilensteine als in den anderen
Lebensabschnitten vorkommen.72
3.3. Gedächtnis im Alter
69
Bohleber, W.: Adoleszenz und Identität. Stuttgart: Verlag Internationale Psychoanalyse 1996, S. 35.
Vgl. Laub, D.: Die prokreative Vergangenheit: Das Fortleben historischer Traumatisierung. In: Welzer,
H.(Hrsg.): Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung. Hamburg: HIS Verlagsgesellschaft
2001, S.327-339.
70
Vergessenskurve – Ebbinghaus-Kurve, das Gelernte wird zunächst rasch, dann aber zunehmend
langsamer vergessen. (Vgl. Krüger, H. (red. Leitung): Schülerduden. Psychologie. Ein Lexikon zum
Grundwissen der Psychologie. Mannheim: Dudenverlag 2002, S.101.)
72
Vgl. Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart:
W. Kolhammer 2007, S. 102-103.
71
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
In den späteren Lebensjahren verspüren viele Menschen das Bedürfnis, sich häufiger
und intensiver mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen. Schacter in „Wir sind
Erinnerung“ begründet diese Verhaltensweise, durch den Versuch eine Einstellung zum
eigenen Leben zu finden, was sowohl dem Verständnis und der Integration des Selbst,
als auch der Vorbereitung auf den Tod dienen sollte.73 Man kann also behaupten, dass
die Erinnerungen an das frühere Leben die Versöhnung zwischen Vergangenheit und
Gegenwart unterstützen.
Pohl stellte fest, dass die Reflexion über das vergangene Leben beginnt schon im frühen
Erwachsenenalter und nimmt mit den Jahren zu. „Die Analyse der abgerufenen
Erinnerungen kann zu deren Erklärung und damit dem tieferen Verständnis der eigenen
Entwicklung beitragen (…).“74 Schwerpunkt der Lebensrückschau liegt deswegen darin,
die Vergangenheit in ein Ganzes zu integrieren. Als Bestimmungsstücke gelten hier
nicht nur die autobiographischen Erinnerungen, sondern auch die emotionalen und
motivationalen Komponenten, sowie der aktuelle soziale Kontext. In Praxis bedeutet
das, dass das Ergebnis der Rückschau nicht nur von den tatsächlichen Erlebnissen einer
Person abhängt, sondern auch von den damaligen Zielen und Möglichkeiten. Als
Auslöser für die Reflexion gelten vor allem die sog. dynamischen Perioden, in denen
ein stabiler Zustand verlassen wird. Besonders anfällige Phasen sind daher die
Adoleszenz, das mittlere Erwachsenenalter und das höhere Erwachsenenalter.75
Nach Meinung von Schacter verschwinden viele Lebensepisoden ganz aus dem
Gedächtnis. Die ältere Person ist jedoch in der Lage, die allgemeinen Umrisse seiner
Vergangenheit festzuhalten, genauso wie die wichtigsten Vorgänge, die sie zugestoßen
haben, beispielsweise Vorkommnisse des jungen Erwachsenenalters.76 Diese Altersstufe
ist, wie das Welzer formulierte: „(…) Phase der >>Reminiscence Bumps<<,
Erinnerungsberge, zu denen sich Inhalte auftürmen, die wir auch später noch
behalten.“77 Es werden damals viele Dinge zum ersten Mal erlebt - Besuch der
Universität, erste Arbeit, Verlassen des Elternhauses, Hochzeit oder Elternwerden.
73
Vgl. Schacter, D.L.: Wir sind Erinnerungen. Gedächtnis und Persönlichkeit. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt
1999, S. 477-480.
74
Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: W.
Kolhammer 2007, S. 136.
75
Vgl. Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart:
W. Kolhammer 2007, S. 136-138.
76
Vgl. Schacter, D.L.: Wir sind Erinnerungen. Gedächtnis und Persönlichkeit. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt
1999, S. 496.
77
Welzer, H.: Kriege der Erinnerung. In: Gehirn & Geist 5/2005, S. 44.
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
Diese und andere lebenswichtigen Begebenheiten bilden den Kern der Biografie. In der
Fachliteratur werden sie oft als Referenzpunkte bzw. Meilensteine bezeichnet. Sie gelten
als gewisse Orientierungszeichen, die durch umfangreiche Details geprägt sind und ein
gut organisiertes Netz bilden, dank dem ein rascher Zugriff zu den Erinnerungen
ausführbar ist.
„Zeitliche Orientierungspunkte besitzen eine aktive Rolle bei der Organisation
des autobiographischen Gedächtnisses. Die Effekte dieser Orientierungspunkte
können beim Enkodieren neuer Erinnerungen, bei der Konsolidierung und der
Rekonstruktion gespeicherter Erinnerungen sowie dem Abruf alter Erinnerungen
gesehen werden.“78
Das, was die Referenzpunkt – Erinnerungen von den anderen autobiographischen
Erinnerungen differenziert, ist also die gute Organisation und die zeitliche Datierung.
Wegen ihres emotionalen Charakters und durch die relativ häufige Wiederholung im
Gedächtnis werden solche Memoiren fest behalten. Diese Fähigkeit - das Netz von den
Fakten und Assoziationen nutzbar zu machen, bleibt auch im Alter weitgehend erhalten.
Es lassen sich allgemeine Eigenschaften festsetzen, die für das Speichern und das
Herbeirufen von Erinnerungen im hohen Erwachsenenalter typisch sind, beispielsweise
die länger zurückliegenden Ereignisse scheinen stabiler und reicher zu sein, sie sind
auch so real, wie in jüngeren Jahren. Die alten Erinnerungen gelten auch als statisch und
abgeschlossen. Man kann sogar sagen, dass sie gegen die Veränderungen
widerstandsfähig sind.79 Das lässt sich besonders beim Erzählen der Lebensgeschichten
beobachten. Die Erzählungen der Senioren sind meistens interessanter, spannender und
komplexer als die der jüngeren Erzähler. Schacter berichtet jedoch, dass wenn die
beiden Altersgruppen dieselbe Geschichte hören, die sie nicht kannten, erinnern sich die
älteren Probanden weniger und erzählen fehlerhafter als die jüngeren. Das bedeutet, die
Erinnerungen an die unlängst stattgefundenen Ereignisse sind vage und unvollständig.80
Infolgedessen können die kurz zurückliegenden Ereignisse nicht so intensiv erlebt
werden, wie das bei jüngeren Menschen vorkommt. Markowitsch und Welzer führen
hier ein Beispiel an: „(…) wer mit 16 Jahren über den einen zarten Kuß
78
in
Shum, M.S.: The role of temporal landmarks in autobiographical memory processes. Zitiert nach: Pohl, R.:
Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: W. Kolhammer
2007, S. 82.
79
Vgl. Welzer, H.: Kriege der Erinnerung. In: Gehirn & Geist 5/2005, S. 44.
80
Vgl. Schacter, D.L.: Wir sind Erinnerung. Gedächtnis und Persönlichkeit. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt
1999, S. 454 - 485.
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
Schwärmerei geriet, wird mit 46 Jahren derartiges Verhalten weit weniger romantisch
verarbeiten (…).“81 Das bedeutet, die Erinnerungsfähigkeit hängt zum Teil von Art der
Emotionen ab, durch die der Mensch geleitet wird. Diese Fertigkeit verursacht
seinerseits, dass die Erinnerungen für die Fälschung besonders auffällig sind.
Erzählungen anderer Personen, Filme und Romane, die zu Herzen gehen, können in das
individuelle Gedächtnis integriert werden. Dieses Phänomen bezeichnet man als
Quellenamnesie. Das Event wird als solches richtig erinnert, die Quelle aber, aus der es
stammt, wird verwechselt. Mit den Jahren wächst die Anfälligkeit und die fremden
Erlebnisse werden als Teil der eigenen Geschichte erinnert - Scheinerinnerungen bzw.
false
memory.
So
beispielsweise
erzählte
Ronald
Reagan82
während
des
Präsidentschaftswahlkampfs eine persönliche Geschichte aus dem Zweiten Weltkrieg,
die, wie sich später zeigte, Wiedergabe einer Szene aus dem Film „A Wing and a
Prayer“ war. Der amerikanische Präsident bemerkte die Fakten, nicht aber ihre Quelle.
Im Gedächtnis befinden sich Ereignisse, die faktisch nie stattgefunden haben, die jedoch
so glaubhaft erscheinen, dass sie als vergangene Erfahrungen behalten werden.83 Solche
Quellentäuschung passiert ganz oft im Alltag. Das ist Konsequenz der aktiven
Verarbeitung großer Menge von Informationen, die der Rezipient aus unterschiedlichen
Quellen, wie z.B. Fernsehen, Gespräche mit anderen oder Beobachtung kriegt. Diese
aufgenommenen Neuigkeiten interferieren miteinander so intensiv, dass die notwendige
Konsolidierung der Erlebnisse belastet und beeinträchtigt wird. Demnach weiß man,
dass es zu einem Geschehen gekommen ist, nicht aber woher man diese Information
hat.84
Ältere Menschen sind besonders auffällig für die Erinnerungsfälschung, Grund dafür
bilden sowohl die Vergesslichkeit, als auch Re-Enkodierung. Die Gedächtnisinhalte sind
nämlich immer wieder berufen, rekonstruiert und mit der aktuellen Stimmung, mit dem
aktuellen Stand integriert. So können nicht nur die aktuell rekonstruierten Erinnerungen,
81
Markowitsch, H.J./ Welzer, H.: Das autobiographische Gedächtnis. Hirnographische Grundlagen und
biosoziale Entwicklung. Stuttgart: C.H. Beck 2005, S. 244.
82
Ronald Reagan – 40. Präsident der USA (1891-89), mit seinem polit. Programm erstrebte er die Erneuerung
der internat. Führungsposition der USA v.a. im wirtschaftl. und militär. Bereich sowie die Stärkung des
Selbstbewusstseins der amerikan. Bevölkerung. (Vgl. Brockhaus Enzyklopädie, Mannheim: Brockhaus, 2006.
Bd. 22.)
83
Vgl. Welzer, H.: Krieg der Erinnerung. In: Gehirn & Geist 5/2005, S. 40-42.
84
Vgl. Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte . Stuttgart: W.
Kolhammer 2007, S. 41.
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
sondern auch das zugrunde liegende Gedächtnis verfälscht werden.85 Aleida Assmann
hat das Erinnern mit dem Übersetzen verglichen:
„Die Operation des Übersetzens von Erinnerungen bedeutet immer zugleich
auch Veränderung, Verlagerung, Verschiebung. Was einerseits als eine Form
ihres Lebendighaltens betrachtet werden kann, kann auch als eine Gefahr und
Bedrohung aufgefasst werden.“86
Diese Theorie bestätigt Vaillant, indem er ein Beispiel für die Wirkung der
Rekonstruktion auf die Erinnerungen angibt. Seiner Meinung nach, sind die Menschen
wie Raupen, die zu Schmetterlingen wurden und dann behaupten, dass sie in ihrer
Jugend kleine Schmetterlinge waren. Resümierend lässt sich sagen, dass das
Alterwerden und die damit verbundenen psychischen Prozesse die Menschen zu
unwillkürlichen Lügner machen.87
3.4 Emotionale und traumatische Erlebnisse
Wezler vergleicht die Emotionen zu Bewertungsoperatoren, die beurteilen, was gut oder
schlecht für die Menschen ist. Demnach sind sie für das Vermögen notwendig, die
Vergangenheit zu interpretieren – das Wichtige von dem Unwichtigen zu trennen.88
Emotionale bzw. traumatische Erlebnisse bleiben besonders gut in dem Gedächtnis
behalten. Sie sind imstande den Lebenslauf einer Person, ihr Verhalten, ihre
Einstellungen und Verständnis der Welt prägen. Demgegenüber werden alltägliche,
emotional neutrale Geschehnisse nur oberflächlich gespeichert und gehen schneller in
Vergessenheit. Pohl im „Autobiographischen Gedächtnis“ bestätigt diese These: „(...)
Emotionen [können – M.B.] für eine Fokussierung der Aufmerksamkeit sorgen (...).“89
Auch deswegen können Hochzeit oder Autounfall oft Jahre später noch sehr gut erinnert
werden. Bei den Menschen, die nicht mehr zu den Emotionen fähig sind, ist laut
Markowitsch, das Gedächtnissystem stark zerstört. Da diese Personen die eingehenden
Reize nicht emotional färben können, können sie auch nicht entscheiden, was für ihre
85
Vgl. Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart:
Verlag W. Kolhammer 2007, S. 149.
86
Assmann, A.: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München:
C.H. Beck 2006, S. 124.
87
Vgl. Vaillant, G.E.: Adaptation of live. Zitiert nach: Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die
Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: W. Kolhammer 2007, S. 149.
88
Vgl. Wezler, H.: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München: C.H. Beck 2002,
S. 145.
89
Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: W.
Kolhammer 2007, S. 76.
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
Erinnerungen wichtig ist.90 Emotional gefärbtes Material wird also im Allgemeinen
besser behalten als ein neutrales. Ereignisse, die unerwartet vorkommen und mit starken
Gefühlen verbunden sind, können sich wie bei einem Blitzlicht-Foto ins Gedächtnis
einbrennen. Der Moment wird mit allen Details unverändert festgehalten, sodass die
Erinnerungen auch nach Jahren detailliert sind. Dabei geht es vor allem um die
Umstände, unter denen man von dem Ereignis erfahren hat. 91 Dieses Phänomen wird
flash-bulb-memories
(Blitzlicht-Gedächtnis)
genannt.
Schacter
in
„Wir
sind
Erinnerung“ gibt ein Beispiel für solche Erinnerungsart an. Er berichtet nämlich, wie er
von Kennedys Ermordung92 erfahren hat. Er war erst sieben Jahre alt und wusste nicht,
was tatsächlich passierte, trotzdem erinnert er sich genau, was er in diesem Moment
fühlte und was seine Familie damals machte. Das relativ gute Gedächtnis für derartige
Erlebnisse kann dadurch erklärt werden, dass man so etwas nicht alle Tage erlebt – es
ist eine Unterbrechung der alltäglichen Routine. Dem Ereignis wird also besonders viel
Aufmerksamkeit geschenkt.93 In der Regel sind die Menschen aber nicht persönlich
betroffen, sie sind eher „Zuschauer“. Nach McCloskey kann das verursachen, dass
solche Erinnerungen nicht frei von Vergessen oder Verfälschungen sind:
„(...) Erinnerungen an die Umstände, unter denen man von einem
überraschenden, folgenreichen Ereignis erfahren hat, [unterliegen- M.B.]
rekonstruktiven Verfälschungen (...) und (...) die Menge der aus dem
Gedächtnis abrufbaren Informationen [nimmt – M.B.] über die Zeit ab.“94
Diese These bestätigen auch Neisser und Harsch, die eine Umfrage unter den Studenten
nach Explosion der Challenger- Raumfähre95 durchgeführt haben. Es stellte sich heraus,
dass ein paar Tage nach der Explosion alle Befragten imstande waren, die Details
Vgl. Lenzen, M./ Lessmöllmann, A.: Die Sache mit dem geblümten Kleid – Interview mit H.J. Markowitsch.
In: Gehirn & Geist 5/2005, S. 48.
90
91
Vgl. Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart:
W. Kolhammer 2007, S. 76.
92
Kennedys Ermordung – Dallas, 22.11.1963. die Hintergründe für seine Ermordung wurden bisher nicht
restlos aufgeklärt. Dem immer wieder angezweifelten Bericht der >>Warren-Kommission<< (1964),
wonach Lee Harvey Oswald als polit. Einzelgänger der alleinige Attentäter gewesen sei, steht die
Feststellung eines Sonderausschusses des Kongresses (1976-79) gegenüber, dass an der Ermordung K.s
wahrscheinlich zwei Schützen beteiligt waren und es sich sowohl um eine Verschwörung handelte. (Vgl.
Brockhaus Enzyklopädie, Mannheim: Brockhaus, 2006. Bd.14.)
93
Vgl. Schacter, D.L.: Wir sind Erinnerrung. Gedächtnis und Persönlichkeit. Reinbek bei Hamburg:
Rowohlt 1999, S. 317.
94
McCloskey/ Wible/ Cohen: Is her a special flashbulb-memory mwchanism? Zitiert nach: Pohl, R.: Das
autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: W. Kolhammer
2007, S. 75.
95
Explosion der Callenger-Raumfähre – Raumtransporter der NASA, der beim 10. Start am 28.01.1986
mit sieben Astronauten an Bord explodierte, 73 Sekunden nach dem Abheben von Cape Canaveral. (Vgl.
Brockhaus Enzyklopädie, Mannheim: Brockhaus, 2006. Bd.5.)
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
anzugeben. Nach ein paar Monaten aber erinnerten sich die Studenten nur die Teile
korrekt, und einige sogar alles falsch.96 Kurz gesagt, das Ereignis an sich, wird ziemlich
genau erinnert, die Umstände aber nicht unbedingt.
Anders sieht die Situation bei den traumatischen Erlebnissen:
„Ein echtes Trauma entsteht im Prinzip nur dann, wenn man selbst betroffen ist.
In der Regel sind dies Ereignisse, die extreme Angst auslösen, beispielsweise
wenn man Zeuge bzw. Opfer von Gewalttaten ist, eine Naturkatastrophe
überlebt oder einen schweren Unfall erleidet.“97
Für Pohl ist das Trauma dementsprechend ein schmerzhaftes, lebensbedrohendes oft
unverständliches Erlebnis, das eine Person selbst erlebt hat. Man stellte auch fest, dass
die Erinnerungen der Menschen, die persönlich betroffen wurden, weniger Fehler
aufweisen, als die von Zeugen. Die Genauigkeit traumatischer Erlebnisse hat Schacter
zusammengefasst, indem er schriebt: „Wenn jemand wirklich ein Trauma erlebt hat,
wird
der
innerste
Kern
dieser
Erfahrung
fast
immer
genau
erinnert;
Gedächtnistäuschungen betreffen, wenn sie denn auftreten, fast immer bestimmte
Einzelheiten.“98 Die betroffenen Personen erinnern sich oft völlig genau an das zentrale
Moment des traumatischen Ereignisses, vergessen aber die peripheren Details. Zeugen
eines Verbrechens können beispielsweise sehr genau ein zentrales Detail des
Geschehens - die Waffe beschreiben. Informationen über periphere Details sind
dagegen eher ungenau, man weißt beispielsweise nicht, wie der Aggressor aussah.
Diesen Prozess nennt man Waffeneffekt.99
Manchmal aber sind die Erlebnisse so schmerzhaft, dass sie nicht verarbeitet werden
können. Sie geraten scheinbar in Vergessenheit. Aleida Assmann charakterisiert diesen
Zustand so:
„Um das Ereignis überleben zu können, kommt ein psychischer
Abwehrmechanismus zur Anwendung, den die Psychiater <Dissoziation>
nennen. Damit ist die unbewusste Strategie einer Abspaltung gemeint, durch die
96
Vgl. Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart:
W. Kolhammer 2007, S. 74.
97
Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: W.
Kolhammer 2007, S. 75.
98
Schacter, D.L.: Wir sind Erinnerung. Gedächtnis und Persönlichkeit. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt 1999,
S. 337.
99
Schacter, D.L.: Wir sind Erinnerung. Gedächtnis und Persönlichkeit. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt 1999,
S. 339.
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
das bedrohliche Erlebnis vom Bewusstsein der Person ferngehalten wird. Das
Ereignis wird zwar registriert, aber gleichzeitig werden die Brücken zum
Bewusstsein abgebrochen.“100
Man kann dementsprechend sagen, dass die Dissoziation eine Art Amnesie, eine
gestörte Informationsverarbeitung ist. Die Erlebnisse werden hier ohne Verbindung zu
Ich gespeichert. Die Pforten der Wahrnehmung werden also automatisch geschlossen,
um das Bewusstsein zu schützen, sonst konnten die Rahmen der Identitätskonstruktion
einer Person zusammenbrechen. Diese Theorie bestätigt Saß, indem er schreibt, dass
sich die Dissoziation „(...) in einer oder mehreren Episoden [zeigt – M.B.], in denen
eine Unfähigkeit besteht, sich an wichtige persönliche Informationen zu erinnern
(...).“101 Kaszniak, Nussbaum, Berren und Santiago präsentieren in ihrem Beitrag
„Amnesia as a consequence of male rape: A case raport“ Fall eines jungen Mannes, der
sich nicht erinnern konnte, wie er heißt und wer er ist. Wusste aber, dass er vor kurzem
in der Stadt war und einen Selbstmord begehen wollte. Nach der Therapie erinnerte er
sich endlich sowohl ihren Namen und Lebensgeschichte, als auch ein vor kurzem
erlebtes Trauma - Sexualmissbrauch.102 Man kann diesen Fall als ein Beweis für
Schutzfunktion der Amnesie interpretieren. Es ist eine Reaktion auf die Schuld- und
Schamgefühle der Opfer. Aleida Assmann vergleicht den Prozess der Dissoziation mit
Beisetzung der Erinnerungen in eine Krypta: „Was in der Kapsel oder Krypta
verschlossen ist, wird aber nicht etwa vergessen, sondern im Abseits konserviert und
macht sich nach einem gewissen zeitlichen Interwall durch eine bestimmte
Symptomatik bemerkbar.“103 Das bedeutet, dass das Trauma nicht in Wirklichkeit
vergessen wird, sondern es sind Zeiträume, in denen man an das Trauma nicht denken
muss. Diese Zeiten erscheinen aber retrospektiv so aus, als ob man die schrecklichen
Erlebnisse vergessen hatte. Manchmal auftauchen traumatische Geschehnisse –
wiedererlangte Erinnerungen entweder mithilfe einer Therapie oder zufällig, durch
spezifische Hinweisreize, die in der Verbindung mit der damaligen Situation stehen.104
100
Assmann, A.: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München:
C.H. Beck 2006, S. 93-94.
101
Saß, H./ Wittchen, H.U./ Zaudig, M.: Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen.
Zitiert nach: Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte.
Stuttgart: W. Kolhammer 2007, S. 204.
102
Vgl. Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte.
Stuttgart: W. Kolhammer 2007, S. 204-205.
103
Assmann, A.: Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen. Berlin: Erich
Schmidt 2006, S. 188-189.
104
Vgl. Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte.
Stuttgart: W. Kolhammer 2007, S. 77.
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
Wezler führt ein Beispiel dafür an, indem er die Verhaltensweise der Opfer eines
Autounfalls präsentiert. Der klingelnde Hupfton verursacht nämlich bei den
Autounfallopfern
die
Muskelspannung,
den
veränderten
Blutdruck
und
die
beschleunigte Herzfrequenz. Das Signal löst also die Erinnerung an den Unfall aus. Das
Widererleben von Trauma wird durch körperliche Symptome veranschaulicht.105 Zu den
Kennzeichen der Dissoziation gehören auch: Träume, Flashbacks oder körperliche
Reaktionen. Bemerkenswert ist noch die Tatsache, dass bei den häufig lokalisierten
Amnesien entweder ganz spezifische Zeitabschnitte (Stunden oder Tage) oder
spezifische Einzelheiten aus einer Periode, wie z.B. Gesicht des Täters ausgeblendet
werden.
4. Rhetorik des Gedächtnisses
Die Rekonstruktion von vergangenen Ereignissen gehört zu den zentralen Themen der
neuesten deutschsprachigen Literatur. Sowohl ein Groschenroman als auch die
kanonisierte Hochliteratur stehen in der neuesten Theorie des kulturellen Gedächtnisses
als Dokumente, neben den anderen kulturellen Artefakten wie z.B. Gesetztexte oder
politische Traktate.106 Nach Meinung von Erll kann die Rhetorik einen Einfluss auf die
Betrachtung der Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses haben. Diese wird
als „die Gesamtheit der Formen und Verfahren eines literarischen Textes“107 verstehen.
Sie findet ihren Ausdruck in fünf unterschiedlichen Modi, hierzu gehören:
erfahrungshaftiger, monumentaler, historisierender, antagonistischer und reflexiver
Modus. Alle Modi gelten als „Ensemble textueller Darstellungsverfahren“108, das heißt,
sie können durch solche literarischen Formen ausgedruckt werden, wie z.B.
paratextuelle Gestaltung, Intertextualität, Erzähldiskurs, Raum- und Zeitdarstellung. In
diesem Abschnitt werden nur drei von den erwähnten Modi besprechen, nämlich der
erfahrungshaftige, monumentale und reflexive Modus.
105
Vgl. Welzer, H.: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München: C.H. Beck 2002,
S. 147-151.
106
Vgl. Erll, A./ Roggendorf, S.: Kulturgeschichtliche Narratologie: Die Historisierung und
Kontextualisierung kultureller Narrative. In: Nünning, A./ Nünning, V.: Neue Ansätze in der
Erzähltheorie. Trier: WVT – Wissenschaftlicher Verlag 2002, S. 80.
107
Erll, A: Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses. In: Erll, A./ Nünning, A. (Hrsg.):
Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven.
Berlin, New York: de Gruyter 2005, S. 268.
108
Erll, A.: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler
2005, S. 168.
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
4.1. Erfahrungshaftiger und monumentaler Modus
„Im erfahrungshaftigen Modus erscheint das Erzählte als Gegenstand des
alltagsweltlichen kommunikativen Gedächtnisses.“109 Mit anderen Worten, es werden
hier die kulturell-autobiographischen Erinnerungen präsentiert. Dieser Modus realisiert
sich also durch die Inszenierung partikularer Erfahrungen von Individuen und sozialen
Gruppen. In seinem Rahmen werden sowohl das Denken, Fühlen und Handeln der
Figuren (spezifische Erfahrungen), als auch bestimmte Orte, Zeitpunkte, Verhaltens –
und Redeweisen (lebensweltliche Details) geschildert. „Der erfahrungshaftige Modus
zeichnet sich durch Verfahren aus, die Alltagshaltigkeit, sinnlicher Erfahrungsspezifität
und Authentizität suggerieren.“110 Auf diese Weise wird der Leserschaft die sinnliche
Wahrnehmung der literarischen Welt ermöglicht.111
Als nächster literarischer Vergangenheitsregister gilt der monumentale Modus. Das
Dargestellte erscheint hier als „(…) verbindlicher Gegenstand eines übergreifenden
kulturellen (nationalen, religiösen) Sinnhorizonts, als Mythos des verbindlichen
kulturellen Gedächtnisses.“112 Das literarische Werk ist also nichts anders als das
traditionshaltige und sinnstiftende Medium. Der Text beinhaltet eine Art Botschaft, die
die Gegenwart überdauern und noch in der Zukunft verständlich sein sollte. Dieser
These ist zu folgen, denn auch Aleida Assmann stellte fest: „(…) Texte und andere
kulturelle Artefakte dürfen als Monumente verstanden werden, wenn sie über die
Eigenschaft der Stilisierung hinaus eine an die Mit- und Nachwelt gerichtete Botschaft
kodieren.“113 In der Assmannschen Terminologie werden also die literarischen Texte zu
Verewigungsmedien, die das Kultursujet speichern und übermitteln.114
109
Erll, A.: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler
2005, S. 168.
110
Erll, A: Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses. In: Erll, A./ Nünning, A. (Hrsg.):
Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven.
Berlin, New York: de Gruyter 2005, S. 268.
111
Vgl. Erll, A.: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart, Weimar: J.B.
Metzler 2005, S. 169-176.
112
Erll, A.: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler
2005, S. 168.
113
Assmann, A.: Kultur als Lebenswelt und Monument. Zitiert nach: Erll, A.: Kollektives Gedächtnis und
Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler 2005, S. 170.
114
Vgl. mehr dazu in: Assmann, A.: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen
Gedächtnisses. München: C.H. Beck 2006, S.179-190.
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
Beide Modi sind miteinander eng verbundene, ineinander greifende Formen. Durch ihre
Vernetzung erfüllen die literarischen Texte erinnerungskulturelle Funktionen: erstens
werden die Elemente des kulturellen Gedächtnisses um die Erfahrungshaftigkeit
bereichert und dadurch kehren sie in die Gegenwart zurück, zweitens werden die
individuellen und kommunikativen Erfahrungen, die in der außerliterarischen
Wirklichkeit gesammelt wurden, exemplarisch als Gegenstand des kulturellen
Gedächtnisses kodiert. Treffsicher hat diese Koexistenz Astrid Erll charakterisiert:
„Das Oszillieren zwischen beiden Modi dient im literarischen Text daher der
Überführung alltagsweltlicher Erinnerung in kulturelles Gedächtnis ebenso wie
der Anreicherung von Inhalten des kulturellen Gedächtnisses durch
Erfahrungshaftigkeit.“115
Zusammenfassend lässt sich sagen, die individuellen und kommunikativen Erfahrungen
machen das kulturelle Gedächtnis lebhafter und gleichzeitig schonen sich selbst vor
dem Vergessenwerden durch das Eindringen in das kulturelle Gedächtnis.
In einem Text sind die beiden Modi durch die Art und Weise der literarischen
Darstellung zu unterscheiden. Wichtige Rolle spielen dabei: Selektionsstruktur (der
Text kann auf den kulturellen oder kommunikativen Gedächtnisrahmen basieren),
paratextuelle Gestaltung (durch Mottos und Sprüche wird die kulturelle Tradition
gerufen), Intertextualität (der Text nimmt Bezug auf die anderen klassischen
Literaturwerke),
Interdiskursivität
(die
sprachlichen
Besonderheiten,
wie
die
alltagssprachlichen oder archaischen Ausdrücke stiften den einen oder den anderen
Modus), schließlich Intermedialität (Bezugnahme auf die privaten Fotos und
Tonbandaufnahmen, oder auf die heiligen Schriften und Denkmäler macht den einen
oder anderen Modus zur Dominante).
Relevant
sind
auch
solche
Aspekte,
wie
erzählerische
Vermittlung,
Innenweltdarstellung und Raum- und Zeitdarstellung.
 Im Fall der erzählerischen Vermittlung hängt der Modus von Art der
Erzählinstanz ab. Der auktoriale Erzähler wird mit dem Träger des kulturellen
Gedächtnisses identifiziert, denn er kann „(…) das Erzählte im Fernhorizont der
115
Erll, A.: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler
2005, S. 175.
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
Vergangenheit und Zukunft einer Kultur verorten.“116 Wiederum bei dem IchErzähler (I-as-witness) wird der Text zur typischen Kommunikationssituation,
was gleichzeitig zur Stiftung des kommunikativen Gedächtnisses führt.
 Zu den besonderen Leistungsvermögen der erinnerungskulturellen Literatur
gehört auch die Innenweltdarstellung. Die interne Fokalisierung trägt nämlich
zur Präsentation der Felderinnerungen. Gedankenberichte, erlebte Rede oder
innerer Monolog können aber auch zum Gegenstand des kulturellen
Gedächtnisses werden, denn sie verfügen über das Privileg, das auszudrücken,
was normalerweise nichtartikulierbar ist, also
die traumatischen und
emotionalen Erlebnisse.
 Als
letztes
literarisches
Darstellungsverfahren
gilt
die
Raum–
und
Zeitdarstellung. Nach Erll gehören die raum-zeitlichen Konnotationen zu den
sozialen Rahmen, in denen alltägliche Lebenserfahrungen verortet sind. Wenn
sich die Räume aber um eine zusätzliche symbolische Dimension bereichern,
dann gehen sie gleichzeitig in das kulturelle Gedächtnis.117
4.2. Reflexiver Modus
Neben den zwei schon erwähnten Modi, existiert noch der reflexive Modus. Er kommt
zum
Vorschein,
wenn
„das
literarische
Werk
eine
erinnerungskulturelle
Selbstbeobachtung ermöglicht.“118 Das Augenmerk wird auf die Gedächtnisreflexion
gelenkt. Dieser Modus wird durch diese Darstellungsverfahren erstellt, die den
literarischen Text zum Beobachtungsmedium zweiter Ordnung machen. Es werden hier
nämlich die Probleme und Funktionsweisen des kollektiven Gedächtnisses inszeniert,
was der Leserschaft die Teilnahme an der distanzierten Beobachtung von
Erinnerungskulturen ermöglicht.119
116
Erll, A.: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler
2005, S. 172.
117
Vgl. mehr dazu: Assmann, A.: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen
Gedächtnisses. München: C.H. Beck 2006, S. 298-343.
118
Erll, A.: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler
2005, S. 168.
119
Vgl. Erll, A.: Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses. In: Erll, A./ Nünning, A. (Hrsg.):
Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven.
Berlin, New York: de Gruyther 2005, S. 269.
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
Im Rahmen dieses Modus unterscheidet man zwei Arten der Darstellungsverfahren:
erstens die explizite Thematisierung und zweitens die implizite Inszenierung der
Beobachtung von Erinnerungen. Zu den impliziten Verfahren gehören sowohl die
sprachlichen (Metaphorik) und strukturellen (Multiperspektivität) Besonderheiten, als
auch die Präsentation der Bildung und der Kontinuation des kollektiven Gedächtnisses
auf der Handlungsebene. Die Schilderung von Ritualen oder Reflexionen der Figuren
über Vergangenheit zwingen den Leser zum Nachdenken über das kollektive
Gedächtnis. In der expliziten Reflexion wird seinerseits der Zusammenhang zwischen
der Kultur und dem Gedächtnis mithilfe der Figuren- und Erzählerrede, oder durch die
Formen der Bewusstseindarstellung präsentiert. Dabei kann es um die sozialen Rahmen
der individuellen Erinnerungen und des Generationengedächtnisses, oder um die
Selektivität und die Anordnungsmuster von der Gedächtnisnarration gehen.120
Auf der Ebene der erzählerischen Vermittlung gibt es drei Darstellungsverfahren, die
besonders gedächtnisreflexive Leistungsfähigkeiten aufweisen:
 Mit der Ich-Erzählung hat man vor allem in den Memoiren, Autobiographien
und autobiographischen Romanen zu tun. In solchen Texten präsentiert die
Instanz eines „gealterten, rückschauenden, kommentierenden, analysierenden,
wertenden und damit sinnstiftenden erzählenden Ich“121 dem Leser die
soziokulturell geprägten individuellen Erinnerungen. Bemerkenswert ist dabei,
dass die literarische Darstellung der Rekonstruktion und die Aneignung der
Vergangenheit eine Reflexion über den Zwiespalt zwischen den Erinnerungen
und den tatsächlich vergangenen Ereignissen verursachen kann.
 Als eine Sonderform der Ich-Erzählung gilt das unzuverlässige Erzählen122.
Schilderung der Unstimmigkeit von Erinnerungen, Gedächtnislücken oder
Schwierigkeiten beim Abruf verursachen die Authentisierung der Erzählung,
denn „Vergessen und Verdrängen gehören zur menschlichen Erinnerung.“123
120
Vgl. Erll, A.: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart, Weimar: J.B.
Metzler 2005, S. 185 - 186.
121
Erll, A.: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler
2005, S. 186.
122
Mehr dazu: Kap. 5.3.2.
Erll, A.: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart, Weimar: J.B.
Metzler 2005, S. 187.
123
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
Das aber, was erinnert und erzählt wird, muss überzeugend wirken, „um
gedächtnisbildende Wirkung zu entfalten.“124
 Letztes wesentliches Darstellungsverfahren ist die Muliperspektivität. In diesem
Fall werden sowohl die privaten, als auch die öffentlichen Ereignisse durch eine
multiperspektivische Fokalisierung vermittelt. Das heißt jedes Ereignis kann
unterschiedliche Versionen haben, je nach dem aus Perspektive welcher Figur
präsentiert wird. Gleichzeitig ist jede Äußerung der Protagonisten für die
Weltauffasung der ganzen Gruppe repräsentativ.125
5. Inszenierung der Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Hauten der Zwiebel“
In diesem Kapitel wird der Versuch unternommen, das erinnerungs-kulturelle und
psychologische Wissen in der Praxis zu beweisen. Durch die Untersuchung
narratologischer Mittel, wie z.B. Raum- und Zeitdarstellung oder Erzählinstanz wird
geprüft, nicht nur was, sondern auch wie erinnert wird. Am Beispiel des Romans von
Grass sollen auch solche Aspekte des individuellen Gedächtnisses analysiert werden,
wie z.B. Unzuverlässigkeit der Erinnerungen, Gedächtnisstützen und Struktur des
Gedächtnisses.
5.1. Zum Inhalt
Mattias Hoening aus „Spiegel“ bezeichnet „Beim Häuten der Zwiebel“ als: „(…)
Kriegs- und Antikriegsbuch, Entwicklungs- und Heimatroman, Autobiografie und
literarische Annalen einer Zeit des historischen Umbruchs.“126 In dem Roman
beschreibt Grass seine Jugendjahre vom Kriegsbeginn bis zur Veröffentlichung des
Bestsellers "Die Blechtrommel”. Das 480 Seiten umfassende Buch handelt von Kindheit
in Danzig, Zeit in dem Uniform, Mitgliedschaft in Waffen-SS, amerikanischer
Kriegsgefangenschaft, Berliner und Pariser Nachkriegsjahren. Neben den persönlichen
124
Erll, A.: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler
2005, S. 187.
125
Vgl. Erll, A.: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart, Weimar: J.B.
Metzler 2005, S. 187-188.
Hoenig, M. (16.08.2006): Grass „Beim Häuten der Zwiebel“. Ein literarisches Meisterwerk.
http://www.stern.de/unterhaltung/buecher/:Grass%27-Beim-H%E4uten-Zwiebel-EinMeisterwerk/567814.html (Zugriff am 11.05.2009).
126
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
Erinnerungen, wie z.B. Tod der Mutter, Sammeln der Bilder, erste Frauenerfahrungen,
Auslandsreisen per Autostop und Studentenleben, wurden auch die historischen
Ereignisse präsentiert. „Beim Häuten der Zwiebel" ist wie ein Archiv der deutschen
Geschichte, in dem Hitlers Überfall auf Polen, Umbruch von Nazi-Diktatur zur
demokratischen
Bundesrepublik,
dramatisches
Schicksal
der
Vertriebenen,
Währungsreform, Adenauer-Ära und die Gegenwart dargestellt wurden. Der Autor mit
einer sichtbaren Distanz präsentiert nicht nur sein eigenes Leben, sondern auch Leben
seiner Nächsten, also Geschichte der eigenen Familie, tragisches Lebensende von Paul
Celan127 oder Kriegserlebnisse seiner Schulkameraden. In der Prosa kommen neben den
Zusammenfassungen der in der Kindheit gelesenen Bücher, Fragmente des
„Simplicissimus“ von Grimmelshausen und seiner eigenen Werken vor. Im
Allgemeinen lässt sich sagen, dass „Beim Häuten der Zwiebel“ Geschichte von
Schriftstellerwerden ist. Es wurden hier beispielsweise zahlreiche Details gegeben, wie
die Erfahrungen, Personen und Vorkommnisse aus dem wirklichen Leben des Autors in
die epischen Werke transformiert wurden. Dazu wurden die Erinnerungslücken mithilfe
der Phantasie gedeckt, so dass der Roman als „(…)bunte Mischung aus Fakten und
Imagination - eine Art Doku-Fiction“128 gelten kann, so beispielsweise behauptet Grass
in einem Kriegslager den Papst Benedikt XVI kennen gelernt zu haben und mit dem
Jazzmann Louis Armstrong129 zusammengespielt zu haben.
5.2. Zur Textanalyse
Nach Meinung von Astrid Erll kann die Literatur als Darstellungsform des
Gedächtnisses bezeichnet werden. Literarische Mittel, wie z.B. Erzähler oder
Zeitdarstellung weisen „besonders gedächtnisaffene“ Eigenschaften auf.130 Auch
deswegen wird hier die Analyse dieser Eigenschaften, sowie der Struktur des Romans
Paul Celan – eigentl. Paul Antschel, geb. in Czernowitz in Bukowina (1920-1970); deutschsprachiger
Schriftsteller; stand unter dem Einfluss des französischen Surrealismus, auch Holocaust und eigene
jüdische Herkunft haben seine Werke thematisch gekennzeichnet. (Vgl. mehr dazu in: Steinecke,
H.(Hrsg.): Deutsche Dichter des 20. Jahrhunderts. Berlin: Erich Schmidt 1994, S. 635-651.)
128
Mohr, P. (17.08.2006): Die Geheimnisse im Bernstein. http://www.titelmagazin.de/modules.php?op=modload&name=News&file=article&sid=4909&mode=thread&order=0&t
hold=0 (Zugriff am 17.05.2009)
129
Louis Armstrong (1901-1971) - amerikan. Jazztrompeter und Sänger. Als Trompeter zeichnete er sich
durch virtuose Beherrschung seines Instruments und unerschöpflichen Reichtum in der Improvisationen
aus; als Vokalist trug er maßgeblich zur Entwicklung des Scatgesangs. (Vgl. Brockhaus Enzyklopädie,
Mannheim: Brockhaus, 2006. Bd.2.)
130
Vgl. Erll, A.: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart, Weimar:
Metzger 2005, S.71-72.
127
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
von Grass in Anlehnung an die narratologische Theorie durchgeführt. In dieser
Textuntersuchung werden neben den Fragen nach der paratextuellen Gestaltung die
Fragen nach Erzählinstanz, Raum- und Zeitdarstellung, also nach dem WIE
(discours)131 gestellt.
5.2.1. Zu Aspekten der Autobiographie
Es bleibt kein Zweifel daran, dass „Beim Häuten der Zwiebel” eine Autobiographie ist.
Günter Grass verfasst hier nämlich seine persönliche Lebensgeschichte. Davon zeugt
schon der Textanfang: „Ob heute oder vor Jahren, lockend bleibt die Versuchung, sich
in dritter Person zu verkappen: (…).“ (S. 7) Nach Meinung von Jochen Brems liegt dem
Subjekt der Autobiographie die Intention zugrunde „seine Erinnerungen, d.h. die von
ihm herstellten Sinn- und Bedeutungszusammenhänge seines Lebens mit der sozialen
Außenwelt zu kommunizieren.“132 Die persönlichen Erinnerungen werden demnach
mithilfe des sinnkonstituierenden Erzählers zu einem stabilen Ganzen zementiert, was
gleichzeitig die Geschlossenheit der geschilderten Vorkommnisse suggeriert. Das Buch
von
Grass
ist
dementsprechend
die
Geschichte
des
Gewordenseins
einer
schriftstellerischen Identität. Davon zeugt nicht nur die Reflexion des Erzählers am
Textende:
„So lebte ich fortan von Seite zu Seite und zwischen Buch und Buch. Dabei
bleib ich inwendig reich an Figuren. Doch davon zu erzählen, fehlt es an
Zwiebeln und Lust.“ (S. 479)
sondern auch die Aussagen, die sich in dem Roman ganz am Anfang befinden:
„Warum überhaupt soll Kindheit und deren so unverrückbar datiertes Ende
erinnert werden, wenn alles, was mir ab den ersten und seit den zweiten Zähnen
widerfuhr, (…) zu Zettelkram wurde, der seitdem einer Person anhängt, die,
kaum zu Papier gebracht, nicht wachsen wollte, Glas in jeder Gebrauchsform
zersang, zwei hölzerne Stöcke zur Hand hatte und sich dank ihrer Blechtrommel
einen Namen machte, der fortan zitierbar zwischen Buchdeckeln existierte und
in weißnichwieviel Sprachen unsterblich sein will?“ (S. 8)
131
Vgl. mehr dazu: Martinez. M./ Scheffel, M.: Einführung in die Erzähltheorie. München: C.H. Beck
2007, S. 20-27.
132
Brems, J: Unterrichtsfach: Biographie: Der autobiographische Text als Medium biographischer
Lernprozesse in der Erwachsenenbildung. Eine Studie. BoD – Books on Demand, 2002, S. 24.
http://books.google.de/books?id=yAHVVfzvDwIC&printsec=frontcover&source=gbs_v2_summary_r&c
ad=0 (Zugriff am: 22.06.2009).
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
Das hier angeführte Zitat ist nämlich eine direkte Anspielung auf „Die Blechtrommel“,
den ersten Roman von Grass, der ihm weltweiten Ruhm gebracht hat. Der Erzähler
erklärt hier auch, warum er Beschreibung der Jugendjahre für wesentlich hält. Selbst der
Titel weist darauf hin, dass „(…) der Autor sich Schicht um Schicht zu sich selbst
aufmacht (…)“133. Er schildert und kommentiert unterschiedliche Episoden aus eigenem
Leben, die zu seiner schriftstellerischen Tätigkeit beigetragen haben. Demnach lässt
sich sagen, dass sowohl der Anfang der Lebensgeschichte, als auch die Höhe- und
Wendepunkte aus einem bekannten Endpunkt gedeutet wurden, was der Wahrung
eigener Identität verhilft.134
Der Fokus der Autobiographie liegt auf den zeitlich zurückliegenden Erlebnissen.
Genauso wie im Prozess der individuellen Erinnerungen, kann bei der Verfassung einer
Autobiographie nur eine begrenzte Anzahl von den Vorkommnissen aufgenommen
werden. Das Bedeutsame wird von dem Unbedeutsamen unterschieden und aus der
großen Menge von Daten und Fakten werden nur einige Informationen ausgewählt.135
So beispielsweise findet man in „Beim Häuten der Zwiebel“ fast keine Informationen
zur Messdienst (S. 71), viele aber zu den geschriebenen oder gelesenen Werken:
„>>Kleckenburg<< heißt ein langes Gedicht, das ich Mitte der sechziger Jahre,
also zu einer Zeit schrieb, in der der vierzigjährige Vater dreier Söhne und einer
Tochter bereits bürgerlich gefestigt zu sein schien; (…) Das Gedicht handelt von
meinem Herkommen und vom Geräusch der Ostsee: >>In Kleckenburg gebürtig,
westlich von<<, und stellt Fragen: >>Geboren wann und wo, warum?<< Eine
den Verlust und das Gedächtnis als Fundbüro beschwörende Suada in
Halbsätzen: >>Die Möwen sind nicht Möwen, sondern<<.“ (S. 15)
Auffallend in diesem Fragment ist die Detailliertheit, mit der das Gedicht beschreiben
wurde. Zum Vorschein wurde nicht nur Inhalt des Poems gebracht, sondern es wurden
auch die einzelnen Strophen zitiert. Diese Wahl und Genauigkeit der Beschreibung
erklärt Pohl mit dem Phänomen subjektiver Wichtigkeit, dementsprechend behalten
bzw. beschreiben die Menschen vorrangig die Dinge, die für sie wichtig sind.136
133
Wesener, S. (05.09.2006): Beim Häuten der Zwiebel. Ein Erinnerungsbuch von Günter Grass.
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/literatur/523469/ (Zugriff am 18.05.2009).
134
Brems, J: Unterrichtsfach: Biographie: Der autobiographische Text als Medium biographischer
Lernprozesse in der Erwachsenenbildung. Eine Studie. BoD – Books on Demand, 2002, S. 24.
http://books.google.de/books?id=yAHVVfzvDwIC&printsec=frontcover&source=gbs_v2_summary_r&cad=0
(Zugriff am: 22.06.2009).
135
Erll, A.: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart, Weimar:
Metzger 2005, S. 144-147.
136
Vgl. Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte.
Stuttgart: Kohlhammer 2007, S. 33.
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
Bei der Analyse der Struktur des Textes erwähnenswert ist noch die Tatsache, dass die
Rückwendungen in chronologischer Reihenfolge präsentiert wurden.137 Die Memoiren
beginnen mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, als einem symbolischen
Schlusspunkt der Kindheit: „Auf engem Raum wurde meine Kindheit beendet, als dort,
wo ich aufwuchs, an verschiedenen Stellen zeitgleich der Krieg ausbrach.“ (S. 7) und
enden mit der Herausgabe des ersten Romans. Die inzwischen stattgefundenen
Ereignisse werden mithilfe des Rückblicks präsentiert und bilden eine Art Brücke
zwischen dem Vergangenen - self that was und dem Gegenwärtigen – self that is. Auf
diese Weise gewinnt der Leser einen genauen Überblick über die Mechanismen, die die
schriftstellerische Existenz des Autors geprägt haben.138 Der Rezipient erfährt
beispielsweise, dass die kaschubischen Verwandten, das Leben in Danzig und die
Arbeit in dem Steinmetzwerkstatt in den späteren literarischen Werken ihre
Widerspiegelung gefunden haben:
„Über Werkzeug wie Stockhammer, Bossier- und Scharriereisen wie über
Schlesischen Marmor, Belgisch Granit, Travertin und Muschelkalkstein habe
ich später, viel später ein ganzes Kapitel geschrieben, als es mir endlich möglich
wurde, mich Wort nach Wort auf Papier zu entleeren, (…).“ ( S. 284 - 285)
Solche Detailliertheit, genauso wie die Verwendung von den Lokaldialekten, die
Beschreibung von den vergangenen Orten und Zeiten stiften die Glaubwürdigkeit der
Autobiographie. In dem Buch von Grass sind zahlreiche Beispiele für diese Zeugnisse
der Vergangenheit zu finden, z.B. in der Wiedergabe des Kaschubischen: „>>Mecht ne
Zehnpfundje sein…<<“ (S. 40), oder in Beschreibung der NS-Tätigkeit:
„Blind für alltäglich werdendes Unrecht im nahen Umfeld der Stadt – zwischen
Weichsel und Haff, nur zwei Dörfer vom Nickelswalder Lansdchulheim des
Conradinums entfernt, wuchs und wuchs das Konzentrationslager Stutthof139-,
empörten mich einzig die Verbrechen pfäffischer Herrschaft und die Folterpraxis
der Inquisition.“ (S. 38 - 39)
137
Vgl. mehr dazu: Stübig, H.: Die Autobiographie als pädagogische Quelle. Uberlegungen in Hinblick
auf Fröbels „Brief an den Herzog von Meininger“. In: Heiland, H./ Neumann, K. (Hrsg.): Fröbels
Pädagogik verstehen, interpretieren, weiterführen: internationale Ergebnisse zur neueren Fröbelforschung.
Würzburg: Königshausen & Neumann 2003, S. 48.
138
Vgl. Neumann, B.: Fictions of Memory: Erinnerung und Identität in englischsprachigen
Gegenwartsroman. In: Literatur in Wissenschaft und Unterricht 4/2004, S. 342.
139
Konzentrationslager Stutthof – nat.-soz., Konzentrationslager, östlich von Danzig, im September 1939
eingerichtet als Zivilgefangenlager, ab November 1941 Arbeitserziehungslager. In S. waren v.a. Juden
aus Polen und dem Baltikum inhaftiert. Rund 65 000 – 85 000 Inhaftierte wurden direkt oder durch die
Haftbedingungen umgebracht. (Vgl. Brockhaus Enzyklopädie, Mannheim: Brockhaus, 2006. Bd.26.)
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
Diese Authentizitätssuggestion wird zusätzlich durch die Felderinnerungen und das
unzuverlässige Erinnern unterstützt. Im Fall von den Felderinnerungen gewinnt der
Rezipient
den
„(…)
Eindruck
einer
episodenhaften
Unmittelbarkeit
der
Vergangenheit“140, denn sie ermöglichen die Wiedergabe des Vergangenen aus der
Sicht „der erlebenden, emotional involvierten Person“141. Auf diese Weise wurde z.B.
der Luftangriff präsentiert:
„Jetzt sehe ich einen bildhübschen Leutnant, wie er aus offener Turmlucke
gestikuliert, als hätte er mit bloßen Händen die Schußrichtung freischaufeln
wollen, sehe jetzt schlesische Bauern, die nicht vom Fluchtgepäck lassen wollen,
sehe puppenklein Kinder auf seitlich wegrutschenden Wagen, sehe eine Frau
schreien, doch höre ich nicht ihr Geschrei (…)“ (S. 170)
Der erlebende Erzähler, der seine individuelle Handlung und Betrachtungsweise der
Situation beschreibt, kommt ziemlich selten vor. Solche Änderung der Erzählinstanz
dient der Akzentuierung dieser Romanpassagen, die als emotional wesentlich gelten.142
Die hier präsentierte Erinnerung an Stummheit wegen der unerwarteten Attacke
gewinnt dadurch an Suggestivität und scheint dem Rezipienten lebhafter zu sein.
Das unzuverlässige Erinnern ist das zweite Mittel, das den Eindruck der Authentizität
einführt. Die Darstellung der Abrufsschwierigkeiten von Erinnerungen erscheint in dem
Roman oft. Der Autor nutzt den Prozess von dem Vergessen und Verdrängen aus, um
die Phantasien, Reflexionen oder Gedächtnismetaphern bekannt zu machen.143 So
beispielsweise bei Erinnerungsschwierigkeiten greift er nach Bernstein:
„Wann immer mein anderes Hilfsmittel, die imaginierte Zwiebel, nichts
ausplaudern will oder ihre Nachrichten mit kaum zu entschlüsselnden Lineaturen
auf feuchter Haut verrätselt, greife ich ins Fach (…) und wähle unter den dort
lagernden Stücken, gleich ob gekauft oder gefunden. Hier, dieses honiggelbe
Stück, das durchsichtig und nur zum krustigen Rand hin milchig eingetrübt ist.
Wenn ich es lange genug gegen Licht halte, das ständige Ticktack in meinem
Kopf abstelle (…), erkenne ich anstelle des eingeschlossenen Insekts, (…), mich
in ganzer Figur: vierzähnjährig und nackt.“ (S. 65)
140
Vgl. Neumann, B.: Fictions of Memory: Erinnerung und Identität in englischsprachigen
Gegenwartsroman. In: Literatur in Wissenschaft und Unterricht 4/2004, S. 343.
141
Neumann, B.: Erinnerung, Identität, Narration. Gattungstypologie und Funktionen kanadischer „Fictions of
Memory“. Berlin: de Gruyter 2005, S. 31.
142
Vgl. mehr dazu in: Basseler, M./ Birke, D.: Mimesis des Erinnerns. In: Erll, A./ Nünning, A. (Hrsg.)
unter Mitarbeit von Birk, H. und Neumann, B.: Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Berlin,
New York: de Gruyter 2005, S. 123-148.
143
Vgl. Erll, A.: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart, Weimar:
Metzger 2005, S.186-187.
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
Das hier präsentierte Bernsteinmotiv, genauso wie die Zwiebel-Metapher durchflicht
sich mit den im Roman beschriebenen Episoden. Dank ihrer Einführung gewinnt der
Erzähler einen Abstand und ist dadurch imstande einige Sachen zu erklären und
objektiv darstellen. Was die Theorie von Brems bestätigt, dass zu den Zielen der
Autobiographie das Selbstverstehen und Rechtfertigung gehören.144
5.2.2. Intertextualität und Interdiskursivität
Karl-Heinz Stierle stellte fest, dass kein Text am Punkt Null ansetzen kann.145
Literarische Werke speisen sich nämlich mit literarischen (Intertextualität) und
außenliterarischen Bezogenheiten (Interdiskursivität). Auf diese Weise werden die
kulturellen, beziehungsweise kommunikativen Begebenheiten und Spezifik einer
Gesellschaft angehäuft und verewigt.146
Unter dem Begriff Intertextualität versteht man „(…) alle Bezüge eines literarischen
Textes auf andere literarische und außerliterarische Texte.“147 Demzufolge lässt sich
sagen, dass die Texte miteinander verknüpft sind, was einen Einfluss auf die
Inszenierung von Erinnerungen ausübt. „Beim Häuten der Zwiebel“ ist hier keine
Ausnahme. In seinem Roman schildert Grass nicht nur die von sich selbst
geschriebenen Bücher, sondern auch solche, die er in seinem Leben gelesen hat, z.B.
„Im Westen nichts neues“ von Remarque, Oscar Wildes’ „Das Bildnis von Dorian
Grey“ oder „Stud. Chem. Helene Willfüer“ von Vicki Baum.
144
Brems, J: Unterrichtsfach: Biographie: Der autobiographische Text als Medium biographischer
Lernprozesse in der Erwachsenenbildung. Eine Studie. BoD – Books on Demand, 2002, S. 24.
http://books.google.de/books?id=yAHVVfzvDwIC&printsec=frontcover&source=gbs_v2_summary_r&cad=0
(Zugriff am: 22.06.2009).
145
Vgl. Scheiding, O.: Intertextualität. Zitiert nach: Erll, A./ Nünning, A. (Hrsg.): Gedächtniskonzepte
der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Berlin, New York:
de Gruyter 2005, S. 55.
146
Vgl. mehr dazu in: Assman, A.: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen
Gedächtnisses. München: C.H. Beck 1999, S.181-190.
147
Scheidling, O.: Intertextualität. In: Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische
Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Berlin, New York: de Gruyter 2005, S. 53.
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
Genette unterscheidet Techniken, mit deren Hilfe intertextuelle Bezuge in den Text
involvieren werden (Trantextualität). Seiner Differenzierung nach findet man in dem
hier analysierten Werk Beispiele für Inter- und Metatextualität.148 Intertextualität in
genetteschem System ist „Präsenz eines Textes in einem anderen Text;“149 darunter soll
man Zitate oder Plagiate verstehen. Im Roman von Grass gibt es beispielsweise
Abschnitte aus dem Roman von Studienrat „In Stahlgewittern“ und dem Gedicht von
Grass „Kleckenburg“:
„Das Gedicht handelt von meinem Herkommen und vom Geräusch der Ostsee:
>>In Kleckenburg gebürtig, westlich von<< und stellt Fragen: >>Geboren wann
und wo, warum? << Eine dem Verlust und das Gedächtnis als Fundbüro
beschwörende Suada in Halbsätzen: >>Die Möwen sind nicht Möwen,
sondern<<.“ (S. 15)
Die hier eingeführten Verse des Gedichtes dienen nicht nur der Erinnerung des Werkes
und seiner Verewigung, sondern auch der Veranschaulichung der lyrischen Tätigkeit
des Autors. In „Beim Häuten der Zwiebel“ wurden auch die Strophen der damals
gesungenen Lider präsentiert, z. B.:
„So sehe ich mich im Rückspiegel. Das lässt sich nicht wegwischen, steht nicht
auf der Schiefertafel, neben der griffbereit der Schwamm liegt. Das bleibt. Noch
immer, wenn auch lückenhaft mittlerweile, sitzen die Lieder fest: >>Vorwärts,
Vorwärts schmettern die hellen Fanfaren, vorwärts, vorwärts, Jugend kennt
keine Gefahren…<<“ (S. 44)
Wenn der Text einen anderen kommentiert, dann liegt die Metatextualität vor.150 In dem
Roman von Grass finden sich zahlreiche Beispiele für diese intertextuelle Technik. Der
Autor erinnert sich beispielsweise an „Versuchung in Budapest“, den Roman, der zur
Bücherbestand seiner Mutter gehörte:
„ Verfaßt hat ihn Franz Körmendi, ein mittlerweile vergessener Schriftsteller. Im
Jahr dreiunddreißig beim Propyläen Verlag in Berlin verlegt, handelt sein Buch
fünfhundert Seiten lang von halt- und glücksuchenden Männern, die sich nach
Ende des Ersten Weltkrieges in Kaffeehäusern langweilen, (…). Doch
hauptsächlich geht es um einen Entwurzelten, der arm, aber strebsam die Stadt
beiderseits Donau verläßt, die Welt sieht und mit reicher Frau heimkehrt, um
148
Vgl. mehr dazu in: Genette, G.: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Zürich, Frankfurt am
Mein: Suhrkamp 1993, S.9-18.
149
Scheiding, O.: Intertextualität. In: Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische
Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Berlin, New York: de Gruyter 2005, S. 56.
150
Vgl. Martinez, M.: Dialogizität, Intertextualität, Gedächtnis. In: Arnold, H.L./ Detering, H. (Hrsg.):
Grundzüge der Literaturwissenschaft. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1996, S. 442-443.
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
dort, in Budapest, einer trügerisch diffusen Liebe zu fallen. Dieser Roman liest
sich immer noch drückfrisch (…).“ (S. 49)
oder berichtet von seinen eigenen Büchern:
„Oskar Matzerath überlebte als Medienmogul. Mit ihm seine Babka, (…) für die
er, um ihren Geburtstag zu feiern, im zeitverschränkten Verlauf des Romans
>>Die Rättin<< sogar (…) die Strapazen einer Reise in die Kaschubei auf sich
nahm. Und weil der frühe Tod Tulla Pokriefkes nur vermutet werden konnte –
tatsächlich wurde die Siebzehnjährige hochschwanger von Bord des sinkenden
Flüchtlingsschiffes Wilhelm Gustloff gerettet -, stand sie, als endlich die Novelle
>>Im Krebsgang<< reif zur Niederschrift war, als siebzigjährige Überlebende
auf Abruf bereit.“ (S. 42 - 43)
„Beim Häuten der Zwiebel“ nimmt also Bezug auf unterschiedliche Texte, die im Leben
des Autors erschienen und sowohl zu seinem persönlichen, als auch zu dem kollektiven
Gedächtnis gehören. Dieser These ist zu folgen, denn auch Renate Lachmann stellte
fest, dass Schreiben eine Gedächtnishandlung ist, die im intertextuellen Sinne auf
„Wiederholen und Erinnern der vergangenen Texten“ beruht.
151
Mit anderen Worten:
die Erinnerungen über die Literatur konstruieren sich durch die Aktualisierung
literarischer Phänomene auf der textuellen Ebene. Dazu wird auch ein Bestandteil der
Kultur erinnert, beispielsweise bei der Präsentation des Romans von Körmendi wird die
Dekadenz der zwanziger Jahre veranschaulicht und bei der Zusammenfassung von
„Wilhelm Gustloff“ wird das Schicksal der Kriegsflüchtlinge zum Vorschein gebracht.
Im Rahmen der Darstellungsverfahren von Erinnerungen kommt
auch die
Interdiskursivität vor. Diese zeichnet sich durch ihre Bezogenheit auf die
außerliterarische Rede aus, hierzu gehören solche sprachlichen Besonderheiten, wie z.B.
das mündliche Erzählen oder die alltagssprachlichen und gruppenspezifischen
Ausdrücke.152 Grass nutzt diese bei Präsentation des Familienlebens:
„Doch sehe ich ihn auch Grimassen schneiden, wenn er nichts tut, nur zwischen
den Möbeln des Wohnzimmers rumsteht und dabei so abwesend zu sein scheint,
dass die Mutter ihn anrufen muß: >>Wo biste nu schon wieder? Was denkste dir
jetzt wieder aus? <<“ (S. 37)
bei der Charakteristik seiner kaschubischen Verwandten:
151
Scheiding, O.: Intertextualität. In: Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische
Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Berlin, New York: de Gruyter 2005, S. 57.
152
Vgl. Erll, A.: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart, Weimar:
Metzger 2005, S. 171.
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
„Dort wurde ich in der Tür einer Bauernkate von der Mutter des erschossenen
Briefträgers, meiner Großtante Anna, mit dem unumstößlichen Satz begrüßt:
>>Na, Ginterchen, bist aber groß jeworden<<“ (S. 18)
oder bei der Erinnerung an Soldatenleben:
„Laut >>Schörner-Befehl<< fahndeten Feldgendarmen – die Kettenhunde –
nach Soldaten, die, gleich welchen Dienstranges, wenn ohne Marschbefehl, zu
fassen und als Drückeberger, Feiglinge, Fahnenflüchtlinge vor mobile
Feldgerichte zu stellen waren. Daraufhin wurden sie ohne Umstand und weit
sichtbar erhängt. Eine Redensart galt als Warnruf: >>Heldenklau geht um! <<“
(S. 144)
Solche spezifischen Ausdrücke, wie „Schörner-Befehl“, „Kettenhunde“, „Heldenklau
geht um“, genauso wie die Wiedergabe der Kaschubenrede sind wichtige Bestandteile
des Gruppenbildnisses. Ihre Verwendung in dem Roman trägt zur Unterstützung des
erfahrungshaftigen Modus bei153 und dadurch zur Stiftung des Eindrucks von der
Erinnerungsauthentizität. Die sprachlichen Besonderheiten bestärken nämlich die
Überzeugung des Rezipienten, dass die Erinnerungen wahr sind. Der Erzähler kennt
typische Begriffe und Eigenschaften der unterschiedlichen Gruppensprachen und
dadurch beweist seine Zugehörigkeit zu diesen – kollektive Identität. Diese nach Jan
Assmann „(…) beruht auf der Teilhabe an einem gemeinsamen Wissen und einem
Gemeinsamen Gedächtnis, die durch das Sprechen einer gemeinsamen Sprache (…)
vermittelt wird.“154 Zusätzlich sind die Erinnerungen an das Soldatenleben Form des
Generationengedächtnisses, denn die Ausdrücke: „Iwan“ und „Schörner–Befehl“ sind
nur den Soldaten des Zweiten Weltkrieges bekannt. Diese Theorie bestätigt wieder Jan
Assmann: „Es sind Erinnerungen, die der Mensch mit seinen Zeitgenossen teilt. (...)
Dieses Gedächtnis wächst der Gruppe historisch zu; es entsteht in der Zeit und vergeht
mit ihr, genauer gesagt: mit seinen Trägern.“155
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sowohl die Intertextualität als auch die
Interdiskursivität
der
Generationengedächtnisses
Inszenierung
dienen.
des
Zusätzlich
kollektiven,
durch
die
kulturellen
Einführung
und
der
interdiskursiven Passagen gewinnt der Text an der Authentizität und Lebhaftigkeit.
153
Vgl. Erll, A.: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart, Weimar:
Metzger 2005, S. 171.
154
Assmann, J.: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen
Hochkulturen. München: C.H. Beck 2005, S. 139.
155
Assmann, J.: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen.
München: C.H. Beck 2005, S. 50.
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
5.2.3. Erzählinstanzen
Der Erzähler ist ein Konstrukt von besonderer Art. Er ist immer anwesend, selbst wenn
es von ihm nicht geredet wird. Nach Meinung von Wenzel liegt diese Tatsache an dem
psychologischen Bereich, der Rezipient, kann sich nämlich keine Zeichenfolge ohne
den Urheber vorstellen.156 In der narratologischen Analyse wird deswegen der Aspekt
der Erzahlinstanz weit untersucht. Besonders bekannt ist dabei die Typologie von
Stanzel, in der drei typische Erzählsituationen zu unterscheiden sind: die auktoriale, die
personale und die Ich- Erzählsituation.
Für den auktorialen Erzähler bezeichnend ist, dass er nicht zur Welt der handelnden
Figuren gehört, man kann ihn eher „als Mittelsmann der Geschichte“ bezeichnen, der
„(…) einen Platz (…) zwischen der fiktiven Welt des Romans und der Wirklichkeit des
Autors und des Lesers einnimmt.“157 Dank der göttlichen Position hat er einen
Überblick über Zeit, Raum und handelnde Figuren, so kann er das Erzählte bewusst
anordnen und deuten. Für diese Instanz charakteristisch ist sowohl die berichtende
Erzählweise, als auch die ihr untergeordnete szenische Darstellung.158 In „Beim Häuten
der Zwiebel“ kommt diese Erzählweise vor allem dann vor, wenn die dargestellten
Ereignisse dem persönlichen Erinnerungsschatz des Erzählers nicht zugehören. Auf
diese Weise wurde die Geschichte des Caritas-Heims (S. 289 - 290) oder der Familie
Heinrichs geschildert:
„(…) Heinrichs’ Vater, der während der Freistaatzeit Mitglied der USPD, dann
sozialdemokratischer Abgeordneter gewesen war und in Senat der Stadt gegen die
damaligen Parteigrößten (…) opponiert hatte, (…) wurde im Frühherbst vierzig von
der Gestapo verhaftet. Er kam in ein Konzentrationslager (…). Bald nach der
Verhaftung des Vaters entschloß sich die Mutter zum Selbstmord. Worauf
Wolfgang und seine Schwester zur Großmutter aufs Land geschickt wurden, weit
genug entfernt, um von ihren Mitschülern vergessen zu werden. Der Vater jedoch
kam nach der KZ-Haft in ein Strafbataillon, das während des Rußlandfeldzuges im
Frontbereich Minen zu räumen hatte.“ ( S. 23)
Vgl. Wenzel, P. (Hrsg.): WVT – Handbücher zum Literaturwissenschaftlichen Studium. Einführung in die
Erzähltextanalyse. Kategorien, Modelle, Probleme. Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2004. Bd. 6, S. 111.
156
157
158
Stenzel, F.K.: Tehorie des Erzählens. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001, S. 16.
Vgl. Martinez, M./ Scheffel, M.: Einführung in die Erzähltheorie. München: C.H. Beck 2007, S. 90.
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
Dank der übergeordneten Perspektive wurde die chronologische Anordnung des
Geschehens behalten. Die Ereignisse wurden der Reihe nach geschildert: von politischer
Tätigkeit des Vaters bis hin zu seiner Teilnahme an dem Russlandfeldzug. Auf diese
Weise gewinnt die Leserschaft einen genauen Überblick über die NS-Vergangenheit.
Der Kommentar: „(…) weit genug entfernt, um von ihren Mitschülern vergessen zu
werden.“(S. 23) führt zur Bewertung des ganzen Geschehens und Stiftung seines
Sinnes. Mithilfe des wenig involvierten Erzählers gewinnt diese private Geschichte eine
neue Dimension. Dank der sachlichen Vermittlung und Beurteilung avanciert die
Familiengeschichte zum Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses. Es ist wie eine
belehrende Botschaft an die Mit- und Nachwelt.159
Im Stanzels Typenkreis ist der Weg von dem auktorialen zum Ich-Erzähler dadurch
gekennzeichnet, dass sich der Erzähler immer mehr der dargestellten Welt annähert und
letztendlich als Figur erscheint. „Im Vergleich zum körperlosen (…) auktorialen Ich
nimmt die Person des Ich-Erzählers in dem Maße an „Leiblichkeit“ zu, wird zu einem
„Ich mit Leib“ (…).“160 Diese Erzählweise bringt aber auch eine Bindung des
Geschehens an das Dasein der Erzählerfigur und dadurch Einschränkung des Wissensund Wahrnehmungshorizontes.161 Der Ich-Erzähler ist demnach ein Zeuge des
Erzählten, seine individuellen Erfahrungen und Beobachtungen von Erfahrungen der
anderen werden zur Anschauung gebracht. So wird z.B. das erste Geplänkel mit den
russischen Soldaten präsentiert:
„ (…) nach nicht allzu langer Zeit sah ich (…) einen Lichtpunkt, der sich nähernd in
zwei Punkte teilte. Nach vorschriftsmäßiger Meldung, >>Motorisiertes Fahrzeug,
wahrscheinlich Schützenpanzer, in Sicht! <<, stellte ich mich auf die Mitte des
Wegs, um gut erkennbar und laut Befehl den vermuteten Schützenpanzer zu
stoppen: (…). Ein Blick genügte. Das konnte nur der Russe sein, der kein Licht
sparte, sondern bedenkenlos … >>Der Iwan! << rief ich der Gruppe am Wegrand
zu, nahm mir aber keine Zeit, die dem Feindpanzer dicht bei dicht aufsitzenden
Schützen als einzelne zu erkennen und so zum ersten Mal einem lebenden
Sowjetsoldaten von Gesicht zu Gesicht zu begegnen. Vielmehr scherte ich, bevor
noch ein Schuß fiel, nach rechts aus, hechtete in die den Wegrand begrenzende
Kieferschonung, war weg, aber nicht außer Gefahr. Was ich hörte war Geschrei in
159
Vgl. Erll, A.: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler 2005,
S.169-172.
160
Stenzel, F.K.: Theorie des Erzählens. Theorie des Erzählens. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
2001, S. 258.
161
Vgl. mehr dazu in: Gansel, C.: Moderne Kinder- und Jugendliteratur. Ein Praxishandbuch für den
Unterricht. Berlin: Cornelsen Verlag Scriptor 2005, S. 30-32.
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
zwei Sprachen, das von Salven übertönt wurde, bis schließlich nur noch die
russischen Maschinenpistolen das Sagen hatten.“ (S. 154)
Das Denken und Fühlen des Ich-Erzählers steht hier im Vordergrund: „Ein Blick
genügte. Das konnte nur der Russe sein (…)“ (S. 154). Dank charakteristischer
Soldatenrede, z.B. „Iwan“ als Bezeichnung für die russischen Krieger, oder
fachkundigen Meldungen: „Motorisiertes Fahrzeug, wahrscheinlich Schützenpanzer, in
Sicht!“ evoziert die Szene den Eindruck von Wirklichkeit und kann gleichzeitig als eine
modellhafte Situation für die deutschen Soldaten des Zweiten Weltkrieges gelten.
Dieses Zitat ist also ein Beispiel für das Generationengedächtnis, denn diese
Gedächtnisart basiert auf der Gemeinschaft der Gleichaltriegen, die durch dieselbe
politischen, sozialen, kulturellen Ereignisse geprägt wurden, hier ist das der Krieg.162
Die Erzählerinstanz wird demnach zum Träger des kommunikativen und gleichzeitig
des generationsspezifischen Gedächtnisses.163 Demnach lässt sich auch sagen, dass man
hier mit einem erfahrungshaftigen Modus zu tun hat, denn:
„Zu diesem Modus führt eine Dominanz von Darstellungsverfahren, durch die der
literarische Text als erfahrungsgesättiges Medium und die in ihm dargestellte
Wirklichkeit als spezifische Lebenserfahrung einer Epoche oder sozialen Gruppe
inszeniert werden.“164
„Beim Häuten der Zwiebel" kann man als einen autobiographischen Text bezeichnen.
Für solche Texte charakteristisch ist die Darstellung der Erinnerungsprozesse, wobei
man zwischen einem erlebenden und einem erzählenden Ich unterscheidet. Fall des
erlebenden Ichs wurde schon durch das oben angeführte Beispiel veranschaulicht. Bei
dem erzählenden Ich kommt die „(…) Instanz eines gealterten, rückschauenden,
kommentierenden, analysierenden, wertenden und damit Sinn stiftenden“165 Ich. Der
Erzähler rekonstruiert hier seine Erlebnisse und durch die Reflexion entdeckt nicht
selten den Unterschied zwischen dem tatsächlich Passierten und dem Erinnerten. So
beispielsweise wurde die Zugehörigkeit des Ich-Erzählers zur Waffen-SS beschrieben:
„Eher werde ich die Waffen-SS als Eliteeinheit gesehen haben, die jeweils dann
zum Einsatz kam, wenn ein Fronteinbruch abgeriegelt, ein Kessel, wie der von
Demjansk, aufgesprengt oder Charkow zurückerobert werden mußte. Die doppelte
162
Assmann, A.: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen, Wissen, Ethik 13/2002, S. 184.
Vgl. Erll, A.: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart, Weimar: J.B.
Metzler 2005, S. 169-173.
163
164
Erll, A: Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses. In: Erll, A./ Nünning, A. (Hrsg.):
Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven.
Berlin, New York: de Gruyter 2005, S. 268.
165
Erll, A.: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung Stuttgart, Weimar: J.B.
Metzler 2005, S. 186.
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
Rune am Uniformkragen war mir nicht anstößig. Dem Jungen, der sich als Mann
sah, wird vor allem die Waffengattung wichtig gewesen sein: (…). Auch ging von
der Waffen-SS etwas Europäisches aus: in Divisionen zusammengefaßt kämpften
freiwillig Franzosen, Wallonen, Flamen und Holländer (…). Also Ausreden genug.
Und doch habe ich mich über Jahrzehnte hinweg geweigert, mir das Wort und den
Doppelbuchstaben einzugestehen. Was ich mit dem dummen Stolz meiner jungen
Jahre hingenommen hatte, wollte ich mir nach dem Krieg aus nachwachsender
Scham verschweigen.“ (S. 126 - 127)
In diesem Zitat steht die Selbstbeobachtung im Mittelpunkt. Der Ich-Erzähler berichtet
von seinen Erfahrungen aus der sichtbaren Distanz. Das Vergangene wird hier nicht nur
kommentiert, sondern auch negativ beurteilt: „Was ich mit dem dummen Stolz meiner
jungen Jahre hingenommen hatte, wollte ich mir nach dem Krieg aus nachwachsender
Scham verschweigen.“ (S. 127). Dem Rezipient wird den Unterschied zwischen
Betrachtungsweise der Waffen-SS in der Jugend und jetzt veranschaulicht. Während des
Krieges wurde diese Organisation durch den Erzähler als eine internationale, elitäre
Division betrachtet, heute ist sie nichts mehr als Grund für Scham. Solche, durch die
Zeit bedingte Meinungsänderung ist ein Beispiel für den reflexiven Modus, denn dieser
liegt dann vor, „(…) wenn das literarische Werk eine erinnerungskulturelle
Selbstbeobachtung ermöglicht.“166 In diesem Fragment wurde sowohl die Reflexion
über die kulturbedingte Einstellung (Betrachtungsweise der SS jetzt und damals), als
auch die sinnstiftende Erzählerfunktion (Beurteilung der SS) geschildert.
Im Fall, wenn kein Erzähler der Geschichte als Vermittlungsinstanz auftritt, handelt es
sich um einen personalen Erzähler. Für den Leser entsteht damals „ (…) die Illusion, er
befände sich selbst auf dem Schauplatz des Geschehens oder er betrachte die
dargestellte Welt mit den Augen der Romanfigur, die jedoch nicht erzählt, sondern in
deren Bewusstsein sich das Geschehen gleichsam spiegelt.“167 Dementsprechend lässt
sich sagen, dass die Hinweise auf die Erzählinstanz kaum erkennbar sind, der Erzähler
tritt nicht mehr als persönlicher Sprecher. Er ist anonym und obwohl er die Geschichte
aus der Sicht einer am Geschehen beteiligten Figur schildert, bleibt neutral und
verzichtet auf Kommentare und Reflexionen.
166
Erll, A: Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses. In: Erll, A./ Nünning, A. (Hrsg.):
Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven.
Berlin, New York: de Gruyter 2005, S. 268.
167
Stenzel, F. K.: Tehorie des Erzählens. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001, S. 17.
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
In „Beim Häuten der Zwiebel“ gibt es kein Beispiel für diese Erzählensart. Der
Sprecher ist niemals anonym und neutral, denn das geschilderte Geschehen gehört zur
Biographie des Erzählers. Die präsentierten Geschehnisse sind Nacherzählungen mit
den Kommentaren und Reflexionen. Selbst wenn das Geschilderte einen neutralen
Charakter aufweist und der Rezipient die Illusion der Beteiligung gewinnt, kommen die
Kommentare oder Pronomen vor, die den Ich-Erzähler entlarven, z.B.
„Blieb ich stehen und vermied jedes Geräusch, stand sogleich der oder das still,
ein Tier, Mensch oder Fabelwesen, wer oder was auch immer Schritte im
dunklen Wald machte. Ein Jemand trat auf, mal näher, dann wieder entfernter,
um abermals näherzukommen, zu nah. Vorsicht. Nicht laut schlucken!
Deckungen hinter Baumstämmen suchen. Was unterm Drill militärischer
Ausbildung gelernt worden ist. Die Waffe entsichern, wie bestimmt andererseits
eine Waffe entsichert wird.“ (S. 158)
Wenn man den ersten Satz auslässt, dann scheint diese Szene von einem personalen
Erzähler dargestellt zu werden. Der Leser hat den Eindruck, dass er selbst an dem
Geschehen beteiligt ist. Man verspürt die vorhandenen Angst und Spannung. Der
Einschub aber: „Was unterm Drill militärischer Ausbildung gelernt worden ist.“ (S.
158), genauso wie der erste Satz deuten auf eine andere Erzählerinstanz hin. Die ganze
Geschichte ist also keine direkte Übermittlung, sondern aus der Distanz geschilderte
Nacherzählung.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass „Beim Hauten der Zwiebel“ eine
Autobiographie ist. Der Erzähler konzentriert sich auf seinen persönlichen Erfahrungen,
auch deswegen ist die Ich-Erzählung eine dominierende Darstellungsform.
5.2.4. Erzählebene
Unter Einbeziehung der Erzähltheorie von Gerard Genette sollen die narrativen Ebenen
der Erzählung an den Textbeispielen diskutiert werden. „Jedes Ereignis von dem in
einer Erzählung erzählt wird, liegt auf der nächshöheren diegetischen Ebene zu der, der
hervorbringende narrative Akt dieser Erzählung angesiedelt ist.“168 Demzufolge
unterscheidet Genette neben der extradiegetischen Ebene, die intradiegetische und
metadiegetische Stufe.
168
Genette, G.: Die Erzählung. München: Wilhelm Fink Verlag 1998, S. 163.
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
Die erste Ebene das ist die extradiegetische Ebene, also die Erzählung des
Rahmenerzählers. Der Erzähler gilt in diesem Fall als Autor-Erzähler. Diese Erzählstufe
tritt schon am Anfang des Romans in den Reflexionen des redenden Subjekts:
„Ob heute oder vor Jahren, lockend bleibt die Versuchung, sich in dritter Person zu
verkappen: Als er annähernd zwölf zählte, doch immer noch liebend gern auf
Mutters Schoß saß, begann und endete etwas. Aber läßt sich, was anfing, was
auslief, so genau auf den Punkt bringen? Was mich betrifft schon.“ (S. 7)
Es kommt hier zur Begründung der Erzählweise (Betrachtung eigener Figur in der
dritten Person) und zur Äußerung des Zweifels an die Genauigkeit dessen, worüber
berichten wird. Auch am Ende des Buches erscheint die Zusammenfassung des AutorErzählers: „So lebte ich fortan von Seite zu Seite und zwischen Buch und Buch. Dabei
blieb ich inwendig reich an Figuren. Doch davon zu erzählen, fehlt es an Zwiebeln und
Lust.“ (S. 479) Diese beiden Aussagen bilden eine extradiegetische Rahmenerzählung.
Mithilfe solcher Narration wurde akzentuiert, dass die in dem Roman beschriebenen
Vorkommnisse zur Vergangenheit gehören. Ihre Präsentation dient nur der
Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und ihrer Einordnung. Diese These bestätigt
Schacter, indem er schreibt, dass die Erinnerung ein Versuch ist, „(…)eine Einstellung
zum eigenen Leben zu finden, die dem Verständnis und der Integration des Selbst und
vielleicht auch der Vorbereitung auf den Tod dient.“169
Das extradiegetische Erzählen kommt in dem Text auch in Form von Einschüben zum
Vorschein und bricht die intradiegetische Erzählung durch, z.B.:
„Dort sollte auf militärisches Gerät, die zugesagten Panzer vom Typ Tiger gewartet
werden. Das Warten zog sich in die Länge, war aber bei regelmäßiger Verpflegung
und unter schlapper Dienstaufsicht erträglich. Sogar für Kinobesuche fand sich Zeit.
(…) Diese Zeitspanne kommt mir als nicht datierbar und wie aus verschiedenen
Handlungsabläufen gestückelter Film vor, der mal in Zeitlupe, dann überschnell
abläuft, (…). Allenfalls ist mir als Person in festen Umrissen ein Unteroffizier vor
Augen, der nach dem Essenfassen zwischen uns am langen Holztisch sitzt: das
übliche Frontschwein. Als er plötzlich dringend aufs Klo muß, stellt er seinen noch
vollen Teller unter Bewachung, indem er der rechten Augenhöhle mit geübtem
Zweifingergriff eine gläserne Kugel entnimmt und diese hellblau auf einen
handtellergroßen Fleischlappen legt, (…).“ (S. 136 - 137)
In diesem Fragment wurde beispielsweise die Beschreibung des Soldatenlebens durch
die Bemerkung des Erzählers über die Eigenschaften seines eigenen Gedächtnisses
169
Schacter, D.L.: Wir sind Erinnerung. Gedächtnis und Persönlichkeit. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt
Verlag 1999, S. 476.
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
durchgebrochen. Danach beobachtet man den Rückkehr des Berichtenden zur
Vergangenheit und ausführliche Beschreibung der Verhaltensweise eines Unteroffiziers.
Durch die Einführung der Bemerkungen des extradiegetischen Erzählers in die
intradiegetische Ebene der Erinnerungen wird sein Verhältnis zu diesen betont. „Jede
Analyse des episodischen Gedächtnisses muß die subjektive Erfahrung dessen
berücksichtigen, der das Erinnern leistet (…)“170 Diese Bemerkung von Schacter weist
darauf hin, dass die Beziehung zwischen dem Erinnernden und dem Erinnerten einen
engen Charakter hat.
Die dominierende Erzählensebene ist die intradiegetische. Hierzu gehören sowohl die
Geschichten aus dem Leben des Erzähler-Autors, als auch die Berichte von den
gelesenen bzw. geschriebenen Büchern. Die Wiedergabe der vergangenen Ereignisse
befindet sich also eine Ebene niedriger als die Reflexionen und Kommentare, die an das
Publikum gerichtet sind.171 Bemerkenswert ist dabei, dass sich sowohl die Erinnerungen
von Ereignissen als auch die von Literaturwerken auf demselben Niveau befinden.
Grund dafür ist die Tatsache, dass Erinnerung an ein Ereignis die Erinnerung an das
geschriebene oder gelesene Buch auslöst, z.B. als der Erzähler von dem
Nachkriegsleben der Eltern berichtet macht er sich sofort Gedanken an „Die
Blechtrommel“:
„Die Bruchbriketts gab es als Deputat. Als die Eltern endlich Wohnung in dem
werknahen Dorf Oberaußem fanden, bekamen sie sogar größere Mengen vom
>>schwarzen Gold<< zugeteilt, heil in länglicher Form und als Eierbriketts. Das
Werk, in dem der Vater Arbeit gefunden hatte, war eine Industrieanlage, die aus
gereihten Schornsteinen mächtig Dampf machte und Fortuna Nord hieß, wie später
eines der >>Blechtrommel<< - Kapitel, in dessen Verlauf auf dem Friedhof des
Bergearbeiterdorfes Oberaußem eine Leiche umgebettet wird und Oskar Matzerath,
während die Leiche Stück nach Stück ans Licht kommt, einen Monolog hält in
dessen Verlauf er die abgewandelte Hamletfrage stellt: >>Heiraten oder
Nichheiraten?<<“ (S. 273 - 274)
Solche Verbindung unterschiedlicher Erinnerungen ist mit der Feststellung von Pohl zu
erklären, dass die „Informationen die zusammengehören, (…) miteinander verbunden
[sind –M.B.].“172 Der gemeinsame Nenner, dank dem der Erzähler die Erinnerung an
170
Schacter, D.L.: Wir sind Erinnerung. Gedächtnis und Persönlichkeit. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt
Verlag 1999, S. 40.
171
Vgl. Martinez, M./ Scheffel, M.: Einführung in die Erzähltheorie. München: C.H. Beck 2007, S. 7576.
172
Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: W.
Kohlhammer 2007, S. 22.
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
das Buch mit der Erinnerung an die Arbeit des Vaters verbindet, ist der Name des
Betriebes – „Fortuna Nord“. Auch deswegen befinden sich die beiden Erinnerungen auf
derselben Erzählebene.
Ganz anders sieht die Situation, wenn sich der Erzähler in seine Erinnerungen vertieft.
Damals kommt die dritte Erzählstufe vor, die man als metadiegetische bezeichnet. Diese
Ebene lässt sich als eine Binnenerzählung in der intradiegetischen Geschichte
definieren.173 Beispielsweise in dem Roman von Grass findet man solche Versenkung in
die Vergangenheit bei der Beschreibung der intimen Erfahrung mit einer Frau:
„Angenommen, wir flüsterten im Heu, abwechselnd oder nur ich.
Weißnichtmehrwas in einem Heuhaufen an Flüsterworten zu finden wäre. Nur daß
Inge plötzlich sachlich sprach, als hätte sie sich erklären müssen, blieb hängen.
Familiäre Kriegsumstände. Das zerbombte Reihenhaus am Bochumer Stadtrand. Ihr
Verlobter sei gefallen, da unten auf dem Balkan, schon vor zwei Jahren, weil dort
überall Partisanen. Der wäre als Bergmann eigentlich unabkömmlich gewesen >>uk geschrieben<< sagte sie -, dann aber habe man ihn gleich nach Stalingrad
doch noch und zwar zu den Pionieren geholt. Erst zur Ausbildung nach GroßBoschpol, dann ab an die Front und später, wie er geschrieben hatte, nur nach zum
Brückenbau in die Berge…“ (S. 238 - 239)
Der intradiegetische Erzähler präsentiert zuerst seine Frauenerfahrung, dann aber steigt
eine Stufe hinunter und gibt die Worte der Frau wieder. Diese präsentiert ihrerseits die
Geschichte des gestorbenen Verlobten. Dementsprechend kann man sagen, dass es in
der Erzählung der zweiten Stufe eine Binnengeschichte gibt - metadiegetische
Erzählung. Im Fall des Romans „Beim Häuten der Zwiebel“ hat man mit der
„erinnerten Erinnerung“174 zu tun. Dieses Beispiel ist eine Veranschaulichung für den
Unterschied zwischen den narrativen und autobiographischen Erinnerungen. Die
narrativen Erinnerungen sind nach Pohl solche Ereignisse, von denen man gehört hat,
aber nicht persönlich erlebt, in diesem Fall ist das die tragische Lebensgeschichte des
Verlobten. Die episodischen Erinnerungen hingegen beziehen sich an die selbsterlebten
Vorkommnisse. In dem hier angegebenen Beispiel ist das die intime Situation.175 Auch
deswegen befinden sich die beiden Geschehnisse auf unterschiedlichen Erzählebenen.
5.2.5. Zeitstruktur
173
Vgl. Martinez, M./ Scheffel, M.: Einführung in die Erzähltheorie. München: C.H. Beck 2007, S. 76.
Vgl. Genette, G. Die Erzählung. München: Wilhelm Fink Verlag 1998, S.165.
175
Vgl. Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte Stuttgart:
Verlag W. Kolhammer 2007, S. 45.
174
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
In diesem Abschnitt soll der Aspekt der Zeitstruktur analysiert werden. Wenn man die
Theorie von Gerard Genette berücksichtigt, dann lässt sich das Verhältnis zwischen der
Zeit der erzählten Geschichte (erzählte Zeit) und der Zeit der Erzählung (Erzählzeit)
unterscheiden.176
„Unter Erzählzeit hat man sich die Zeit vorzustellen, die ein Erzähler für das
Erzählen seiner Geschichte benötigt und sie im Fall eines Erzähltextes, der keine
konkreten Angaben über die Dauer des Erzählens enthält, einfach nach dem
Seitenumfang der Erzählung bemisst. Die erzählte Zeit meint demgegenüber die
Dauer der erzählten Geschichte.“177
In „Beim Häuten der Zwiebel“ entspricht die Erzählzeit – in der ungekürzten Ausgabe
des Deutschen Taschenbuch Verlags GmbH & Co. KG – einem Umfang von 479
Druckseiten, während die in diesem Rahmen erzählte Geschichte etwa siebzig Jahren
umfasst. Der Konnex zwischen diesen beiden Zeiten kann mit Hilfe dreier Faktoren
systematisiert werden, nämlich der Ordnung (in welcher Reihenfolge wird das
Geschehen in einer Erzählung vermittelt), der Dauer (wie lange beansprucht die
Darstellung eines Geschehens in der Erzählung) und der Frequenz (wie oft wird ein sich
wiederholendes oder nicht wiederholendes Geschehen in einer Erzählung präsentiert).178
Nach Genette kann das Geschehen entweder chronologisch oder achronologisch
dargestellt werden. In „Beim Häuten der Zwiebel“ lässt sich die chronologische
Reihenfolge nur in intradiegetischen Erzählungen, in denen von anderen Protagonisten
bzw. Events berichtet wird, finden:
„Der Krieg zählte wenige Tage, als ein Cousin meiner Mutter, Onkel Franz, der als
Briefträger zu den Verteidigern der Polnischen Post am Heveliusplatz gehörte, bald
nach Ende des kurzen Kampfes wie fast alle Überlebenden auf deutschen Befehl
standrechtlich erschossen wurde. Der Feldrichter, der die Todesurteile begründete,
aussprach und unterschrieb, durfte noch lange nach Kriegsende unbeschadet in
Schleswig- Holstein als Richter urteilen und Urteile unterschrieben.“(S. 15 - 17)
In diesem Geschehen wird man mit einem zeitlichen Nacheinander konfrontiert. Zuerst
wird der Leser darüber informiert, dass der Krieg schon ein paar Tage andauerte,
daraufhin erfährt man, dass der Cousin der Mutter an der Verteidigung der Post
teilnahm, letztendlich, dass sein Richter noch nach dem Krieg als freier Mensch lebte.
„Beim Häuten der Zwiebel“ ist eine Autobiographie, die voll von achronologischen
176
Vgl. Genette, G.: Die Erzählung. München: Wilhelm Fink Verlag 1998, S. 21-22.
Martinez, M./Scheffel, M.: Einführung in die Erzähltheorie. München: C.H. Beck 2007, S. 31.
178
Vgl. Martinez, M./Scheffel, M.: Einführung in die Erzähltheorie. München: C.H. Beck 2007, S. 32.
177
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
Präsentationen der Ereignisse ist. Beispielsweise berichtet der Ich-Erzähler im Kapitel
„Während lautlos der Krebs“ gleichzeitig von seinem jetzigen Leben, seiner Freundin
aus der Jugendzeit, dem neuen Papst, seinen Sommerferien in den 60’er Jahren und
seiner Vorbereitungen zur Hochzeit (S. 438). Dieser Bericht ist Beispiel für die
Wirkung des individuellen Gedächtnisses, weil die Erinnerungen „für sich genommen
fragmentarisch, d.h. begrenzt und ungeformt [sind –M.B.]. Was als Erinnerung
aufblitzt, sind in der Regel ausgeschnittene, unverbundene Momente ohne Vorher und
Nachher.“179
Diese zeitliche Dissonanz kann durch zwei grundsätzlich unterschiedliche Formen
realisiert werden: In der Rückwendung (Lämmert) bzw. Analepse (Genette) „wird ein
Ereignis nachträglich darstellt, das zu einem früheren Zeitpunkt stattgefunden hat als
dem, den die Erzählung bereits erreicht hat“180 Beispielsweise in dem Kapitel „Was mir
zur Hochzeit geschenkt wurde“ erinnert sich der Ich-Erzähler an das Treffen der Gruppe
’47181, an dem er
seine Gedichte vorlesen sollte. Damals ließ ihn Hans Werner
Richter182 laut und deutlich Lesen, was Erinnerung aus der Zeit des Weltkrieges
auslöste. Der Erzähler erinnert sich an eine Situation, als sein Kumpel Joseph „aus
einem schwarz eingebundenen Büchlein sein frommes Zeug mit so leiser und fast
verhauchten Stimme vorgelesen hat.“ (S. 461). Die Prolepse (Genette) bzw.
Vorausdehnung (Lämmert) bezieht sich auf ein Geschehen, das im Augenblick des
Erzählens noch zur Zukunft der erzählten Geschichte gehört.183 Die beiden Events, d.h.,
das Gegenwärtige und Zukünftige, verknüpfen sich miteinander dank der freien
Assoziationen, denn „Informationen, die zusammengehören, sind miteinander
verbunden.“184 z.B.
„Die geschlitzte Gasmaskenbüchse blieb auf dem Verbandsplatz. Den Splitter der
sowjetischen Granate jedoch, der mich verschont und so den späteren Vater von
179
Assman, A.: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen, Wissen, Ethik 13/2002, S. 184.
Martinez, M./Scheffel, M.: Einführung in die Erzähltheorie. München: C.H. Beck 2007, S. 33.
181
Die Tagungen von Autoren und Journalisten. Bis in die Sechzigerjahre hinein wurde die >>Gruppe 47<< als
Repräsentantin gesellschaftskritischer Schriftsteller wahrgenommen. (Vgl. Kraft, T. (Hrsg.): Lexikon der
deutschsprachigen Gegenwartslliteratur seit 1945. München: Nymphenburger Verlag 2003, S. 1032.)
182
Mitgründer der Zeitschriften „Ruf“(1945-46) und „Der Ruf .Unabhängige Blätter der jungen Generation“
(1946-47) Sein persönlicher Kontakt zu engagierten Schriftsteller und Journalisten war der Ausgangspunkt für
ein Autorentreffen (Gruppe’47) (Vgl. Kraft, T. (Hrsg.): Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit
1945. Nymphenburger Verlag 2003, S. 1032.)
183
Vgl. Martinez, M./Scheffel, M.: Einführung in die Erzähltheorie. München: C.H. Beck 2007, S. 37.
184
Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: W.
Kohlhammer 2007, S. 22.
180
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
Söhnen und Töchtern gnädig zum Überleben gemacht hatte, hätte ich gerne in
ganzer Länge meinen Kindern, später den Enkelkindern gezeigt: (...).“ (S. 173)
Der Ich-Erzähler kombiniert hier zwei, in verschiedenen Zeitabständen stattgefundene
Ereignisse, nämlich sein Aufenthalt im Lazarett während des Weltkrieges und seine
spätere Vaterschaft, zu der es gekommen ist, nur weil, der Splitter ihn verschont hat. An
diesem Beispiel sieht man, dass die Erinnerungen
nicht wahllos angehäuft sind,
sondern auf ihre Art „sortiert“.
Als nächstes Merkmal der Zeitstruktur gilt die Dauer, die das Verhältnis von Erzählzeit
und erzählter Zeit betrifft: „Eine annähernde Übereinstimmung von Erzählzeit und
erzählter Zeit liegt wohl nur dann vor, wenn im eigentlichen Sinne nicht mehr erzählt,
sondern szenisch dargestellt wird (...).“185 In der Forschung unterscheidet man: Szene,
Dehnung, Raffung, Ellipse und Pause. Diese Zeitstrukturen spiegeln hier das Innen –
und Außenleben des Protagonisten wieder. Mit Hilfe der Szenen (zeitdeckendes
Erzählen) wurden die besonders traumatischen und emotionalen Erinnerungen
präsentiert, beispielsweise einen Angriff beschreibt der Erzähler so:
„Zwischen Löffel und Löffel sagte mein Obergefreiter:
>>Das sind T-34<<
Ich, sein Echo: >>Sind T-34<<
Auf der gegenüberliegenden Seite war oberhalb der verteilten Abbaufläche eine
zählbare Menge Panzer aus einem Waldstück aufgefahren.“ (S. 169)
Auffallend dabei ist die Genauigkeit der ausgemalten Szene, einen Einfluss darauf
haben die Eigenschaften des autobiographischen Gedächtnisses. Nach Pohl können sich
nämlich, solche überraschend auftretenden und mit starken Emotionen verknüpften
Ereignisse, wie bei einem Blitzlicht- Foto in einem einzigen Augenblick in das
Gedächtnis „einbrennen“. Dieses Moment ist mit allen Details unveränderbar
festgehalten, sodass Erinnerungen auch nach langer Zeit (hier nach fast sechzig Jahren)
höchst detailliert ausfallen.186 Das zeitdeckende, szenische Erzählen wird
in dem
Roman „Beim Häuten der Zwiebel“ mit anderen narrativen Tempi kombiniert. Wenn
man den Roman als ein Ganzes betrachtet, dann fällt sofort auf, das während viele
Episoden zeitlupig (Dehnung)
beschrieben wurden, sind die anderen Ereignisse
mithilfe der Raffung präsentiert. So widmet der Erzähler viel Platz der Beschreibung
185
Martinez, M./Scheffel, M.: Einführung in die Erzähltheorie. München: C.H. Beck 2007, S. 39.
Vgl. Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: W.
Kohlhammer 2007, S. 73.
186
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
von Zigarettenbildern, die er als Kind sammelte (S. 11 - 14), oder seinem ersten Besuch
an der Kunstakademie:
„(...)als mir plötzlich, bereits auf dem Rückweg, die Kunst in Gestalt eines alten
Mannes begegnete, der dem aus Stummfilmzeiten überlieferten Abbild eines
Künstlers glich. Wie mir ging ihm weiß der Atem vom Mund. Erst knapp zwei Jahre
später wußte ich Genaueres: mein Gegenüber, der alte Mann, den eine schwarze
Pelerine hüllte, ein Schal schwarz vermummte und breitkrempig ein Künstlerhut aus
schwarzem Filz verschattete, mochte Mitte fünfzig sein, hieß Enseling und verstand
sich als Kunstprofessor, bestallt mit Anspruch auf lebenslange Pension.“ (S. 280 281)
Ganz anders aber präsentiert er seine Arbeit in dem Bergwerk (S. 251 - 257), oder das
spätere Leben in Paris:
„In Paris tanzten Anna und ich offen und eng. In Paris waren wir glücklich und
ahnten nicht, wie lange noch. In Paris kam de Gaulle an die Macht und lernte ich,
die Knüppelgewagt der französischen Polizei zu fürchten. In Paris wurde ich
zusehends politischer. In Paris setzten sich vor fließender Wand etliche
Tuberkulome in meiner Lunge fest, die erst in Berlin auskuriert wurden. In Paris
liefen mir die Zwillinge auf Avenue d’Italie in verschiedene Richtung davon, so daß
ich nicht wußte, wem zuerst hinterdrein.“ (S. 479)
Diese zwei narratologischen Zeitstrukturen (Dehnung und Raffung) können in
Anbetracht
des
autobiographischen
Gedächtnisses
erklärt
werden,
nämlich:
„Autobiographische Erinnerungen können von spezifischen Lebensthemen (life themes)
dominiert sein (...) sie [haben –M.B.] sich als prägend für das Individuum herausgestellt
(...) und auf diese Weise seinen Lebensweg bestimmen.“187 Dieser Auffassung von Pohl
folgend, kann man feststellen, dass die Kunst eins von den Lebensthemen des
Protagonisten ist. Deswegen ruft er, anders als bei Beschreibung des Lebens im Paris,
die genaue Erinnerung an die Zigarettenbilder (S. 11 – 14) herbei und im
Zeitlupentempo beschreib er das Treffen mit dem Kunstprofessor. Manche
Lebensettapen scheinen aber dem Ich–Erzähler völlig unwichtig zu sein, deswegen
überspringt er diese Abschnitte mithilfe von Ellipsen188 und beschleunig dadurch das
Erzähltempo. So berichtet er über eine Gipsfigur, die er selbst gemeißelt hat und
verzichtet auf Genese seines persönlichen Erfolgs:
„Wahrscheinlich ist mir deshalb das knapp meterhohe und immerfort lächelnde
Mädchen bis ins gegenwärtige Alter bedeutsam geblieben, wenngleich mir der Gips
damals mitsamt den anderen, nur mittelhohen Figuren dergestalt gleichgültig
187
Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: W.
Kohlhammer 2007, S. 133.
188
Ein Zeitabschnitt des dargestellten Geschehens, der in der erzählerischen Darstellung ausgespart wird. (Vgl.
Martinez, M./Scheffel, M.: Einführung in die Erzähltheorie. München: C.H. Beck 2007, S. 187.)
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
gewesen ist, daß ich sie alle beim nächsten Ortwechsel, Ende zweiundfünfzig, im
Atelier stehenließ, worauf ein Mitschüler die verweiste Meterhohe mit sich nahm.
Erst ein Jahrzehnt später, als ich schon Ruf, Namen und Geld genug hatte, gab er
Nachricht, so daß ein Bronzeguß für ihr Fortleben sorgen konnte.“( S. 339)
Im Vergleich mit der relativ umfangreichen Beschreibung der Figur, ist der Abstand des
Ich- Erzählers zu seinem späteren Leben deutlich sichtbar. Die Erinnerungen vom
Ruhm scheinen ihm zweitrangig zu sein. In diesem Falle muss man der Feststellung von
Aleida
Assmann
zustimmen,
dass
sich
„(...)
die
Relevanzstrukturen
und
Bewertungsmuster im Laufe des Lebens [verändern].“189 Das bedeutet, dass die früher
wichtigen Episoden, also hier der persönliche Erfolg, unwichtig werden können, und
umgekehrt, die früher belanglosen Events gewinnen im Laufe der Zeit an Bedeutung,
z.B. die Skulptur, die der Ich- Erzähler mitzunehmen vergessen hat, scheint ihm jetzt
relevant zu sein. In „Beim Häuten der Zwiebel“ befinden sich auch gegensätzliche
Momente, in denen die Erzählung stillsteht (Pause) und der Ich-Erzähler die
Reflexionen über sein Leben anstellt oder es kommentiert. Auf diese Art und Weise
analysiert und beurteilt er in dem unten angeführten Beispiel seine bisherige,
literarische Tätigkeit:
„Wer von Berufs wegen genötigt ist, über die Jahre hinweg sich selbst auszubeuten,
der wird zum Verwerter von Resten. Viel blieb nicht. Was sich dank greifbarer
Hilfsmittel formen, verformen, schließlich in Sprüngen vorwärts, dann wieder
gegenläufig erzählen ließ, haben als allesfressende Monster die Romane geschluckt
und in Wortkaskaden ausgeschieden. (...). Nach so viel Kot – was alles zu Buche
schlug – keimte die Hoffnung, endlich zum Hohlraum geworden, besenrein
leergeschrieben zu sein.“ (S. 329)
Solche Reflexionen – die Lebensrückschau, dienen der Analyse der abgerufenen
Erinnerungen. So „kann zu deren Erklärung und damit dem tieferen Verständnis der
eigenen Entwicklung beitragen oder auch zu evaluativen Schlussfolgerungen kommen,
die ebenfalls direkt mit entsprechenden emotionalen Reaktionen verknüpft sind.“190 Der
Ich-Erzähler entschuldigt sich hier für seine jetzige Arbeit und erklärt anhand der
Lebensrückschau, warum sie so aussieht.
Die letzte wichtige Frage für die Nachforschung der Zeitverhältnisse wurde von Genette
unter der Kategorie Freguenz eingeführt. Frequenz betrifft einerseits die Frage, wie oft
ein bestimmtes Ereignis in der angenommenen Geschichte vorkommt, andererseits wie
189
Assmann, A.: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen, Wissen, Ethik 13/2002, S. 184.
Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: W.
Kohlhammer 2007, S. 136.
190
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
häufig es im Text dargestellt wird. Genette unterscheidet mit Hilfe von
Kombinationslogik vier Kategorien: ein wiederholtes Ereignis wird wiederholt oder
einmal erzählt, ein einmaliges Ereignis wird einmal oder wiederholt erzählt. Aus diesen
vier Möglichkeiten lassen sich drei Wiederholungsarten unterscheiden: die singulative,
die repetitive, und die iterative Erzählung. 191
Die singulative Form ist die häufigste Form, in ihren Rahmen „(.) besteht zwischen der
Wiederholungszahl des Ereignisses und der seiner Erzählung ein Abbildungsverhältnis
von eins zu eins.“192 Es wird also einmal erzählt, was sich nur einmal ereignet hat.
Beispielsweise in dem Kapitel „Was mir zur Hochzeit geschenkt wurde“ malt Grass
sein Leben in Paris aus. Diese Beschreibung basiert auf den Einzelereignissen, die für
Konstruktion der Pariser Wirklichkeit bezeichnend sind:
„Schließlich kaufte uns Annas Vater in der Avenue d’Italie einen Hinterhofanbau,
dessen obere zwei Zimmerchen von einem schmalen Korridor verbunden wurden,
an den die winzige Küche und das Bad mit Sitzbadewanne grenzten.“ (S. 473)
„In Paris hörten Anna und ich von weit her, daß in West- und Ostberlin kurz
nacheinander Gottfried Benn und Bert Brecht gestorben waren und so ihre
zahlreichen Epigonen zu Weisenkindern gemacht hatten. Ich schrieb ein Gedicht als
Nachruf auf beide.“ (S. 474)
„In Paris kauften wir einen gebrauchten Kinderwagen, der den ungleichen
Zwillingsbrüdern nebeneinander Platz bot.“ (S. 476)
Man hat den Eindruck, dass die hier präsentierten Geschehnisse freie Assoziationen
sind, die dem Erzähler während der Beschreibung der Pariser Geschichte eingefallen
sind. Sie passierten nur einmal und sie wurden in dem Roman auch nur einmal
dargestellt. Diese Informationen, aus so verschiedenen Bereichen, wie Immobilien,
Literatur und Elternschaft gehören zusammen, der gemeinsame Anhaltspunkt ist
nämlich das Leben in der französischen Hauptstadt. Nach Meinung von Aristoteles ist
die zeitliche und räumliche Nähe (Kontiguität) ein wichtiges Organisationsprinzip.
Diese These bestätigt Pohl:
„Wenn von Assoziationen die Rede ist, denkt man meist nur an die Organisation
nach der bedeutungshaltigen Ähnlichkeiten, aber ebenso stellt die zeitliche Nähe
(Kontiguität) ein wichtiges Ordnungsprinzip dar.“ 193
191
Vgl. Genette, G.: Die Erzählung. München: Wilhelm Fink Verlag 1998, S. 81-114.
Martinez, M./Scheffel, M.: Einführung in die Erzähltheorie. München: C. H. Beck 2007, S. 45
193
Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: Verlag
W. Kohlhammer 2007, S. 23.
192
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
Dementsprechend lässt sich sagen, dass die zeitlich und räumlich zusammenhängenden
Informationen miteinander verbunden sind. Diese Gedächtniseigenschaft beobachtet
man, wenn man z.B. an den letzten Urlaub denkt. Neben den urlaubstypischen
Informationen werden nämlich auch ganz spezifische Episoden erinnert.
Ein weiterer Fall der Frequenz ist die repetitive Erzählung, die „ (…) durch die Formel
<wiederholt erzählt, was sich einmal ereignet hat> bestimmt [wird – M.B.].“194 Diese
Form eignet sich besonders zur Veranschaulichung, wie ein – und dasselbe Ereignis
durch die gleiche Figur zu verschiedenen Zeitpunkten wahrgenommen, erlebt oder
gewertet wird.195 Im Fall von „Beim Häuten der Zwiebel“ kann es jedoch keine Rede
von der Betrachtungsweise aus verschiedenen Zeitpunkten sein, denn „Beim Häuten der
Zwiebel“ ist eine Autobiographie, auch deswegen wurden alle Ereignisse aus derselben
Zeitperspektive dargestellt. Es lässt sich hier aber eine Reihe von Vorgängen finden, die
in
unterschiedlichen
beispielsweise:
Tod
Momenten
der
Mutter,
immer
wieder
Kriegsausbruch
auftauchen,
oder
das
hierzu
gehören
Schreiben
von
„Blechtrommel“. Schon ganz am Anfang des Romans wird Einfluss der Biografie des
Autors auf „ Die Blechtrommel“ veranschaulicht:
„Warum überhaupt soll Kindheit und deren so unverrückbar datiertes Ende erinnert
werden, wenn alles, was mir ab den ersten und seit den zweiten Zähnen widerfuhr,
(…) zu Zettelkram wurde, der seitdem einer Person anhängt, die, kaum Papier
gebracht, nicht wachsen wollte, Glas in jeder Gebrauchsform zersang, zwei hölzerne
Stöcke zur Hand hatte und sich dank ihrer Blechtrommel einen Namen machte, der
fortan zitierbar zwischen Buchdeckeln existierte und in weißnichtwieviel Sprachen
unsterblich sein will?“ (S. 8)
Dann an einer anderen Textstelle wird genau erklärt, warum ein bestimmtes Ereignis die
Widerspiegelung in dem Roman gefunden hat:
„Jedenfalls war die Familienrunde um den Kaffeetisch noch ganz und gar teils
schriftdeutsch, teils schweizerdeutsch in Wechselreden verstrickt, als ein Knabe,
etwa dreijährig, (…), behängt mit einer Kindertrommel das verrauchte Wohnzimmer
betrat und mit hölzernen Stöcken auf das runde Blech einschlug. (…) Ein Auftritt
mit Nachhall, ein Bild, das bleib. Doch sollte es noch lange dauern, bis endlich der
Riegel offenstand, die Treibgut mitführende Bilderschwemme freigesetzt wurde und
Wörter zuließ, die mir seit meiner Kindheit den Sparstumpf füllten.“ (S. 384)
194
Martinez, M./ Scheffel, M.: Einführung in die Erzähltheorie. München: C.H. Beck 2007, S. 46.
Vgl. mehr dazu: Wenzel, P. (Hg.): WVT – Handbücher zum Literaturwissenschaftlichen Studium.
Einführung in die Erzähltextanalyse. Kategorien, Modelle, Probleme. Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2004.
Bd. 6, S. 103.
195
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
Schließlich endet
„Blechtrommel“:
der
Roman
mit
Beschreibung
der
Veröffentlichung von
„Und als dann im Herbst neunundfünfzig der Roman >>Die Blechtrommel<< in
erster Auflage erschien, fuhren Anna und ich von Paris aus zur Frankfurter
Buchmesse, wo wir bis in den Morgen hinein tanzten.“ (S. 479)
Die hier angeführten Beispiele veranschaulichen, dass die Veröffentlichung von
„Blechtrommel“ eine besonders herausragende, emotionale Begebenheit für den
Erzähler ist. Davon zeugt nicht nur das mehrmalige Abrufen desselben Ereignisses,
sondern auch die detaillierte Beschreibung und Verknüpfung mit anderen Erinnerungen,
z.B. mit dem Besuch bei den Eltern einer Freundin oder mit dem Feiern mit der Frau.
Die riesigen Emotionen, die die Publikation von „Blechtrommel“ begleiteten, sind
Bewertungsoperatoren, die entschieden, dass gerade dieses Event wichtiger als andere
ist, und die mehrmalige Erwähnung verdient hat.196
Die letzte Möglichkeit von Frequenz ist die iterative Erzählung. Dabei kann man einmal
erzählen, was wiederholt passiert ist. Diese Variante eignet sich sowohl für das
Zusammenfassen von den Ereignissen, als auch für die Beschreibung der konstanten
Erscheinungen z.B. in Rahmen der täglichen Lebensordnung, was eine Art Rahmen für
die weiteren, genauer beschriebenen Vorkommnisse schafft. So beispielsweise wurde
der Rekrutenalltag dargestellt:
„Jedes zweite Wochenende war dienstfrei. Wir durften, so hieß es, >>zu Muttern<<
nach Hause. Und jedesmal kappte die Enge der Zweizimmerwohnung die Spitzen
meiner Vorfreude auf den Besuch. Da half kein Vanillepudding mit Mandelsplittern,
dessen Zutaten der Vater, ein Familienkoch aus Neigung, den knappen Lieferungen
abgezweigt und für festliche Anlässe gehortet hatte.“ (S. 77)
Solche Zeitbestimmungen wie: „jedes zweite Wochenende“, „jedes Mal“ und „immer“
zeugen davon, dass die hier beschriebene Situation mehrmals passierte. Der
Schwerpunkt liegt hier auf der allgemeinen Veranschaulichung des Alltags, was eine
Basis für nachfolgende Geschehnisse bildet, nämlich für die freiwillige Anmeldung zur
U-Boot-Flotte
(S.
77
-
78).
Nach
Meinung
von
Welzer
folgen
unsere
autobiographischen Erzählungen den Organisationsprinzipien, die sozial gebildet
wurden. Damit eine Geschichte kommunikativ wäre, muss sie einen Anfang, einen
Mittelteil und einen Schluss haben. Auch deswegen bevor der Erzähler zur
196
Vgl. mehr dazu: Welzer, H.: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München: C.H.
Beck 2002, S. 145-160.
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
Beschreibung seiner Fronterlebnisse übergeht, erklärt er zuerst, warum er sich
angemeldet hat.197
5.2.6. Raumdarstellung
Bei der Analyse der literarischen Raumdarstellung (Schauplatz, Setting) spielt die
Feststellung von Gerhard Hoffman eine wichtige Rolle, bei dem Raum gehe es nämlich
um etwas mehr als nur um einen Hintergrund für die Entwicklung der Handlung und
das Auftreten der Figuren. In Anlehnung an diese Feststellung und die philosophische
Untersuchungen des Raumes von Elisabeth Ströcker unterscheidet Wenzel: den
gestimmten Raum, Aktionsraum und Anschauungsraum. Ausgangspunkt bei dieser
Gliederung ist die phänomenologische Betrachtung des Raumes, das heißt, bei der
Entwicklung der Raummodelle bildet die Wahrnehmung lebensweltlicher Erfahrungen
eine signifikante Rolle. Mit anderen Worten: Es wird danach gefragt, auf welche Weise
Individuen, in der „wirklichen Wirklichkeit“ Räume wahrnehmen.198
Für den gestimmten Raum ist die Bestimmung durch die atmosphärische Aufladung
charakteristisch. Es geht hier nämlich um die Stimmung oder Atmosphäre, die in einem
Raum herrscht. Dabei kann diese durch eine Reihe von Faktoren beeinflusst werden,
wie z.B. die Assoziationen, die der Schauplatz bei dem Wahrnehmenden auslöst, oder
bestimmte Situationen, in denen sich der Wahrnehmende befindet. Bemerkenswert ist
noch, dass die Stimmung durch die gleiche Figur zu unterschiedlichen Zeitpunkten
different verspürt werden kann. Nach Meinung von Wenzel „(…) können
diese
Unterschiede im Erleben einer Figur auf ihre Entwicklung, auf eine Veränderung ihrer
inneren Situation, hindeuten.“199 Beispielsweise in „Beim Häuten der Zwiebel“ wird das
Familienhaus unterschiedlich beschrieben, je nach dem sich das Alter und die
Lebensbedürfnisse des Protagonisten änderten. So während der Kindheit erscheint das
Zuhause als Platz der Ruhe:
„Und in der Enge der Zweizimmerwohnung finde ich mich vorm Bücherschrank
meiner Mutter (…). Ein stirnhohes Schränkchen nur. Blaue Scheibengardinen
197
Vgl. Welzer, H.: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München: C.H. Beck
Verlag 2002. S. 185-186.
198
Vgl. Wenzel, P. (Hrsg.): WVT – Handbücher zum Literaturwissenschaftlichen Studium. Einführung in die
Erzähltextanalyse. Kategorien, Modelle, Probleme. Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2004. Bd. 6, S. 69-70.
199
Vgl. Wenzel, P. (Hrsg.): WVT – Handbücher zum Literaturwissenschaftlichen Studium. Einführung in die
Erzähltextanalyse. Kategorien, Modelle, Probleme. Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2004. Bd. 6, S. 73.
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
schützten die Büchrücken vor zuviel Licht. Eierstäbe schmückten als Zierleisten.
Ganz aus Nußbaum soll es das Gesellenstück eines Lehrlings sein, (…). Seitdem
stand das Schränkchen rechts vom Wohnzimmerfenster, gleich neben der Nische,
die mir gehörte. Unterm Bord des linken Wohnzimmerfensters, das dem Klavier und
den aufgeschlagenen Noten Seitenlicht gab, hausten das Poesiealbum und die
Puppen und Streicheltiere meiner Schwester, (…)“ (S. 53)
In der späteren Zeit jedoch, wird die Elternwohnung als ein unangenehmer, ekelhafter
Platz dargestellt:
„Zu Hause aber wurde mir das Klo auf der Zwischenetage, das vier Mietparteien
benutzten, mehr und mehr peinlich bis ekelhaft, weil es immer verdreckt von den
Nachbarskindern oder besetzt war, wenn es nötig wurde. Eine Stinkzelle, deren
Wände Finger beschmiert hatten. (…) Das Zweizimmerloch. Die Falle der Herkunft.
Dort engte alles den Wochenendheimkehrer ein. (…) Wenn ihm auch nicht mehr
zugemutet wurde, im Elternschlafzimmer, in dem überdies die Schwester schlief, ins
Bett zu kriechen, blieb er dennoch im Wohnzimmer, wo die Couch aufgebettet für
die Nacht auf ihn wartete, (…).“ (S. 77 - 78)
In Zeit der Kindheit war die Wohnung der Eltern bestimmt nicht größer, auch die
Toilette war nicht sauberer. Die Raumwahrnehmung des Protagonisten hat sich aber mit
dem zunehmenden Alter verändert. Die Erinnerung an die Stimmung des Wohnzimmers
bleibt jedoch konstant, obwohl die spätere Wahrnehmung einen reziproken Wert
darstellt. Erklärung dieses Zustandes bietet die Theorie von Welzer an, laut der, die
älteren Erinnerungen statisch und abgeschlossen sind, was verursacht, dass sie den
Veränderungen gegenüber resistent bleiben. Auch deswegen in kindlichen Erinnerungen
bleibt das Zuhause ein gemütlicher, sicherer Platz, obwohl der Erwachsene eine
schmale, unbequeme Wohnung sieht.200
Um einen Aktionsraum handelt es sich in dem Fall, „(…) wenn der Raum zum
Aushüfen von Handlungen genutzt wird.“201
Die Einführung solches Schauplatzes
ermöglicht eine nähere Charakteristik der Figur, dabei geht es aber nicht um die
komplexen Handlungen, sondern um eher einzelne Verhaltensweisen. Ein gutes
Beispiel dafür kann die Schilderung von der Angst und Abgeschiedenheit in einem
dunklen Wald sein. Der Erzähler beschreibt diese Situation so:
„Jetzt schläft er, sitzend an einem Baum gelehnt. Jetzt schreckt er auf, friert aber
nicht, obgleich ihm sein Mantel, der bei Weißwasser verlorenging, vorhin noch
gefehlt hat. Nun wirft er bei Tageslicht wie die Baumstämme einen Schatten, findet
200
Vgl. Welzer, H.: Kriege der Erinnerung. In: Gehirn & Geist 5/2005, S. 44.
Wenzel, P. (Hrsg.): WVT – Handbücher zum Literaturwissenschaftlichen Studium. Einführung in die
Erzähltextanalyse. Kategorien, Modelle, Probleme. Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2004. Bd. 6, S. 71.
201
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
aber nicht aus dem Wald heraus, stolpert ohne es zu merken im Kreis, (…). Nun
kaut er, während es schon wieder eindunkelt und ein Käuzchen ruft, letzte Krümel,
ist hungrig und gottverlassen unter ziemlich bewölktem Nachthimmel. Ganz und gar
im Dunkel gefangen, lernt er eine weitere Lektion, sich zu fürchten, spürt die
Fürcht, wie sie ihm rücklings aufsitzt, will sich an Kindergebete erinnern, (…)ruft
womöglich seine Mutter an (…), bleibt aber im dunklen Wald mutterseelenallein,
bis wirklich etwas geschieht. “ (S. 157 - 158)
In dem hier angeführten Beispiel wurde veranschaulicht, welchen Einfluss auf den
Protagonisten die Waldeinsamkeit ausübt. Er fühlt sich „gottverlassen“ und
„mutterseelenallein“, vor Angst versucht er alte Gebete ins Gedächtnis zu rufen.
Angesichts der Gefahr und der rohen Natur ist aus einem tapferen Soldaten nichts übrig
geblieben, vor Augen der Rezipienten erscheint ein betender, seine Mutter rufender
Junge. Von Bedeutung ist dabei die oberflächliche Beschreibung des Waldes. Außer
Information von einem „ziemlich bewölktem Nachthimmel“, wird dem Leser nichts
mehr bekannt gegeben, der Schwerpunkt wird auf die Verhaltensweise der Figur
gelenkt. Das eigene Benehmen scheint dem Protagonisten am wichtigsten zu sein, auch
deswegen wurde es eingehend behalten. Derselben Meinung ist Pohl: „Das wichtigste
Selektionskriterium ist sicherlich die subjektive Wichtigkeit, je nach Bedürfnis und
Situation. Wir speichern vorrangig die Dinge, die für uns wichtig sind.“202
Als dritten Raum unterscheidet Wenzel den Anschauungsraum, für den das Sehen eine
entscheidende Rolle spielt. Diese Raumstruktur wird durch die Objektivität
gekennzeichnet, damit die Figuren ihre räumliche Existenz aufweisen konnten und der
Autor eine Verstehensgrundlage für die Leser schaffen vermag. Auf den ersten Blick
scheint also dieser Schauplatz nichts mehr als eine Art Hintergrundfolie zu sein, vor der
sich das „eigentliche“ Geschehen abspielt.
203
In dem Kapitel „Übertage und untertage“
wurde z.B. ein Bergbaudorf genau geschildert:
„Mein Arbeitsplatz, das Bergwerk Siegfried I, war nahe dem Dorf Groß Giesen im
Kreis Sarstedt zu finden. (…) Etwa zwischen Hildesheim und Hannover lag das
Dorf in flacher Gegend, geeignet für den Zuckerrübenanbau. Nur am südwestlichen
Horizont hügelte bläulich das Weserbergland. Und aus dem frühsommerlich grün
bestandenen Flächen ragten der Förderturm der Schachtanlage, die Steinmühle, das
Kesselhaus mit seitlich angebauter Waschkaue, zudem das villaartige Gebäude der
Betriebsleitung und der alles an Höhe überbietende, teils in Kegelform weiß
202
Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: Verlag
W. Kohlhammer 2007, S. 33.
203
Vgl. Wenzel, P. (Hrsg.): WVT – Handbücher zum Literaturwissenschaftlichen Studium. Einführung in die
Erzähltextanalyse. Kategorien, Modelle, Probleme. Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2004. Bd. 6, S. 77.
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
aufgeschüttete, teils abgeflacht langgestreckte Abraumhügel, auf den tagaus, tagein
weiteres ausgelaugtes Gestein, der Abraum gekippt wurde: (…)“ (S. 251)
Die Lokalisation und die Landschaft des Dorfes wurden ziemlich genau beschrieben,
genauso wie das Bergwerk selbst. Dem Rezipienten wurde beispielsweise der Überblick
über die Lage der einzelnen Gebäuden präsentiert, sodass kein Zweifel daran besteht,
dass dieser Ort und die dort stattgefundenen Ereignisse real sind. In Worten von
Halbwachs kann man Bestätigung für diese Theorie finden, denn nach seiner Meinung,
braucht die Wahrheit eine konkrete Form des Ereignisses, damit sie sich in Erinnerung
der Gruppe festsetzen
konnte.204 Das kleine Dorf wurde hier also in eine
Erinnerungsfigur transformiert. Auch wenn der Raum neutral beschrieben wurde, ist er
für die Konstruktion der Erinnerungen von der hervorragenden Bedeutung. Die
Erinnerungen wurden nämlich verfestigt und beglaubigt, denn sie im Boden verankert
sind.205
Manchmal die räumlichen Gegebenheiten erhalten ihre Bedeutung nicht nur aus dem
konkreten Text, indem sie vortreten sind, sondern haben innerhalb der bestimmten,
historischen Kontexte eine besondere Bedeutung. „Durch Konventionalisierung von
Mitbedeutungen können bestimmte Orte Symbolcharakter erhalten.“206 Solche Orte
sind nicht von dem Betrachter mit Bedeutung aufgeladen, sondern sind aus sich heraus
bedeutsam, wie z.B. Tower für Engländer oder Versailles für Franzosen. In „Beim
Häuten der Zwiebel“ wurde beispielsweise Johanniskirche als ein Symbolraum
dargestellt:
„Wann immer ich mich in das Innere der gotischen Hallenkirche schlich – das Portal
war stets nachlässig versperrt -, fand ich im staub und Geröll sowie zwischen den
gelagerten Steinen menschliche Knochen und Knöchlein, wobei unsicher bleibt, ob
sie spätmittelalterlicher Herkunft waren oder mich an die Männer, Frauen und
Kinder erinnern sollten, von denen es hieß, sie seien, als die Stadt und alle Kirchen
brannten, in der hellauf brennenden Johanniskirche zu Tode gekommen.“ (S. 117)
Die hier beschriebene Kirche, ist nicht nur eins von den zahlreichen, Danziger
Gotteshäusern, das noch lange Zeit nach dem Krieg in Trümmern stand. Die Johannes
Kirche gilt hier als ein Platz, wo hunderte von Menschen ums Leben gekommen sind.
204
Vgl. Assmann, J.: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen
Hochkulturen. München: C.H. Beck 2005, S. 37-39.
205
Vgl. Assmann, A.: Erinnerungsraume. Formen und Handlungen des kulturellen Gedächtnisses. München:
C.H. Beck 1999, S. 298-300.
206
Wenzel, P. (Hrsg.): WVT – Handbücher zum Literaturwissenschaftlichen Studium. Einführung in die
Erzähltextanalyse. Kategorien, Modelle, Probleme. Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2004.Bd. 6, S. 82.
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
Es ist ein Ort, der als Symbol des Niedergangs des Deutschen Reiches, der Zerstörung
von Danzig und Grausamkeit der sowjetischen Soldaten gilt.
5.3. Zur Gedächtnisstruktur des Erzählers
Das autobiographische Gedächtnis ist ein kompliziertes System unterschiedlicher
Mechanismen, mit deren Hilfe die „schlummernden“ Erinnerungen geweckt werden.207
Bei der Analyse des Widerrufs von Memoiren stellten die Wissenschaftler fest, dass
diese in Form von Beobachter- und Felderinnerungen erscheinen können und dass bei
diesem Prozess die sog. Gedächtnisstützen, also Fotos und alte Dokumente behilflich
sind. Sie gelten als Beweise der Vergangenheit und schonen einigermaßen vor der
Unzuverlässigkeit der Erinnerungen. In diesem Kapitel werden gerade diese drei
Aspekte des Gedächtnisses am Bespiel einiger Textabschnitte des Romans von Grass
untersucht.
5.3.1. Darstellung der Beobachter- und Felderinnerungen
In diesem Punkt soll der Aspekt der Beobachter- und Felderinnerungen in Anlehnung
an Daniel L. Schacter analysiert werden. Schacter in „Wir sind Erinnerung“
unterscheidet
zwei
zentrale
Modi
des
autobiographischen
Erinnerns:
die
Felderinnerungen (field memories) und die Beobachtererinnerungen (observer
memories).
Die Felderinnerungen „(…) reaktualisieren vergangenes, situationsspezifisches Wissen
aus den Augen der erlebenden, emotional involvierten Person;“208 Das vergangene
Ereignis wird aus der ursprünglichen Perspektive dargestellt, die damaligen Emotionen
werden unverändert ins Gedächtnis gerufen. Dementsprechend lässt sich also sagen,
dass sich die Felderinnerungen durch große emotionale Intensität und Festigkeit gegen
die nachfolgenden Schematisierungen zeichnen. In solcher Form wurden die
lebenswichtigen Ereignisse präsentiert, wie z.B. der erste Besuch an der Kunstakademie
207
Vgl. Assmann, A.: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen, Wissen, Ethik 13/2002, S. 184.
Neumann, B.: Erinnerung, Identität, Narration. Gattungstypologie und Funktionen kanadischer „Fictions of
Memory“. Berlin: de Gruyter 2005, S. 30.
208
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
(S. 280), das erste Telefongespräch mit Anna (S. 428 - 429), der Auftritt vor Gruppe’47
(S. 456) oder der Besuch bei den zukünftigen Schwiegereltern:
„Die Pforte verlockte zur Flucht. Warum nicht gleich und sofort? Über die
Terrassenbrüstung wäre mit einer Flanke der Sprung in den Garten zu schaffen
gewesen; beweglich genug für rasche Abgänge war ich ohnehin. (…) Was hatte ich
hier zu suchen? Welcher Gnadenbeweis hätte mich, den hartgesottenen Zweifler,
erlösen können? Zwischen Zwinglianern und Calvinisten kam sich der heidnische
Katholik verirrt, wie ein versprengter Papist aus Zeiten der Hugenottenkriege vor.
Zudem stand kein Gläschen Pflümli in Griffweite. Weg, nur weg! Schon hatte ich
verstohlen die innere Brusttasche meiner Jacke abgetastet – in ihr steckte der
Reisepaß -, schon saß ich – vom Kopf her – auf dem Sprung, nur die Beine zögerten
noch, schon holte ich tief Atem und sah dabei nicht ohne Anstrengung an Anna
vorbei, die womöglich mit mir litt und Schlimmes ahnte, (…)“ (S. 428 - 429)
Sichtbar ist, dass sich der Erzähler vor allem auf seinen Gefühlen und nicht auf dem
tatsächlichen Geschehen konzentriert. Die emotionale Seite wurde in diesem Fragment
bis ins Kleinste dargestellt, z.B. die Fragen, die sich der Protagonist damals stellte, der
Wunsch nach Alkohol und Flucht, schließlich die Reaktion des Körpers auf eine
stressige Situation. Obwohl das Geschehen vor über vierzig Jahren stattgefunden hat,
ist der Widerruf durch eine große Lebhaftigkeit gekennzeichnet.
Neben den Felderinnerungen erscheinen auch die Beobachtererinnerungen. Nach
Freuds Auffassung sind solche Memoiren nichts anders als modifizierte field memories.
Die vergangenen Ereignisse werden also aus einer Perspektive geschildert, die das
Individuum mit der Zeit gewinnt.209 Die sich erinnernde Person sieht sich selbst als eine
handelnde Person. Zu solchen Erinnerungen gehören beispielsweise die Geschehnisse
aus der Jugend:
„Ich sehe ihn lesen. Das, nur tut er mit Ausdauer. Dabei stöpselt er beide Ohren mit
den Zeigefingern, um in enger Wohnung gegen den fröhlichen Lärm der Schwester
abgeschirmt zu sein. Jetzt trällert sie, kommt näher. Er muß aufpassen, denn gern
schlägt sie ihm das Buch zu, will mit ihm spielen, immer nur spielen, ist ein
Wirbelwind. Nur auf Distanz ist ihm seine Schwester lieb.“ (S. 37)
Sowohl der Satz „Ich sehe ihn lesen.“, als auch Präsentation eigener Geschichte aus
Position des auktorialen Erzählers betonen die Distanz aus der das Geschehen
dargestellt wurde. Zwar ist hier die Rede von Leserleidenschaft und dem emotionalen
Verhältnis zu eigener Schwester, aber das Ganze wurde auf eine neutrale Weise
beschrieben, sodass es mehr an eine Filmszene als an ein reales Geschehen erinnert.
209
Vgl. Schacter, D.L.: Wir sind Erinnerung. Gedächtnis und Persönlichkeit. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt
1999, S. 45.
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
Solche Erinnerungsperspektive erlaubt „(…) eine selbstreflektierte Distanz zu der
Vergangenheit
und
deren
aktive
Vergegenwärtigung
im
Lichte
aktueller
Bedingungen.“210 Demnach lässt sich sagen, dass die Entsinnung eines Ereignisses von
dem gegenwärtigen Selbstkonzept abhängt. Dieser These ist zu folgen, denn auch
Neumann stellte fest, dass „Zwischen einem aktualisierten Selbstschemata und
gegenwärtig verfügbaren autobiographischen Erinnerungen besteht ein Verhältnis
dynamischer, wechselseitiger Beeinflussung: Selbstschemata prägen die Selektion und
Deutung von identitätsrelevanten Erinnerungen (…).”211 Der Erzähler – ein
Schriftsteller, veranschaulicht auf eine objektive Weise, dass ihm die Literatur schon in
der Kindheit mehr wert war, als das Spielen mit der Schwester.
5.3.2. Gedächtnisstütze
Die Erinnerungen sind nach Aleida Assmann flüchtig und labil. Sie verändern sich im
Laufe der Zeit oder geraten völlig in Vergessenheit.212 Der Abruf solcher
unzugänglichen Erinnerungen kann im Alltag auf zweifache Weise vorkommen:
entweder gezielt, mithilfe alter Dokumente, Fotos und Tonbandaufnahmen, oder
zufällig durch emotionale Reize, die unerwartet erscheinen und die vergessenen
Erinnerungen aufwachen.213 In dem Roman von Grass wurden beide Fälle des Abrufs
von Geschehnissen präsentiert. Der Erzähler versucht seine Lebensgeschichte durch die
ihm zugänglichen Dokumente chronologisch zu ordnen und mit dem geschichtlichkulturellen Kontext verbinden. So beispielsweise blättert er die Alben mit
Zigarettenbildern (S. 11 - 14) oder die alten Zeitungen durch, um das Bild seiner
Kindheitsstadt und gleichzeitig sein eigenes Bild zu rufen:
Neumann, B.: Erinnerung, Identität, Narration. Gattungstypologie und Funktionen kanadischer „Fictions of
Memory“. Berlin: de Gruyter 2005, S. 31.
211
Neumann, B.: Erinnerung, Identität, Narration. Gattungstypologie und Funktionen kanadischer „Fictions of
Memory“. Berlin: Walter de Gruyter 2005. S. 31.
212
Vgl. Assmann, A.: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen, Wissen, Ethik 13/2002, S. 184.
210
213
Vgl. Schacter, D.L.: Wir sind Erinnerung. Gedächtnis und Persönlichkeit. Reinbek bei Hamburg:
Rowohlt Verlag 1999, S. 40.
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
„Während der aus den Beständen des Archivs herbeigeschaffte Zeitungsjahrgang
neununddreißig durchblättert wird, nehme ich nur flüchtig wahr, was sich im
>>Danziger Vorposten<< als Beginn des Krieges an Alltäglichkeiten
niedergeschlagen hat. Zwar kritzelt das angejahrte Ich in seine Kladde, welche
Filme während der ersten Septemberwoche in Langfuhr und in den altstädtischen
Kinos liefen, zum Beispiel im >>Odeon<< am Dominikswall >>Wasser für
Canitoga<< mit Hans Albers, zugleich aber fängt sein abschweifender Blick jenen
vierzehnjährigen Jungen ein, der drei Lesetische weiter entrückt sitzt und sich in
einer reich bebilderten >>Knackfluß-Kunstler-Monographie<< verliert.“ (S. 51 - 52)
Durch die Lektüre der alten Zeitung erinnert sich der Erzähler nicht nur an die damalige
Wirtschaftssituation, an das Kinorepertoire und teilweise auch an das Stadtbild, sondern
auch an seine Freizeitbeschäftigung. Ähnlich wirkt ein anderes Erinnerungsmedium,
nämlich die Fotografie:214
„Allenfalls geling es mir, mit Hilfe der wenigen Fotos, die meine Mutter nach
Kriegsende in den Westen gerettet hatte, ein weiteres Selbstbild des
Heranwachsenden zu entwerfen. (…) Ernst bis verdüstert gleiche ich einem früh
pubertierenden Schüler, dem Aufsässigkeit gegenüber Paukern zuzumuten ist:
wenn man ihn reizt, könnte er handgreiflich werden. Und so kam es denn auch
dazu, dass ein feinster Musiklehrer, (…), mich, nur mich rügte und zu schütteln
wagte, worauf ich ihn mit meiner Linken an der Krawatte packte (…).“ (S. 50)
Das Foto gilt hier als Erinnerungsauslöser, durch sein Ansehen erinnert sich der
Erzähler an die Schuljahre und den Konflikt mit seinem Lehrer. In beiden Fällen sind
die Erinnerungen bewusst abgerufen und in Form einer Erzählung dargestellt, in der die
sich erinnernde Peron als Subjekt erscheint. Laut Aleida Assmann hat man hier mit dem
Ich-Gedächtnis zu tun, denn diese Gedächtnisform „(…) ist das Produkt einer
bewussten und intentionalen (Re-) Konstruktion der Vergangenheit, die dem jeweiligen
Selbstbild einer Person in Übereinstimmung gebracht wird.“215
Neben dem Ich-Gedächtnis unterscheidet Assmann noch eine weitere Form, nämlich
Mich-Gedächtnis. In dieser Erinnerungsform melden sich die Erinnerungen unerwartet,
als Antwort für bestimmte äußere Reize, wie z.B. Orte, Gegenstände, Gerüche und
Geschmäcke, die als Gedächtnisauslöser funktionieren.216 Beispielweise als der
Erzähler Gdańsk besuchte und sich an seine erste Liebe erinnerte:
214
Vgl. mehr dazu in: Erll, A.: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart,
Weimar: Metzler 2005, S. 126-130.
215
Assmann, A.: Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen. Berlin:
Erich Schmidt 2006, S. 182.
216
Vgl. dazu ausführlich: Assmann, A.: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und
Geschichtspolitik. München: C.H. Beck 2006, S. 119-124.
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
„Und als wir gegen Ende der neunziger Jahre wieder einmal Gdańsk besuchten
und in einer Privatwohnung zwischen kleinem Publikum auf engstem Raum die
gelungene Aufführung der Theaterfassung meiner Erzählung >>Unkenrufe<< als
deutsch-polnisches Kammerspiel sahen, kam Ute und ich nach der Vorstellung
an einem Altbau im ehemaligen Brunshöferweg vorbei. >>Hier wohnte sie<<,
sagte ich und kam mir lächerlich vor. Was ich verloren hatte, war anfangs kaum,
dann aber doch leidlich zu verschmerzen.“ (S. 91 - 92)
Blick des Hauses im Brunshöferweg erinnert dem Erzähler an seine erste unerfüllte
Liebe. Dieser Rückkehr in die Vergangenheit wurde durch den Besuch eines
bestimmten Ortes verursacht, den Aleida Assmann als Gedächtnisort bezeichnet.
Solcher Platz gilt als ein Verschränkungspunkt der sinnlichen Gegenwart, also des
Gebäudes, in seiner materiellen Dimension und der historischen Vergangenheit also der
Liebesgeschichte.217 Demnach lässt sich sagen, dass die hier herangezogene Erinnerung
von dem aktuellen Hinweisreiz abhängt, was Schacter als einen assoziativen Abruf
bezeichnet.
Eine andere Art des Abrufs, ist der strategische, zielgerichtete Abruf. Die sich
erinnernde Person sucht langsam und vorsätzlich nach den Erinnerungen.218 Auch diese
Abrufsart erscheint in „Beim Häuten der Zwiebel“, als sich der Erzähler auf den
Bernstein konzentriert, um die fehlenden Erinnerungen zu finden:
„Wann immer mein anderes Hilfsmittel, die imaginierte Zwiebel, nichts ausplaudern
will oder ihre Nachrichten mit kaum zu entschlüsselnden Lineaturen auf feuchter
Haut verrätselt, greife ich ins Fach überm Stehpult meiner Behlendorfer Werkstatt
und wähle unter den dort lagernden Stücken, gleich ob gekauft oder gefunden. (…)
Wenn ich es lange genug gegen Licht halte, das ständige Ticktack in meinem Kopf
abstelle (…), also ganz und gar bei mir bin, erkenne ich anstelle des
eingeschlossenen Insekts, (…), mich in ganzer Figur: vierzehnjährig und nackt.“ (S.
65)
In diesem Fragment präsentiert der Erzähler eine Art Mnemotechnik, die durch
Erreichung eines Ruhestands und durch das Schenken der Aufmerksamkeit einer quasi
neutralen Sache die Kindheitserinnerungen aufweckt. Diese Maßnahme dient dem
gezielten Abruf von den vergessenen Erinnerungen.
Zusammenfassend kann man sagen, dass die Erinnerungen im großen Maße von den
Gedächtnisstützen abhängig sind. Dank diesen Hilfsmaßnahmen kann man nicht nur
217
Vgl. Assmann, A.: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses.
München: C.H. Beck 1999, S. 338.
218
Vgl. Schacter, D.L.: Wir sind Erinnerung. Gedächtnis und Persönlichkeit. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt
Verlag 1999, S. 115.
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
den Zugang zu den vergangenen Ereignissen finden, sondern auch diese beweisen.
Selten passiert, dass plötzlich und ohne einen Grund zu haben, erinnert sich der Mensch
an etwas. Die Erinnerungen sind fast immer durch einen Reitz gesteuert, sogar der
eigene Gedanke kann zum Abruf der Vergangenheit führen.
5.3.3. Unzuverlässiges Erinnern
„Es ist offensichtlich, daß Menschen nicht nur je nach Lebensalter unterschiedliche
Formen des Zugriffs auf ihre Erinnerungen zeigen, sondern daß auch diese
Erinnerungen selbst Gegenstand höchst vielfältiger Umdeutungen, Umschriften,
Neuerfindungen etc. sind.“219
Dementsprechend kann man sagen, dass nicht alle lebensgeschichtlichen Erinnerungen
wahr sind und deshalb sollte man ihnen mit großem Vorbehalten trauen. Dieser These
folgt auch der Erzähler in dem Roman „Beim Häuten der Zwiebel“. Er ist nämlich
seiner Erinnerungsunzuverlässigkeit bewusst. Mehrmals wiederholt er, dass nicht alles,
was in dem Buch steht, war ist, denn „(…) Erinnerung liebt das Versteckspiel der
Kinder.“ (S. 8) und „oft gibt die Lüge oder deren kleine Schwester, die Schummelei,
den haltbarsten Teil der Erinnerung ab;“ (S. 9) In diesem Abschnitt wird also der
Versuch unternommen werden einige Beispiele des unzuverlässigen Erinnerns zu
illustriert und zu besprechen.
Makowitsch und Welzer geben einige Gründe für das Erscheinen solcher falschen
Erinnerungen. Manche Memoiren verschwinden einfach, wenn sie selten oder gar nicht
in Anspruch genommen sind. In „Beim Häuten der Zwiebel“ wurden diese
Gedächtnislücken in Form von unbeantworteten Fragen geschildert, z.B. bei der
Beschreibung des auf dem Dachboden gefundenen Koffers:
„Unter Gerümpel und zwischen ausrangierten Möbeln wartete ein besonderer
Koffer auf mich; so jedenfalls deutete ich den Fund. Lag er unter verschlissenen
Matratzen? Tippelte auf dem Leder gurrend eine Taube, die sich durch die
Dachluke verflogen hatte? Hinterließ sie, von mir aufgescheucht, frischen
Taubenmist? Wurde der verknotete Bindfaden sofort aufgedröselt? Griff ich zum
Taschenmesser? Hielt mich Scheu zurück? Trug ich den eher kleinen Koffer
treppab und überließ ihn brav der Mutter?“ (S. 58 - 59)
219
Markowitsch, H.J./ Welzer, H.: Das autobiographische Gedächtnis. Hirnographische Grundlagen und
biosoziale Entwicklung. Stuttgart: Klett-Cotta 2005, S. 28.
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
Der Erzähler ist hier nicht sicher, wie der Koffer aussieht, wann er ihn gefunden hat und
wie dieser nach Hause gebracht wurde. Jedenfalls in weiterem Fragment wurde der
Kistengehalt bis ins Kleinste beschrieben (S. 59 - 61). Dieses Gedächtnisphänomen lässt
sich mit der Feststellung von Pohl erklären, dass der Mensch vorrangig diese Dinge
speichert, die ihm wichtig sind.220 Das Aussehen des Koffers hat für den Erzähler keine
Bedeutung, das aber was drin steckt, gilt als wesentlich.
Ähnlich sieht die Situation bei den traumatischen Erinnerungen aus. Nach Meinung von
Schacter ist deren Kern fast immer genau erinnert und die Gedächtnistäuschungen
betreffen nur Einzelheiten.221 So vergisst der Erzähler die peripheren Details –
Ortsname oder Faktoren, die zu dem Angriff beigetragen haben:
„Wie wir hinter die russische Linie geraten sind und in den Keller des Hauses,
das mehr einer Kate glich, gefunden hatten, ist unklar. Nun sollte uns der
Ausbruch auf die gegenüberliegende Straßenseite und in eines der Häuser retten,
die noch von unseren Leuten verteidigt wurden. Den Feldwebel, eine lange Latte
mit schräg sitzender Feldmütze, höre ich sagen: >>Jetzt oder nie! << Der Name
der umkämpften Ortschaft, die in der sandigen Lausitz lag (…), blieb unbekannt
oder wurde von mir vergessen. (…)“ (S. 146 - 147)
erinnert sich aber völlig genau an das zentrale Moment dieses traumatischen Ereignisses
– Tod eines Soldaten:
„Ich will einen zappelnden, bald nur noch zuckenden Haufen gesehen haben.
Jemand – der lange Feldwebel? – überschlug sich im Fallen. Dann rührte sich
nichts mehr. Allenfalls sah ich ein aus dem Haufen regendes Vorderrad: wie es
sich drehte und drehte.“ (S. 148)
Solche detaillierte Abrufsmöglichkeit des traumatischen Ereignisses, bei dem
gleichzeitigen Vergessen des Nebenfadens, nennt man Waffeneffekt.222 Der Erzähler ist
hier, wie die Opfer eines Raubüberfalls, die sich genau an die Waffe erinnert, weiß aber
nicht wie der Täter aussieht. Wenn man aber die Beschreibung dieses Vorkommnisses
zu Ende liest, dann kommt zum Vorschein noch ein anderer Aspekt der
Unzuverlässigkeit von Erinnerungen, nämlich die Quellentauschung:
„Es kann aber auch sein, daß diese Beschreibung des Gemetzels nur ein
nachgeliefertes Bild ist, das inszeniert wird, weil ich schon vor dem
220
Vgl. Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte.
Stuttgart: W. Kohlhammer 2007, S. 33.
221
Vgl. Schacter, D.L.: Wir sind Erinnerung. Gedächtnis und Persönlichkeit. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt
Verlag 1999, S. 337.
222
Vgl. Schacter, D.L.: Wir sind Erinnerung. Gedächtnis und Persönlichkeit. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt
1999, S. 339.
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
schlußmachenden Geballer meinen Posten im Kellerfenster geräumt hatte und
nichts sah, nichts sehen wollte.“ (S. 148)
Der Erzähler äußert hier die Bezweiflung an die Echtheit dieses Vorkommnisses. Seiner
Meinung nach, konnte die Szene mit dem toten Soldaten und dem sich immer noch
drehenden Vorderrad eine Übertragung sein. Solche Quellentäuschung erscheinen ganz
oft im Alltag. Das ist, nach Meinung von Pohl, Ergebnis der Verarbeitung großer
Informationsmenge, die aus unterschiedlichen Quellen stammt, wie z.B. das Fernsehen,
die Bücher oder die Beobachtungen. Am Ende weiß man einfach nicht mehr, welche
Geschehnisse zu privaten Erinnerungen gehören und welche nur Übertragungen sind.223
Manchmal sind die Erinnerungen nicht zugänglich wegen der Kindheitsamnesie. In dem
Roman von Grass erscheinen z.B. fast keine Erinnerungen aus der frühen Kindheit. Das
Geschehen beginnt erst als der Erzähler zwölf Jahre alt ist. Nur bei manchen Themen
kommt es zu der tieferen Versinkung in der Vergangenheit, z.B. bei der Erinnerung an
das kindliche Ratespiel:
„Schon als zehnjähriger Knabe konnte ich auf ersten Blick Hans Baldung, den
man Grien nannte, von Matthias Grünewald, Frans Hals von Rembrandt und
Filippo Lippi von Ciamabue unterscheiden. (…) Auf Wunsch abgefragt von der
Mutter, die die Bildtitel und Namen der Künstler mit zwei Fingern verdeckte
kamen des Sohnes Antworten treffsicher.“ (S. 13 - 14)
Das Spiel mit dem Erkennen von Malern wird durch den Erzähler – zukünftigen
Künstler nur deswegen erwähnt, weil es zu dem Selbstkonzept passt. „Erst wenn die
fortgeschrittene Selbstwahrnehmung eintritt, kann das autobiographische Gedächtnis
seinen Anfang nehmen und für die Erinnerungen sorgen, die ein Leben lang abrufbar
bleiben“.224 Erwähnung des Spieles bestätigt den späteren artistischen Status des
Erzählers und deswegen wurde in dem Roman präsentiert.
Als letztes Beispiel für die Unzuverlässigkeit der Erinnerungen wird die Kodierung
falscher Informationen besprochen. In diesem Fall wurde aber die Unwahrhaftigkeit der
Angaben demaskiert. Der Erzähler präsentiert nämlich seine Betrachtungsweise der
Waffen-SS während des Krieges:
223
Vgl. Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart:
Verlag W. Kolhammer 2007, S. 41.
224
Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: W.
Kolhammer 2007, S. 116.
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
„Eher werde ich die Waffen-SS als Eliteeinheit gesehen haben, die jeweils dann
zum Einsatz kam, wenn ein Fronteinbruch abgeriegelt, ein Kessel, wie der von
Demjansk, aufgesprengt oder Charkow zurückerobert werden mußte. Die
doppelte Rune am Uniformkragen war mir nicht anstößig. Dem Jungen, der sich
als Mann sah, wird vor allem die Waffengattung wichtig gewesen sein: (…).
Auch ging von der Waffen-SS etwas Europäisches aus: in Divisionen
zusammengefaßt kämpften freiwillig Franzosen, Wallonen, Flamen und
Holländer, viele Norweger, Dänen, sogar neutrale Schweden an der Ostfront in
einer Abwehrschlacht, die, so hieß es, das Abendland vor der bolschewistischen
Flut retten werde.“ (S. 126 - 127)
Während der Nazidiktatur wurde die SS durch den Erzähler als eine hochgeschätzte
Militäreinheit betrachtet. Heute assoziiert er diese Organisation eindeutig mit den
schlimmsten Kriegsverbrechen: „Selbst wenn mir tätige Mitschuld auszureden war,
blieb ein bis heute nicht abgetragener Rest, der allzu geläufig Mitverantwortung
genannt wird.“ (S. 127)
Diese Ansichtsrevision beweist nur die Theorie von
Markowitsch und Welzer, dass die Erinnerungen kein genauer Spiegel des vormaligen
Geschehens sind, sondern dass das auf die Wahrheit der Erinnerungen die Manipulation
einen Einfluss haben kann.225 Wenn es nämlich nicht entdeckt würde, wofür die SS
verantwortlich ist, dann würde der Erzähler weiter glauben, dass er Soldat einer elitären
Einheit war.
6. Schlussbetrachtungen
Abschließend soll knapp eine Antwort auf folgende Fragen gefunden werden: Wie
werden die Erinnerungen in Günter Grass’ Text auf der narratologischen Ebene
inszeniert und welche Strukturen des individuellen Gedächtnisses lassen sich in dem
Roman finden.
Die Analyse des Romans von Günter Grass beginnt mit der Gattungsklassifikation. Die
Untersuchung hat bewiesen, dass „Beim Häuten der Zwiebel“ eine Autobiographie ist.
Davon zeugt die Art und Weise der Präsentation von Erinnerungen: Geschlossenheit
und chronologische Darstellung der Vorkommnisse, Reaktualisierung subjektiver
Vergangenheitserfahrungen mithilfe eines beurteilenden, dominierenden Ich-Erzählers
und Eindruck der Authentizität, die der Autor durch Detailrealismus, Felderinnerungen
225
Vgl. Markowitsch, H. J./ Welzer, H.: Das autobiographische Gedächtnis. Hirnographische Grundlagen und
biosoziale Entwicklung. Stuttgart: Klett-Cotta 2005, S. 28.
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
und Unzuverlässigkeit des Erinnerns gewinnt. Dazu wird in dem Text die Frage nach
dem Gewordensein der schriftstellerischen Identität gestellt und diese durch
Schilderung unterschiedlicher Ereignisse beantwortet, die eine Art Brücke zwischen
Vergangenheit und Gegenwart bilden.226
Die Analyse zeigt eindeutig, dass in dem Roman alle Gedächtnisarten der
Assmannschen Klassifikation vorhanden sind. In den individuellen Erinnerungen des
Erzählers
erschienen
beispielsweise
Elemente
des
kulturellen
und
generationsseozifischen Gedächtnisses. Der Erzähler zitiert und kommentiert in den
inter- und metatextuellen Passagen die gelesenen und selbst verfassten Bücher und
Gedichte. Die Erinnerung an die einzelnen Werke ist gleichzeitig Erinnerung an die
Geschichte überhaupt, denn das reale Leben kann die Bücherthematik prägen. Neben
dem Bezug auf die literarischen Texte, erscheint in „Beim Häuten der Zwiebel“ die
außenliterarische Rede - Interdiskursivität. Die Wiedergabe des Soldatenjargons, der
Alltagssprache und des kaschubischen Dialekts stiften das Gedächtnis von kollektiver
Identität des Erzählers und dadurch auch die Authentizität des Erzählten. Auch
Änderung der Erzählinstanz suggeriert den Wechsel zwischen den individuellen und
kollektiven Erinnerungen. Da „Beim Häuten der Zwiebel“ eine Autobiographie ist,
kommt der Ich-Erzähler als eine dominierende Form vor. Diese Erzählinstanz ist bei
den Felderinnerungen und Reflexionen (individuelles Gedächtnis) vorhanden. Der
auktoriale Erzähler hingegen tritt bei den narrativen Erinnerungen227, die durch ihre
Veröffentlichung zum Generationengedächtnis gehören. Die Analyse des Textes
umfasst auch die Untersuchung der Erzählebenen nach der Klassifikation von Genette.
In dem Roman von Grass lassen sich demnach drei Formen der Ebene unterschieden:
die extradiegetische Ebene des Autor-Erzählers, wo durch Reflexion die Distanz zur
Vergangenheit dargestellt wird, die intradiegetische Ebene der richtigen Erzählung, wo
neben der Lebenserinnerungen die Erinnerungen an die Bücher erscheinen und
schließlich die metadiegetische Ebene, auf der sich die wiedergegebenen Geschichten
befinden. Im Mittelpunkt der narratologischen Untersuchung steht die Analyse der
Zeitdarstellung. Diese ermöglicht das Beweisen unterschiedlicher Eigenschaften des
individuellen
226
Gedächtnisses.
So
zeugt
die
achronologische
Darstellung
der
Vgl. Neumann, B.: Fictions of Memory: Erinnerung und Identität in englischsprachigen
Gegenwartsromanen. In: Literatur in Wissenschaft und Unterricht 4/2004, S. 342-343.
227
Vgl. Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte. Stuttgart: W.
Kolhammer 2007, S. 45.
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
Erinnerungen
von
dem
fragmentarischen
Charakter
des
autobiographischen
Gedächtnisses. Die Prolepsen und Analepsen beweisen, dass die persönlichen
Erinnerungen nicht wahllos angehäuft sind, sondern auf ihre Art „sortiert“. Einführung
von Szenen soll die Aufmerksamkeit auf die traumatischen oder besonders emotionalen
Memoiren lenken und die Pausen geben die Möglichkeit für die Einführung von
Reflexionen. Raffung und Dehnung hingegen dienen der Unterscheidung zwischen
wichtigen und unwichtigen Informationen. Ähnliche Funktion üben die Ellipse und die
repetitive Erzählung (Frequenz) aus. Die letzte Form der Zeitdarstellung ist die iterative
Erzählung, mit deren Hilfe die sich wiederholenden Erinnerungen nur einmal
geschildert werden, was der Geschichtewiedergabe nach den sozialen Regeln verhilft.228
Im letzten Punkt der narratologischen Untersuchung wurde der Raum analysiert. In
„Beim Häuten der Zwiebel“ lassen sich alle drei Raumarten der Wenzelschen
Klassifikation finden. Neben dem gestimmten Raum, bei dem der statische Charakter
von Erinnerungen durch die genaue Inszenierung der vergangenen Atmosphäre gezeigt
wird, erscheinen auch der Anschauungsraum und der Aktionsraum. Während der erste
der Präsentation von traumatischen und emotionalen Erinnerungen dient, verfestigt der
andere die vergangenen Vorkommnisse, denn diese nach Meinung von Halbwachs eine
konkrete Form brauchen.229
Im nächsten Kapitel der Arbeit wurde der Roman von Grass unter dem Gesichtspunkt
einiger Eigenschaften des individuellen Gedächtnisses analysiert. Berücksichtigt waren
dabei die Beobachter- und Felderinnerungen, Gedächtnisstützen und das unzuverlässige
Erzählen. Die Untersuchung hat unter Beweis gestellt, dass die dominierende Form von
Erinnerungen die Beobachtererinnerungen sind. Die Felderinnerungen kommen nur
dann vor, wenn das Ereignis vom besonderen Belang für den Erzähler ist. Es stellte sich
auch heraus, dass die Erinnerungen im großen Maße von den Gedächtnisstützen
abhängen. Dank solchen Hilfsmaßnahmen, wie z.B. alte Zeitungen und Fotos kann man
nicht nur den Zugang zu den vergangenen Ereignisseen finden, sondern auch diese
beweisen. Der in dem Roman dargestellte Prozess des Abrufs von Erinnerungen
veranschaulicht auch, dass diese fast immer durch einen Reitz gesteuert sind, sogar der
Besuch eines alten Ortes kann zum Abruf der Vergangenheit führen - assoziativer
228
Vgl. Welzer, H.: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München: C.H. Beck
Verlag 2002. S. 185 - 186.
229
Vgl. Assmann, J.: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen
Hochkulturen. München: C.H. Beck 2005. S. 37 – 39.
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
Abruf230.
Neben
(unzuverlässiges
den
Memoiren
Erzählen),
die
erscheinen
in
Form
im
der
Roman
Gedächtnislücken
unbeantworteten
Fragen,
der
fragmentarischen Erinnerungen (Waffeneffekt) und Quellentauschungen231 erscheinen.
Manchmal werden die Vorkommnisse falsch kodiert oder wegen Kindheitsamnesie
völlig verschwiegen.
„Beim Häuten der Zwiebel“ ist eine Autobiographie, deren primäre Funktion die
Schilderung von Erinnerungen ist, was auch in der Arbeit bewiesen wurde. Die Analyse
der Romans veranschaulicht auch, wie unterschiedliche Darstellungsverfahren der
Schriftsteller
benutzen
kann,
um
die
individuellen
und
kollektiven
(generationsspezifischen) Arten des Gedächtnisses zu präsentieren.
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230
Vgl. Schacter, D. L.: Wir sind Erinnerungen. Gedächtnis und Persönlichkeit. Reinbek bei Hamburg:
Rowohlt 1999, S. 115.
231
Vgl. Pohl, R.: Das autobiographische Gedächtnis. Die Psychologie unserer Lebensgeschichte . Stuttgart:
W. Kolhammer 2007, S. 41.
Zur Inszenierung von Erinnerungen in dem Roman von Günter Grass
„Beim Häuten der Zwiebel“
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