Rolf Sistermann - RPI

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Rolf Sistermann
Konsumismus oder soziale Gerechtigkeit?
Wirtschaftlicher Wettbewerb und Solidarität im Sozialstaat als Themen
in der Sek. II
In: ZDPE Heft 1/ 2005
Der ehemalige Präsident des Bundesverbands der deutschen Industrie, Hans- Olaf Henkel,
laut Bildzeitung immer noch „Deutschlands klügster Manager“ (15.9.04), behauptet in seinem
Buch „Die Ethik des Erfolgs“, dass in Deutschland seit den siebziger und achtziger Jahren die
Wirtschaft und der Wettbewerb „verteufelt“ werde.
„Die Wirtschaft, so das gängige Bild, ist ein gefährlicher Gigant, dem man Fesseln anlegen
muss, damit er nicht zu viel Unheil in der sozialen Welt anrichtet.“ 1
Die Verteufelung des Wettbewerbsprinzip der Marktwirtschaft hält er für die eigentliche
Ursache der Bildungskatastrophe, die in den Pisastudien manifest geworden ist. „Jede Leistung,
ganz zu schweigen von Spitzenleistung, wurde argwöhnisch beobachtet: Wollte sich hier einer
auf Kosten der Gemeinschaft profilieren? Das Grundprinzip jedes effektiven Bildungssystems,
der Wettbewerb, wurde stufenweise außer Kraft gesetzt.“ 2
Zwar gibt er zu, dass kriminelle Großpleiten, Korruptionsfälle und überzogene Managergehälter
manchmal leider „Steilvorlagen“ für diese Angriffe geliefert hätten. Damit sei aber die
Sündenbockfunktion der Unternehmer nicht gerechtfertigt.
Wenn auch die Folgerungen, die H.O. Henkel in seinem Buch daraus zieht, überzogen
erscheinen, muss man zugeben, dass die Marktwirtschaft im Philosophie-, Ethik-, Deutsch- und
vor allem im Religionsunterricht bislang nicht besonders gut wegkam. Wenn sie überhaupt
thematisiert wurde, dann stellten die Schulbücher und Unterrichtsmodelle dieser Fächer oft
Heinrich Bölls „Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral“ in den Mittelpunkt. In ihr will ein
Tourist einen Fischer, der nach dem morgendlichen Fischzug zufrieden in der Sonne liegt,
davon überzeugen, dass er die freie Zeit besser nutzen, noch einmal hinausfahren und sich nach
und nach ein zweites Boot, einen Kutter, ein Kühlhaus, eine Räucherei, eine Marinadenfabrik,
eine Fischrestaurantkette usw. anschaffen sollte. Er könne dann, wenn er alles erreicht habe,
beruhigt im Hafen sitzen, in der Sonne dösen und auf das Meer schauen. „Aber das tue ich ja
jetzt schon“, antwortet der Fischer und hat die Lacher und nach der Absicht der
Schulbuchherausgeber die Einsicht der Schüler auf seiner Seite, dass kapitalistischer
Wettbewerb und Leistungsmoral unsinnig sind.
Die Marktorientierung wurde oft mit Hilfe von Erich Fromm kritisiert, der mit seiner auf den
ersten Blick griffigen Gegenüberstellung von „Haben oder Sein“ eine pädagogisch
einflussreiche didaktische Typologie geschaffen hat. 3
Ich muss gestehen, dass ich immer Schwierigkeiten hatte, meinen Schülern4 die
Gegenüberstellung von Haben und Sein zu vermitteln, die den Pädagogen so schnell
einleuchteten wollte. Die Haben-Haltung war noch leicht zu erklären. „In der Existenzweise des
Habens ist die Beziehung zur Welt die des Besitzergreifens und Besitzens, eine Beziehung, in
der ich jedermann und alles, mich selbst mit eingeschlossen, zu meinem Besitz machen will.“
Dass diese Haben-Haltung in den marktwirtschaftlich organisierten Industriegesellschaften weit
verbreitet ist, leuchtete ein. Was aber besonderes an der Lebenshaltung des Seins sein sollte und
was daran besser sein sollte, als an der des Habens konnte ich meinen Schülern nur schwer klar
machen. In einem Kurs in der Jahrgangsstufe 12.2 zum Thema „Sozialstaat und Gerechtigkeit“
1
H.O. Henkel, Ethik des Erfolgs, Spielregeln für die globalisierte Gesellschaft, 5.A., München: Econ
2002, 84f
2
a.a.O.112
3
Vgl z.B. : „Geht es auch anders? Haben und Sein“ W. Bender/M. Mutzbauer, sehen-werten-handeln,
Ethik 7.-10. Jahrgangsstufe, München:BSV 2002, 64ff; „Haben oder Sein? Radikaler Humanismus bei
Erich Fromm“ U. Gerber, R. Mokrosch, H. Schmidt, ethik 8/10, Franfurt a.M./München:
Diesterweg/Kösel 1986, 31ff
4
Mit Schülern sind natürlich auch immer die Schülerinnen mitgemeint.
2
vor einigen Jahren wehrten die Schüler sich heftig gegen moralische Zumutungen, mit denen sie
sich nur Nachteile auf dem Weg nach oben einzuhandeln glaubten. Dass „die da oben“ auf
Kosten „der da unten“ lebten, wurde heftig bestritten und als Opas Sozialromantik belächelt. Sie
fanden es völlig in Ordnung, einmal möglichst viel zu besitzen, Erfolg zu haben und sich
durchsetzen zu können. Warum sollte ich ihnen das madig machen?
Auch das Argument des konstruktivistischen Biologen Humberto Maturana, „Wettbewerb ist
wesentlich asozial, weil er die Negation des anderen bedeutet.“5, mit dem die Thesen Erich
Fromms gestützt werden können, konnte sie nicht beeindrucken. Erstaunlichen Anklang fand
dagegen die steile These des Münchener Professors für Philosophie und Ökonomik Karl
Homann „Wettbewerb und Investieren sind solidarischer als ‘Teilen’“ 6. Sie steht quer zu allem,
was in der Tradition der ‚Kritischen Theorie’ oder der politischen Theologie zum
Verteilungsproblem und zur Bewertung des Wettbewerbs geschrieben wurde. Anlass genug,
eine neue Unterrichtsreihe zu entwerfen, die dem fächerübgreifenden Zusammenhang von
Wettbewerb und Sozialer Gerechtigkeit gründlicher nachgeht und Erklärungen für die
unterschiedlichen Bewertungen zu finden sucht.
Der Philosophieunterricht hat hier wie in anderen Bereichen die Aufgabe, die Unterschiede in
den
Denkweisen bewusst zu machen, sie auf ihre Gründe zu befragen und nach
allgemeingültigeren Lösungen zu suchen, die die unterschiedlichen Argumentationen
berücksichtigen.
Der Aufbau der Unterrichtsreihe folgt der von Roland Henke beschriebenen Dialektik als
Unterrichtsprinzip. Nachdem eine philosophische Position dargeboten wurde, folgt eine „aus der
Philosophiegeschichte entnehmbare Kritik an der zuvor analysierten Position, die es ebenfalls
nachzuvollziehen und schließlich auch zu beurteilen gilt.“ Die subjektive Urteilsfähigkeit wird
zwar in der intuitiven Problemlösungsphase gefordert, aber sie ist dann „an begrifflich
bestimmten und sich darauf beziehenden kritischen philosophischen Gedankenbewegungen zu
entwickeln, die gleichsam den Unterbau ihrer dialektischen Betätigung bilden und sie (die
Schüler) dadurch vor eristischer Geschwätzigkeit oder leerem Skeptizismus“7 bewahren. Es
geht im Folgenden nicht darum, den Verlauf einer bestimmten Zahl von Unterrichtstunden
genau zu beschreiben. Vielmehr soll bei der Analyse einer Reihe von Unterrichtsmedien die
Komplexität des Themas erörtert und schließlich in der Einordnung in einen größeren
begrifflichen Zusammenhang ein didaktischer Zugriff gefunden werden.
5
H. Maturana, Biologie der Sozialität,
in: S.J. Schmidt (Hg), Der Diskurs des radikalen
Konstruktivismus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, 301
6
K. Homann/ F. Blome-Drees, Wirtschafts- und Unternehmensethik, Göttingen: UTB 1993, 62
7
R. Henke, Dialektik als Didaktisches Prinzip, in: ZDPE, 2/2000, 121f. Die Dialektik als didaktisches
Prinzip ist nicht zu verwechseln mit der Dialektik als methodischem Prinzip, die Ekkehard Martens in
seiner Methodik zusammen mit vier anderen methodischen Prinzipien beschrieben hat, und auf die ich in
Abschnitt 4 eingehen werden.
3
1. Wirtschaftlicher Wettbewerb als Weg zum Krieg oder zum Frieden
In der Hinführung zum
Thema betrachten wir
die
Reklame der
Zeitschrift
„Wirtschaftswoche“.
Man kann den Schülern
zuerst das Bild ohne die
Kommentare
präsentieren
und
fragen,
ob
der
dargestellte
wilde
Reiterkampf etwas mit
dem Thema Wirtschaft
zu tun hat. Die Schüler
kommen schnell auf
den
Begriff
‚Konkurrenzkampf’.
Damit sind wir beim
Thema. Es tauchen
weitere Fragen auf:
Wen
betrifft
der
Konkurrenzkampf?
Geht es nur um
Marktanteile oder auch
um Arbeitsplätze, Positionen in der Gesellschaft usw.? Wie kommt es zu dem
Konkurrenzkampf? Muss er so unerbittlich grausam geführt werden? Ist ein System denkbar, in
dem er vermieden werden kann? Die Kommentare, die nun nacheinander aufgedeckt werden,
bringen weitere Dimensionen des Themas ins Spiel? Der erste, „Du sollst begehren deines
Nächsten Marktanteil.“, erinnert an das neunte und zehnte Gebot aus dem zweiten Buch Moses.
Aus dem Verbot, das Eigentum des Nächsten zu begehren, ist ein provozierendes Gebot
geworden. Hier kann man weiterfragen? Wer stellt das Gebot auf? Was droht, wenn ich das
Gebot nicht befolge? Gibt es einen verborgenen Gott des Marktes? Der zweite Kommentar,
„Nichts ist spannender als Wirtschaft“, konterkariert die Ernsthaftigkeit der aufgeworfenen
Fragen. Ist das alles vielleicht nur ein spannendes Spiel, das man nicht zu ernst nehmen sollte?
Fragen genug, die in der intuitiven8 Problemlösungsphase von den Schülern diskutiert und zu
denen eigene Texte verfasst werden können. In der angeleitet kontrollierten
Problemlösungsphase werden die Schüler nun mit sehr unterschiedlichen Antworten auf die
Frage „Ist der Wettbewerb ein kriegerischer Kampf oder ein spannendes Spiel?“ konfrontiert.
Der Text von Erich Fromm9 (M1) fasst die Kritik am Wettbewerbsdenken zusammen und
spitzt sie zu. Die Existenzweise des Habens führt zu Habgier, Rivalität, Antagonismus und
Krieg. Wenn man das 13. und 14. Kapitel von Thomas Hobbes’ „Leviathan“ zum Vergleich
heranzieht, lernen die Schüler den Ursprung dieses Gedankengangs kennen.10
8
Zu den Phasenbezeichnungen vgl Abschnitt 4
Erich Fromm, Krieg und die Seinsweise des Habens (1976) aus: Haben oder Sein, Die seelischen
Grundlagen einer neuen Gesellschaft, München: DTV 1979, S.111f; ähnlich sieht das auch heute noch die
sogenannte Befreiungstheologie, z.B. Ulrich Duchrow und Franz Josef Hinkelammert, Leben ist mehr als
Kapital, Alternativen zur globalen Diktatur des Eigentums, Oberursel: Publik- Forum 2002, 102:
„Wettbewerb ist eine Art Krieg, und daher wird auf dem Markt nicht einfach ein Spiel gespielt. Es
handelt sich um einen Krieg, der ganz ähnliche Konsequenzen hat wie ein heißer Krieg.“
10
Den englischen Originaltext findet man unter
http://www.infidels.org/library/historical/thomas_hobbes/leviathan.html
9
4
Der direkte Bezug aber ist die Definition der Konkurrenz als „Krieg unter Habsüchtigen“ in
den Frühschriften von Karl Marx, die Erich Fromm erstmals 1961 in Amerika veröffentlicht
und kommentiert hat.
Ich halte eine Auseinandersetzung mit der Position von Karl Marx nach wie vor für
erhellender und spannender als eine mit der vagen und wenig greifbaren Existenzweise des
Seins, die Fromm als Alternative anbietet. Seit dem Zusammenbruch der kommunistischen
Staaten scheint Marx im Unterricht keine Bedeutung mehr zu haben. Viele Schüler kennen
kaum noch den Namen. Die Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik scheint ohne Alternative
zu sein. Zweifel, ob sie wirklich eine gerechte ist, kommen manchen, wenn man über die
unterschiedliche Vermögensverteilung spricht.
11
Bevor ich den Schülern die Grafik präsentiere, lasse
ich sie schätzen, wie hoch der Anteil am gesamten
Grund- und Geldvermögen der Bundesrepublik bei
der reicheren Hälfte der Bevölkerung und bei den 10
Prozent der Bevölkerung ist, die am meisten
besitzen. Dass die reichere Hälfte 100% des
Grundvermögens und 90% des Geldvermögens und
das reichste Zehntel davon alleine schon fast die
Hälfte besitzt, hat fast keiner erwartet und gibt
Anlass zum Nachdenken.12 In ähnlicher Weise kann
man schätzen lassen, wie viel mal mehr ein Direktor
bei der Deutschen Bank im Vergleich zu einem
durchschnittlichen Arbeitnehmer in Deutschland
verdient.
Die Grafik aus dem Spiegel (31/2004) ruft noch
mehr Erstaunen, bei manchen sogar Empörung
hervor. Nachdem die Schüler wieder in einer
intuitiven Problemlösungsphase selber überlegt
haben, durch welche Maßnahmen die Verteilung des
Volkseinkommens und der Produktionsweise
verändert werden könnte, lernen sie den Schluss des
zweiten Abschnitts aus dem „Kommunistischen
Manifest“ kennen (M2), in dem Marx und Engels
zehn Maßregeln als „Mittel zur Umwälzung der
ganzen Produktionsweise“ vorschlagen. Sie können
die einzelnen Maßnahmen gewichten, sich die
aussuchen, die sie für die wichtigste und wirksamste
halten und eine Pro- und- Contra- Diskussion
vorbereiten und durchführen.
Die Abschaffung des Erbrechts oder abgemildert die
Erhöhung der Erbschaftsteuer, ist eine der
Maßregeln, die immer wieder hitzige Diskussionen
auslösen.
Andere Forderungen, wie z.B. die unentgeltliche
Erziehung aller Kinder, sind für die Schüler inzwischen ziemlich selbstverständlich. Der Lehrer
muss hier darüber informieren, dass dies zu Marxens Zeit durchaus nicht der Fall war. Adam
Smith hielt es sogar für völlig falsch, die Lehrer von Staats wegen zu besolden, weil damit der
„nötige Druck auf die Lehrer, sich voll und ganz einzusetzen, mehr oder weniger gemildert
(werde), da ihr Lebensunterhalt, soweit er das Gehalt betrifft, offensichtlich aus einer
11
E. Fromm, Das Menschenbild von Karl Marx mit den wichtigsten Teilen der Frühschriften von Karl
Marx, 11.A., Frankfurt a.M.: EVA 1980, 85; Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem
Jahre 1844, S. 90. Digitale Bibliothek Band 2: Philosophie, S. 48350 (vgl. MEW Bd. 40, S. 510-511)
12
Weitere Zahlen finden sich in D. Eißel, Ziele und Widerstände einer Besteuerung der Reichen, in: J.
Stadlinger (Hg), Reichtum heute, Münster 2001
5
Geldquelle bestritten wird, die völlig unabhängig von Erfolg und beruflichem Ansehen fließt.“
In der Diskussion um Studiengebühren und Leistungsbesoldung von Beamten werden ähnliche
Argumente wieder aktuell.
Auf die Forderung nach einer starken Progressivsteuer werden wir später eingehen, da sie
ausführlicher erläutert werden muss, damit die Schüler sinnvoll dazu Stellung nehmen können.
Auch wenn dies später durch einen pseudowissenschaftlichen Mythos verdeckt wurde14,
steht am Anfang bei Marx ein moralischer Ansatz, nämlich der neue „kategorische Imperativ,
alle Verhältnisse umzustoßen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein
verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“15 In ihrem Kommunistischen Manifest werfen Marx
und Engels der Bourgeoisie vor, Verhältnisse geschaffen zu haben, die „kein anderes Band
zwischen Mensch und Mensch übrig(...)lassen als das nackte Interesse, als die gefühllose bare
Zahlung.“16
Nach der von Roland Henke beschriebenen Dialektik als Unterrichtsprinzip genügt es in der
Auseinandersetzung mit Marx nicht, wenn die Schüler zu dem gängigen Urteil kommen, der
Kommunismus sei ein schöner Traum, der aber in der Praxis nicht zu verwirklichen sei, was ja
auch die Vergangenheit bestätigt habe. Dialektik als Unterrichtsprinzip verlangt, dass die
Schüler nachvollziehen können, wie grundlegende Gedanken aufgenommen und kritisiert
worden sind und dabei durchdachte Gegenpositionen entwickelt wurden. Sie erfahren so die
Philosophie als ein Gespräch über die Generationen hinweg, in dem zurückliegende Argumente
so ernst genommen werden wie nirgendwo sonst.
‚Das konsumistische Manifest’ von Norbert Bolz (M3) gehört zwar nicht zur
Philosophiegeschichte, sondern steht eher für ein Zeugnis des Zeitgeistes. Es bezieht sich aber
unmittelbar schon im Titel auf den Text von Marx und Engels und knüpft direkt an die oben
zitierte Kritik am „gefühllosen“ bourgeoisen Denken an, so dass die Schüler in den
dialektischen Prozess von Rede und Gegenrede einbezogen werden. Norbert Bolz, der „Dandy
der Medientheorie“, wie ihn die Zeit betitelt hat (30/2004), stimmt in seinem „konsumistischen
Manifest“ ein provozierendes Loblied auf die „gefühllose bare Zahlung“ an. Die Schüler
erkennen die radikale Umkehrung der These von Fromm und Marx: Konkurrenz und
Wettbewerb führen nicht zum Krieg, sondern zum Frieden. Begründung: Andere Bindungen
führen zu einem latent gewaltbereiten Freund- Feind- Denken. Für Handel und Konsum gibt es
keine Feinde. Jeder, der zahlen will und kann, ist willkommen. Bolz akzeptiert die marxsche
These, dass der Kapitalismus eine Religion des Warenfetischismus ist. Er hält diese Religion
aber für verbindender und zeitgemäßer als herkömmliche Religionen.17 Kritische Schüler
bemerken eine Lücke in der scheinbar schlüssigen Argumentation. Ob einer nicht zahlen kann
oder nicht zahlen will, macht für Bolz keinen Unterschied. Warum einer nicht zahlen kann,
interessiert ihn nicht. Er rechnet nur mit gleich starken Teilnehmern am allgemeinen Tausch.
Ein weiteres Gegenargument, auf das die Schüler wohl nicht von selbst kommen, hat Eva
Sewing vorgebracht: „Es ist – selbst wenn man ein solches fragiles Gleichgewicht der
Marktteilnehmer als erreicht voraussetzt – aber nicht plausibel anzunehmen, die jeweiligen
Konkurrenten gäben sich mit ihrer einmal erworbenen Position zufrieden. Durch nichts
gebunden als durch das nackte Interesse an Geld und Macht sind den Teilnehmern am Markt
keine Grenzen gesetzt, die dem Bedürfnis nach Sicherung und Ausdehnung der eigenen
Stellung Einhalt gebieten würden. Zum Anderen zwingt das latente Misstrauen gegenüber dem
seinerseits nach Machtausdehnung trachtenden Konkurrenten zur bedingungslosen Suche nach
dem eigenen Vorteil. Eine lediglich auf ökonomische Prinzipien gegründete Marktmoral – wie
Bolz sie fordert – erscheint somit als kein überzeugender Weg zum Ewigen Frieden. Eher führt
13
13
Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen, Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen,
München: DTV 1978,646
14
Vgl. R. Tucker, Karl Marx, Die Entwicklung seines Denkens von der Philosophie zum Mythos,
München: Beck 1963
15
K. Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, in: K. Marx, Frühschriften, hrsg. v. S.
Landshut, Stuttgart: Kröner 1968, 216
16
K. Marx/ F. Engels: Manifest der kommunistischen Partei, in: K. Marx, Frühschriften, hrsg. v. S.
Landshut, Stuttgart: Kröner 1968, 528
17
„Kapitalismus als Religion - das ist keine kritische Diagnose mehr, sondern die schlichte
Selbstbeschreibung des Marktes.“ (Norbert Bolz, Die Sinngesellschaft, Düsseldorf: Econ 1997, 152; vgl.
auch N. Bolz/ D. Bosshard, Kult- Marketing, die neuen Götter des Marktes, 2.A., Düsseldorf: Econ
1995)
6
sie zum Kampf aller gegen alle und die Welt hinter die Errungenschaften der aufgeklärten
westlichen Zivilisation zurück.“18
2. Soziale Gerechtigkeit zwischen Wettbewerb und Fürsorge
Mit der Frage nach denen, die nicht zahlen können, ist das zweite Thema der Reihe
angesprochen, die soziale Gerechtigkeit. Das Grundproblem der Wirtschaftsethik kann man
Schülern am besten mit Szenen aus Bert Brechts Stück ‚Der gute Mensch von Sezuan’
veranschaulichen: Shen-te, eine Kleinunternehmerin, wird von allen ausgenutzt, weil sie aus
Gutmütigkeit Schulden erlässt, Waren an Bedürftige umsonst abgibt oder deren Arztrechnungen
übernimmt. Erst ihr Vetter Shui-ta, durch den sie sich in höchster Not vertreten lässt, rettet sie
mit seinen rüden und unbarmherzigen Geschäftsmethoden vor dem Ruin. Als sich herausstellt,
dass Shen-te und Shui-ta in Wahrheit eine Person sind, wird klar, dass in einer
Wirtschaftsordnung, in der jeder nur auf seine Vorteil sieht, Mitleid und Gutmütigkeit den
Menschen zu zerreißen drohen. Die wirtschaftliche Not dieser Welt übersteigt die Kräfte eines
Einzelnen. Konkurrenzwirtschaft und Mitleidsmoral scheinen einander auszuschließen. Teilen
ist keine Lösung im Kampf gegen soziales Elend. Was aber ist der richtige Weg zur sozialen
Gerechtigkeit? Und vor allem: Was ist überhaupt soziale Gerechtigkeit?
Was ist soziale Gerechtigkeit?
So viel Prozent der Befragten glauben (Mehrfachnennungen)...
Sozial gerecht ist, wenn Menschen entsprechend ihrer Tüchtigkeit unterschiedliche Einkommen
haben 78
Sozial gerecht ist, wenn das obere Viertel der Gesellschaft deutlich stärker zur Kasse gebeten
wird 64
Der Begriff „soziale Gerechtigkeit“ wird nur vorgeschoben, um eigene Interessen durchzusetzen
55
Diejenigen, die soziale Gerechtigkeit fordern, wollen wirklich einen gerechten
Interessenausgleich herbeifuhren 43
Sozial gerecht ist, wenn alle gemäß ihrem Einkommen belastet werden 35
Sozial gerecht ist, wenn alle das Gleiche haben 20
Quelle: Emnid-Institut, 2003
Bevor ich den Schülern die Ergebnisse der Emnid Umfrage präsentiere, lasse ich Sie in einem
Vier- oder in diesem Falle eher Sechs-Ecken-Gespräch die These begründen, die sie am
überzeugendsten finden. Ich drucke jede These einzeln auf ein DIN-A 4 Blatt, hefte sie an vier
Stellen im Klassenraum und fordere die Schüler auf, sich für eine zu entscheiden und mit den
dort versammelten Gesinnungsgenossen Begründungen und Beispiele zu finden.
Die erste, aber vor allem die dritte These geht auf den wohl wichtigsten Anreger und
radikalsten Vertreter des Neoliberalismus, Friedrich August von Hayek, zurück (M4 und M5).
Von Hayeks Schriften waren im Ostblock verboten. Ihr Besitz konnte mit Gefängnis bestraft
werden. 1974 erhielt er den Nobelpreis für Ökonomie, merkwürdiger Weise zusammen mit
dem schwedischen Sozialisten Gunnar Myrdal, den dieser daraufhin zurückwies. Als
zeitweiliger Professor für „moral and science“ erhob er in seinen Schriften immer auch einen
philosophischen Anspruch. Da die Bedeutung der Argumente von Hayeks für unser heutiges
Denken im Philosophieunterricht noch zu wenig wahrgenommen worden ist19, sollen sie hier
ausführlicher dargestellt werden, um eine sachgemäße Auseinandersetzung zu ermöglichen.
Anschließend sollen in Sinne der oben beschriebenen dialektischen Didaktik Gegenpositionen
entwickelt und schließlich eine Synthese gesucht werden. Nach der Lektüre der beiden
Textauszuge von Hayeks erkennen die Schüler die Ähnlichkeit zu der dritten These der
Umfrage: „Der Begriff ‚soziale Gerechtigkeit’ wird nur vorgeschoben, um eigene Interessen
Eva Sewing: Konsumismus – ein Weg zum ewigen Frieden? (Philosophisches Kolloquium im
Philosophischen Seminar in Bonn am 22.07.04). In ihrem Vortrag machte E. Sewing darauf aufmerksam,
dass die These, dass der „Handelsgeist“ nicht mit dem Krieg zusammen bestehen kann und früher oder
später in jedem Volk Fuß fassen wird, sich erstaunlicher Weise schon im ersten Zusatz von Kants Schrift
„Zum ewigen Frieden“ findet, allerdings mit anderer Begründung.
19
Eine Ausnahme stellt die gerade erschienene Neubearbeitung der ‚Zugänge zur Philosophie’ dar. (L.
Assmann u.a., Zugänge zur Philosophie 1, Berlin: Cornelsen 2004, 442ff)
18
7
durchzusetzen.“ Von Hayek hält die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit für ein „unredlichen
Mittel“, „einem zu verstehen zu geben, man solle der Forderung irgendeines Sonderinteresses,
für das gar keine wirklichen Gründe sprechen, nachgeben“. Er bezweifelt, dass es eine
politische Macht geben kann, die die Anstrengungen der Gesellschaft koordinieren kann, um ein
als gerecht angesehenes bestimmtes Verteilungsmuster zu erreichen, und dass es eine
moralische Pflicht gibt, sich dieser Macht zu unterwerfen. Soziale Gerechtigkeit, die einen
Ausgleich schaffen will zwischen den wenigen, die immer mehr, und den vielen, die immer
weniger besitzen, hält er nicht nur für eine Illusion, sondern für eine gefährliche demagogische
Parole von Leuten, die ein Sonderinteresse unter einem sozialen Mäntelchen verstecken, um so
leichter an das Geld anderer kommen zu können. Er greift damit nicht nur die Sozialisten an,
sondern auch bestimmte christliche Theologen, die seiner Ansicht nach ihren verlorenen
Glauben an eine übernatürliche Offenbarung durch eine neue >soziale< Religion ersetzten
wollen. Für ihn gibt keine Verteilungsgerechtigkeit (justitia distributiva), sondern nur die
Tauschgerechtigkeit (justitia commutativa) und die Gerechtigkeit vor dem Strafgericht (justitia
correctiva). Wirtschaft ist nach dieser Theorie kein Nullsummenspiel, bei dem die Gewinne der
einen auf die Kosten der anderen gehen, sondern ein Spiel, bei dem es angeblich nur Gewinner
geben kann.20
Wettbewerb ist ein unentbehrliches „Entdeckungsverfahren“ für die
kostengünstigsten Lösungen. Deshalb ist jede soziale Unterstützung, die über die Sicherung des
Überlebens hinausgeht, eine Droge, die eine falsche, nämlich eine lebensuntüchtige
Entwicklung fördert. Wirtschaft wird also in Analogie zu Darwins natürlicher Selektion als ein
naturwüchsiger Prozess gesehen, aus dem sich Staat und Politik möglichst heraushalten sollten.
Die Argumentation scheint in sich schlüssig und kommt der Denkweise vieler Schüler sehr
entgegen. Es ist nicht leicht, Gegenargumente zu finden. Die kritische Auseinandersetzung mit
den Thesen von Hayeks fehlt nicht nur in den Unterrichtsmodellen, sondern weitgehend auch in
der philosophischen Literatur.
Die Lektüre des Textes von R.. Kurz (M6), einem der wenigen, die sich ausführlicher mit
von Hayek auseinandergesetzt haben, lenkt den Blick auf die Tatsache, dass von Hayek den
Raum eigenständigen politischen Handelns zwischen der Verantwortung einzelner und den
anonymen Gesetzen der Ökonomie vollkommen ausblendet.21 Ein auf Solidarität mit den
Schwachen gegründeter Sozialstaat ist damit grundsätzlich ausgeschlossen.
Daran anschließend habe ich weitere kritische Fragen zusammengestellt, über die die Schüler
diskutieren können:
1. Von Hayek gibt zwar zu, dass die Startchancen auf dem Spielfeld Markt „bei weitem nicht
für alle gleich“ sind22, hält dies jedoch nicht für einen gravierenden Einwand dagegen, dass es
sich trotzdem lohnt, „den höchstmöglichen Nutzen aus dem unvermeidlich verschiedenartigen
Können, Wissen und den jeweiligen Umständen des einzelnen zu ziehen“. Ist aber nicht die
Ausgangslage für viele so schlecht, dass eine freie Wahl bei dem Einsatz ihrer Arbeitskraft
unmöglich ist und damit Ressourcen ungenutzt bleiben, wenn die Chancengleichheit nicht
verbessert wird?
2. Von Hayek folgert daraus, dass niemand als Einzelner die Verantwortung für den Verlust
eines anderen auf dem Markt trägt, dass es keine soziale Gerechtigkeit geben kann. Kann man
aber die moralische Tugend der Verantwortung mit dem politischen Prinzip der Gerechtigkeit
einfach gleichsetzen?
20
So auch bei H.O. Henkel, Ethik des Erfolgs, Spielregeln für die globalisierte Gesellschaft, 5.A.,
München: Econ 2002, 151: „Da man durch Wettbewerb wettbewerbfähig wird, kann es, bei fairen
Spielregeln, nur Gewinner geben.“
21
R. Kurz selbst, der den leviathanischen Staatsozialismus gleichermaßen ablehnt wie den „bewusstlosen
anonymen Marktmechanismus“, kommt seinem Anspruch auf „bewusste soziale Gesellschaftlichkeit“
sicher noch viel weniger nach als die von ihm kritisierten Systeme, wenn er Sozialmissbrauch und
Banküberfälle empfiehlt: „ Ist es nicht besser, erhobenen Hauptes und mit der Waffe in der Hand im
Kampf gegen die Polizei des demokratischen Orwell-Staates zu sterben, als ein Leben lang die
Unterhosen rationiert zu bekommen, Hundekot einzusammeln oder sich sonstwie zum Idioten der
»Besserverdienenden« machen zu müssen?“ (Robert Kurz, Schwarzbuch Kapitalismus, Ein Abgesang auf
die Marktwirtschaft, 3.A., Ullstein TB, Frankfurt a.M. 2003, 796ff)
22
Insofern trifft ihn nicht der Einwand, dass die liberalkonservative Ideologie fälschlicher Weise
voraussetze, dass „alle unter gleichen Voraussetzungen starten.“ (E. Tugendhat, Vorlesungen über Ethik,
4.A., Frankfurt: Suhrkamp 1997,388; abgedruckt in s. Anm.18)
8
3. Von Hayek behauptet, dass die überhöhten Einkommen einiger Teilnehmer an dem Spiel am
Markt als gerechte Prämie aufgefasst werden müsste ist für das überproportionale Risiko, das
sie eingehen. Ist das überhöhte Einkommen aber nicht eher in vielen Fällen das Ergebnis von
Vetternwirtschaft und Filzokratie23?
4. Von Hayek spricht auch einer demokratisch zu Stande gekommenen Mehrheit das Recht zu
sozialpolitischen Maßnahmen ab, die das Recht auf Eigentum einschränken24. Wieweit ist sein
wirtschaftlicher Absolutismus noch mit Demokratie vereinbar ?
5. Von Hayek behauptet, dass christliche Theologen eine neue soziale Religion als Ersatz für ihr
alte nähmen. Ist nicht eher umgekehrt bei ihm der Markt ein Götze, dem immer wieder Opfer
gebracht werden müssen25?.
6. Nach von Hayek macht der angeblich sich selbst regulierende Kampf um Marktanteile
politische Erwägungen und moralische Entscheidungen überflüssig und ist somit einziger
Verhaltensmaßstab. Wie kann dem Recht des Stärkeren noch eine Grenze gesetzt werden? Führt
nicht die Orientierung an den von Darwin entdeckten biologischen Gesetzen im Krieg um
Rohstoffe und Ressourcen zu einer von einem faschistischen Heldenmythos verbrämten
Totschlägermoral?
Man kann die Frage nach der Solidarität im Sozialstaat an vielen aktuellen Problemen
diskutieren, wie z.B. dem Wegfall der Arbeitslosenhilfe, der Einführung von Mindestlöhnen
oder der Wiedereinführung der Vermögenssteuer. Ich greife hier wegen des beschränkten
Raums das übersichtlichere Problem einer Begründung der Progressivsteuer heraus. Von Hayek
hat die Zweckmäßigkeit einer Progressivsteuer ebenso bestritten wie deren Berechtigung. Seine
Argumente führten dazu, dass zuerst in Amerika und England unter Reagan und Thatcher, dann
aber nach und nach in den meisten westlichen Staaten die Spitzensteuersätze radikal gesenkt
wurden. Hier ist also der Punkt, auf die Forderung des Kommunistischen Manifests nach einer
starken Progressivsteuer zurückzukommen.
Die Schüler sollen sich zuerst zwischen drei Möglichkeiten der Besteuerung entscheiden:
1. Alle Bürger zahlen den gleichen Betrag von ihrem Einkommen.
2. Alle Bürger zahlen den gleichen Prozentsatz von ihrem Einkommen. Die Reichen zahlen also
einen wesentlich höheren Betrag als die Armen (Proportionalsteuer).
3. Die Reichen zahlen nicht nur absolut, sondern auch prozentual mehr, eventuell sogar
prozentual doppelt so viel und damit absolut ein Vielfaches mehr als die Armen
(Progressivsteuer).
Viele halten die zweite Möglichkeit für die gerechteste und sind überzeugt, dass diese unserem
Steuersystem entspricht. Wenn man ihnen die Aufgabe stellt, sich unter www.presse-suche.de
oder www.zeit.de unter dem Stichwort Einkommensteuer zu informieren, werden sie feststellen,
das seit dem 1.1.04 eine Steuerprogression von 17 bis 45 Prozent festgelegt ist.
23
Vgl. W. Wüllenweber, Bedingt führungsfähig, stern 22.7.04
http://www.stern.de/wirtschaft/unternehmen/magazin/index.html?id=527231&q=bedingt%20führungsfäh
ig
24
F.A. von Hayek, Liberalismus, Tübingen: Mohr 1979, 35f „Liberalismus ist also unvereinbar mit
unbeschränkter Demokratie, genauso wie mit jeder anderen unbeschränkten Macht.“
25
Vgl. Franz J. Hinkelammert, Der Glaube Abrahams und der Ödipus des Westens, Opfermythen im
christlichen Abendland, Münster 1989, 105ff
9
Ab etwa 60 000 Euro zu
versteuerndem
Jahreseinkommen geht steigt die
Progression allerdings nicht
mehr an. Für die wirklich
Reichen
wird
aus
der
Progressivsteuer
eine
Proportionalsteuer.
Dadurch
werden
die
Vermögensunterschiede immer
größer. „Obwohl mit steigendem
Einkommen
weitere
Einkommenssteigerungen, z.B.
durch
Vermögensbildung,
immer leichter werden und
jedenfalls mit individueller
Willens»stärke« kaum noch etwas zu tun haben, gab und gibt es einen merkwürdigen Konsens
darüber, dass die Progression, also das Steigen des Steuersatzes mit steigendem
steuerpflichtigen Einkommen oder Vermögen, nicht unbeschränkt fortgeführt, sondern ab einer
bestimmten Einkommenshöhe beendet werden sollte.“ 26 Der Spitzensteuersatz lag vor dem Jahr
2000 noch bei 53 Prozent. In der Höhe des für richtig erachteten Spitzensteuersatz liegen immer
noch Unterschiede zwischen den großen Parteien, die die wenigsten Schüler kennen. Die RotGrüne Regierungskoalition will den Spitzensteuersatz auf 42% senken, die CDU auf 36% und
die FDP auf 35%. Eine Progressivsteuer gibt es in Deutschland erst seit 1920 zusammen mit
einem Spitzensteuersatz von 60%. Sie wurde von dem Zentrumsabgeordneten und
Reichsfinanzminister Matthias Erzberger eingeführt. Eine stichhaltige Begründung, warum die
Reichen auch prozentual mehr zahlen sollen als die Armen, findet man kaum. Sie scheint auch
schwierig. „Das tut denen doch nicht weh!“, kann kein Argument sein. Wo liegt die
Schmerzgrenze der Belastbarkeit und wer soll sie mit welcher Berechtigung bestimmen? Das
Bundesverfassungsgericht hat am 11.10.1977 entscheiden, dass aus Art. 3 Abs.1 GG folgt, dass
„die Steuerlast auf die Steuerpflichtigen im Verhältnis der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit
verteilt werden“ soll. Aber damit ist kein konkreter Anhalt gegeben. Nach dem gleichen Prinzip
wurde in Preußen 1891 der Spitzensteuersatz auf 4 % festgelegt. Die Diskussion um die Höhe
des Spitzensteuersatzes der Einkommensteuer ist volkswirtschaftlich kaum mehr von Belang, da
in den letzten zwanzig Jahren der Anteil der Körperschafts- und Einkommensteuer am gesamten
Steueraufkommen von 14,3% auf 2,3% zurückgegangen ist27. Für den Philosophieunterricht ist
sie jedoch von hohem Interesse, da die Schüler hier an einer sehr konkreten Frage die
unterschiedlichen Auffassungen der sozialen Gerechtigkeit kennen lernen können.
Der Kieler Sozialphilosoph Wolfgang Kersting ist m. W. der einzige, der in
Auseinandersetzung mit von Hayek eine philosophische Begründung für eine Progressivsteuer
versucht hat. (M7) Er fasst die Steuer als eine Benutzungsgebühr für staatliche Leistungen auf,
die für die am höchsten sein muss, „die am meisten von den günstigen Entfaltungschancen eines
kooperativen Systems profitieren“. Ob damit allerdings wirklich ein Progressiv- oder nicht eher
ein Proportionalsteuersatz begründet ist, ist wohl noch fraglich.
Bisher wurde in vielen Unterrichtsmodellen zur ‚Sozialen Gerechtigkeit’ John Rawls
Begründung des sogenannten Differenzprinzips (M8) als die schlüssigste Lösung des
26
M. R. Krätke: Steuergerechtigkeit in der Europäischen Union , in: Europa des Kapitals oder Europa der
Arbeit? : Perspektiven sozialer Gerechtigkeit; Loccumer Initiative kritischer Wissenschaftler (Hg),
Hannover: Offizin 2000, 70
27
Vgl den Vortrag von D. Eißel, Vom Lohnsteuerstaat zur sozialen Gerechtigkeit (Vortrag Kassel
31.8.2002) http://www.hessen.dgb.de/themen/Sozialstaat/Eissel.htm ; C. Schäfer, Mit einer ungleicheren
Verteilung in eine schlechtere Zukunft http://www.boeckler.de/pdf/wsimit_2003_11_schaefer.pdf und C.
Schäfer, Verteilung der Steuerlast in Deutschland, 1998
http://library.fes.de/fulltext/stabsabteilung/00214.htm
10
wirtschaftsethischen Dilemmas und als Grundlage einer modernen Theorie der sozialen
Gerechtigkeit vorgestellt. Er scheint eine Lösung der Frage gefunden zu haben, wie sich die im
marktwirtschaftlichen Wettbewerb entstandene Ungleichheit mit dem Anspruch an gerechte
Verteilung vereinbaren lässt. In seiner Theorie der Gerechtigkeit als Fairness zeigt er, dass auch
Ungleichheit gerechtfertigt ist, wenn sie den wirtschaftlich Schwächeren einen relativen Vorteil
bringt. Auch der Verlierer im Wettbewerb muss noch einen Grund haben, die Gesetze des
Staates als zu bewahrendes Gut zu betrachten. Das wird er nur, wenn er darauf vertrauen kann,
dass er auch in der selbstverschuldeten Not von der Solidargemeinschaft nicht allein gelassen
wird.
W. Kersting bestreitet aber mit guten Gründen, dass das Differenzprinzip eine
Sozialstaatsbegründung liefern kann. Deshalb stehen in der hier beschriebenen Reihe nicht
Texte von Rawls am Ende, sondern schwierige, aber lohnende Textauszüge von W. Kersting.
(M9) In der Tat will Rawls’ Differenzprinzip nur die Verteilung der Güter so regeln, daß jeder,
auch die weniger Begünstigten, geneigt gemacht werden, „bereitwillig mitzuarbeiten.“ Es hat
aber nicht die im Blick, die, aus welchen Gründen auch immer, aus dem Arbeitsprozess
ausgeschieden sind. Darüber hinaus unterstellt Kersting dem rawlsschen Ansatz trotz der
Rechtfertigung der Ungleichheiten tendenziell egalitäre Züge, weil Rawls den Neid unter
bestimmten Umständen für entschuldbar hält und eine „Utopie der Neidfreiheit“ anstrebt.28
Damit steht nicht mehr die Eingliederung in den Arbeitsprozess im Vordergrund, sondern der
Verteilungskampf. Kersting ist der Meinung, dass aus dem Entgegenkommen der
Solidargemeinschaft kein bestimmter Anspruch, abgeleitet werden kann. Für ihn ist nicht die
Ungleichheit ein Problem, sondern „Not und Unterversorgung“. Es geht ihm also um eine
Sozialstaatsbegründung nach dem Suffizienzprinzip. Wieweit das Wünschbare mit dem
Bezahlbaren vermittelt werden kann, muss immer wieder neu „okkasionell“ entschieden
werden. „Der solidaritätsbegründete Sozialstaat verfolgt lediglich ein Programm
okkasionalistischen und situativen Handelns. Er reagiert klug und nach Maßgabe seiner
ökonomischen Leistungskraft und seiner vorherrschenden Suffizienzauffassungen.“ Kerstings
Begründung des Sozialstaats stellt eine Gegenposition dar, die den Argumenten von Hayeks
gegen die soziale Gerechtigkeit besser standhalten kann als die von Rawls, weil sie politisch
und nicht moralisch argumentiert.29
3. Einordnung der Ergebnisse
Was sollten die Schüler an den Themen „Wirtschaftlicher Wettbewerb und Solidarität im
Sozialtstaat“ über die Bedeutung der Politik in der Rechts- und Staatsphilosophie gelernt haben
und wie lassen sich die Ergebnisse in einen weiteren Zusammenhang einordnen?
Die sozialpolitische Aufgabe des Staates formuliert V. Hösle folgendermaßen: „Der Staat
bemüht sich, die Rahmenbedingungen derart zu bestimmen, dass die legale Verfolgung des
Eigennutzes nicht zu negativen sozialen Entwicklungen führen kann.“30 Hans- Olaf Henkel, der
den Eingriffen der Politik in die Wirtschaft grundsätzlich skeptisch gegenübersteht, aber sie
dennoch manchmal für nötig hält, findet dafür ein einprägsames Bild. Der Politiker hat die
Aufgabe eines Gärtners. In dem Staat als dem Garten, den er zu pflegen hat, kann er nicht alles
wild wachsen lassen, sondern muss wuchernde Gewächse beschneiden, damit sie nicht
„irgendwann den Garten in eine Monokultur verwandeln.“ Er soll dafür sorgen, dass die Arten
„sich gegenseitig an Schönheit, an Blüte, an Früchtereichtum übertreffen“.31 Das Bild ist im
Unterricht ausbaufähig. Bezeichnender Weise erwähnt Henkel nicht, dass ein Gärtner auch
einmal bestimmte Arten düngen oder neu anpflanzen muss. Was sollte beschnitten und was
sollte gedüngt werden?
28
Wolfgang Kersting, Kritik der Gleichheit, Über die Grenzen der Gerechtigkeit und der Moral,
Weilerswist: Velbrück 2002, 85
29
In seinem Aufsatz ‚Gerechtigkeit als Fairneß’ räumt Rawls ausdrücklich ein, früher nicht deutlich
genug betont zu haben, dass die Theorie der Gerechtigkeit eine politische und keine moralische Theorie
ist. Er dringt nun darauf, dass „die Anlage zu einem Gerechtigkeitssinn und die Befähigung zu einer
Konzeption des Guten“ auseinandergehalten und getrennt betrachtet werden. (J. Rawls, Die Idee des
politischen Liberalismus, Aufsätze 1978-1989, Frankfurt 1994,268)
30 V. Hösle, Philosophie in der ökologischen Krise, 2.A., München: Beck 1994, 103
31
H.O. Henkel, Ethik des Erfolgs, Spielregeln für die globalisierte Gesellschaft, 5.A., München: Econ
2002, 215
11
Die Schüler sollten etwas über die besondere und unverwechselbare Aufgabe der Politik
gelernt haben. Diese darf sich weder von den „Sachzwängen“ der Wirtschaft, noch von der
moralischen Empörung allein bestimmen lassen. Sie muss einen eigenständigen Ausgleich
schaffen zwischen den Ansprüchen der Moral und den Gesetzen des Marktes, dem moralisch
Wünschenswerten und dem ökonomisch Bezahlbaren.32 Sie muss die eine Seite gegen die
andere austarieren und kann das nur mit einem feinen Gespür und geschulter Urteilskraft für
das, was auf die Dauer und mit den jeweils zur Verfügung stehenden Mitteln
„okkasionalistisch“ (Kersting), d.h. den jeweiligen Gegebenheiten entsprechend, durchsetzbar
ist.
Solidarität als politisches Prinzip muss unterschieden werden von Fürsorge als moralischem
Prinzip. Moralische Verantwortung in der Fürsorge gegenüber dem anderen ist nicht einklagbar,
sondern folgt dem Ruf des Gewissens. Sie kann außerdem nicht auf alle bezogen sein. Meine
ungeteilte Fürsorge kann immer nur bestimmten Menschen zukommen. Wir können uns nicht
um alle und um alles in gleicher Weise kümmern. So heißt es schon bei Aristoteles in seiner
Kritik an den kommunistischen Ideen bei Platon: „Was den meisten gemeinsam ist, erfährt am
wenigsten Fürsorge. Denn um das Eigene kümmert man sich am meisten, um das Gemeinsame
weniger oder nur soweit es den einzelnen angeht.“ (Politik 2. Buch, 3. Abschnitt)
Das Dilemma von Mitleidsmoral und Konkurrenzwirtschaft ist nicht dadurch zu lösen, dass
natürliche Entwicklungsgesetze oder marktwirtschaftlicher Wettbewerb auf der einen Seite oder
moralische und theologisch fundierte Gerechtigkeitskonzeptionen auf der anderen Seite absolut
gesetzt werden. Mein Unterrichtsziel war, dem Entweder- Oder ein anderes Modell
entgegenzusetzen, das ökonomisches und moralisches Denken gleichermaßen zu seinem Recht
kommen lässt. Statt der Gegensätze sollten die Übergänge betont werden. Dahinter steht die
Überzeugung, dass die Denkweisen sich nicht ausschließen, wenn sie auf ihren Geltungsbereich
beschränkt bleiben. Dass auch biologische Gegebenheiten und religiöse Einstellungen in der
Frage nach Sozialer Gerechtigkeit eine Rolle spielen, wurde nur am Rande deutlich und kann an
dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden.33 Trotzdem ist festzuhalten: Biologisches,
wirtschaftliches, politisches, moralisches und theologisches Denken haben in bestimmten
Grenzen alle ihre Berechtigung. Wir leben ständig mindestens in fünf verschiedenen
Dimensionen der Wirklichkeit. Wenn eine die anderen verdrängt und sich an deren Stelle setzt,
bekommt diese gefährliche totalitäre Züge. Auch Michael Walzer zeigt in seinem anregenden,
aber schwer zu vermittelnden Werk, dass nicht in allen Bereichen des Lebens die gleiche
Vorstellung von Gerechtigkeit herrschen kann, sondern dass verschiedene „Sphären“
unterschieden werden müssen.34
Ich habe mich aus didaktischen Gründen um ein vereinfachendendes und übersichtliches
Schema bemüht, in dem die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der verschiedenen Denkweisen
deutlich werden. In der Diskussion und Auseinandersetzung mit meinen Schülern um die
Bedeutung von sozialer Gerechtigkeit heute und um den Stellenwert von Ökonomie und Moral
entstand ein Schema mit fünf Spalten, das im Unterricht als ganzes nicht vorkommen muss,
32
Auch Max Weber hebt die Eigengesetzlichkeiten von Ökonomie, Politik und Ethik hervor, betont aber
zu wenig die unvertauschbare Mittelstellung der Politik zwischen Ökonomie und Ethik: »Wie das
ökonomische und politische rationale Handeln seinen Eigengesetzlichkeiten folgt, so bleibt jedes andere
rationale Handeln innerhalb der Welt unentrinnbar an die brüderlichkeitsfremden Bedingungen der Welt,
die seine Mittel oder Zwecke sein müssen, gebunden und gerät daher irgendwie in Spannung zur
Brüderlichkeitsethik.« M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, I, Tübingen 1963, 552.
Noch stärker ist die Eigengesetzlichkeit in der Systemtheorie Luhmanns herausgehoben. Seine
autopoietisch selbstreferentiell geschlossenen Systeme könne nur sich selbst steuern und haben keine
Berührungspunkte zu anderen Systemen. Deshalb ist eine Steuerung der Politik durch die Wirtschaft
seiner Meinung nach ausgeschlossen. (N. Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M.:
Suhrkamp 1988, 334ff) Die Frage nach sozialer Gerechtigkeit soll freilich nicht durch direkte Steuerung
gelöst werden, sondern durch die richtigen gesetzlichen Rahmenbedingungen.
33
Eine ausführliche Erläuterung in: R. Sistermann, Gerechte Ökonomie? Soziale Gerechtigkeit in
theologischer Perspektive, in: D. Zilleßen (Hg.), Markt., Religion und Moral des Marktes, Münster u.a. :
Lit 2002, 83.-106. Der Aufsatz findet sich ebenso wie zusätzliche Materialien unter
http://www.rpi-virtuell.net/index.php?p=material_ordner&id=13727
34
M. Walzer, Sphären der Gerechtigkeit, Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit (1983), Frankfurt
a.M: Campus 1992
12
sondern als Begriffsnetz gedacht ist, mit dem der Unterrichtende sich die Zusammenhänge der
zentralen Begriffe vor Augen führen und mögliche Tafelbilder entwerfen kann35. Es läuft
darauf hinaus, die Entscheidungsfelder „Evolution der Arten, Marktwirtschaft, Politik, Moral
und Religion“ mit den entsprechenden Reflexionsfelder „Biologie, Ökonomie, Politische
Philosophie, Ethik und Theologie bzw. Metaphysik“ klar voneinander abzugrenzen und
dennoch aufeinander in einer bestimmten, begründeten Reihenfolge zu beziehen. Die
Abgrenzung ist nicht leicht, da es viele Einflüsse und Überschneidungsfelder gibt. Deshalb liegt
die Gefahr nahe, alles von der gleichen Triebfeder bestimmt zu sehen. Doch werden die
Entscheidungen von unterschiedlichen, wenn auch ähnlichen Beweggründen bestimmt. Auch
die erhofften oder befürchteten Ergebnisse sind ähnlich in ihrer Ambivalenz. Immer wieder geht
es um Kampf. Trotzdem können und sollten sie in ihren Auswirkungen und Geltungsbereichen
unterschieden werden, damit es nicht zu einer gefährlichen Absolutsetzung einer Dimension
kommt36. Der damit verbundene Denkzwang ist das Grundmuster totalitärer Ideologien. Indem
die Schüler etwas über den Zusammenhang und die Unterschiede der fünf verschiedenen
Entscheidungs- und Reflexionsfelder lernen, kann der Philosophieunterricht auch seinem
ideologiekritischen Auftrag gerecht werden.
Triebfedern:
Selbsterhal- Bedürfnisse
von
tungstrieb
körperlicher Konsumenten
Lebewesen
Entscheidungs Evolution
der Arten
-und
Reflexionsfelder
(Biologie)
Marktwirtschaft
Ansprüche
gesellschaftlicher
Interessengruppen
an die Macht
repräsentierenden
Institutionen
Politik
(Rechts-und
Staatsphilosophie)
oder Solidarität
und
Erhoffte oder Leben oder Spiel
Tod im
Krieg
im Gerechtigkeit
befürchtete
Ergebnisse in
Wettbewerb oder Gewalt
Kampf (im Kampf um die
ihrer
Zwei- Kampf ums (im
Macht)
deutigkeit
Überleben um
Marktanteile)
(Ökonomie)
Hoffnung einer
Person
auf
Anerkennung
und Fürsorge
Sehnsucht der
Seele
nach
dem
Unbedingten
Moral
Religion
(Ethik)
(Theologie/
Metaphysik)
Gottes- oder
Götzendienst
durch
Vergebung
oder
blutige
Opfer
Gutes
oder
Böses in der
Verantwortung
gegenüber dem
anderen
(im Kampf um
Anerkennung)
4. Texte zum Thema „Konsumismus oder soziale Gerechtigkeit?“
Um den Zugang zu den anspruchsvollen Texten zu erleichtern, habe ich sie jeweils an eine
Problemstellung angebunden, mit der sich die Schüler beschäftigen, bevor sie den betreffenden
Text erhalten. Sie haben damit die Möglichkeit, in einer selbstgesteuert intuitiven
Problemlösungsphase eigene Antworten zu finden, die in der anschließenden angeleitet
kontrollierten Problemlösungsphase mit den Antworten des Textes verglichen werden können.
Sie können auf diese Weise wesentlich leichter ein Verständnis des Textes entwickeln, den Wert
der dort gegebenen Antworten ermessen und kritisch dazu Stellung nehmen. Ob ihnen der Text
mit oder ohne meine Überschrift präsentiert wird, hängt von der Zeit ab, die zur Verfügung
steht.
35
H. Aebli, Zwölf Grundformen des Lehrens, Stuttgart 1983,255ff
„Der Glaube, dass die eigene Sicht der Wirklichkeit die Wirklichkeit schlechthin bedeute“ ist nach P.
Watzlawick „eine gefährliche Wahnidee.“ (P. Watzlawick, Wie wirklich ist die Wirklichkeit, 14.A.,
München u.a.: Piper 1986, 9)
36
13
37
Ich folge damit den in Deutschland zuerst von Heinrich Roth beschriebenen Lernphasen , die
ich nur etwas anders benannt und akzentuiert habe. Danach soll die Hinführung zu einer
möglichst präzisen, nachvollziehbaren Problemstellung führen, an der die Schüler in der
folgenden intuitiven Problemlösungsphase selbstständig oder in Zusammenarbeit mit
Mitschülern arbeiten können. So können sie sich in das Problem hineindenken und mögliche
Lösungen antizipieren. Sie können dadurch dem Anspruch des philosophischen Textes, mit dem
sie in der kontrollierten Problemlösungsphase konfrontiert werden, besser und leichter gerecht
werden. In der Festigungsphase sollten die Ergebnisse der kontrollierten Phase auf den Begriff
gebracht, im Vergleich mit denen der intuitiven Phase hinterfragt und in den Zusammenhang
der Reihe gebracht werden. Schließlich geht es in der Transferphase um Anwendung und
Erprobung an Beispielen, Stellungnahme und anschließende offene Fragen.
In den verschiedenen Lernphasen kommen die unterschiedlichen Methoden schwerpunkthaft zu
Anwendung, die Ekkehard Martens in seiner Methodik umfassend beschrieben hat.38 In der
Hinführungsphase geht es darum, dass die Schüler mit phänomenologischen Methoden etwa
wahrnehmen, das zur „Problemkonstituierung“ führt.“ In der selbstgesteuert intuitiven
Problemlösungsphase sollen sie mit Hilfe dialektischer Methoden „Auseinanderssetzungen
führen können.“ In der angeleitet kontrollierten Problemlösungsphase sollen sie mit
hermeneutischen Methoden Texte verstehen lernen. In der Festigungsphase geht es um die
Klärung von Argumenten und Begriffen mit Hilfe analytischer Methoden und in der
Transferphase schließlich sollen sie mit spekulativen Methoden weiterführenden Einfällen
nachgehen. Zusammengenommen ist damit ein natürlicher Lernprozess beschrieben, in dem
offene und geschlossene Phasen bzw. weitere und engere Fragestellungen miteinander
wechseln. Es ergibt sich folgende Bonbonform der Phasierung des Lernprozesses in der
vergleichenden Benennung durch Roth, Martens und Sistermann:
(1.)Phänomenologische
1.Hinführung
Methode: Etwas wahrnehmen
können und
2.Stufe der
(2.)Probleme konstituieren
2.Problemstellung
Schwierigkeiten
(3.)Dialektische Methode:
3
3.Selbstgesteuert
intuitive
3.Stufe der Lösungen
Auseinandersetzungen führen
Problemlösung
können
(4.)Hermeneutische Methode: 4.Angeleitet kontrollierte
4.Stufe des Tuns und
Problemlösung
Jemanden verstehen können
Ausführens
5.Festigung
(5.)Analytische
Methode:
5.Stufe des Behaltens und
Argumente und Begriffe
Einübens
klären können
6.Stufe des Bereitstellens, (6.)Spekulative Methode:
6.Transfer
der Übertragung und
Einfälle haben können
1.Stufe der Motivation
der Integration des
Gelernten
E. Martens, Methodik des R. Sistermanns Bonbonmodell
H. Roth, Pädagogische
Ethikund
Psychologie
des
Philosophieunterrichts, 2003
Lehrens und Lernens,
12.A.1970,208ff
1. Welche Folgen hat es für das Zusammenleben der Menschen, wenn jeder immer mehr
haben will?
Konkurrenz führt zum Krieg
(M 1: Erich Fromm, Haben oder Sein, Die seelischen Grundlagen einer neuen
Gesellschaft, München: DTV 1979)
37
Zusammenfassung in: H. Hannappel, Lehren Lernen, Bochum:Kamp 1988,42f
E. Martens, Methodik des Ethik- und Philosophieunterrichts, Philosophieren als elementare
Kulturtechnik, Hannover: Siebert 2003
38
14
Das Verhältnis zwischen den Menschen ist in der Existenzweise des Habens durch Rivalität,
Antagonismus (Streit) und Furcht gekennzeichnet. Das antagonistische Element bei
Beziehungen, die am Haben orientiert sind, liegt in der Eigenart des Habens selbst begründet:
Wenn Haben die Basis meines Identitätsgefühls ist, weil »ich bin, was ich habe«, dann muß der
Wunsch zu haben zum Verlangen führen, viel, mehr, am meisten zu haben. Mit anderen
Worten, Habgier ist die natürliche Folge der Habenorientierung. Es kann die Habgier des
Geizigen, die Habgier des Profitjägers, die Habgier des Schürzenjägers oder mannstoller Frauen
sein. Was auch immer seine Gier entfacht, er wird nie genug haben, er wird niemals »zufrieden« sein. Im Gegensatz zu körperlichen Bedürfnissen wie Hunger, bei denen es
physiologisch bedingte Grenzen gibt, ist die psychische Gier - und jede Gier ist psychisch,
selbst wenn sie über den Körper befriedigt wird - unersättlich, da die innere Leere und
Langeweile, die Einsamkeit und die Depression, die sie eigentlich überwinden soll, selbst durch
die Befriedigung der Gier nicht beseitigt werden können. Da einem das, was man hat, auf die
eine oder andere Weise weggenommen werden kann, muss man außerdem ständig mehr haben
wollen, um sein Leben vor dieser Gefahr zu schützen. Wenn jeder mehr möchte, muss jeder die
aggressiven Absichten seiner Nachbarn fürchten, ihm wegzunehmen, was er hat; um solchen
Angriffen vorzubeugen, muss man selbst stärker und präventiv aggressiver werden. Da die
Produktion, so groß sie auch sein mag, niemals mit unbegrenzten Wünschen Schritt halten kann,
muss zwischen den Individuen im Kampf um den größten Anteil Konkurrenz und
Antagonismus herrschen. Und selbst wenn ein Stadium absoluten Überflusses erreicht werden
könnte, würde der Kampf weitergehen. Wer von der Natur mit schwächerer Gesundheit und
geringerer Attraktivität, mit weniger Gaben und Talenten ausgestattet wäre, müsste die anderen,
die »mehr« haben, bitter beneiden.
Dass die Existenzweise des Habens und die daraus resultierende Habgier zwangsläufig zum
Antagonismus und Kampf zwischen den Menschen führen, gilt sowohl für Völker als auch für
einzelne Menschen. Denn solange die Völker aus Menschen bestehen, deren hauptsächliche
Motivation das Haben und die Gier ist, werden sie notwendigerweise Krieg führen. Es ist
unvermeidlich, dass sie einem anderen Volk neiden, was dieses hat, und versuchen, das, was sie
begehren, durch Krieg, ökonomischen Druck und Drohungen zu bekommen. Hauptsächlich
werden sie diese Methoden gegen schwächere Völker anwenden, und sie werden Bündnisse mit
anderen Staaten schließen, um stärker zu sein als ein stärkeres Volk, das angegriffen werden
soll. Sogar wenn nur eine leidliche Chance besteht zu gewinnen, wird ein Volk Krieg führen,
nicht weil es ihm wirtschaftlich schlecht geht, sondern weil das Verlangen, mehr zu haben und
zu erobern, tief in der Existenzweise des Habens verwurzelt ist. (111f)
2. Wie kann das Volkseinkommen und – vermögen anders verteilt werden?
Zehn Maßnahmen zur Umverteilung des Volksvermögens und Umwälzung der
Produktionsverhältnissse
(M 2: K. Marx/ F. Engels: Manifest der kommunistischen Partei, in: K. Marx,
Frühschriften, hrsg. v. S. Landshut, Stuttgart: Kröner 1968)
Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen,
idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an
seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band
zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose »bare
Zahlung«. Sie hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung,
der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt. Sie
hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen
verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt. Sie
hat, mit einem Wort, an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten
Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt. (528)
(.....) Aber die Bourgeoisie hat nicht nur die Waffen geschmiedet, die ihr den Tod bringen; sie
hat auch die Männer erzeugt, die diese Waffen führen werden — die modernen Arbeiter, die
Proletarier. (532)
(....) Das Proletariat wird seine politische Herrschaft dazu benutzen, der Bourgeoisie nach und
nach alles Kapital zu entreißen, alle Produktionsinstruments in den Händen des Staats, d.h. des
als herrschende Klasse organisierten Proletariats, zu zentralisieren und die Masse der
Produktionskräfte möglichst rasch zu vermehren.
15
Es kann dies natürlich zunächst nur geschehen vermittelst despotischer Eingriffe in das
Eigentumsrecht und in die bürgerlichen Produktionsverhältnisse, durch Maßregeln also, die
ökonomisch unzureichend und unhaltbar erscheinen, die aber im Lauf der Bewegung über sich
selbst hinaustreiben und als Mittel zur Umwälzung der ganzen Produktionsweise unvermeidlich
sind.
Diese Maßregeln werden natürlich je nach den verschiedenen Ländern verschieden sein.
Für die fortgeschrittensten Länder werden jedoch die folgenden ziemlich allgemein in
Anwendung kommen können:
1. Expropriation des Grundeigentums und Verwendung der Grundrente zu Staatsausgaben.
2. Starke Progressivsteuer.
3. Abschaffung des Erbrechts.
4. Konfiskation des Eigentums aller Emigranten und Rebellen.
5. Zentralisation des Kredits in den Händen des Staats durch eine Nationalbank mit
Staatskapital und ausschließlichem Monopol.
6. Zentralisation des Transportwesens in den Händen des Staats.
7. Vermehrung der Nationalfabriken, Produktionsinstrumente, Urbarmachung und
Verbesserung der Ländereien nach einem gemeinschaftlichen Plan.
8. Gleicher Arbeitszwang für alle, Errichtung industrieller Armeen, besonders für den
Ackerbau.
9. Vereinigung des Betriebs von Ackerbau und Industrie, Hinwirken auf die allmähliche
Beseitigung des Unterschieds von Stadt und Land.
10. Öffentliche und unentgeltliche Erziehung aller Kinder. Beseitigung der Fabrikarbeit der
Kinder in ihrer heutigen Form. Vereinigung der Erziehung mit der materiellen Produktion usw.
(.....) An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und
Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die
Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.(547f)
3. Welche Folgen hat es für das Zusammenleben der Menschen, wenn Geld die Welt
regiert?
Konkurrenz und Handel als Weg zum Frieden
(M 3: Norbert Bolz, Das konsumistische Manifest, München: W. Fink- Verlag 2002)
Im System des kapitalistischen Wirtschaftens wurden die Menschen leidenschaftsloser,
trockener und berechenbarer — man könnte sagen: sie wurden auf Zivilisationstemperatur
gebracht. Und genau das hat ihm der Sentimentalismus der Entfremdungskritiker seither zum
Vorwurf gemacht. (....) Besonders einschlägig sind hier natürlich die Formulierungen des
Kommunistischen Manifest, das Marktsystem habe „die persönliche Würde in den Tauschwert
aufgelöst [...] und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen, als das
nackte Interesse, als die gefühllose ,bare Zahlung’“. (13)
Max Weber: „Der Markt ist in vollem Gegensatz zu allen anderen Vergemeinschaftungen, die
immer persönliche Verbrüderung und meist Blutsverwandtschaften voraussetzen, jeder
Verbrüderung in der Wurzel fremd." Das ist Klartext. Der Markt ist ursprünglich kein
Schauplatz der Brüderlichkeit, sondern eine Vergesellschaftung mit Feinden.
Und auch in Zukunft werden uns auf dem Weltmarkt keine Brüder, sondern "Andere" erwarten
- allen Parolen von Fair Trade, Solidarität mit der Dritten Welt und One World zum Trotz. Es ist
nun aber gerade ein entscheidender kultureller Effekt der Marktvergesellschaftung, daß uns die
Anderen vertrauter und die Brüder fremder geworden sind. Der fremde Andere wird
kreditwürdig - aber der eigene Bruder muß jetzt auch Zinsen zahlen. (...)
Der Handel als Antonym (Gegenwort) der Gewalt - das ist seit Montesquieu die Utopie der
bürgerlichen Gesellschaft in nuce. Der einfache Grundgedanke lautet: Nationen, die miteinander
Handel treiben, machen sich voneinander abhängig, und das führt zum Frieden. (....)
Es geht hier um die Ermäßigung des Kampfs ums Dasein zu einem unblutigen Kampf um
Anerkennung, ähnlich wie im Sport. Die Bedingung dafür ist aber, dass Politik in Ethik und
Ökonomie zerfällt. Der politische Feind verwandelt sich in den ökonomischen Konkurrenten
einerseits und in den ethischen Diskussionsgegner andererseits. Der Kampf, der die Herren von
den Knechten unterscheidet, wandelt sich zur Konkurrenz um einen Dritten. Der Konsument ist
dieser Dritte der Konkurrenz. Im modernen Wettbewerb nimmt der Kampf aller gegen alle die
16
Form eines "Kampfs aller um alle" an. Der Soziologe Georg Simmel hat deshalb die
wirtschaftliche Konkurrenz mit der Liebe verglichen. Denn wie der Liebe gelingt der
Konkurrenz „das Ausspähen der innersten Wünsche eines anderen, bevor sie ihm noch selbst
bewußt geworden sind. Die antagonistische Spannung gegen den Konkurrenten schärft bei dem
Kaufmann die Feinfühligkeit für die Neigungen des Publikums bis zu einem fast hellseherischen
Instinkt". Und das ist für unser Thema nun von außerordentlicher Bedeutung. Denn Konsum ist
das genaue Gegenteil von Gewalt: die liberale, unblutige Form, sich Anerkennung durch
sichtbaren Erfolg zu verschaffen. In der Zeit der Händler werden die Helden anachronistisch.
(60f)
Wo Geld die Welt regiert, herrschen eben nicht: fanatische Ideologie und blutige Gewalt. Die
monetarisierte Habsucht zähmt die anderen Leidenschaften. Auf die Liebe zum Geld ist Verlass
– hier entfaltet sich ein ruhiges Begehren nach Reichtum. Das autonome Kreisen des Geldes
entlastet uns in verschiedenster Weise. Es funktioniert wie ein Medium. Man könnte auch
sagen: Geld ist eine Macht ohne Eigenschaften. Und nur weil unsere Wirtschaft von einer
eigenschaftslosen Macht geprägt wird, kann sie sich als offenes System entwickeln. Geld
definiert die ökonomischen Rahmenbedingungen unseres Lebens vor allem durch
Ausschließungen, und diese Ausschließungen wirken endlastend. Geld heißt eben: nicht Gewalt.
Wir prügeln uns nicht um die letzten freien Plätze an der Sonne, sondern manche zahlen, andere
können oder wollen eben nicht zahlen. Und dieser Code Zahlen—Nichtzahlen heißt eben auch:
nicht Moral. Nicht der bekommt ein Häuschen im Grünen, der es (womöglich nach
lebenslangem Malochen) „verdient“ hat, sondern der, der zahlen kann. Und jeder wird zugeben
müssen: das ist gut so. Gerade die Unpersönlichkeit und Neutralität des Geldes entlastet unser
Leben. (74)
In der postmodernen Gesellschaft ist „Warenfetischismus“ kein Vorwurf mehr. Wenn man
Waren tauscht oder etwas kauft, vollzieht man nicht einfach einen ökonomischen Akt. Kaufen
und Tauschen heißt vor allem auch: sich in Beziehung setzen, Gegenseitigkeit stabilisieren. Das
Marktgeschehen ist ein Sozialritus. Das Geben und Nehmen stiftet Beziehungen und
Gegenseitigkeit. Die Befriedigung von Bedürfnissen ist deshalb zweitrangig, wenn man sie mit
dem vergleicht, was man die Selbstbegegnung der Bedürfnisse im Ritual des Marktes nennen
könnte. Sobald man im Konsumgeschehen auf Kultisches und Rituelles stößt, kann man sicher
sein, dass der Ausdruckswert des Produkts wichtiger ist als sein Gebrauchswert.(...) Nicht die
Kirchen, sondern die Konsumtempel sind der Ort moderner Religiosität. (114f)
4. Was ist soziale Gerechtigkeit?
Soziale Gerechtigkeit als Illusion und demagogische Forderung
(M 4: F. A. von Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 2: Die Illusion der sozialen
Gerechtigkeit. Eine neue Darstellung der liberalen Prinzipien der Gerechtigkeit und
politischen Ökonomie, Verlag Moderne Industrie, Landsberg 1981)
Die Forderung nach »sozialer Gerechtigkeit« ist nicht an das Individuum, sondern an die
Gesellschaft gerichtet -gleichwohl ist die Gesellschaft, in dem engen Sinne, in dem sie von dem
Regierungsapparat unterschieden werden muss, außerstande, um einer spezifischen Absicht
willen zu handeln, und die Forderung nach »sozialer Gerechtigkeit« wird deshalb zu einer
Forderung, dass die Mitglieder der Gesellschaft sich in einer Weise organisieren sollten, die es
möglich macht, den verschiedenen Individuen oder Gruppen bestimmte Anteile am Sozialprodukt zuzuweisen. Es wird dann die primäre Frage die, ob es eine moralische Pflicht gibt, sich
einer Macht zu unterwerfen, die, mit dem Ziel, ein bestimmtes, als gerecht angesehenes
Verteilungsmuster zu erreichen, die Anstrengungen der Mitglieder der Gesellschaft
koordinieren kann.
Wenn die Existenz einer solchen Macht als gegeben angesehen wird, wird die Frage, wie die
verfügbaren Mittel zur Bedürfnisbefriedigung verteilt werden sollten, tatsächlich zu einer Frage
der Gerechtigkeit - wenn auch nicht zu einer Frage, auf die die herrschende Moral eine Antwort
gibt. Selbst die Annahme, von der die meisten modernen Theoretiker der »sozialen
Gerechtigkeit« ausgehen, nämlich dass sie gleiche Anteile für alle erforderlich mache, sofern
nicht besondere Erwägungen ein Abweichen von diesem Prinzip verlangen, erschiene dann als
gerechtfertigt. Aber die frühere Frage ist die, ob es moralisch ist, dass Menschen den Gewalten
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der Lenkung unterworfen werden, die ausgeübt werden müssten, damit die den Individuen
zugute kommenden Wohltaten sinnvoll als gerecht oder ungerecht bezeichnet werden könnten.
Natürlich muss zugegeben werden, dass die Art und Weise, in der die Wohltaten und Lasten
durch den Marktmechanismus verteilt werden, in vielen Fällen als sehr ungerecht angesehen
werden müsste, wenn sie das Resultat einer absichtlichen Zuteilung an bestimmte Leute wäre.
Aber dies ist nicht der Fall. Diese Anteile sind das Ergebnis eines Prozesses, dessen Auswirkung auf bestimmte Leute weder beabsichtigt noch von irgend jemandem vorhergesehen
war, als diese Institutionen entstanden - Institutionen, die man beibehielt, weil man fand, daß sie
für alle oder die meisten die Aussichten auf Bedürfnisbefriedigung verbessern. Gerechtigkeit
von einem derartigen Prozess zu verlangen, ist offensichtlich absurd, und in einer solchen
Gesellschaft bestimmte Leute dadurch auszusondern, dass man ihnen einen Rechtsanspruch auf
bestimmte Anteile zubilligt, augenscheinlich ungerecht. (95)
Die Verpflichtung zu >sozialer Gerechtigkeit< ist tatsächlich das Hauptventil für moralische
Emotionen geworden, das Unterscheidungsmerkmal des guten Menschen, und das anerkannte
Zeichen für den Besitz eines moralischen Gewissens. Obwohl gelegentlich Ratlosigkeit darüber
herrschen mag, welches unter den miteinander streitenden Zielen, das in ihrem Namen
vorgebracht wird, denn nun gültig sei, bezweifelt kaum irgendjemand, dass der Ausdruck eine
definite Bedeutung hat, ein hohes Ideal bezeichnet und auf schwerwiegende Mängel der
bestehenden Gesellschaftsordnung hinweist, die dringend nach Korrektur verlangen.
(....) Das Schlagwort konnte diese Wirkung ausüben, weil es allmählich nicht nur alle anderen
politischen Bewegungen, sondern auch die meisten Lehrer und Prediger der Moral von den
Sozialisten übernahmen. Insbesondere scheint sich ein großer Teil des Klerus aller christlichen
Glaubensgemeinschaften seiner bemächtigt zu haben, der anscheinend, während er zunehmend
den Glauben an eine übernatürliche Offenbarung verlor, Zuflucht und Trost in einer neuen
>sozialen< Religion gesucht hat, die ein himmlisches Versprechen der Gerechtigkeit durch ein
weltliches ersetzt, und der hofft, dass er auf diese Weise in dem Bemühen fortfahren kann,
Gutes zu tun. (97)
Was ich hoffe klargemacht zu haben, ist, dass das Schlagwort »soziale Gerechtigkeit«
keineswegs, wie die meisten Leute wahrscheinlich empfinden, ein unschuldiger Ausdruck guten
Willens gegenüber den weniger Glücklichen ist, sondern dass es zu einem unredlichen Mittel
geworden ist, einem zu verstehen zu geben, man solle der Forderung irgendeines Sonderinteresses, für das gar keine wirklichen Gründe sprechen, nachgeben. Wenn die politische
Diskussion redlich werden soll, ist es notwendig, dass die Leute erkennen, dass der Ausdruck
intellektuell anrüchig ist, ein Kennzeichen der Demagogie oder des billigen Journalismus, den
zu benutzen verantwortlich Denkende sich schämen sollten, weil sein Gebrauch, sobald die
Leerheit dieses Ausdrucks erkannt ist, unredlich ist. (134f)
5. Können sehr hohe Einkommensunterschiede gerecht sein?
Der Wettbewerb auf dem Markt als Spiel
(M 5: Friedrich A. von Hayek, Der Atavismus sozialer Gerechtigkeit , in: Ders.,
Demokratie, Gerechtigkeit und Freiheit, Tübingen 1977)
Es ist mehr als einmal vorgeschlagen worden, die Theorie, die das Funktionieren des Marktes
erklärt, Katallaktik zu nennen, nach dem klassischen griechischen Wort mit der Bedeutung
"tauschen" oder "Handel treiben": Ich mag dieses Wort besonders, nachdem ich entdeckt habe,
dass es im alten Griechenland zusätzlich zu "Handel treiben" auch "in die Gemeinschaft
aufnehmen" und "einen Feind in einen Freund verwandeln" bedeutet. Ich habe daher
vorgeschlagen, dass wir das Spiel des Marktes, durch das wir den Fremden dazu bringen, mit
uns freundlich und uns nützlich zu sein, das "Spiel der Katallaxie" nennen!
Der Marktprozess entspricht tatsächlich völlig der Definition für "Spiel" im Oxford Dictionary:
Es ist "ein Wettkampf nach Regeln, der durch überlegene Geschicklichkeit, Kraft oder auch
durch Glück entschieden wird". Es handelt sich in dieser Hinsicht sowohl um ein Spiel der
Geschicklichkeit als auch um ein Glücksspiel. Vor allem ist es ein Spiel, das dazu dient, aus
jedem Spieler den höchsten für ihn lohnenden Einsatz für den gemeinsamen Pool
herauszulocken, aus dem jeder einen ungewissen Anteil gewinnen wird. (27)
Gerade weil das Spiel der Katallaxie die Vorstellungen der Menschen darüber, was jedem
zustehen soll, nicht beachtet und nach dem Erfolg, den der einzelne bei Einhaltung der formalen
Regeln erzielt, entlohnt, bringt es eine effizientere Nutzung der Produktionsfaktoren zustande
als sie irgendein Plan zuwege bringen könnte. Ich finde, dass das Ergebnis eines jeden Spiels,
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das gespielt wird, weil es die Chancen aller über das hinaus verbessert, was wir durch irgendein
anderes Arrangement erreichen können, als fair akzeptiert werden muss, solange alle die
gleichen Regeln befolgen und nicht betrügen. Wenn man die Gewinne aus dem Spiel akzeptiert,
stellt es einen Betrug von Individuen oder Gruppen dar, die Macht der Regierung zu Hilfe rufen,
um den Strom wertvoller Güter zu ihren Gunsten umzulenken. Natürlich können wir außerhalb
dieses Spiels des Marktes für jene ein anständiges Minimum bereitstellen, die es vom Spiel
nicht erhalten. Es ist kein stichhaltiger Einwand gegen ein solches Spiel - dessen Ergebnis
teilweise von der Tüchtigkeit und den jeweiligen persönlichen Umständen und teilweise vom
bloßen Zufall abhängt -, dass die Chancen, die für alle verbessert werden, wenn sie dieses Spiel
spielen, in der Ausgangslage bei weitem nicht für alle die gleichen sind. Die Antwort auf einen
solchen Einwand besteht genau darin, dass es einer der Zwecke des Spiels ist, den
höchstmöglichen Nutzen aus dem unvermeidlich verschiedenartigen Können, Wissen und den
jeweiligen Umständen des einzelnen zu ziehen. Zu den größten Vermögenswerten, die eine
Gesellschaft auf diese Weise nutzen kann, um den Pool, aus dem die einzelnen ihr Einkommen
erhalten, anzureichern, zählen die unterschiedlichen moralischen, intellektuellen und materiellen
Gaben, die die Eltern an ihre Kinder weitergeben - und oft werden sie von ihnen nur erworben,
geschaffen oder erhalten, damit sie von ihnen an ihre Kinder weitergegeben werden können.
Das Ergebnis dieses Spiels der Katallaxie wird daher notwendigerweise sein, daß viele weit
mehr haben werden, als sie nach Ansicht ihrer Mitbürger beanspruchen können, und vielleicht
werden noch mehr weit weniger haben, als sie nach der Ansicht ihrer Mitbürger verdient hätten.
Es ist nicht überraschend, dass viele Leute dies durch irgendeinen autoritativen Akt der
Umverteilung zu korrigieren wünschen. Aber das Übel ist, dass das Gesamtprodukt, das ihrer
Meinung nach zur Verteilung zur Verfügung steht, nur deshalb überhaupt vorhanden ist, weil
die Einkommen für die verschiedenen Anstrengungen vom Markt mit wenig Rücksicht auf
Wünsche oder Bedürfnisse geboten werden und vonnöten sind, um diejenigen, die bestimmte
Kenntnisse, materielle Hilfsmittel und persönliche Fähigkeiten besitzen, dahin zu ziehen, wo sie
in jedem Augenblick den größten Beitrag zum Gesamtprodukt leisten können. Jene, die die
Annehmlichkeit eines gesicherten Kontrakteinkommens der Notwendigkeit vorziehen, Risiken
einzugehen, um Nutzen aus ständig wechselnden Möglichkeiten zu ziehen, werden sich
gegenüber Beziehern hoher Einkommen im Nachteil fühlen, die aus einer fortwährenden UmDisposition von Ressourcen resultieren. Hohe, effektiv erzielte Einkommen der Erfolgreichen,
seien sie verdient oder zufällig, sind ein wesentliches Element der Steuerung der
Produktionsfaktoren dorthin, wo sie den größten Beitrag für den Pool bringen, aus dem jeder
seinen Anteil erhält. Wir hätten nicht so viel zu verteilen, wenn jenes Einkommen des einzelnen
nicht als gerecht erachtet würde, in dessen Erwartung er dazu angereizt wurde, den größten
Beitrag zum Pool zu leisten. Sehr hohe Einkommen können daher manchmal gerecht sein.
Wichtiger ist aber, dass der Zugang zu solchen Einkommen wohl eine notwendige Bedingung
ist, um denjenigen, die weniger unternehmend, weniger glücklich und weniger schlau sind, das
regelmäßige Einkommen zu verschaffen, auf das sie zählen. (33f)
(....)Es ist richtig, dass unter dem Einfluss von Darwin im späteren Teil des letzten Jahrhunderts
einige Sozialwissenschaftler ein übertriebenes Gewicht auf die Bedeutung der natürlichen
Auslese der Tüchtigsten im freien Wettbewerb legten. Ich möchte deren Bedeutung nicht
unterschätzen, aber dies ist nicht der wichtigste Vorteil, den wir aus der Auslese im Wettbewerb
ziehen. Es ist vielmehr die Konkurrenz-Auslese der kulturellen Institutionen, für deren
Entdeckung wir Darwin nicht nötig hatten; vielmehr verhalf die wachsende Einsicht in diese
Zusammenhänge auf den Gebieten des Rechts und der Sprache Darwin zu seinen biologischen
Theorien. 38
6. Welche Einwände kann man gegen von Hayeks Auffassung des Marktes als
selbstregulierendes Gesellschaftssystem vorbringen?
Hayeks Verteufelung des Anspruchs auf bewusste soziale Gesellschaftlichkeit
(M 6: Robert Kurz, Schwarzbuch Kapitalismus, Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft,
3.A., Ullstein TB, Frankfurt a.M. 2003)
Hayek verteufelt ganz offen den elementar vernünftigen Anspruch, dass die Gesellschaft sich
bewusst selbst regulieren soll, statt durch einen bewusstlosen anonymen Marktmechanismus
reguliert zu werden. In seiner bislang reinsten Form, noch über die Klassiker des Liberalismus
hinaus, tritt hier der Urgrund liberaler Antivernunft zutage: der Anspruch auf bewusste soziale
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Gesellschaftlichkeit gilt als Sünde wider den Heiligen Geist einer asozialen, blinden
Gesellschaftsmaschine, die wieder und wieder zur Naturgesetzlichkeit erklärt worden ist.
Hayek ist aber wohl der erste, der diesen widervernünftigen Grundgedanken nicht
verklausuliert, sondern völlig offenherzig und mit fast naivem Nachdruck ausspricht; freilich
nur, um diese an sich absurde Kriegserklärung gegen ein bewusstes soziales Sein sogleich damit
zu legitimieren, dass er eine »bewusste Lenkung« der Ressourcen einzig als leviathanische
Staatsplanung durch eine autoritäre »Behörde« begreift. Damit kann er sich allerdings auf das
Verständnis des gesamten modernen Denkens berufen, den Sozialismus/ Kommunismus
eingeschlossen. So dekliniert Hayek die öde liberale Dialektik des seltsamen Widerspruchs von
»Gleichheit« (alias »sozialer Sicherheit«) einerseits und »Freiheit« (alias »wirtschaftlichem
Individualismus« oder »freier Konkurrenz«) andererseits durch, um sich auf eine extremistische
Weise für den vermeintlichen Pol der »Freiheit« zu entscheiden. (745f)
7. Wie kann man progressive Prozentsätze der Einkommensteuer begründen?
Progressivsteuer als Benutzungsgebühr für staatliche Leistungen
(M 7: Wolfgang Kersting, Kritik der Gleichheit, Über die Grenzen der Gerechtigkeit und
der Moral, Weilerswist: Velbrück 2002)
Friedrich August von Hayek hat die These vertreten, dass bereits die progressive
Einkommensteuer eine moralisch verwerfliche Erfindung des Neides sei: Als Instrument der
Schlechterstellung Bessergestellter befriedige sie ausschließlich die niederen Instinkte aller
relativen Habenichtse. Denn weder ökonomische noch gerechtigkeitsethische Argumente ließen
sich für ihre Sache vorbringen. Ökonomisch sei sie höchst unvernünftig, weil sie das für die
Finanzierung des Fortschritts notwendige Kapital dem Markt entziehe, die Risikobereitschaft
einschläfere und den sozialen Aufstieg durch Reichtumsbildung verhindere. Und moralisch sei
sie zutiefst bedenklich, da sie gleiche Leistungen unterschiedlich belaste.(.....)
Es gibt ein gutes Argument für die Gerechtigkeit einer progressiv gestaffelten
Einkommensteuer. Libertäre Konzeptionen (....) wie die von Hayeks, sind allesamt
radikalindividualistische Positionen, die die Individuen nicht als soziale Wesen, sondern als
asoziale Solitäre verstehen, die heimatlos durch die Welt streifen, immer auf der Flucht vor dem
Staat, der sich an ihren property rights vergreifen will. (....) Ich mache in meiner
gerechtigkeitsethischen Verteidigung einer progressiven Einkommensteuer für einen liberalen
Sozialstaat von einer Sichtweise Gebrauch, die (....) die Sozialnatur des Menschen und die
Abhängigkeit seiner Entwicklung von stabilen, gedeihlichen Sozialbeziehungen (betont). (Sie )
erinnert an die Trivialität, dass sich Menschen erst in der Gemeinschaft vervollständigen, dass
die Selbstverwirklichung der Individuen nur im Gleisnetz der selbstbestimmten Handlungen
anderer möglich ist. (....) Und ohne das gedeihliche Klima einer entwicklungsfreundlichen
Kooperation könnten wir grundsätzlich nicht die Anlagen, Fähigkeiten und Talente zur
Entfaltung bringen, die in uns schlummern. (....)
Diese Begründung stützt sich auf die Vorstellung einer Benutzungsgebühr, die im Rahmen einer
progressiven Einkommensteuer entrichtet wird und für die Finanzierung der freiheitsrechtlichen
Ausfallbürgschaft verwendet wird, die der liberale Sozialstaat in bürgerlicher Solidarität
übernimmt. In dem Gedanken der Benutzungsgebühr ist die Überlegung enthalten, dass der
karrierepolitisch erfolgreiche Einsatz der natürlichen Fähigkeiten, Talente und Begabungen
ebenso wie die positive Verzinsung günstiger sozialer Startbedingungen abhängig ist von einem
gut funktionierenden, hinreichend ausdifferenzierten und politisch stabilen, von allgemeiner
Anerkennung getragenen sozioökonomischen Kooperationssystem. (....) Und dass dabei die
Einkommensstärkeren größere Benutzungsabgaben zu entrichten haben als die
Einkommensschwächeren, versteht sich von selbst. Denn der, der am meisten von den günstigen
Entfaltungschancen eines kooperativen Systems profitiert, muss auch, das ist das Grundgebot
proportionaler Gerechtigkeit, die höchsten Benutzungsgebühren entrichten. (....)Mein Argument
von der Benutzungsgebühr muss sich nicht über die unverdient ungleichen – vor aller
Entscheidung und Handlung Begünstigungschancen und Benachteiligungsschicksale
festlegenden – natürlichen und sozialen Startbedingungen entrüsten und nach waghalsigen
Konstruktionen Ausschau halten, um durch die Gesellschaft in der Gesellschaft die
Kontingenzfolgen von Natur und Geschichte gerechtigkeitsethisch zu kompensieren. (90ff)
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8. Wann können Einkommensunterschiede noch als gerecht angesehen werden?
Das Differenzprinzip: Auch den nicht so Begünstigten muss es besser gehen
(M 8: John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, (1971) 10.A. Frankfurt a.M. 1998)
Ich behaupte, dass die Menschen im Urzustand zwei (....) Grundsätze wählen würden: einmal
die Gleichheit der Grundrechte und -pflichten; zum anderen den Grundsatz, dass soziale und
wirtschaftliche Ungleichheiten, etwa verschiedener Reichtum oder verschiedene Macht, nur
dann gerecht sind, wenn sich aus ihnen Vorteile für jedermann ergeben, insbesondere für die
schwächsten Mitglieder der Gesellschaft. Nach diesen Grundsätzen kann man Institutionen
nicht damit rechtfertigen, dass den Unbilden einiger ein größerer Gesamtnutzen gegenüberstehe.
Es ist vielleicht zweckmäßig, aber nicht gerecht, dass einige weniger haben, damit es anderen
besser geht. Es ist aber nichts Ungerechtes an den größeren Vorteilen weniger, falls es dadurch
auch den nicht so Begünstigten besser geht. Die intuitive Vorstellung ist die, dass jedermanns
Wohlergehen von der Zusammenarbeit abhängt, ohne die niemand ein befriedigendes Leben
hätte, und dass daher die Verteilung der Güter jeden, auch den weniger Begünstigten, geneigt
machen sollte, bereitwillig mitzuarbeiten. Die beiden soeben erwähnten Grundsätze dürften eine
faire Grundlage dafür sein, dass die Begabteren oder sozial besser Gestellten - was beides nicht
als Verdienst angesehen werden kann - auf die bereitwillige Mitarbeit anderer rechnen können,
sofern eine funktionierende Regelung eine notwendige Bedingung für das Wohlergehen aller ist.
Sobald man sich für eine Gerechtigkeitsvorstellung entschieden hat, die die Zufälligkeiten der
natürlichen Begabung und der gesellschaftlichen Verhältnisse nicht zu politischen und
wirtschaftlichen Vorteilen führen lässt, gelangt man zu diesen Grundsätzen. 31f
(.....)Bisher habe ich Neid und Missgunst als Laster behandelt. (....) Doch manchmal sind die
neiderregenden Umstände so zwingend, dass man, so wie die Menschen nun einmal sind, von
niemandem vernünftigerweise verlangen kann, seine Hassgefühle zu überwinden. Jemand kann,
gemessen an den objektiven Grundgütern, so schlecht gestellt sein, dass seine Selbstachtung
verletzt wird; dann kann man Verständnis dafür haben, dass er sich zu kurz gekommen fühlt.
Man kann es geradezu moralisch übel nehmen, dass man neidisch gemacht wird, wenn nämlich
die Gesellschaft so große Ungleichheiten bei diesen Gütern zulässt, dass das nur die
Selbstachtung herabsetzen kann. Für die davon Betroffenen sind Neidgefühle nicht
vernunftwidrig; ihre Befriedigung würde bewirken, dass sie sich besser fühlen. Ist der Neid eine
Reaktion auf den Verlust der Selbstachtung unter Umständen, unter denen es unvernünftig wäre,
andere Gefühle zu erwarten, dann nenne ich ihn entschuldbar. (579)
9. Welches sind die eigentlichen Aufgaben des Sozialstaats?
Der Sozialstaat soll nicht Ungleichheit beseitigen, sondern Not und Unterversorgung
(M 9: Wolfgang Kersting, Theorien der sozialen Gerechtigkeit, Metzler, Stuttgart 2000)
Rawls’ Gerechtigkeitstheorie ist eine Gerechtigkeitstheorie für rational agierende aktive
Wirtschaftsbürger. Wo die Kooperationsgemeinschaft endet, wo keine Verhältnisse
wechselseitig vorteilhafter Zusammenarbeit mehr anzutreffen sind, verliert die Verteilungsgerechtigkeit Rawlsschen Zuschnitts ihre Zuständigkeit. Rawls Gerechtigkeitstheorie taugt
allenfalls als normative Basis für eine Theorie des Gewerkschaftsstaats und der progressiven
Einkommensbesteuerung; aber der Aufgabenkatalog der sozialen Gerechtigkeit ist nicht auf die
Verteilungsinteressen der Arbeitsplatzbesitzer zu beschränken, und die gesellschaftliche
Grundstruktur hat umfassenderen Gerechtigkeitszielen zu dienen als der Hege verbands- und
tarifpolitischer Verteilungskämpfe.
Obwohl wegen der Wiederentdeckung des Themas der sozialen Gerechtigkeit so hochgelobt,
hat Rawls doch gerade den Bereich gerechtigkeitstheoretisch völlig ausgeklammert, den wir
vordringlich mit dem Thema der sozialen Gerechtigkeit assoziieren, nämlich den Bereich, der
durch die Versorgungsleistungen der gesetzlichen Sozialversicherungssysteme von der
Rentenversicherung über die Krankenversicherung bis zur Arbeitslosenversicherung und
Sozialhilfeversicherung definiert ist, als sozialstaatlichen Bereich. (162)
(...)Der Sozialstaat der Solidarität verfolgt keine Egalisierungspolitik, (....) seine
Redistributionsleistungen zielen nicht auf größere Gleichheit; er ist nicht dazu da, dass jeder das
Seine oder das ihm Zustehende oder das Gleiche bekommt. Denn der Solidarität ist keinesfalls
die normative Zielvorstellung der Gleichheit eingeschrieben. Der Solidarität ist keinesfalls die
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normative Zielvorstellung der Gleichheit eingeschrieben. Der Sozialstaat ist dazu da, dass jeder
Bürger genug bekommt. Zu Recht hat Harry G. Frankfurt daher in dem Konzept der Suffizienz
(Prinzip, nach dem jeder genug bekommt) den normativen Orientierungsbegriff der Solidarität
erblickt und es als überlegene Alternative zum Gleichheitsideal des Egalitarismus betrachtet.
Daher wäre die Aufgabe des Sozialstaats nicht erst dann beendet, wenn die größtmögliche
sozio-ökonomische Gleichheit erreicht ist, die mit den Kontinuitätsbedingungen des
kompetitiven (wettbewerbsorientierten) Marktsystems eben noch verträglich ist. Sondern bereits
dann, wenn eine ausreichende Versorgung aller gewährleistet ist, würde sich der Sozialstaat als
überflüssig erweisen. Auch der solidaritätsbegründete Sozialstaat reagiert auf Ungleichheit; aber
weder erregt ihn die Ungleichheit als solche noch die, die durch die moralisch willkürlichen
Begabungsdifferenzen und Unterschiede des Herkommens erzeugt wird. Der
Solidaritätstheoretiker weigert sich, Gleichheit und Ungleichheit zu moralisieren; daher verlangt
in seinen Augen auch sozio-ökonomische Ungleichheit keine programmatische
gerechtigkeitsethische Antwort. Er hat ein rein deskriptives und unemphatisches (nicht
einfühlendes) Ungleichheitsverständnis: für ihn wird Ungleichheit nur insofern auffällig, wie sie
Unterversorgung produziert. Nicht Ungleichheit ist für ihn ein moralischer Skandal, sondern
Not und Unterversorgung.
(....)Der solidaritätsbegründete Sozialstaat ist lediglich auf einen Ausgleich bedacht, der eine
Grundversorgung nach Maßgabe des Suffizienzprinzips sichert; ihm ist keinerlei normative
Egalitätsorientierung (Gleichheitorientierung) eingeschrieben. Daher ist der Sozialstaat auch
kein politisches Instrument zur Verwirklichung einer (....) Prinzipienethik, die eine
Moralisierungsprogrammatik des ewigen Sollens, des unnachlasslichen Bemühens verlangt. Der
solidaritätsbegründete Sozialstaat verfolgt lediglich ein Programm okkasionalistischen und
situativen Handelns. Er reagiert klug und nach Maßgabe seiner ökonomischen Leistungskraft
und seiner vorherrschenden Suffizienzauffassungen. ( 385f)
Dr. Rolf Sistermann
[email protected]
Düsseldorfer Str. 29
51063 Köln
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