Geschichte und Generationendiskurs in Tanja Dückers’ Roman Himmelskörper (2003) Inhaltsverzeichnis 1 Literatur und Gedächtnis – Zur Zielbestimmung ................................ 3 2 Methodologischer Ansatz und Forschungstand .................................... 5 2.1 Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen als Gegenstände der kulturwissenschaftlichen Forschung ............................................................................. 5 2.1.1 Gedächtnisdiskurs ............................................................................................ 8 2.1.1.1 Forschung in den 1920er Jahren – Maurice Halbwachs’ und Aby Warburgs Konzepte .............................................................................................. 9 2.1.1.2 Pierre Nora und lieux de mémoire .......................................................... 15 2.1.1.3 ‚Kulturelles Gedächtnis’ von Aleida und Jan Assmann ......................... 18 2.1.1.4 Harald Welzer und das Konzept des ‚sozialen Gedächtnisses’ .............. 23 2.1.1.5 Sonderforschungsbereich 434 »Erinnerungskulturen« ........................... 24 2.1.2 Zum Begriff ‚Medium des kollektiven Gedächtnisses’ ................................. 26 2.1.2.1 Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses ............................. 28 2.1.3 Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses und ihre Modi ................................ 35 2.2 Opa war kein Nazi – Geschichte im Generationengedächtnis .............................. 40 2.3 Text im narratologischen Diskurs ......................................................................... 45 2.3.1 Narrative vs. deskriptive Texte ...................................................................... 47 2.3.2 Faktuales und fiktionales Erzählen ................................................................ 48 2.3.3 Alltägliches und literarisches Erzählen.......................................................... 51 2.3.4 Das Was und das Wie eines Textes in historischer Hinsicht.......................... 55 3 Geschichte und Generationendiskurs in Tanja Dückers’ Roman Himmelskörper ........................................................................................... 56 3.1 Informationen zur Autorin Tanja Dückers............................................................ 57 3.2 Wem gehört die Geschichte – Himmelskörper und der Generationenstreit um die Erinnerung in der Gegenwartsliteratur ....................................................................... 57 3.3 Zur Entstehungsgeschichte von Himmelskörper .................................................. 60 3.4 Zur Analyse des Textes......................................................................................... 62 3.4.1 Zum Inhalt von Himmelskörper ..................................................................... 62 3.4.2 Zum Textanfang ............................................................................................. 66 3.4.3 Erzählanalyse nach Stanzel ............................................................................ 67 3.4.3.1 Zwei Grundformen des Erzählens .......................................................... 68 3.4.3.2 Erzählsituationen .................................................................................... 69 3.4.4 Erzählanalyse nach Matias Martinez und Michael Scheffel .......................... 72 3.3.4.1 Faktuales und fiktionales Erzählen ......................................................... 72 3.4.4.2 Zeit .......................................................................................................... 72 3.4.4.3 Fokalisierung .......................................................................................... 80 3.4.4.4 Stimme .................................................................................................... 81 3.4.4.4.1 Zeitpunkt des Erzählens ................................................................... 82 3.4.4.4.2 Ort des Erzählens ............................................................................. 82 3.4.4.4.3 Stellung des Erzählers zum Geschehen ........................................... 83 3.4.5 Erzählanalyse nach Jürgen H. Petersen ......................................................... 85 3.4.5.1 Erzählform .............................................................................................. 85 3.4.5.2 Erzählverhalten ....................................................................................... 85 3.4.5.3 Standort des Erzählers und die Erzählperspektive .................................. 86 3.4.5.4 Erzählhaltung .......................................................................................... 88 3.4.6 Figuren und Figurenkonstellationen .............................................................. 88 3.4.6.1 Generation der Zeitzeugen – Jo und Mäxchen ....................................... 89 3.4.6.2 Generation der Kinder – Peter und Renate ............................................. 94 3.4.6.3 Generation der Enkel – Freia und Paul ................................................... 98 3.4.7 Raumdarstellung .......................................................................................... 102 3.4.7.1 Lotmans Raumsemantik ....................................................................... 103 3.4.7.2 Raumdarstellung in Himmelskörper ..................................................... 106 3.4.8 Zum Erzählschluss ....................................................................................... 115 3.5 Einordnung in die Gattungstypologie ................................................................. 116 3.6 Fazit .................................................................................................................... 118 4 Zusammenfassung ................................................................................ 120 5 Streszczenie ........................................................................................... 121 6 Literaturverzeichnis ............................................................................. 123 6.1 Primärliteratur ..................................................................................................... 123 2 6.2 Sekundärliteratur ................................................................................................. 123 1 Literatur und Gedächtnis – Zur Zielbestimmung Wir haben das 20. Jahrhundert verlassen, aber es hat uns nicht verlassen1. Es lässt sich in der letzten Zeit ein wachsendes Interesse an der Vergangenheit beobachten. Besonders das Thema des Zweiten Weltkrieges ist immer wieder im öffentlichen Diskurs präsent. Es entstehen Romane, Filme, Artikel und Autobiographien, die an diese Zeit erinnern, wobei gerade jetzt die letzte Gelegenheit besteht, mit der Zeitzeugengeneration zu sprechen. Auch die politischen Debatten sind von der Reflexion über die Erinnerung an die NS-Zeit nicht frei. Der Roman Himmelskörper von Tanja Dückers ist nur einer der Beweise dafür, dass die Erinnerung an den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg in der deutschen Gesellschaft immer noch lebendig und aktuell ist. Die Autorin vertritt die Generation, die die Zeit des Krieges selbst nicht erlebt hat. In diesem Kontext wird überlegt, ob sie überhaupt Recht darauf hat, diese Ereignisse in ihrem Buch zu thematisieren. Die Frage danach, wem die Geschichte gehören soll, ist eines der Probleme die in dieser Arbeit berührt werden sollen. Die Erinnerungsliteratur, zu der Dückers’ Roman gehört, ist eines der Medien des kollektiven Gedächtnisses. Deswegen soll im methodologischen Teil der Arbeit danach gefragt werden, was unter dem Begriff des kollektiven Gedächtnisses überhaupt verstanden wird, und auf welche Weise Gesellschaften die Vergangenheit erinnern. Dargestellt werden dabei die klassischen Gedächtniskonzepte von Maurice Halbwachs, Aby Warburg und Pierre Nora sowie der aktuelle Forschungsstand mit den Theorien von Jan und Aleida Assmann, Harald Welzer und dem mehrdimensionalen Modell zur Beschreibung von kulturellen Erinnerungsprozessen, das an der Justus–Liebig– Universität Gießen entwickelt wird. Als sehr interessant für die Thematik dieser Arbeit erweisen sich die Untersuchungen, die im Rahmen des Forschungsprojekts ‚Tradierung von Geschichtsbewusstsein’ geführt und im Buch Opa war kein Nazi dargestellt worden sind. Aus diesem Grund werden sie auch kurz rekapituliert werden. Da die Ebene der 1 Braun, Michael: Wem gehört die Geschichte? Literatur als Erinnerungskultur. In: Jahresbericht 2006 der Konrad-Adenauer-Stiftung. Sankt Augustin 2007, S. 61-65 (hier S. 62), unter: http://www.kas.de/upload/dokumente/jahresbericht2006/jahresbericht_low.pdf (Zugriff am 12.09.2010). 3 Präsentation der Geschichte genau so wichtig ist, wie die Geschichte selbst, soll schließlich in diesem Teil die Literatur in narratologischer Perspektive, unter besonderer Berücksichtigung der Unterschiede zwischen dem faktualen sowie dem alltäglichen und dem literarischen Erzählen, aufgegriffen werden. Der analytischer Teil der Arbeit konzentriert sich in erster Linie auf die narratologische Analyse des Romans. In Bezug auf die Erzähltheorien von Franz K. Stanzel, Matias Martinez, Michael Scheffel und Jürgen H. Petersen soll vor allem die Erzählweise in Himmelskörper analysiert werden. Bei der Kategorie des Raumes, als eines der Elemente, die die dargestellte Welt konstruieren, wird nach dessen Präsentationsweise und Funktionalisierung gefragt. Als wichtiger Aspekt dieses Arbeitsteils erweist sich die Analyse der Figuren. Im Kontext des Themas der vorliegenden Arbeit soll vor allem danach gefragt werden, auf welche Weise die drei Generationen einer und derselben Familie am Familiengedächtnis teilnehmen und was den Inhalt dieses Gedächtnisses ausmacht. Die Aufgabe des analytischen Teils ist es auch zu untersuchen, inwieweit die von Dückers dargestellten Situationen den realen Familienverhältnissen entsprechen und ob Dückers ihre Kompetenzen wirklich überschreitet, wenn sie über Ereignisse schreibt, die sie selbst nicht erlebt hat. Zum Schluss soll der Roman in die Gattungstypologie eingeordnet werden. 4 2 Methodologischer Ansatz und Forschungstand 2.1 Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen als Gegenstände der kulturwissenschaftlichen Forschung Die Vergangenheit ist niemals tot, sie ist nicht einmal vergangen.2 William Faulkner Das Gedächtnis gehört zu diesen Forschungsgegenständen, die von verschiedenen Disziplinen und unter verschiedenen Aspekten analysiert werden können. Hier kreuzen sich kulturwissenschaftliche, naturwissenschaftliche und informationstechnische Fragen und Interessen3, wobei der Vielfalt von Forschungsmöglichkeiten verursacht, dass keine der Disziplinen im Stande ist, das Gedächtnis endgültig zu bestimmen. In Bezug darauf spricht man von der Transdisziplinarität des Gedächtnis-Phänomens4. Das folgende Kapitel konzentriert sich vor allem auf die kulturwissenschaftliche Perspektive, die das Gedächtnis hauptsächlich als ein kollektives, zwischen den Menschen entstandenes und funktionierendes Phänomen behandelt. In diesem Kontext ist das Gedächtnis als ein „Kollektivbegriff für angesammelte Erinnerungen, als Fundus und Rahmen für einzelne memoriale Akte und Einträge“5 zu verstehen. Kollektives Gedächtnis heißt sozial vermitteltes und geteiltes Gedächtnis, oder mit Worten Jurij Lotmans „ein nicht erblich vermitteltes Gedächtnis eines menschlichen Kollektivs“6. Aleida Assmann weist darauf hin, dass obwohl die Begriffe ‚Gedächtnis’ und ‚Erinnerung’ oft synonym auftreten, gibt es zwischen ihnen wesentliche Unterschiede7. Das Gedächtnis ist in dem biologischen Organ des Gehirns und dem neuronalen Netzwerk verwurzelt und dient als Disposition zum Erinnern, das als die Tätigkeit des Zurückblickens auf vergangene Ereignisse verstanden werden soll. Das Gedächtnis ist nur die Voraussetzung des Erinnerns, ohne ein organisches Gedächtnis wären Erinnerungen unmöglich. Gedächtnis und Erinnern unterscheiden sich voneinander auch in Bezug auf ihre Zeitstruktur. Während das Gedächtnis, verstanden als Sammelbegriff für Erinnerungen und metaphorisch als ein externer Daten-Speicher, die „Informationen aus ihrer Zeitlichkeit herausholt und auf Dauer stellt 8“, findet das Erinnern nur in der Gegenwart statt, indem es in diskontinuierliche Akte zerfällt9. Im 2 Faulkner, William: Requiem für eine Nonne. Roman in Szenen. Berlin Darmstadt Wien. Deutsche BuchGemeinschaft, 1961, 1. Akt, 3. Szene. 5 Fall von Erinnern ist also nichts dauerhaft, „sondern muss durch Wiederholungen immer wieder neu hergestellt werden“10. Nach der Position von Jan Assmann, einem Ägyptologen und Kulturwissenschaftler, sind Gedächtnis und Erinnerung in den letzten Jahren zum „neuen Paradigma der Kulturwissenschaften“11 geworden. Das steigende Interesse am Gedächtnis-Thema begründet Assmann mit drei Hauptfaktoren. In der ersten Linie sieht er in der Entwicklung der elektronischen Speichermedien, als einer Art künstlichen Gedächtnisses, die Revolution, deren Bedeutung er selbst mit der Erfindung von Schrift und Buchdruck vergleicht, und die die traditionellen Archivierungs- und Gebrauchsweisen von Informationen radikal geändert hat12. In Bezug darauf spricht er auch von der „Haltung der Nach-Kultur“13, die „etwas Zu-Ende-Gekommenes14“, die die vergangene Tradition erinnert und zum Gegenstand der Aufarbeitung macht15. Die wichtigste Rolle spielt aber, so Assmann, die Tatsache, dass wir uns in einem Punkt der Geschichte befinden, in dem die „Generation von Zeitzeugen der schwersten Verbrechen und Katastrophen“16, der Shoah und des Nationalsozialismus, langsam abstirbt. Es entsteht die Notwendigkeit, die historischen Ereignisse trotz der wachsenden zeitlichen Distanz und des Verlustes von Überlebenden im Bewusstsein der Nachgeborenen aufzubewahren. In demselben Ton äußert sich auch Aleida Assmann, wenn sie schreibt, dass „es wohl nichts gibt, was die Erinnerung so nachhaltig in Gang gesetzt hat wie die Katastrophe der Zerstörung und des Vergessens“17 des 20. 3 Vgl. Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 2006, S. 16. Proszę dokonać takich wcięć na linijce dla lepszej widoczności numeracji. 4 Vgl. ebd., S. 16. 5 Assmann, Aleida/ Frevert, Ute: 1998 – Zwischen Geschichte und Gedächtnis. In: Assmann, Aleida/ Frevert, Ute: Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945. Stuttgart 1999, S. 21-52 (hier S. 35). 6 Zit. nach: Erll, Astrid: Medium des kollektiven Gedächtnisses: Ein (erinnerungs)kulturwissenschaftlicher Kompaktbegriff. In: Erll, Astrid/Nünning, Ansgar (Hg.): Medien des kollektiven Gedächtnisses: Konstruktivität, Historizität, Kulturspezifität. Berlin 2004, S. 3-22 (hier S. 4) . 7 Vgl. Assmann, Aleida: Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen. Berlin 2006, S. 180. 8 Ebd. 9 Vgl. ebd. 10 Ebd. 11 Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 2005, S. 11. 12 Vgl. ebd. 13 Ebd. 14 Ebd. 15 Ebd. 16 Ebd. 17 Assmann, Aleida: Erinnerungsräume, a.a.O., S. 18. 6 Jahrhunderts. Die Vergegenwärtigung und die Aufarbeitung des Vergangenen finden im Rahmen der Erinnerungskulturen statt. Den Begriff ‚Erinnerungskulturen’ verwendet man seit den 1990er Jahren anstelle der älteren Formulierung ‚Vergangenheitsbewältigung’18. Hans-Günter Hockerts definiert Erinnerungskulturen als einen "lockeren Sammelbegriff für die Gesamtheit des nicht spezifisch wissenschaftlichen Gebrauchs der Geschichte für die Öffentlichkeit“19. Die Erinnerungskulturen sind ein universales Phänomen. Es lässt sich keine soziale Gruppe denken, in der gar keine Formen des Bezugs auf die Vergangenheit zu finden wären20. Die Vergangenheit kann in den Gesellschaften auf verschiedene Weise erinnert und gepflegt werden, wie durch Gedenkstätten, Denkmäler, Museen, Feste, Jahrestage und damit verbundene Gedenkreden. Es geht dabei oft nicht bloß um eine objektive, wissenschaftliche Erinnerungsweise, sondern um eine emotional gefärbte Einstellung zu dem Vergangenen. Christoph Corneließen betont die Dynamik von Erinnerungskulturen, indem er schreibt: Erinnerungskulturen sind das Ergebnis von Aushandlungen in der Öffentlichkeit, die sich aus einem Spannungsfeld zwischen individueller Erfahrung und Erinnerung, politisch normierter sowie gesellschaftlich gewünschtem Gedenken und wissenschaftlich objektivierter Geschichte ergeben21. Die kollektiven Erinnerungen sind keine geschlossenen, ein für alle Mal festgelegten und erstarrten Systeme. Sie werden modifiziert und aktualisiert, traumatische Ereignisse werden oft erst nach Jahren verarbeitet. Die Grenze zwischen Vergessen und Erinnern in den Erinnerungskulturen ist also flüssig, erinnert wird das, was gerade in der Gesellschaft als relevant gilt. Die Forscher wie Aleida Assmann machen einen Unterschied zwischen Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, zwischen einem unabhängigen, zivilkulturellen Umgang mit Erinnerung und der gewaltsamen Instrumentalisierung der Vergangenheit durch politische Mächte22. Die Verantwortung 18 Vgl. Corneließen, Christoph: Erinnern in Europa. Unter: http://www.bpb.de/themen/8JVYJ2,0,Erinnern_in_Europa.html (Zugriff am 17.12.2009). 19 Hans-Günter Hockerts: Zugänge zur Zeitgeschichte. Primärerfahrung, Erinnerungskultur, Geschichtswissenschaft, in: Konrad H. Jarausch/ Martin Sabrow (Hrsg.): Verletztes Gedächtnis. Erinnerungskultur und Zeitgeschichte im Konflikt, Frankfurt a. M. 2002, S. 39-73 (Zit. nach: Corneließen, Christoph: a.a.O.). 20 Vgl. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis, a.a.O., S. 30. 21 Corneließen, Christoph, a.a.O. 22 Vgl. Assmann, Aleida Der lange Schatten der Vergangenheit: Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München 2006, C.H. Verlag, S. 274. 7 dafür, wie und wozu das Vergangene präsentiert und gebraucht wird, wird dem Staat zugeschrieben, denn eben der Staat soll in Bezug auf die Erinnerung für kulturelle Freiheit und Pluralität eintreten. 2.1.1 Gedächtnisdiskurs Obwohl Stiftung und Pflege des kulturellen Erbes anscheinend zur Grundausstattung des Menschen gehören und sich verschiedene Formen des kollektiven Bezugs auf die Vergangenheit bis in die Antike zurückverfolgen lassen23, ist die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Phänomen des kollektiven Gedächtnisses eine relativ neue Erscheinung. Erst seit den 1920er Jahren erforscht man in der Kulturwissenschaft, wie die Gesellschaften die Vergangenheit erinnern und welche Funktionen diese Akte erfüllen. Zu dieser Zeit entstanden auch die ersten Gedächtnistheorien. Für die heutige Forschung zum kollektiven Gedächtnis sind zwei Traditionsstränge mit dem Ausgangspunkt in den 1920er Jahren von besonderer Bedeutung24. Verbunden sind sie mit den Namen Maurice Halbwachs und Aby Warburg, die als die Allerersten das Phänomen des kollektiven Gedächtnisses systematisch untersucht und beschrieben haben. Halbwachs prägte in seinen soziologischen Studien das Konzept der mémoire collective, Warburg beschäftigte sich mit einem europäischen Bildgedächtnis25. Nach einer Pause wurde das Gedächtnis-Thema erst in den 1980er Jahren in der kulturhistorischen Forschung wieder aufgegriffen. Sehr bedeutsam und einflussreich erwies sich auf der internationalen Bühne Pierre Noras Konzept der lieux de mémoire. Im deutschsprachigen Raum entwickelten Aleida und Jan Assmann einige Jahre später den Begriff des ‚kulturellen Gedächtnisses’. Ihr Konzept gilt bis heute weltweit als das am besten ausgearbeitete26. Der deutsche Sozialpsychologe Harald Welzer spricht in Bezug auf das kollektive Gedächtnis über das soziale Gedächtnis 27. Erwähnenswert ist schließlich der 1997 gegründete Gießener 23 Sonderforschungsbereich 434 Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2005, S. 13. 24 Vgl. ebd. 25 Vgl. ebd. 26 Vgl. ebd. 27 Vgl. Welzer, Harald (Hg.): Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung. Hamburg 2001, S. 9-21. 8 »Erinnerungskulturen«, im dessen Rahmen die Inhalte und Formen kultureller Erinnerungen in ihrer Pluralität, Konstruktivität und Dynamik untersucht werden28. 2.1.1.1 Forschung in den 1920er Jahren – Maurice Halbwachs’ und Aby Warburgs Konzepte Maurice Halbwachs gilt als Vater der Gedächtnisforschung. Obwohl seine Werke wie auch die ganze Beschäftigung mit dem Gedächtnis-Thema nach dem Krieg in Vergessenheit gerieten, nehmen heute fast alle Theoretiker des kollektiven Gedächtnisses Bezug auf ihn. Seine Konzepte werden zum Diskussionsgegenstand und inspirieren neue Theorien. Zuerst studierte Halbwachs Philosophie bei Henri Bergson, dann wandte er sich der Soziologie zu und wurde Schüler Émile Durkheims. In seinen Schriften bezog sich Halbwachs auf die Theorien beider Lehrer. Gegen den Subjektivismus Bergsons richtete er eine These, dass die Erinnerung ein kollektives statt rein individuelles Phänomen ist. Der Durkheimsche Begriff des kollektiven Bewusstseins wurde ihm dagegen zur Grundlage seiner eigenen Studien zum Phänomen des kollektiven Gedächtnisses29. Astrid Erll zählt in ihrem Beitrag zu Halbwachs drei Untersuchungsbereiche auf, die in seinen Studien hinsichtlich des kollektiven Gedächtnisses unterschieden werden können. Zum ersten beschäftigte er sich mit der Theorie der sozialen Bedingtheit individueller Erinnerung. Zweitens untersuchte er die Formen und Funktionen des zwischen den Generationen funktionierenden Gedächtnisses. Und schließlich weitete er den Begriff der mémoire collective auf die Ebene kultureller Überlieferung und Traditionsbildung aus30. Der Ausgangspunkt und die Hauptthese Halbwachschen Theorie zum Phänomen des kollektiven Gedächtnisses ist die schon erwähnte Annahme der sozialen Bedingtheit des Gedächtnisses. Neben dem Begriff der mémoire collective also des kollektiven Gedächtnisses, bediente sich Halbwachs in seiner Theorie auch der Bezeichnung cadres sociaux also die sozialen Bezugsrahmen. Er stellte fest, dass sich ohne diese Bezugsrahmen kein individuelles Gedächtnis entwickeln und erhalten könnte. Im 1925 veröffentlichten Buch Les cadres sociaux de la mémoire (Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen) notiert Halbwachs: 28 Vgl. Konzept des Gießener Sonderforschungsbereichs 434 Erinnerungskulturen. Unter: http://www.uni-giessen.de/erinnerungskulturen/home/konzept.html (Zugriff am 17.12.2009). 29 Vgl. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis, a.a.O., S. 35. 30 Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, a.a.O., S. 14. 9 Es gibt kein mögliches Gedächtnis außerhalb derjenigen Bezugsrahmen, deren sich die in der Gesellschaft lebenden Menschen bedienen, um ihre Erinnerungen zu fixieren und wiederzufinden.31 Der Mensch wächst auf und funktioniert nicht in einem Vakuum, sondern in der Umgebung von anderen Menschen. Das Gedächtnis entfaltet sich erst im Prozess der Integration des Menschen in die Gesellschaft, ähnlich wie die Sprache. Es wächst „von außen in den Menschen hinein“32. Ohne Kontakt zu anderen Menschen, in Einsamkeit aufgewachsen, hätte das Individuum keine Erinnerungen, denn es würden die unabdingbaren Bezugsrahmen fehlen. Die Erinnerungen entstehen nur durch Interaktion und Kommunikation mit anderen Menschen im Rahmen sozialer Gruppen33. In demselben Buch bemerkt Halbwachs ein paar Seiten vorher: Jede noch so persönliche Erinnerung, selbst von Ereignissen, deren Zeuge wir alleine waren, selbst von unausgesprochenen Gedanken und Gefühlen, steht zu einem Gesamt von Begriffen in Beziehung, das noch viele andere außer uns besitzen, mit Personen, Gruppen, Orten, Daten, Wörtern und Sprachformen,, auch mit Überlegungen und Ideen, d.h. mit dem ganzen materiellen und geistigen Leben der Gruppen, zu denen wir gehören und gehört haben.34 Die sozialen Rahmen ermöglichen, die verschiedenen vergangenen Ereignisse zu lokalisieren und sie dadurch auch zu erinnern. Nicht nur konstituieren, sondern auch stabilisieren sie die Erinnerungen der Individuen. Astrid Erll fügt hinzu, dass sich aus den cadres sociaux im wörtlichen Sinne des sozialen Umfelds die cadres sociaux im metaphorischen Sinne der Denkmuster ableiten lassen35. Diese Denkschemata lenken Wahrnehmungen und Erinnerungen in bestimmte Richtungen einer kollektiven, symbolischen Ordnung, an der wir teilhaben36. Ohne Zweifel haben wir auch individuelle Gedächtnisse, diese Gedächtnisse sind aber kollektiv geprägt, weil sie im 31 Halbwachs, Maurice: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Frankfurt (M.) 1985, S. 121. Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen. Wissen. Ethik. Jahrgang 13/2002 (S. 183-190, hier S. 184). 33 Vgl. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis, a.a.O, S. 36. 34 Halbwachs, Maurice: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, a.a.O, S. 71. 35 Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, a.a.O., S. 15. 36 Ebd. 32 10 Rahmen sozialer Gruppen entstanden sind. Deshalb spricht Halbwachs vom kollektiven Gedächtnis, an dem die individuellen Gedächtnisse partizipieren: Es würde in diesem Sinne ein kollektives Gedächtnis und einen Rahmen des Gedächtnisses geben, und unser individuelles Denken wäre in dem Maβe fähig sich zu erinnern, wie es sich innerhalb dieses Bezugsrahmens hält und an diesem Gedächtnis partizipiert.37 Astrid Erll nennt die Beziehung zwischen dem kollektiven und dem individuellen Gedächtnis eine wechselseitige Abhängigkeit38. Im Individuum offenbart sich das Gedächtnis der Gruppe, aber „erst über individuelle Erinnerungsakte wird das kollektive Gedächtnis beobachtbar“39. Weil die Menschen zu verschiedenen sozialen Gruppen gehören, haben sie auch verschiedene Erfahrungen und daraus resultierende Erinnerungen. Eben das macht die Gedächtnisse der Menschen einzigartig aus und unterscheidet sie von den anderen Gedächtnissen. Wenn die bestimmten Bezugsrahmen verschwinden, wenn man einer bestimmten sozialen Gruppe nicht mehr angehört, verliert man auch die damit verbundenen Erinnerungen. Folgendermaßen erklärt Halbwachs das Vergessen: Wenn bestimmte Erinnerungen nicht zum Vorschein kommen, dann keineswegs darum, weil sie zu alt und allmählich verblasst wären, vielmehr weil sie einst in ein Vorstellungssystem eingebaut waren, das sie heute nicht mehr vorfinden.40 Den Prozess des Verblassens und Vergessens der Erinnerungen erläutert der Soziologe auch mittels der Analyse von Träumen. Eben deswegen vergisst man relativ schnell, wovon man geträumt hat, weil unsere Träume nur auf sich selbst basieren. Niemand außer uns hat den Zugang zu ihnen und niemand ist im Stande uns zu helfen, sie im Gedächtnis beizubehalten. Während wir die Erfahrungen und Erinnerungen mit unserem sozialen Umfeld teilen und unser Gedächtnis auf den Gedächtnissen der anderen stützen, sind die nächtlichen Träume unsere privaten und in voller Einsamkeit erlebten Geschichten, die außerdem oft eine Mischung aus den schon geschehenen und 37 Halbwachs, Maurice: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, a.a.O, S.21. Vgl. Erll, Astrid, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, a.a.O., S. 16. 39 Ebd. 40 Halbwachs, Maurice: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, a.a.O, S. 135. 38 11 nur möglichen Situationen sind. Man hat keine Mittel, um diese Geschichten nach dem Erwachen wieder zu ergreifen. Halbwachs konstatiert: Der Traum beruht auf sich selber, während unsere Erinnerungen sich auf die aller anderen und auf die großen Bezugsrahmen des Gesellschaftsgedächtnisses stützen.41 Darin besteht eben die stabilisierende Funktion der Bezugsrahmen. Maurice Halbwachs unterschied in seinen Studien drei Dimensionen der mémoire collective. Die erste Dimension machen die schon beschriebenen, sozial geprägten individuellen Gedächtnisse aus. Das kollektive Gedächtnis besteht in diesem Fall aus mehreren Einzelgedächtnissen. Die zweite Dimension ist das Generationengedächtnis, das Halbwachs am Beispiel vom Familiengedächtnis analysiert. Das Familiengedächtnis ist intergenerationell. Es umfasst die Gedächtnisse der Großeltern, Eltern und Kinder und reicht so weit in die Vergangenheit, wie sich die ältesten Familienmitglieder zurückerinnern können. Dieses Gedächtnis entsteht durch gemeinsam geteilte Erfahrungen und durch mündliche Überlieferung, dank der auch diejenigen am Gedächtnis partizipieren, die die erinnerten Geschichten und Ereignisse nicht selbst erlebt haben. Die dritte und letzte Dimension der mémoire collective ist schließlich das kulturelle Gedächtnis, das vor allem Aleida und Jan Assmann breiter beschrieben haben. Im Allgemeinen handelt es sich in diesem Fall um die Tradierung des kulturellen Wissens. Betonen muss man noch, dass Halbwachs das kollektive Gedächtnis radikal von der Geschichte trennte. Obwohl beide Formen des Vergangenheitsbezugs sind, lassen sie sich miteinander nicht vereinbaren. In dem Buch Le memoire collective (Das kollektive Gedächtnis) notiert er: Die Geschichte beginnt im Allgemeinen erst an dem Punkt, wo die Tradition aufhört und sich das kollektive Gedächtnis auslöst.42 Erst dann kann von der Geschichte als der Domäne der Historiker die Rede sein, wenn die Vergangenheit nicht mehr vom kollektiven Gedächtnis lebender Gruppen in 41 42 Halbwachs, Maurice: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, a.a.O., S. 72. Halbwachs, Maurice: Das kollektive Gedächtnis. Frankfurt a.M.: Fischer 1991, S. 66. 12 Anspruch genommen wird43. Die Geschichte, so Halbwachs, ist eine Abfolge von Fakten, eine unparteiische Ordnung der gleichberechtigten Ereignisse aus der Vergangenheit. Sie ist universal, das Gedächtnis dagegen partikulär, kollektiv, also gruppenspezifisch. Die Träger des kollektiven Gedächtnisses sind Gruppen, die nicht nur zeitlich und räumlich begrenzt sind, sondern auch deren Erinnerungen Wert an sich haben. Halbwachs war der Meinung, dass die historischen Fakten niemandem etwas bedeuten, das heißt, dass sie als leere Abstraktionen funktionslos und aus allen Bindungen und Verbundenheiten ausgelöst sind. Das kollektive Gedächtnis besitzt dagegen eine identitätsbildende Funktion. Hier wird nicht alles erinnert, sondern nur das, was die Bedürfnisse der Gruppe befriedigt und ihren Interessen entspricht, also was diese Gruppe stabilisiert. Mit Harald Welzers Worten ist das Gedächtnis „ein konstruktives System, das Realität nicht einfach abbildet, sondern auf unterschiedlichsten Wegen und nach unterschiedlichsten Funktionen filtert und interpretiert“44. Es gibt nur eine Geschichte aber viele selektive Kollektivgedächtnisse. Astrid Erll bemerkt, dass bei solch einem Prozess Verzerrungen und Umgewichtungen bis hin zur Fiktion möglich sind45. Es handelt sich in diesem Fall nicht um ein Abbild der Vergangenheit, sondern um eine Art Rekonstruktion. Dabei kann das Gedächtnis einfach sehr kreativ sein. Das zweite wichtige Konzept des kollektiven Gedächtnisses aus den 1920er Jahren kommt von dem Kunst- und Kulturtheoretiker Aby Warburg. Anders als Halbwachs, der sich vor allem auf die soziale Dimension der Kultur konzentrierte und auf „die aktive, bewusste, konstruktive und Bedürfnissen der Gegenwart entsprechende Aneignung einer Identitätsbezogenen Vergangenheit durch die soziale Gruppe“46 den Druck legte, interessierte sich Warburg für die materiale Dimension der Kultur, die ausdrucksstark aber auch eng mit unbewussten, psychischen Prozessen verbunden ist. Da er sich mit der Kontinuität der Sternsymbolik und dem Nachleben der Antike in der Renaissance beschäftigte, bemerkte er, dass bestimmte künstlerische Formen in verschiedenen Epochen ständig wiederkehren. Dabei formulierte er eine These, dass diese Erscheinung nicht nur auf die bewusste Aneignung der antiken Motive durch Künstler, sondern vor allem auf die erinnerungsauslösende Kraft der kulturellen 43 Vgl. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis, a.a.O., S. 44. Welzer, Harald: Das kommunikative Gedächtnis. C.H.Beck München, S. 20. 45 Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, a.a.O., S. 17. 46 Ebd. S. 21. 44 13 Symbole zurückzuführen ist47. In seiner Theorie benutzte Warburg den von Richard Semon, einem Biologen, entwickelten Begriffs des ‚Engramms’. Semon bezeichnete als Engramme bestimmte physiologische Spuren oder Veränderungen, die durch Reize in die Organismen eingeschrieben werden48. Die Summe von Engrammen nannte er ‚Mneme’, die als Gedächtnis zu verstehen ist, weil „bei Wiederkehr der gleichen Reizsituation die Reaktionen kraft Erinnerung wiederholt werden können“49. Für Warburg waren kulturelle Engramme (oder auch Dynamogramme) bestimmte Symbole, die die „‚mnemische Energie’ speichern, um sie unter den jeweiligen historischen Bedingungen wieder zu entladen50. Es handelte sich also nicht um biologische Grundlagen des Gedächtnisses wie bei Semon, sondern um die immanente Gedächtniskraft der Bilder. Als Engramme bezeichnete Warburg vor allem die so genannten ‚Pathosformeln’, das heißt Symbole, in denen sich das antike Pathos niedergeschlagen hatte51. Bei seiner Beschäftigung mit der Kunst der Renaissance beobachtete er, dass sich die Künstler der antiken Symbolik bedienten, wenn sie die Leidenschaft der Figuren in Physiognomie und Gebärde darstellen und die Ausdruckskraft der Bilder steigern wollten. In Bezug darauf erklärt Aleida Assmann, dass mit der Wiederholung der Bildformel mehr aufgerufen wurde als nur ein bestimmtes Motiv52. Bei jedem solchem Versuch kam es nämlich zur Aktivierung des in die Formel eingeprägten Affektpotentials und zur Steigerung der Durchschlagskraft der Bilder. Die mit solch einem Potential ausgestatteten Symbole nannte Warburg ‚Energiekonserven’ und argumentierte, dass die Kultur auf dem Gedächtnis der Symbole beruhe53. Nicht die mündliche Rede, sondern die Kunstwerke machte er zum zentralen Medium des kollektiven Gedächtnisses. Auf diese Weise entwickelte er das Konzept des europäischen Bildgedächtnisses, in Bezug auf das er auch den Begriff des ‚sozialen Gedächtnisses“ verwendete. Warburg betonte in seinen Schriften, dass das soziale Gedächtnis Veränderungen unterliegt, die für jede Zeit und jeden Ort typisch sind. Die Analyse dieser Aktualisierungen könnte erlauben, Folgerungen auf die 47 Vgl. ebd. Vgl. Semon, Richard: Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens. Leipzig, Engelmann 1920. 49 Semon, Richard. Zit. nach Meyer-Kalkus, Reinhart: Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert. Akademie Verlag, Berlin 2001, S.219. 50 Vgl. Öhlschläger, Claudia: Gender/Körper, Gedächtnis und Literatur. In: Erll, Astrid/ Nünning, Ansgar (Hg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Berlin: de Gruyter 2005, S. 217-248 (hier S. 236). 51 Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, a.a.O., S.19. 52 Vgl. Assmann, Aleida: Erinnerungsräume, a.a.O., S. 226. 53 Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, a.a.O., S.19. 48 14 mentale, geistige Dimension der Kultur und auf den Zeitgeist zu ziehen, denn die Vergangenheit wird immer in der Abhängigkeit von dem jeweiligen Zeitalter erinnert. In Bezug darauf schreibt Warburg: Die Abweichungen der Wiedergabe, im Spiegel der Zeit erschaut, geben die bewusst und unbewusst auswählende Tendenz des Zeitalters wieder und damit kommt die wunschbildende, idealsetzende Gesamtseele an das Tageslicht.54 Das Verfahren der Wiederholung und Aktualisierung der Formen versuchte Warburg in seinem unvollendeten Projekt ‚Mnemosyne’ zu veranschaulichen55. Es handelte sich dabei um eine Ausstellung, in deren Rahmen auf großen Tafeln Abbilder von Kunstwerken, Briefmarken, Plakate und Fotografien versammelt wurden mit dem Ziel, die Gültigkeit „antiker Ausdruckswerte bei der Darstellung bewegten Lebens in der Kunst der europäischen Renaissance“56 nachzuweisen und damit das Konzept des europäischen Bildgedächtnisses zu illustrieren. Die originellen Tafeln haben sich nicht erhalten. 2.1.1.2 Pierre Nora und lieux de mémoire Das einflussreichste Konzept zum Problem des kollektiven Gedächtnisses nach dessen Wiederauftauchen in den 1980er Jahren kommt von dem französischen Historiker Pierre Nora. Der Ausgangspunkt seiner Überlegungen zu lieux de mémoire (Erinnerungsorte) war die Halbwachs’sche Trennung zwischen Gedächtnis und Geschichte. In dem heute schon kanonischen Text der Gedächtnisforschung Zwischen Geschichte und Gedächtnis legt Nora den Druck auf die Unterschiede zwischen den beiden: Gedächtnis, Geschichte: keineswegs sind dies Synonyme, sondern, wie uns heute bewusst wird, in jeder Hinsicht Gegensätze. […] Das Gedächtnis ist ein stets aktuelles Phänomen, eine in ewiger Gegenwart erlebte Bindung, die Geschichte hingegen die Repräsentation der Vergangenheit. […] Das Gedächtnis rückt die 54 Ebd. Vgl. Warburg, Aby: Der Bilderatlas Mnemosyne. Martin Warnke (Hg.), Berlin 2003. 56 Warburg, Aby. Zit. nach: Öhlschläger, Claudia: Gender/Körper, Gedächtnis und Literatur, a.a.O. S. 236. 55 15 Erinnerung ins Sakrale, die Geschichte vertreibt sie daraus, ihre Sache ist die Entzauberung. Das Gedächtnis erwächst einer Gruppe, deren Zusammenhang es stiftet. […].57 Das Gedächtnis ist immer mit lebendigen Trägern verbunden, die nach ihren Interessen selektiv erinnern und vergessen. Die Geschichte ist dagegen objektiv und neutral, „gehört allen und niemandem“58. Mit dieser Formulierung wiederholte Nora die These Halbwachs’. Während aber Halbwachs in seinen Schriften von der Existenz kollektiver Gedächtnisse ausging, schrieb Nora in Bezug auf die ihm gegenwärtige Zeit in einem oft zitierten Satz etwas ganz Gegensätzliches: Nur deshalb spricht man so viel vom Gedächtnis, weil es keines mehr gibt.59 Nach der Position von Aleida Assmann sind diese Worte zu verstehen als der Ausdruck der Überzeugung von der Gedächtniskrise, einer „Abkoppelung der Gegenwart von der Vergangenheit“60, einem endgültigen Verschwinden des Gedächtnisses „im Feuer der Geschichte“61. Zu solch einer Feststellung kam Nora aufgrund der Analyse der französischen Geschichte und der kollektiven Identität der Franzosen, die er in seinem siebenbändigen Werk Les lieux de memoire darstellte. Während noch das 19. Jahrhundert das Jahrhundert der Nationalstaaten war, kam es im 20. zur Abkehr von der Idee der Nationalstaatlichkeit. Die Gesellschaftsstruktur hat sich geändert und differenziert, innerhalb einer Gesellschaft gibt Vertreter von verschiedenen Erinnerungskulturen. Demnach ist es nicht mehr möglich, ein nationales Gedächtnis zu kreieren, das identitätsstiftend wirken könnte. Als weitere Gegner des Gedächtnisses zählt Nora solche Modernisierungsphänomene auf wie Individualisierung, Demokratisierung, Vermassung, dekonstruktiven Einfluss der Geschichtswissenschaften auf die identitätsfundierende Mythen62. Statt also von dem kollektiven Gedächtnis im Halbwachs’schen Sinne spricht Nora von den lieux de mémoire63, von den 57 Nora, Pierre. Zit. nach: Assmann, Aleida: Erinnerungsräume, a.a.O., S. 132. Ebd., S. 133 59 Nora, Pierre: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Zit. nach Assmann, Aleida: Erinnerungsräume, a.a.O., S. 11. 60 Ebd., S. 13. 61 Nora, Pierre. Zit. nach: Assmann, Aleida: Erinnerungsräume, a.a.O., S.13. 62 Vgl. Schmidt, Patrick: Zwischen Medien und Topoi: Die Lieux de mémoire und die Medialität des kulturellen Gedächtnisses. In: Erll, Astrid/ Nünning, Ansgar (Hg.): Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität. Historizität. Kulturspezifität. Berlin 2004, S. 25-43 (hier S. 31). 63 Vgl. Nora, Pierre: Erinnerungsorte Frankreichs. Beck, 2005. 58 16 Erinnerungsorten, die die Erinnerungsbilder der Franzosen aufrufen und als „Stützen der Erinnerung“64 dienen sollen. Dabei handelt sich nicht ausschließlich um Orte im geografischen Sinne, sondern auch um Kunstwerke, Denkmäler, Gedenktage, historische Persönlichkeiten, symbolische Handlungen oder philosophische Texte, die das nicht mehr vorhandene kollektive Gedächtnis der Nation ersetzen. „Erinnerungsorte sind zersprengte Fragmente eines verlorenen oder zerstörten Lebenszusammenhangs“65 schreibt Assmann in ihrem Kommentar zu Noras Worten „Es gibt lieux de mémoire, weil es keine milieux de mémoire gibt“66. Was vorher Gegenstand des Gedenkens innerhalb der Gedächtnisgemeinschaften war, verwandelte sich jetzt in Erinnerungsorte im Sinne der Reste der vormaligen Tradition. Nora zählte konkrete Voraussetzungen auf, die Geschehnisse oder Gegenstände erfüllen müssen, um als Erinnerungsorte gelten zu können. Seinen Überlegungen nach kann man zwischen drei Dimensionen der Erinnerunngsorte unterscheiden: zwischen einer materiellen, funktionalen und symbolischen Dimension. Im ersten Fall handelt es sich nicht nur um Gegenstände, die man anfassen kann, wie Kunstwerke, sondern auch um vergangene Ereignisse, die „ein materieller Ausschnitt einer Zeiteinheit“ sind67. Die zweite Dimension weist auf bestimmte Funktion hin, die die Objektivationen innerhalb der Gesellschaft erfüllt hatten, bevor sie zu Erinnerungsorten wurden. Als Beispiel nennt Nora das berühmte Buch Histoire de France von Ernest Lavisse, das ursprünglich als Schulbuch diente68. Die symbolische Dimension verbindet sich schließlich mit der symbolischen Bedeutung, die intentional den Objektivationen zugeschrieben wird. Es handelt sich um solche Fälle, wenn Handlungen zu Ritualen werden, oder wenn Orte mit bestimmter Atmosphäre umgeben sind69. Alle drei Voraussetzungen erfüllt beispielsweise Auschwitz, das als Konzentrationslager zum bestimmten Zweck gebaut wurde, heute an die Verbrechen an der Menschheit erinnert und mit Aura des Todes verbunden ist. Astrid Erll bemerkt, dass Pierre Nora, trotz der konkreten Hinweise, die Definition der Erinnerungsorte in seinen zahlreichen Beiträgen mehrmals dekonstruiert70. So avancieren zu diesem Rang auch Redeweisen, Denkfiguren und soziale Umgangsformen. Da der Historiker letztendlich keine eindeutige Definition formuliert, 64 Rüsen, Jörn: Kultur macht Sinn. Wien 2006, S. 84. Assmann Aleida: Erinnerungsräume, a.a.O., S. 309. 66 Nora, Pierre. Zit. nach: Assmann, Aleida, ebd., S. 339. 67 Nora, Pierre. Zit. nach: Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, a.a.O., S. 24. 68 Vgl. ebd. 69 Vgl. ebd. 70 Vgl. ebd. 65 17 schlägt Erll vor, als Erinnerungsorte diese kulturellen Phänomene (ob material, sozial oder mental) zu bezeichnen, die „auf kollektiver Ebene bewusst oder unbewusst in Zusammenhang mit Vergangenheit oder nationales Identität gebraucht werden71“. Obwohl Noras Feststellungen auf Kritik stießen, besonders die Idee der völligen Ausschluss der memorialen Funktion der Geschichtsschreibung und des damit verbundenen Verfalls des Gedächtnisses72, fand seine Methode in anderen Ländern Anerkennung. Nach dem Vorbild von Lieux de mémoire wurden zahlreiche Nationen und Regionen erinnerungshistorisch untersucht. Die bekannte deutsche Publikation zu diesem Thema ist das dreibändige Werk der Historiker Étienne François und Hagen Schulze Deutsche Erinnerungsorte, in dem die wichtigsten Bezugspunkte im kulturellen Gedächtnis der Deutschen dargestellt werden, wobei der Druck nicht nur darauf gelegt wird, auf welche Weise die Erinnerungsorte als loci memoriae entstanden sind, sondern auch darauf, wie sich ihre Symbolik im Laufe der Zeit verändert hat73. 2.1.1.3 ‚Kulturelles Gedächtnis’ von Aleida und Jan Assmann Nach der Position von Harald Welzer verdankt die Kulturwissenschaft den Arbeiten von Jan und Aleida Assmann vor allem die genaue Bestimmung und Differenzierung des Halbwachsschen Konzepts vom kollektiven Gedächtnis74. In den 1980er Jahren prägten Assmanns den Begriff des ‚kulturellen Gedächtnisses’, den sie von dem ‚kommunikativen Gedächtnis’ einerseits und der Geschichte als Wissenschaft andererseits abtrennten. In ihren Schriften stellten sie das Verhältnis zwischen Kultur und Gedächtnis dar, wobei sich ihr Konzept durch solide, theoretische Begründung und Systematisierung charakterisiert und heute zu meistdiskutierten Konzepten der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung gehört. Die Assmannsche Trennung zwischen dem kollektiven und dem kulturellen Gedächtnis basiert auf einer Feststellung, dass es einen Unterschied gibt zwischen dem kollektiven Gedächtnis, das sich auf die Alltagskommunikation stützt, und dem kollektiven Gedächtnis, das auf symbolischen Gütern, Riten und Kodierungen der kulturellen 71 Ebd. Vgl. Egon Flaig, Soziale Bedingungen des Vergessens. In: Vorträge aus dem Warburg-Haus, Bd. 3, Berlin 1999, S. 97 und Erll Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, a.a.O,. S 25. 73 Vgl. Francois, Etienne/ Schulze, Hagen (Hrsg.): Deutsche Erinnerungsorte. 3 Bde. München: Beck 2001. 74 Vgl. Welzer, Harald: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München 2002. S. 13. 72 18 Objektivationen beruht75. Die beiden Gedächtnis-Rahmen unterscheiden sich wesentlich voneinander in ihren Inhalten, Formen, Medien, Trägern und schließlich in ihrer Zeitstruktur. Das kommunikative Gedächtnis entsteht „in einem Milieu räumlicher Nähe, regelmäßiger Interaktion, gemeinsamer Lebensformen und geteilter Erfahrungen“76, durch Austausch der Informationen zwischen den Zeitgenossen. Die Assmanns knüpfen damit an die These Halbwachs’ an, dass die Erinnerungen der Individuen ausschließlich in Kommunikation mit den Mitmenschen entstehen können. Da das kommunikative Gedächtnis die Geschichtserfahrungen der Individuen zum Inhalt hat und auf ihren organischen Gedächtnissen basiert, ist auch sein Zeithorizont beschränkt. Er wandert „mit dem fortschreitenden Gegenwartspunkt mit“77 und umfasst jeweils drei bis vier Generationen, also 80-100 Jahre. Das ist der Zeitraum, in dem die Generationen gleichzeitig existieren und „durch persönlichen Austausch eine Erfahrungs-, Erinnerungs-, und Erzählgemeinschaft bilden“78. In Bezug auf das kommunikative Gedächtnis kann man also auch von dem Kurzzeitgedächtnis der Gesellschaft sprechen. Es ist informell und im hohen Maße unorganisiert, weil jeder hier das Recht darauf hat, über eigene Erfahrungen zu erzählen und die gemeinsame Vergangenheit zu erinnern. Das kommunikative Gedächtnis hat diesbezüglich keine Fixpunkte, erst durch organisierte und zeremonialisierte Kommunikation über die Vergangenheit ist die dauerhafte Fixierung der Inhalte dieses Gedächtnisses möglich79. Seit diesem Punkt kann die Rede vom kulturellen Gedächtnis sein und eben diese Gedächtnisform liegt im Zentrum der Forschung beider Assmanns. Jan Assmann definiert das kulturelle Gedächtnis als den jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an WiedergebrauchsTexten, -Bildern und –Riten [...], in derer Pflege sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen, vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) 75 Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, a.a.O., S. 27-33 Assmann, Aleida / Frevert, Ute: 1998 – Zwischen Geschichte und Gedächtnis. In: Assmann, Aleida / Frevert, Ute: Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945. Stuttgart 1999, S. 21-52 (hier S. 36). 77 Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Assmann, Jan/ Hölscher, Tonio (Hg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt (M.) 1988, S. 11. 78 Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen, Wissen, Ethik. Streitform für Erwägungskultur. Jg. 13 (2002), H. 2, S. 183-190 (hier S. 185). 79 Vgl. Welzer, Harald: Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung. Hamburg 2001, S. 13. 76 19 über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewusstsein von Einheit und Eigenart stützt.80 Den Inhalt des kulturellen Gedächtnisses bilden Geschehnisse aus der weit zurückliegenden Vergangenheit, die vor allem die stabilisierende Funktion für das Selbstbild der sozialen Gruppen erfüllen. Aleida Assmann notiert, dass das kulturelle Gedächtnis den Bürgern einer Gesellschaft dazu dient, „in langfristiger historischer Perspektive überlebenszeitlich zu kommunizieren“81. In dem Beitrag zur Mediengeschichte des kulturellen Gedächtnisses erweitert sie diesen Gedanken folgendermaßen: Das kulturelle Gedächtnis schafft die materiellen und institutionellen Grundlagen dafür, dass Menschen sich überhaupt auf eine sehr viel frühere Zeit beziehen können und auch selbst erwarten dürfen, zu einer späteren Nachwelt noch sprechen zu können. 82 Die Erinnerungen an vergangene Geschehnisse funktionieren zunächst immer im Rahmen des kommunikativen Gedächtnisses. Wenn sie aber für die Gesellschaft von großer Bedeutung sind, werden sie kanonisiert und gehen auf diese Weise in das kulturelle Gedächtnis über. Im Unterschied zum unorganisierten kommunikativen Gedächtnis, ist das kulturelle Gedächtnis im hohen Grad gestiftet, zeremonialisiert und an feste Objektivationen gebunden. Es vermittelt einen festen Bestand an Inhalten und Sinnstiftungen, deshalb erfordert es spezialisierte und ausgebildete Trägerschaft, die die Tradition kontinuiert sowie die Inhalte des kulturellen Gedächtnisses interpretiert und weitergibt, wie Priester oder Schamanen83. Zusammenfassend kann man nach Jan Assmann folgende Merkmale des kulturellen Gedächtnisses aufzählen: Identitätskonkretheit – das kulturelle Gedächtnis ist konstitutiv für die Identität der sozialen Gruppen; Rekonstruktivität – das kulturelle Gedächtnis ist retrospektiv, es bezieht sich auf die Gegenwart; Geformtheit – im Unterschied zum kommunikativen ist das kulturelle Gedächtnis auf die Kontinuierung von Sinn 80 anhand fester Assmann, Jan : Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, a.a.O., S. 15. , Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses, a.a.O., S. 189. 82 Assmann, Aleida: Zur Mediengeschichte des kulturellen Gedächtnisses. In: Erll, Astrid / Nünning, Ansgar: Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität. Historizität. Kulturspezifität, Berlin 2004, S. 45-60 (hier S. 47). 83 Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, a.a.O., S. 28. 81 20 Ausdrucksformen und -medien angewiesen, wie Riten, Schrift oder Bilder; Organisiertheit – das kulturelle Gedächtnis ist institutionalisiert, seine Träger spezialisiert; Verbindlichkeit – das kulturelle Gedächtnis gilt für alle Mitglieder der Gruppe in dem Sinne als verbindlich, dass es aus ihm eine Wertperspektive und ein Relevanzgefälle für die Gruppe resultiert; Reflexivität – das kulturelle Gedächtnis reflektiert die Lebenswelt und das Selbstbild der Gruppe, sowie sich selbst 84. Nach der Position von Harald Welzer liegt ein gemeinsames Merkmal beider Gedächtnis-Rahmen darin, dass sowohl das kommunikative als auch das kulturelle Gedächtnis überwiegend intentional mit der Vergangenheit umgehen. Seiner Meinung nach handelt es sich in beiden Fällen um eine bewusste bzw. eine bewussteinfähige Praktiken der Kommunikation und Formung von Vergangenheit85. Von großer Bedeutung ist in der Theorie Assmanns die Betonung der Relation zwischen kultureller Erinnerung, kollektiver Identitätsbildung und politischer Legitimierung. Mit dieser Frage beschäftigt sich vor allem Jan Assmann. In dem 1992 veröffentlichten Buch Das kulturelle Gedächtnis schreibt er: Gesellschaften imaginieren Selbstbilder und kontinuieren über die Generationenfolge hinweg eine Identität, indem sie eine Kultur der Erinnerung ausbilden; und sie tun das [...] auf ganz verschiedene Weise.86 So kommt Assmann zur Unterscheidung zwischen den oralen und skripturalen Kulturen hinsichtlich der Medien der Überlieferung und zwischen den heißen und kalten Kulturen, wenn es um die gedächtnispolitischen Strategien geht. Im ersten Fall spricht er von der rituellen Kohärenz oraler Kulturen und der textuellen Kohärenz skripturaler Kulturen87, weil sowohl die Mündlichkeit als auch die Schriftlichkeit die zwei Hauptmedien des kulturellen Gedächtnisses sind. Orale Kulturen überliefern die Inhalte des kulturellen Gedächtnisses durch Wiederholungen der Mythen, wobei sie einen besonderen Druck auf die Genauigkeit legen, denn jede Abweichung und Veränderung beeinträchtigt den Überlieferungszusammenhang. Das kulturelle Gedächtnis in den oralen Kulturen beruht vor allem auf den organischen Gedächtnissen der Schamanen. Skripturelle Kulturen wenden sich dagegen der Schrift zu, so sind sie auch im Stande, 84 Vgl. ebd., S. 28-29, und Welzer, Harald: kommunikative Gedächtnis, a.a.O., S.14. Vgl. Welzer, Harald: Das soziale Gedächtnis, a.a.O., hier S. 15. 86 Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis, a.a.O., S. 18. 87 Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, a.a.O., S. 30. 85 21 mehr und genauer zu überliefern88. Der Vorteil von Schrift liegt dabei darin, dass sie als ein externer Gedächtnisspeicher auch dann Inhalte vermittelt, wenn die Kontinuität einer Gesellschaft bricht, wenn die Kultur nicht mehr existiert. Schriftliche Texte brauchen aber ausgelegt und interpretiert, in jeder Gegenwart erneut angeeignet zu werden; diesbezüglich sind Deuter und Kommentatore nötig. Die zweite Unterscheidung betrifft heiße und kalte Kulturen, wobei es sich darum handelt, zu welchem Zweck die Kulturen ihre Erinnerungen ausnutzen. Wenn die Erinnerung zur Entwicklung antreibt und die Kultur durch „ein gieriges Bedürfnis nach Veränderung“89 gekennzeichnet ist, wird sie als heiß bezeichnet. Kalt sind dagegen diejenigen Kulturen, die dem geschichtlichen Wandel Widerstand gedächtnispolitischen Strategien muss man leisten. In Bezug noch hinzufügen, dass auf die es eine Abhängigkeitsbeziehung zwischen den politischen Mächten und dem kollektiven Gedächtnis besteht. Während bestimmte Machstrukturen die Gestalt des kulturellen Gedächtnisses beeinflussen können, wirkt das Gedächtnis als legitimierend (wenn sich die gegenwärtige Situation aus der gemeinsamen Vergangenheit ableitet) oder delegitimierend (wenn die vergangene Zeit als besser beurteilt wird) auf die politischen Mächte. In Anlehnung an Maurice Halbwachs und Pierre Nora beschäftigten sich Assmanns in ihren Schriften mit dem Verhältnis zwischen Geschichte und Gedächtnis. In 1999 erschienenem Buch Erinnerungsräume notiert Aleida Assmann: Die schroffe Polarisierung von Geschichte und Gedächtnis erscheint mir ebenso unbefriedigend wie ihre vollständige Gleichsetzung. Ich mochte [...] deshalb vorschlagen, Geschichte und Gedächtnis als zwei Modi der Erinnerung festzuhalten, die sich nicht gegenseitig ausschließen und verdrängen müssen.90 Aleida Assmann unterscheidet zwischen dem unbewohnten und bewohnten Gedächtnis, die sie anders entsprechend als Speicher- und Funktionsgedächtnis bezeichnet. Zu den wichtigsten Merkmalen des Funktionsgedächtnisses zählt sie Wertbindung, Gruppenbezug, Selektivität und Zukunftsorientierung auf. Das Speichergedächtnis setzt sie dagegen mit den historischen Wissenschaften gleich und bezeichnet es als 88 Vgl. Assmann, Jan: Religion und kulturelles Gedächtnis. Zehn Studien. München 2000, S. 139. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis, a.a.O., S. 68. 90 Assmann, Aleida: Erinnerungsräume, a.a.O., S. 133-134. 89 22 ‚Gedächtnis der Gedächtnisse’91 oder ‚Menschheitsgedächtnis’92, das alles Vergangene aufbewahrt und zur eventuellen Verfügung für das Funktionsgedächtnis stellt. Das Speichergedächtnis besteht aus bedeutungsneutralen Funktionsgedächtnis – aus bedeutungsbeladenen. Elementen, das Aleida Assmann beschreibt den Unterschied zwischen den beiden Modi folgendermaßen: Auf kollektiver Ebene enthält das Speichergedächtnis das unbrauchbar, obsolet und fremd Gewordene, das neutrale, identitäts-abstrakte Sachwissen, aber auch das Repertoire verpasster Möglichkeiten, alternativer Optionen und ungenutzter Chancen. Beim Funktionsgedächtnis dagegen handelt es sich um ein angeeignetes Gedächtnis, das aus einem Prozeβ der Auswahl, der Verknüpfung, der Sinnkostitution [...] hervorgeht. Die strukturlosen, unzusammenhängenden Elemente treten ins Funktionsgedächtnis als komponiert, konstruiert, verbunden ein. Aus diesem konstruktiven Akt geht Sinn hervor, eine Qualität, die dem Speichergedächtnis grundsätzlich abgeht.93 Das Speichergedächtnis existiert als eine Art Archiv, in dem ständig neue Daten angesammelt werden. Erst über das Funktionsgedächtnis wird die Identität der Gruppen und Gesellschaften konstituiert. Das Verhältnis zwischen den beiden wird als perspektivisch bezeichnet: Vor dem Hintergrund des Speichergedächtnisses hebt sich das Funktionsgedächtnis als Vordergrund ab94. 2.1.1.4 Harald Welzer und das Konzept des ‚sozialen Gedächtnisses’ In Bezug auf das kollektive Gedächtnis benutzt der Sozialpsychologe Harald Welzer den Begriff ‚soziales Gedächtnis’. Darunter versteht er „die Gesamtheit der sozialen Erfahrungen der Mitglieder einer Wir-Gruppe“95. Aufgrund der Überlegungen Peter Burkes zum sozialen Gedächtnis96 und der Assmannschen Theorien unterscheidet Walzer zwischen vier Medien der sozialen Praxis der Vergangenheitsbildung: 91 Ebd. S. 134. Ebd. 137. 93 Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis, a.a.O., S.137. 94 Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, a.a.O., S. 31. 95 Welzer, Harald (Hg.): Das soziale Gedächtnis, a.a.O., S. 15. 96 Vgl. Burke, Peter: Geschichte als soziales Gedächtnis. In: Assmann, Aleida / Harth, Dietrich (Hg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen kultureller Erinnerung. Frankfurt (M.) 1991, S. 289-304. 92 23 Interaktionen, Aufzeichnungen, Bilder und Räume97, wobei er betont, dass diese Medien im Unterschied zu ihrer Funktion im kommunikativen und kulturellen Gedächtnis nicht zwecks der Traditionsbildung erstellt wurden, dennoch aber die Geschichte transportieren und die Vergangenheit bilden98. Unter ‚Interaktion’ versteht Walzer die kommunikativen Praktiken, die „entweder per se die Modi der Vergegenwärtigung von Vergangenem betreffen oder Vergangenheit en passant thematisieren“99. Dabei handelt sich um solche kommunikative Tradierung von Vergangenheit, im deren Rahmen nicht explizit über die Vergangenheit gesprochen werden muss, um sie doch zu vermitteln. Die Geschichte wird absichtslos, unbemerkt und beiläufig transportiert, beispielsweise wenn bei dem Erzählen persönlicher Erlebnisse zusätzlich Fakten über die historischen Bedingungen vermittelt werden100. Dieselbe Situation findet im Fall von Aufzeichnungen und Bilder statt. Ein Bündel Liebesbriefe aus dem Familienarchiv transportiert über Schrift, Papier und Briefmarken Informationen über die Vergangenheit, obwohl es überhaupt nicht zu diesem Zweck entstanden ist101. Als Medien „absichtsloser Geschichtsvermittlung“102 können auch Filme und Fotos gelten, die die historischen Umstände visuell darstellen und somit das Vergangene mittransportieren. Schließlich sind als Räume Häuser und Städte zu verstehen, die „in Beton, Stein und Asphalt materialisierte historische Zeiten repräsentieren“103. Welzer macht aufgrund von seinen Überlegungen deutlich, dass die Praktiken des kommunikativen Gedächtnisses nur einen geringen Teil des sozialen Gedächtnisses sind104. Er betont auch, dass sich die dargestellten, analytischen Trennungen in der Praxis der Vergangenheitsbildung überlagern können. Das ist der Fall, wenn beispielsweise ein Foto von einem familiären Fest einen Mann in SSUniform zeigt und „die Vergangenheitserzählung en passant schnell in eine explizite Veranstaltung des kommunikativen Gedächtnisses verwandelt werden“105 kann. 2.1.1.5 Sonderforschungsbereich 434 »Erinnerungskulturen« 97 Vgl. Welzer, Harald: Das soziale Gedächtnis, a.a.O., S. 16. Vgl. ebd. 99 Ebd. 100 Vgl. ebd., S.17. 101 Vgl. ebd. 102 Ebd., S. 18. 103 Ebd. 104 Vgl. ebd. 105 Ebd. 98 24 Der Sonderforschungsbereich (SFB) 434 »Erinnerungskulturen« wurde an der JustusLiebig-Universität Gieβen im Jahre 1997 „als einer der ersten und größten geisteswissenschaftlichen Forschungsverbünde dieser Art“106 gegründet. Zum Ziel setzte man die Erforschung von Formen und Inhalten kultureller Erinnerung von der Antike bis ins 21. Jahrhundert107. Der SFB »Erinnerungskulturen« betonte von Anfang an die Dynamik und Pluralität der kulturellen Erinnerung, womit er sich gegen das zunächst statisch und überhistorisch angelegte Konzept des kulturellen Gedächtnisses von Jan und Aleida Assmann richtete108. Diesbezüglich bevorzugt man in erster Linie den Begriff ‚Erinnerung’ statt ‚Gedächtnis’, das in der Regel mit Speichermetaphern assoziiert wird. Des Weiteren privilegiert man die Pluralform Erinnerungskulturen, womit man auf die Vielfalt und historisch-kulturelle Variabilität der Erinnerungspraktiken und -konzepte hinweist109. Im Rahmen des SFB »Erinnerungskulturen« beteiligen sich Spezialisten aus zahlreichen kulturwissenschaftlichen Disziplinen, unter anderem aus den Geschichtswissenschaften, Literaturwissenschaften, der Philosophie, Soziologie, klassischen Philologie, Politikwissenschaft, Kunstgeschichte und Orientalistik mit solchen bekannten und anerkannten Forschern wie Birgit Neumann, Jürgen Reulecke, Ansgar Nünning, Astrid Erll oder Günter Oesterle. Die interdisziplinäre Erinnerungsforschung ermöglicht, die Rahmenbedingungen des historischen Erinnerns, die Entstehung spezifischer Erinnerungskulturen sowie die verschiedenen Modi der kollektiven Erinnerung zu untersuchen110. Diese drei Ebenen bilden die Struktur des Modells zur Beschreibung von kulturellen Erinnerungsprozessen, das im Rahmen des SFB »Erinnerungskulturen« entwickelt wurde. Der Schwerpunkt der Forschung und Publikationen liegt dabei vor allem in der Untersuchung der spezifischen Erinnerungskulturen und bildet damit einen bedeutsamen Teil der kulturhistorischen Gedächtnisforschung. Dabei handelt es sich um solche Aspekte wie die Erinnerungshoheit (zwischen hegemonialer Erinnerungskultur und Konkurrenz von Erinnerungskulturen innerhalb der Gesellschaft), die Erinnerungsinteressen von verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen (Konkurrenz oder Nebeneinanderexistieren), die Erinnerungstechniken 106 und verschiedene Homepage des Sonderforschungsbereichs 434 »Erinnerungskulturen« unter: http://www.unigiessen.de/erinnerungskulturen/home/index.html (Zugriff am 06.02.2010). 107 Vgl. ebd. 108 Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, a.a.O., S. 34. 109 Vgl. ebd. 110 Vgl. Konzept des Sonderforschungsbereichs 434 »Erinnerungskulturen« unter: http://www.unigiessen.de/erinnerungskulturen/home/konzept.html (Zugriff am 06.02.2010). 25 Darstellungsformen der Vergangenheit in den Gesellschaften111. Nicht ohne Bedeutung bleiben auch die Beschäftigung im Rahmen des SFB »Erinnerungskulturen« mit den Gedächtnismedien sowie dessen Beitrag zur Ausarbeitung der Konzepte der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung112. 2.1.2 Zum Begriff ‚Medium des kollektiven Gedächtnisses’ Aus dem skizzierten Gedächtnisdiskurs ergibt sich deutlich, dass das kollektive Gedächtnis ein durch Medien vermitteltes Gedächtnis ist. Beatrace Hendrich ist sogar der Meinung, dass die Existenz der Medien „eine elementare Voraussetzung für die Existenz einer Gesellschaft und Kultur“113 ist. Eine präzise Definition des Mediums als ‚Medium des kollektiven Gedächtnisses’ ist aber problematisch, denn sowohl der Begriff ‚Medium’ als auch ‚kollektiv’ kommen bei einer tiefgründigen Analyse als nicht leicht zugänglich vor114. In Anlehnung an Siefried J. Schmidt schlägt Astrid Erll vor, vom Medium als ‚Kompaktbegriff’ zu sprechen. In seinem Buch Kalte Faszination unterscheidet Schmidt vier Komponenten, durch die Medien definiert werden: Mein Vorschlag geht dahin, am Kompaktbegriff ‚Medium’ folgende Aspekte zu unterscheiden, die als konstitutive Komponenten von Medien interpretiert werden können: Dispositiv semiotische Kommunikationsinstrumente, beziehungsweise die jeweilige das technisch-mediale Medientechnologie, die sozialsystemische Institutionalisierung eines Mediums sowie die jeweiligen Medienangebote.115 Bei den Kommunikationsinstrumenten handelt es sich um „alle materialen Gegebenheiten, die semiosefähig sind und zur geregelten, dauerhaften, wiederholbaren und gesellschaftlich relevanten strukturellen Koppelung im Sinne je system-spezifischer 111 Vgl. Erll, Astrid: Gedächtnis und Erinnerungskulturen, a.a.O., S. 35. Vgl. ebd,. S. 36 113 Hendrich, Beatrice:“ Im Monat Muharrem weint meine Laute!“ – Die Erinnerungsdimensionen der anatolischen Langhalslaute im Alevitentum. In: Erll, Astrid / Nünning, Ansgar: Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität. Historizität. Kulturspezifität, Berlin 2004, S. 159-177 (hier s. 160). 114 Vgl. Echterhoff, Gerald: Das Außen des Erinnerns: Was vermittelt individuelles und kollektives Gedächtnis? Ebd., S 61-82 (hier S. 74). 115 Schmidt, Siegfried. J: Kalte Faszination: Medien, Kultur, Wissenschaft in der Mediengesellschaft. Weilerswist: Velbrück 2000, S. 93-94. Zit. nach: Erll, Astrid: Medium des kollektiven Gedächtnisses: Ein (erinnerungs)kulturwissenschaftlicher Kompaktbegriff. In: Erll, Astrid / Nünning, Ansgar: Medien des kollektiven Gedächtnisses, a.a.O., S. 3-22 (hier S. 13). 112 26 Sinnproduktion genutzt werden können“116, wie beispielsweise natürliche Sprachen, Bilder, Töne oder Schriften. Als Medientechnologien bzw. den technisch-medialen Dispositiv versteht Schmidt „Druck-, Film- oder Fernsehtechniken“117. Die sozialsystemische Institutionalisierung umfasst Institutionen und Organisationen wie Schulen oder Fernsehanstalten. Die jeweiligen Medienangebote werden schließlich „von den drei anderen Komponenten geprägt“118. Nach der Position von Astrid Erll konstituiert sich ‚ein Medium des kollektiven Gedächtnisses’ erst im Zusammenspiel von solchen verschiedenen sozialen und medialen Phänomenen119. Die Funktion der Medien des kollektiven Gedächtnisses beschränkt sich dabei nicht nur auf die Übermittlung von Gedächtnisinhalten. Medien, so Erll, sind „keine neutralen Träger von vorgängigen, gedächtnisrelevanten Informationen“120. Nach Sybille Krämer wiederholt sie, dass Medien eine konstituierende Kraft besitzen, die „die Modalitäten unseres Denkens, Wahrnehmens, Erinnerns, Kommunizierens prägt“121. Mit anderen Worten wird das kollektive Gedächtnis nicht nur medial vermittelt, sondern auch medial konstruiert122. Astrid Erll zählt drei Funktionen von Medien des kollektiven Gedächtnisses auf: Speicherung, Zirkulation und cue123. Die Aufgabe der Speicherfunktion ist es, die Gedächtnisinhalte aufzubewahren und durch die Zeit hindurch zur Verfügung zu halten. Die Zirkulation von Gedächtnisinhalten findet dagegen dort statt, wo die persönliche Kommunikation zwischen den Mitgliedern einer Erinnerungsgemeinschaft nicht mehr möglich ist. Die Zirkulationsfunktion gibt also eine Chance, über die Räume hinweg zu kommunizieren. Mit cues wird schließlich die Abruffunktion der Medien des kollektiven Gedächtnisses gemeint. Cues dienen als Erinnerungsanlässe, wie beispielsweise Orte, die mit bestimmten vergangenen Geschehnissen assoziiert werden. Betonen muss man noch, dass in den meisten Fällen den Gedächtnismedien alle drei Funktionen gleichzeitig zuzuordnen sind. 116 Ebd. Ebd. 118 Ebd. 119 Vgl. ebd. 120 Ebd. 121 Ebd. 122 Ebd. 123 Vgl. Erll, Astrid: Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses. In: Erll, Astrid / Nünning, Ansgar (Hg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft: Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Berlin 2005, S 249-276. 117 27 Jens Ruchatz spricht in Bezug auf Medien des kollektiven Gedächtnisses von ‚Externalisierung’ und ‚Spur’124. Mit der ‚Externalisierung’ meint er dabei die traditionelle Konzeption von Medien als Träger von Gedächtnisinhalten. Die Konzeption der ‚Spur’ umfasst dagegen solche Medien, die selbst keine Spuren sind, wie im Fall der Externalisierung, sondern „nur eine technisierte und standardisierte Möglichkeit, dauerhafte Spuren zu erzeugen“125. Die ‚Spur’ wird nicht als Repräsentation sondern als Resultat eines vergangenen Geschehens verstanden. Sie zeigt genau „jenes singuläre, punktuelle Ereignis an, das sie hervorgebracht hat“126. 2.1.2.1 Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses ‚Literatur als Medium des Gedächtnisses’ ist eines der drei Gedächtniskonzepten, die in der literaturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung ausgearbeitet worden sind. Die zwei anderen sind ‚Gedächtnis der Literatur’ und Gedächtnis in der Literatur’127. Im Rahmen des Konzeptes ‚Gedächtnis der Literatur’ wird der Druck auf die Intertextualität gelegt. Die intertextuellen Relationen versteht man dabei als ‚Erinnerungsakte’, was bedeutet, dass Literatur „durch den Bezug auf vorgängige Texte, auf Gattungen, Formen, Strukturen, Symbole und Topoi“128 an sich selbst erinnert. Erforscht werden vor allem die Beziehungen zwischen verschiedenen Kunstwerken, sowie Wiederholungen und Aktualisierungen ästhetischer Formen129. Die zweite Richtung der literaturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung – ‚Gedächtnis in der Literatur’ – beschäftigt sich mit den Darstellungsweisen von Erinnerung in den literarischen Werken. Man konzentriert sich auf die Frage, „mit welchen Verfahren Inhalte und Funktionsweisen des Gedächtnisses thematisiert und inszeniert werden“130. Untersucht wird sowohl die Darstellung von individuellen als auch von kollektiven Erinnerungen. 124 Vgl. Ruchatz, Jens: Fotografische Gedächtnisse. Ein Panorama medienwissenschaftlicher Fragestellungen. In: : Erll, Astrid / Nünning, Ansgar: Medien des kollektiven Gedächtnisses, a.a.O., S. 83-105 (hier S. 86). 125 Ebd. S. 89. 126 Ebd. 127 Vgl. Erll, Astrid / Nünning, Ansgar: Literaturwissenschaftliche Konzepte von Gedächtnis. Ein einführender Überblick. In: Erll, Astrid / Nünning, Ansgar (Hg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft, a.a.O., S. 1-7 (hier S. 2). 128 Ebd. 129 Vgl. ebd. S. 3. 130 Ebd. S. 4. 28 Das literaturwissenschaftliche Gedächtniskonzept ‚Literatur als Medium des Gedächtnisses’ charakterisieren Astrid Erll und Ansgar Nünning folgendermaßen: In dieser Perspektive konstituiert sich Literatur als ein Medium, das nicht nur auf Gedächtnisprozessen beruht (‚Gedächtnis der Literatur’) oder Gedächtnis darstellt (‚Gedächtnis in der Literatur’) sondern das überdies auch ‚Gedächtnis’ [...] in der Erinnerungskultur vermittelt.131 Nach der Position von Astrid Erll beruht die Wirkung der Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses auf „Ähnlichkeiten und Differenzen zu erinnerungskulturellen Prozessen“132. Literatur und Gedächtnis kreuzen sich an drei Schnittpunkten133. In der ersten Linie handelt es sich um das Verfahren der Verdichtung, die sowohl in Erinnerungskulturen als auch in der Literatur ein zentrales Merkmal ist. Verdichtet wird die Bedeutung der Vergangenheit, wenn komplexe vergangene Ereignisse anhand von einzelnen Symbolen oder Persönlichkeiten repräsentiert werden, beispielsweise wenn ein Datum für mehrere Erinnerungen steht. In der Literatur verfährt der Prozess der Verdichtung in Metaphern und Allegorien. Die Verdichtung bedeutet in diesem Fall die Koexistenz von verschiedenen semantischen Bereichen auf dem engsten Raum. Die Entschlüsselung des Sinnes von verdichteten Erinnerungsorten sowie der sprachlichen Bilder ist jeweils vom Kontext abhängig, das heißt von den Praktiken und Deutungsweisen der jeweiligen Erinnerungsgemeinschaft. Der zweite Schnittpunkt von Literatur und Gedächtnis ist die Narration. Das kollektive Gedächtnis stützt sich auf narrative Vorgänge – das historische Geschehen sowie die individuellen Erfahrungen werden narrativisiert und dadurch zu sinnvollen Geschichten konstruiert. Im Fall von literarischen Texten wie Roman oder Novelle ist die Narration auch von zentraler Bedeutung. Schließlich betrifft der letzte Schnittpunkt die Gattungmuster, die Astrid Erll in Bezug auf die Erinnerungskulturen als „konventionalisierte Weisen der Kodierung von Geschehensverläufen“134 bestimmt. Gattungsspezifische Formen sind Gegenstände des kollektiven Gedächtnisses und gehören zum gemeinsamen Wissen der Gesellschaften. Als solche werden sie von Individuen im Prozess der Sozialisation erworben und bei der Rezeption von 131 Ebd. S. 5. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, a.a.O., S. 143. 133 Vgl. ebd., S. 144-147. 134 Ebd. S. 146. 132 29 literarischen Texten benutzt. Das Verhältnis zwischen der Literatur und dem erinnerungskulturellen Kontext erweist sich als sehr eng. Die Literatur zieht die existierenden Muster heran, verarbeitet sie und gibt sie in die Erinnerungskultur zurück. Von den anderen schriftlichen Medien des kollektiven Gedächtnisses unterscheiden sich literarische Texte in bestimmten Punkten. Erstens besitzen sie einen fiktionalen Status, deshalb haben sie auch einen eingeschränkten Anspruch an Objektivität, Referenzialität und Faktentreue135. Außerdem sind literarische Texte vielstimmig, das heißt „sie repräsentieren verschiedene Redeweisen und Diskurse und führen sie modellhaft zusammen“136, im Unterschied zu wissenschaftlichen Spezialdiskursen. Deshalb kann die Diskursvielfalt einer Erinnerungskultur in ihnen Anklang finden. Das Verhältnis zwischen dem kulturellen Gedächtnis, der Literatur und ihrer Wirkung in der Erinnerungskultur lässt sich mit Hilfe von einem literaturwissenschaftlichen Modell veranschaulichen. Das Modell wurde von Paul Ricœur entworfen und von ihm als Kreis der Mimesis bezeichnet137. Unterschieden wird dabei zwischen den drei Darstellungsstufen: der Mimesis I, Mimesis II und Mimesis III. Nach der Position von Ricœur sind bei der literarischen Welterzeugung drei Aspekte von Bedeutung: 1) Die Präfiguration des Textes, das heißt die Bezugnahme des Textes auf die außertextuelle, vorgängige, erinnerungskulturelle Wirklichkeit, wie Handlungsmuster, Praktiken, Stereotypen und Wahrnehmungen (Mimesis I). In den literarischen Texten können auch nicht-bewusste oder nicht-intentionale, das heißt implizite Formen des kollektiven Gedächtnisses artikuliert werden. 2) Die textuelle Konfiguration zu einem fiktionalen Gebilde (Mimesis II) – hier werden die Elemente, die im Rahmen des Mimesis I ausgewählt wurden, zu einer Geschichte verknüpft. So entsteht eine exemplarische narrative Struktur. 3) Die Refiguration des Textes durch den Leser (Mimesis III). Einerseits wird dem Text von dem Leser eine Bedeutung zugeschrieben, andererseits verändert aber der Text die Wirklichkeitswahrnehmung des Lesers, seine kulturelle Praxis und die Wirklichkeit selbst138. Astrid Erll macht darauf aufmerksam, dass die Literatur dann in der Erinnerungskultur wirkt, wenn sie als ein Medium des kollektiven Gedächtnisses betrachtet wird. Den Einfluss der Rezeption von literarischen Texten auf den Leser fasst sie folgendermaßen zusammen: 135 Vgl. ebd. S. 148. Ebd. 137 Vgl. ebd. S. 150. 138 Vgl. ebd. S. 150. 136 30 Literatur prägt Kollektivvorstellungen vom Ablauf und vom Sinn vergangener Ereignisse, deutet die Gegenwart und weckt Erwartungen für die Zukunft. Aus der kollektiven Refiguration können aber auch tatsächliche Handlungen, von veränderten Formen der Alltagskommunikation bis hin zur politischen Aktion, hervorgehen.139 Der literarische Prozess erscheint also als ein aktiver Vorgang, an dem die symbolische Ordnung der Kultur, das literarische Verfahren sowie die Rezeption ebenso beteiligt sind. Schematisch kann man das auf folgende Weise veranschaulichen: Dreistufige Mimesis des kollektiven Gedächtnisses140 In Anlehnung an Maurice Halbwachs’ Konzept des cadres sociaux spricht Astrid Erll im Kontext der Litaratur von einem cadre médiale141. Die Literatur funktioniert als ein medialer Rahmen des Erinnerns. Anders gesagt scheint die Lektüre von literarischen Texten individuelle Gedächtnisse in gleichem Maße zu beeinflussen, wie die Interaktion innerhalb von sozialen Gruppen oder die mediale Kommunikation, die nicht auf fiktionalen Texten basiert. Die Literatur ist eine „Quelle der kulturellen Paradigmen“142. In den literarischen Werken werden Modelle und Schemeta entwickelt, die einerseits die Wahrnehmung der Wirklichkeit präformieren, andereseits aber auch die 139 Ebd. S. 152. Ebd. S. 154. 141 Vgl. Erll, Astrid: Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses, a.a.O., S. 259. 142 Ebd. 140 31 persönlichen Erinnerungen sowie die Vorstellungen von der Vergangenheit prägen143. Astrid Erll bemerkt, dass schon Halbwachs dieses Phänomen am Beispiel eines Spaziergangs durch London beschrieben hat144. Halbwachs berichtet in seinem Buch, inwieweit die Lektüre der Romane von Dickens seine Wahrnehmung der Stadt präformiert hat und umgekehrt, denn eben London selbst die Erinnerungen an bestimmte literarische Werke hervorgerufen hat. Der Autor scheint damit als ein „Kommunikationspartner bei der sozialen Gedächtnisbildung“145 zu fungieren. Die Literatur erfüllt dagegen die Funktion eines Mediums, aus dem soziale Bezugsrahmen abgeleitet werden. Im Bereich der Sozialpsychologie wurde die Wirkungsweise der Literatur als medialen Rahmen des Erinnerns von Harald Welzer untersucht. In Anlehnung an lebensgeschichtlichen Interviews stellte Welzer fest, dass narrativfiktionale Texte den Inhalt sowie die Struktur von autobiographischen Erinnerungen von Interviewten beeinflusst haben, wobei das Eindringen von Elementen der fiktionalen Erzählungen in eigene Lebensgeschichten in meisten Fällen auf unbewusster Ebene verlief. Nach der Position von Welzer ist es sogar „ziemlich wahrscheinlich, dass wir alle unseren eigenen Lebensgeschichten Elemente und Episode beigefügt haben, die andere – fiktive oder reale – Personen erlebt haben und nicht wir selbst“146. Aus der neuropsychologischer Perspektive lässt sich dieses Phänomen dadurch erklären, „dass die neuronalen Verarbeitungssysteme für visuelle Perzeptionen und für phantasierte Inhalte sich überlappen, so dass auch rein imaginäre Geschehnisse mit visueller Prägnanz ‚vor den Augen’ des sich Erinnernden stehen können“147. So können auch die durch die Lektüre von literarischen Texten erzeugten Vorstellungen nicht von den tatsächlich erlebten Situationen unterschieden werden. Wie andere Medien des kollektiven Gedächtnisses weisen auch die literarischen Texte alle drei Funktionsaspekte auf – Literatur dient in der Erinnerungskultur als ein Speicher- und Zirkulationsmedium, sowie als cue. Als Speichermedien gelten vor allem die ‚kulturellen Texte’, die in der Assmannschen Forschung von den anderen literarischen Texten unterschieden wurden. Der Unterschied zwischen beiden Textsorten liegt dabei nicht in den textinternen Merkmalen und in der Struktur, sondern in ihrer Rezeption, die sich durch „Verehrung, wiederholtes Studium und 143 Ebd. Vgl. ebd. 145 Ebd. 146 Zit. nach: Erll, Astrid, ebd., S. 260. 147 Ebd. 144 32 Ergriffenheit“148 auszeichnet. Literarische Texte sind nicht verbindlich. Sie markieren eine Wirklichkeitsversion und charakterisieren sich durch einen gewissen Deutungsspielraum. Erst dann werden sie zu den kulturellen Texten, wenn sie ihre Mehrdeutigkeit zugunsten einer einheitlichen Aussage verlieren. Gewonnen wird dabei eine kulturelle Tiefendimension: Während der literarische Text nur unverbindliche Sinnangebote vermittelt, Teil seiner Epoche ist und mit ihrem Wandel auch seine Interessantheit verliert, vermittelt der kulturelle Text eine verbindliche, unhintergehbare und zeitlose Wahrheit.149 In dieser Perspektive sind kulturelle Texte sowohl erinnerndes Medium als auch erinnerter Gegenstand des kulturellen Gedächtnisses zugleich. Ein ‚Paradigma des kulturellen Textes’ ist nach der Position von Aleida Assmann die Bibel150. Die Funktion des Zirkulationsmediums des kollektiven Gedächtnisses erfüllt die Literatur in den so genannten ‚kollektiven Texten’. Im Unterschied zu den (hoch)kulturellen Texten, gehören die kollektiven Texte meistens der Populärliteratur an. Sie „erzeugen, perspektivieren und zirkulieren Inhalte des kollektiven Gedächtnisses“151, deshalb werden sie auch nicht als verbindliche Elemente und zu erinnernde Gegenstände des kulturellen Gedächtnisses rezipiert, sondern dienen als „Vehikel der kollektiven medialen Konstruktion und Vermittlung von Wirklichkeitsund Vergangenheitsversionen“152. Die Rolle der kollektiven Texte bei der Konstitution der kollektiven Gedächtnisse ist nicht zu überschätzen. Sie vermitteln Geschichtsbilder, Normen, Werte und kollektive Identitäten. Nach der Position von Astrid Erll soll man auf die Vorstellung verzichten, dass nur ‚hohe Literatur’ mit Bezug auf das kulturelle Gedächtnis gelesen wird. Gerade in der Trivialliteratur, so Erll, werden Mythen erzeugt sowie kulturspezifische Sinnstiftungsschemata vermittelt153. Sie benutzt symbolische Ressourcen, die dem kulturellen Gedächtnis angehören. Astrid Erll konstatiert: 148 Assmann, Aleida. Zit. nach: Erll, Astrid, ebd., S. 261. Ebd. S. 262 150 Vgl. Assmann, Aleida: Was sind kulturelle Texte? In: Poltermann, Andreas (Hg.): Literaturkanon – Medienereignis – Kultureller Text. Formen interkultureller Kommunikation und Übersetzung. Göttinger Beiträge zur Internationalen Übersetzungsforschung. Bd. 10. Berlin 1995, S. 232-244 (hier S. 237). 151 Erll, Astrid: Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses, a.a.O., S. 262. 152 Ebd. 153 Vgl. ebd., S. 263 149 33 Die Erinnerung Sinnkonstruktionen an eine fundierende normativer und Vergangenheit formativer Art und sind kollektive offensichtlich gesamtgesellschaftlich mehr durch populäre Zirkulationsmedien bestimmt als durch institutionell vermittelte Speichermedien, die im Rahmen der Enkulturation, etwa in der Schule oder bei der religiösen Unterweisung, aktualisiert werden.154 In einem ähnlichen Ton äußert sich der deutsche Soziologe Niklas Luhmann, indem er schreibt, dass Zirkulationsmedien Massenmedien sind155. Als cue kann schließlich unter anderem Goethes Faust betrachtet werden, weil schon die Nennung des Titels in der Gesellschaft Assoziationen mit der deutschen Tradition sowie der deutschen Nationalliteratur hervorruft. Im Allgemeinen kann man nach Astrid Erll sagen, dass literarische Texte als Medien des kollektiven Gedächtnisses vielfältige erinnerungskulturelle Funktionen erfüllen. Sie dienen zur „Vermittlung von Schemata zur Kodierung von Lebensverläufen, der Herausbildung von Vorstellungen über vergangene Lebenswelten, der Zirkulation von Geschichtsbildern, der Aushandlung von Erinnerungskonkurrenzen sowie der Reflexion über Prozesse und Probleme des kollektiven Gedächtnisses“156. Sie sind in der Erinnerungskultur allgegenwärtig, sowohl in Form von populärer Trivial- als auch kanonisierter Hochliteratur. Zu den wichtigen Themen der heutigen Literaturwissenschaft zählt der Zusammenhang zwischen Literatur, Erinnerung und Identität. Wie Birgit Neumann bemerkt, wird in vielen Erzähltexten dargestellt, auf welche Weise Individuen und Kollektive sich erinnern, vergessen und wie sie auf der Basis von oftmals ephemeren Vergangenheitsversionen ihre Identitäten imaginieren157. „Literarischen Texte – so Neumann - sind auf vielfältige Art und Weise mit Konstruktionen und Konzepten von Erinnerung und Identität eng verbunden. Sie greifen auf Elemente der präexistenten (Erinnerungs-)Kultur zurück und konstruieren mit formästhetischen Verfahren eigenständige, symbolisch verdichtete Erinnerungs- und Identitätsmodelle“158. Das Verhältnis zwischen literarischer Inszenierung und Erinnerung erweist sich als gegenseitig, denn die literarischen Inszenierungen können auch auf die individuellen sowie kollektiven Erinnerungen zurückwirken und auf diese 154 Ebd. Vgl. Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien. Opladen 1995. 156 Erll, Astrid: Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses, a.a.O., S. 249. 157 Vgl. Neumann, Birgit: Literatur, Erinnerung, Identität. In: Erll, Astrid / Nünning, Ansgar (Hg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft, a.a.O., S. 149-178 (hier S. 149). 158 Ebd. 155 34 Weise Vergangenheitsversionen und Selbstbilder aktiv mitprägen. „Identität wird gestaltet, ja konstruiert durch Erinnerung“159 – schreibt Jörn Rüsen. Romane, in denen das Zusammenspiel von Erinnerung und Identität in ihrer individuellen oder kollektiven Dimension inszeniert wird, bezeichnet Birgit Neumann als fictions of memory160. In seinem Beitrag Literatur und kollektives Gedächtnis in der DDR schreibt Carsten Gansel von zwei Funktionen literarischer Texte als Medien des kommunikativen und kulturellen Gedächtnisses. Einerseits sind literarische Texte ein Medium, „über das in Form von narrativen Inszenierungen individuelle und generationenspezifische Erinnerung für das kollektive Gedächtnis bereitgestellt wird“161. Andererseits bilden sie aber individuelle, generationenspezifische und kollektive Formen von Erinnerung gewissermaßen ab, so dass diese wieder beobachtbar werden.162 Astrid Erll bezeichnet Literatur als ein „machtvolles Medium des kollektiven Gedächtnisses“163. 2.1.3 Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses und ihre Modi Unter dem Begriff ‚Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses’ versteht man „die Gesamtheit der Formen und Verfahren eines literarischen Textes, die im Sinne eines Wirkungspotentials dazu führen können, dass dieser Text von der Leserschaft als kollektiver Text aktualisiert wird“164. Die Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses ist also eine literarische Strategie. Ihre Ausprägungen findet sie in verschiedenen Modi, wobei als ‚Modus’ eine Kategorie der erinnerungshistorischen Narratologie verstanden werden soll. Die Modi der Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses (Astrid Erll unterscheidet zwischen dem ‚kommunikativen’, ‚kulturellen’, ‚antagonistischen’ und dem ‚reflexiven’ Modus) konstituieren sich als „ein Ensemble textueller Darstellungsverfahren“165. Erzeugt werden sie durch verschiedene literarische 159 Rüsen, Jörn: Einleitung: Für eine interkulturelle Kommunikation in der Geschichte. Die Herausforderungen des Ethnozentrismus in der Moderne und die Antwort der Kulturwissenschaft. In: Rüsen, Jörn / Gottlob, Michael / Mittag, Achim (Hg.): Die Vielfalt der Kulturen. Erinnerung. Geschichte, Identität. Frankfurt (M.) 1998. 160 Vgl. Neumann, Birgit: Literatur, Erinnerung, Identität, a.a.O., S. 164. 161 Gansel, Carsten: Zwischen offiziellem Gedächtnis und Gegen-Erinnerung – Literatur und kollektives Gedächtnis in der DDR. In: Gansel, Carsten (Hg.): Gedächtnis und Literatur in den ‚geschlossenen Gesellschaften‘ des Real-Sozialismus zwischen 1945 und 1989. Göttingen 2007, S. 13-38 (hier S. 17). 162 Ebd. 163 Vgl. Erll, Astrid: Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses, a.a.O., S. 271. 164 Ebd., S. 268. 165 Erll, Astrid: Gedächtnisromane. Literatur über den Ersten Weltkrieg als Medium englischer und deutscher Erinnerungskulturen in den 1920er Jahren. Trier 2003, S. 148. 35 Ausdrucksformen, wie „Selektionsstruktur, Konfiguration, paratextuelle Gestaltung, Erzählerdiskurs, Fokalisierung, Zeit- und Raumdarstellung, Symbolik oder Metaphorik“166. Sie basieren außerdem auf der ‚Semantisierung literarischer Formen’ – einerseits machen die genannten Darstellungsverfahren ein Wirkungspotential aus, andererseits können aber die Wirkungspotentiale erst im Leseprozess aktualisiert werden und dadurch zur historischen Wirkung des Gedächtnisses beitragen 167. Analogisch hängt die Semantisierung literarischer Formen sowohl von den textinternen Merkmalen als auch von der Sinnzuweisung seitens der Leser ab. Astrid Erll bemerkt, dass die Modi der Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses „zu verschiedenen Funktionalisierungen von Gedächtnisromanen als Medien des kollektiven Gedächtnisses“168 führen. Dazu, dass der Gedächtnisroman als Medium des kommunikativen Gedächtnisses lesbar wird, trägt der dominant kommunikative Modus bei. Bei der Dominanz des kulturellen Modus wird der Roman als Medium des kulturellen Gedächtnisses rezipiert. Der antagonistische Funktionalisierung Textes als Medium des Erinnerungskonkurrenzen verantwortlich. Modus der Betrachtet ist für die Aushandlung wird schließlich von der Gedächtnisroman als Medium der Beobachtung zeitgenössischer Erinnerungskulturen, wenn der reflexive Modus dominiert. Die vier Modi des kollektiven Gedächtnisses können nach der Position von Astrid Erll folgendermaßen charakterisiert werden169: - Kommunikativer bzw. erfahrungshaftiger Modus – Das Erzählte erscheint hier als Gegenstand des alltagsweltlichen kommunikativen Gedächtnisses. Es dominieren diejenigen Darstellungsverfahren, durch die die in dem Text dargestellte Wirklichkeit als Lebenserfahrung einer sozialen Gruppe oder einer Epoche inszeniert wird. Der literarische Text wird dadurch zu einem erfahrungsgesättigten Medium. Das fiktionale Geschehen wirkt, so Erll, als „Teil der Kontaktzone einer erweiterten Gegenwart“170. In dem kommunikativen bzw. erfahrungshaftigen Modus werden Alltagshaltigkeit, Authentizität und sinnliche Erfahrungsspezifität suggeriert. Die für ihn spezifische Darstellungsweise ähnelt der Repräsentation der Vergangenheit im Rahmen des 166 Ebd. Ebd. 168 Ebd. 169 Vgl. Erll, Astrid: Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses, a.a.O., S. 268-269. 170 Ebd. 167 36 individuell-autobiographischen Gedächtnisses und seiner kollektivierten und medialisierten Variante, das heißt des kommunikativen Gedächtnisses. Typische literarische Formen und Darstellungsverfahren, die diesen Modus konstituieren, sind beispielsweise fingiertes mündliches Erzählen, alltagssprachliche und gruppenspezifische Ausdrücke oder die Verfahren der Innenweltdarstellung, in denen Aspekte pränarrativer Erfahrung veranschaulicht werden. Es handelt sich also um solche Verfahren, die den Endruck von ‚Realismus’ geben. - Kultureller bzw. monumentaler Modus – Zu diesem Modus führt eine Dominanz von diesen Darstellungsverfahren, die den Text als traditionshaltiges und verbindlichen Sinn stiftendes Medium betrachten lässt. In diesem Fall ähnelt die Darstellungsweise der Repräsentation der Vergangenheit durch Praktiken und Medien des kulturellen Gedächtnisses, wie Ritual, Nationalgeschichtsschreibung oder Mythos. Die in dem Text inszenierte Wirklichkeit verweist auf den ‚Fernhorizont der Kultur’. Typische Formen sind somit formelhafte und archaisierende Wendungen, Symbole und Allegorien. - Antagonistischer Modus – Die Erinnerungskonkurrenzen werden in diesem Modus literarisch ausgehandelt. Der antagonistische Modus basiert auf den Strategien, die darauf abzielen, „bestehende Gedächtnisnarrative affirmativ zu verstärken oder aber subversiv zu dekonstruieren und durch andere zu ersetzen“171. Die literarischen Werke mit dem dominierenden antagonistischen Modus vermitteln Normen und Werte bestimmter sozialer Gruppen und desavouieren gleichzeitig die Sinnwelten der anderen Formationen. In dem Buch Kultur – Gedächtnis – Literatur betont Astrid Erll, dass „im Gedächtnisroman nicht nur Konkurrenzen nationaler Gedächtnisse auf antagonistische Weise verhandelt werden, sondern auch die Gedächtnisse innergesellschaftlichen Gruppen“172, wie die Gedächtnisse von Generationen, sozialen Klassen, religiösen Gemeinschaften oder Geschlechtern. Die Gedächtnisromane, in denen dieser Modus dominiert, sind standortgebunden und perspektivisch. Zu den typischen Formen gehören zum Beispiel stereotypisierende Wendungen oder einseitige Selektionsstrukturen, die die Erinnerungen und Erfahrungen von konkurrierenden Gruppen außer Acht lassen. Darauf, welchen Gedächtnissen ‚richtige’ und relevante Erinnerungen zugesprochen werden und welchen 171 172 Ebd. S. 269. Erll, Astrid: : Gedächtnisromane, a.a.O., S. 155. 37 dagegen nicht, weisen die Handlungsstruktur, die Figurenkonstellation sowie die Perspektivenstruktur hin. - Reflexiver Modus – In diesem Fall dient der literarische Text der Beobachtung von Erinnerungskulturen. Inszeniert werden sowohl die Funktionsweisen als auch die Probleme des kollektiven Gedächtnisses. In erster Linie handelt es sich also nicht um die Gedächtnisbildung sondern um die Gedächtnisreflexion173. Da die Gedächtnisromane mit dem dominierenden reflexiven Modus Instanzen der Beobachtung zweiter Ordnung sind, hat der Leser an einer distanzierten Betrachtung von Erinnerungskulturen teil. Zu den typischen Darstellungsverfahren zählen somit diejenigen Formen, die Probleme, Prozesse und Funktionsweisen des kollektiven Gedächtnisses thematisieren und inszenieren, wie die Reflexion über Gedächtnis in der Figuren- oder Erzählerrede oder die Darstellung von Wirkungsweisen der Erinnerungspraktiken auf der Ebene der Handlung. Es muss betont werden, dass die Modi nie in einer reinen Form vorkommen. Die Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses stützt sich eher auf die Verbindungen unterschiedlicher Modi. In der Regel bewegt sie sich innerhalb einer Skala, deren Eckpunkte der kommunikative und der kulturelle Modus sind. Als Beispiel der Romane, in denen beide Modi zu erkennen sind, erwähnt Astrid Erll die Kriegsromane der 1920er Jahre. Dargestellt wurde in ihnen der Erste Weltkrieg, der gleichzeitig Gegenstand beider Gedächtnisse, sowohl der kommunikativen als auch des kulturellen, war. Astrid Erll kommentiert diese Erscheinung folgendermaßen: Die Funktion, die Gedächtnismedien in dieser Situation zukommt, ist durch ihre Darstellung des Kriegs die Erinnerung gemäß beider Gedächtnisrahmen modellhaft in Einklang zu bringen und damit Möglichkeiten lebensweltlicher und ‚kultureller’ Sinnstiftung aufzuzeigen.174 Die Verbindung beider Modi der Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses in diesen Romanen entspricht also, so Erll, den Herausforderungslagen ihres erinnerungskulturellen Kontextes. Dieselbe Situation haben wir im Fall der Shoah, die 173 174 Vgl. ebd., S. 157. Ebd., S. 152. 38 einerseits noch viele Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg zum relativ nahen Vergangenheit gehörte und somit Gegenstand der individuell-autobiographischen und kommunikativen Gedächtnisse war, andererseits aber wegen ihrer einschneidenden Bedeutung im Rahmen des kulturellen Gedächtnisses verortet werden sollte. „Die literarische Erinnerung an Katastrophen, Kriege und Revolutionen – schreibt Erll – ist oft geprägt von Versuchen, beide Gedächtnis-Rahmen durch die Verknüpfung von erfahrungshaftigen und monumentalen Darstellungsformen zu relationieren“175. Gedächtnisromane, in denen beide Modi vorkommen, erfüllen im Allgemeinen zwei erinnerungskulturelle Funktionen. Einerseits werden Inhalte der kulturellen Gedächtnisses durch Erfahrungshaftigkeit angereichert und in die Kontaktzone der Gegenwart zurückgeführt, andererseits aber dient das Oszillieren zwischen dem kommunikativen und kulturellem Modus der Überführung der gelebten Erinnerung in kulturelles Gedächtnis176. Der kommunikative bzw. erfahrungshaftige und kulturelle bzw. monumentale Modus schließen sich also nicht aus, sondern sind als „stets ineinander greifende Formen des literarischen Vergangenheitsbezugs zu verstehen“177. Was den antagonistischen Modus betrifft, braucht er den kommunikativen oder den kulturellen Modus als Basis, denn erst dann werden die in ihm dargestellten Antagonismen wirksam, wenn der Text von der Leserschaft als Medium des kollektiven Gedächtnisses rezipiert wird178. Bei der Kombination von antagonistischem und kulturellem Modus kann man von der kulturellen (De-)Legitimierung sprechen, aber auch die literarische Inszenierung vom kollektiven Gedächtnisses kann als delegitimierend oder legitimatorisch wirken. Der reflexive Modus beschränkt sich dagegen nur selten auf die distanzierte Beobachtung des kollektiven Gedächtnisses. Oft verbinden sie sich auch mit antagonistischen Implikationen. In solchen Situationen kommt es zu einer ‚antagonistischen Reflexion’179, die zum Beispiel Mechanismen der Propaganda zu entlarven versucht. Die Erwägungen zum Thema Modi der Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses könnte man mit Worten von Astrid Erll zusammenfassen: 175 Erll, Astrid: Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses, a.a.O., S. 270. Vgl. Erll, Astrid: Gedächtnisromane, a.a.O.. S. 152. 177 Erll, Astrid: Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses, a.a.O., S. 269. 178 Vgl. Gedächtnisromane, a.a.O., S. 152. 179 Vgl. ebd., S. 159. 176 39 Wird ein literarischer Text leserseitig als kollektiver Text aktualisiert, so eröffnen die Modi der Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses verschiedene Optionen seiner erinnerungskulturellen Funktionalisierung: Literatur kann als Zirkulationsmedium für die Herausbildung und Transformation von kulturellem Gedächtnis fungieren; sie kann kommunikative Gedächtnisse ikonisch anreichern; sie kann bestehende Gedächtnisnarrative dekonstruieren und Gegen-Erinnerung in das kollektive Gedächtnis einschreiben; sie kann die Reflexion über Funktionsweisen und Probleme des kollektiven Gedächtnisses anregen.180 Dabei stellen die Modi der Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses sowohl narratologische als auch erinnerungshistorische Kategorien dar, denn die Analyse der Texte mit dem Ziel, die Dominanz eines oder des anderen Modus festzustellen, kann nur mit der Kenntnis historischer Erinnerungskulturen einhergehen181. 2.2 Opa war kein Nazi – Geschichte im Generationengedächtnis Das Phänomen des Generationengedächtnisses am Beispiel des Familiengedächtnisses wurde schon von Maurice Halbwachs analysiert und beschrieben. Als besonders interessant im Kontext dieser Arbeit erscheinen aber die Untersuchungen, die im Rahmen des Forschungsprojekts ‚Tradierung von Geschichtsbewusstsein’ geführt wurden und in denen man die Frage zu beantworten versucht, wie der Nationalsozialismus und der Holocaust im deutschen Familiengedächtnis repräsentiert sind, dass heißt, „was ‚ganz normale’ Deutsche aus der NS-Vergangenheit erinnern, wie sie darüber sprechen und was davon auf dem Wege kommunikativer Tradierung an die Kinder- und Enkelgenerationen weitergegeben wird“182. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen, die auf Familiengesprächen und Einzelinterviews basieren, wurden in dem Buch Opa war kein Nazi: Nationalismus und Holocaust im Familiengedächtnis 183 von Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschuggnall dargestellt. Sie zeigen deutlich, dass in den Familien andere Bilder von der nationalsozialistischen Vergangenheit vermittelt werden als in den Medien oder in der Schule. Diese 180 Erll, Astrid: Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses, a.a.O., S. 269. Vgl. ebd., S. 271. 182 Welzer, Harald / Moller, Sabine / Tschuggnall, Karoline: Opa war kein Nazi: Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt (M.) 2002. S. 11 183 Ebd. 181 40 Diskrepanz ergibt sich aus dem Unterschied zwischen dem kognitiven Geschichtswissen einerseits und den emotionalen Vorstellungen über die Vergangenheit andererseits. Es „existiert nationalsozialistischen neben einem Vergangenheit ein wissensbasiertem weiteres, ‚Lexikon’ emotional der bedeutenderes Referenzsystem für die Interpretation dieser Vergangenheit, zu dem konkrete Personen – Eltern, Groβeltern, Verwandte – ebenso gehören wie die Briefe, Fotos und persönliche Dokumente aus der Familiengeschichte“184. Während das ‚Lexikon’ von Vernichtung und Verbrechen erzählt, ist dieses familiäre ‚Album’ mit Krieg, Opferschaft, Heldentum, Leiden und Faszination bebildert. Die Schwierigkeit, besonders auf der Seite der Nachfolgegenerationen, besteht darin, die als verbrecherisch markierte Vergangenheit mit eigenem Familiengedächtnis in Einklang zu bringen. Die Enkel und Urenkel lösen dieses Problem, indem sie gute Geschichten über ihre Opas und Omas erzählen – „Geschichten über das Dagegensein, das Mundaufmachen, Geschichten aber auch über alltägliches Heldentum, das bis zum Erschießen sadistischer Offiziere und Verstecken jüdischer Häftlinge reicht“185. Verankert wird dieser Prozess zum großen Teil in der Weise, auf die das Familiengedächtnis funktioniert und in den Funktionen, die es zu erfüllen. Wie die Autoren bemerken, stellt das Familiengedächtnis „kein umgrenztes und abrufbares Inventar von Geschichten“186 dar, sondern besteht in der kommunikativen Vergegenwärtigung von Geschichten und Episoden, die in Beziehung zu den Familienmitgliedern stehen und über die sie gemeinsam sprechen. Diese Vergegenwärtigung findet meistens beiläufig und absichtslos – wie beispielsweise „in einer alltäglichen, in keiner Weise auf das Erzählen von Erinnerungen bezogenen sozialen Situation“187 - statt. Thematisiert wird das Vergangene zu unterschiedlichsten möglichen Anlässen nicht nur von den Akteuren der damaligen Ereignissen sondern auch von den Angehörigen der Nachfolgegenerationen. „Die kommunikative Vergegenwärtigung von Vergangenem in der Familie - schreiben die Autoren – ist mithin kein bloßer Vorgang der Aktualisierung und der Weitergabe von Erlebnissen und Ereignissen, sondern immer auch eine gemeinsame Praxis, die die Familie als eine Gruppe definiert, die eine spezifische Geschichte hat, an der die einzelnen Mitglieder 184 Ebd., S. 10. Welzer, Harald: "Unser Papa war in Stalingrad." Wie die Deutschen sich an das "Dritte Reich" und den Krieg erinnern. Unter: http://www.bpb.de/themen/3946QF.html (Zugriff am 01.05.2010). 186 Welzer, Harald / Moller, Sabine / Tschuggnall, Karoline: Opa war kein Nazi, a.a.O., S. 19. 187 Ebd. S. 18. 185 41 teilhaben und die sich – zumindest in ihrer Wahrnehmung – nicht verändert“188. Wie aber die Untersuchungen zeigen, werden die Geschichten von den Familiemitglieder nicht nur wiederholt, sondern auch interpretiert, ergänzt oder völlig neu gestaltet. Diesen Prozess ermöglicht die Spezifik der kommunizierten Geschichten, die nicht vollständig, linear und konsistent sind, sondern eher in Fragmenten bestehen und Anknüpfspunkte für „unterstützende, unterbrechende und korrigierende Kommentare und Ergänzungen“189 bieten. So kann es zu unabsichtlichen Verfälschungen kommen. Als Teilbereich des kommunikativen Gedächtnisses ist das Familiengedächtnis ein lebendiges Gedächtnis. Es gelten hier andere Wahrheitskriterien als in der Wissenschaft. Nach der Position von Harald Welzer geht es im Familiengedächtnis um „Übereinstimmung in den Gefühlen und Bewertungen, die Geschichten hervorrufen, nicht darum, ob sie historischer Überprüfung standhalten würden“190. Die Fiktion gehört sogar zu dem Charakteristika des Familiengedächtnisses, weil dieses Gedächtnis nicht „auf der Einheitlichkeit des Inventars seiner Geschichten, sondern auf der Einheitlichkeit und Wiederholung der Praxis des Erinnerns sowie auf der Fiktion seiner kanonisierten Familiengeschichte“ basiert. Mittels der Fiktion wird die Kohärenz und Identität der Familie sicherstellt. Die Wahrheitskriterien sind also in erster Linie an Wir-Gruppenidentität und -loyalität orientiert, was im Fall von Geschichten aus der NSVergangenheit bestimmte Konsequenzen hat. Aufgrund der Gesprächen mit den Familien, die im Rahmen des Projekts ‚Tradierung von Geschichtsbewusstsein’ geführt worden sind, kann man folgende sich wiederholende Elemente des intergenerationelen Diskurses feststellen: 1. Obwohl solche Dokumente wie Briefe oder Fotos aus der NS-Vergangenheit nur selten in den Familienarchiven aufbewahrt werden und dadurch den Kindern bzw. Enkeln bekannt sind, werden die Geschichten, insbesondere die problematischen, dass heißt solche, die die Beteiligung der Eltern bzw. Großeltern an NS-Verbrechen berühren, doch erzählt191. Wie aber die Forscher festgestellt haben, lassen diese Erzählungen keine Spuren in den Geschichten, die von den Angehörigen der Nachfolgegeneration über ihre Vorfahren erzählt werden. Zentrale Elemente der so genannten problematischen Geschichten 188 Ebd. S. 20. Ebd. S. 20. 190 Welzer, Harald: "Unser Papa war in Stalingrad.", a.a.O. 191 Vgl. Welzer, Harald / Moller, Sabine / Tschuggnall, Karoline: Opa war kein Nazi, a.a.O., S. 52. 189 42 kommen in ihren Erzählungen überhaupt nicht vor, als hätten sie diese Geschichiten gar nicht gehört. Wie die Forscher behaupten, ist das mit den Loyalitätsbedingungen verbunden, die nicht zulassen, „dass ein Vater oder Großvater sich als eine Person zeigt, die einige Jahrzehnte zuvor Menschen getötet hat“192. Das Überhören von Tätergeschichten resultiert daraus, dass die Kinder bzw. Enkel sich ein Bild des geliebten Menschen in der Praxis gemeinsam verbrachter Lebenszeit herausgebildet haben und dieses Bild retroaktiv auf alle Aspekte seiner Lebensgeschichte hin generalisieren, auch auf diese Zeit, in der sie selbst noch nicht auf der Welt waren. Deshalb können sie sich nicht vorstellen, dass ihr Vater oder Großvater etwas Böses getan hat. Wie die Autoren des Buches bemerken, sind die Kriegserinnerungen im Familiengedächtnis „in Form von Geschichten repräsentiert, die sich nach jenen Vorstellungen der nachfolgenden Generationen umformen lassen, die diese von den erzählenden Zeitzeugen haben – und so werden sie erinnert und weitererzählt“193. 2. In zwei Dritteln der durchgeführten Interviews wurden die Familienangehörigen aus der Zeitzeugengeneration entweder als Opfer der NS-Vergangenheit und/oder als Helden des alltäglichen Widerstands194 dargestellt. In den Vorstellungen der Kinder- und Enkelgeneration erscheinen die Eltern und Großeltern im Zusammenhang mit der NS-Zeit in erster Linie als Leidende – als Opfer von Armut und Not, als Vergewaltigungs- und Gewaltopfer von russischen Besatzungssoldaten, als Flüchtlinge und potenzielle KZ-Opfer, als Opfer des Krieges an der Heimatfront und im Bombenkrieg195 – als Menschen, denen die ständige Gefahr drohte. Harald Welzer spricht von einer paradoxen Folge der gelungenen Aufklärung über die nationalsozialistische Vergangenheit196. Je mehr die Angehörigen der Nachfolgegenerationen über Kriegsverbrechen, Verfolgung und Vernichtung wissen, desto größer wird ihr Bedürfnis (unter den Anforderungen der familialen Loyalitätsverpflichtungen), eigenen Verwandten die Rolle der guten Deutschen zuzuschreiben. So entwickeln sie die Geschichten in denen ihre Vorfahren trotz der Gefahr sich 192 Ebd. Ebd. 194 Vgl. ebd., S. 54. 195 Vgl. ebd., S. 86. 196 Vgl. Welzer, Harald: "Unser Papa war in Stalingrad.", a.a.O. 193 43 „zwar vorsichtig aber couragiert über die zeitgenössischen Normen hinweggesetzt und die in ihrem praktischen Verhalten gegen das System gehandelt haben“197. Es herrscht also die Tendenz zur Heroisierung der eigenen Vorfahren. Auch wenn die Zeitzeugen selbst von den „harmlosen, oft fragwürdigen, gelegentlich eher skandalösen Handlungen“198 erzählen, verändern sich die Geschichten auf ihrem Weg durch die Generationen auf diese Art und Weise, dass besonders die Enkel eindeutig davon überzeugt sind, dass die Großeltern, wenn es darauf ankam, eben geholfen, versteckt oder gerettet haben, selbst wenn es für sie gefährlich war199. 3. Das Phänomen der kumulativen Heroisierung verstärkt die Überzeugung der jungen Menschen davon, dass die Deutschen und die Nazis zwei verschiedene Gruppen gewesen seien200. Das Dritte Reich verstehen sie als ein Zwangs- und Terrorsystem, dessen Opfer die Deutschen selbst waren. Die Nazis erscheinen dagegen als die anderen, als die Gegentypen zu eigenen Vorfahren, als die „Leute in Uniformen“, mit denen man selbst nichts zu tun hatte. Selbst wenn die Familienangehörige Mitglieder der Partei gewesen sind oder für die Gestapo gedient haben, funktionieren sie in den Vorstellungen der Nachfolgegenerationen als ‚keine Nazis’. Die Mitgliedschaft in der Partei wird von den Zeitzeugen selbst mit ökonomischen Motiven begründet und nicht auf ideologische Überzeugungen zurückgeführt. Bei den Kindern und Enkeln funktioniert dagegen in Bezug auf die Mitgliedschaft eine Meinung, dass es in den totalitären Systemen manchmal notwendig ist, „scheinbar mitzutun, um effizient widerstand leisten zu können“201. In ihren Vorstellungen werden die Großeltern immer als Anti-Nationalsozialisten dargestellt, auch wenn sie „die nach Parteizugehörigkeit und Funktion alles andere als Gegner des Systems waren“202. Die Distanz der eigenen Vorfahren zu den Nazis und zum Geschehenen im Dritten Reich wird von Generation zu Generation immer größer. 197 Welzer, Harald / Moller, Sabine / Tschuggnall, Karoline: Opa war kein Nazi, a.a.O., S. 53. Ebd., S. 66. 199 Ebd. 200 Vgl. ebd., S. 79. 201 Ebd., S. 104. 202 Ebd., S. 53. 198 44 Die Ergebnisse der Untersuchungen zeigen also deutlich, dass es extreme Unterschiede zwischen der offiziellen Gedenkkultur und dem privaten Erinnern in Deutschland gibt. In der deutschen Bevölkerung herrscht deutlich die Auffassung vor, dass die eigenen Familienangehörige keine Nazis und somit keine Antisemiten und Tatbeteiligte gewesen sind. Abgesehen von dem Wahrheitsgehalt der in den Interviews erzählten Geschichten schreibt aber Harald Welzer davon, dass diese Tendenz allerdings nicht nur negativ zu bewerten ist. Der Soziologe schlägt vor, aus den Geschichten von Zivilcourage, Widerstand und Heldentum der Grosseltern, eine „praktisch wirksame Alltagstheorie“203 abzuleiten, dass „individueller Widerstand auch in totalitären Zusammenhängen möglich und sinnvoll ist, dass es also auf die Verantwortung des Einzelnen ankommt“204. Außerdem haben die Enkel deutlich „das Leitbild antinationalsozialistisch eingestellter Personen“205 favorisiert. Ihre Geschichten von den widerständigen Vorfahren mögen nach der Position von Harald Welzer ein Beispiel dafür geben, „sich selbst couragiert zu verhalten, wenn nahe Menschen bedroht oder verfolgt werden“206. 2.3 Text im narratologischen Diskurs Die Narratologie oder anders die Erzähltheorie untersucht die Erzählung als Gattung. Sie versucht, die „typischen Konstanten, Variablen und Kombinationen [der Erzählung] zu beschreiben und innerhalb von theoretischen Modellen (Typologien) die Zusammenhänge zwischen den Eigenschaften narrativer Texte zu klären“207. Im Rahmen der Erzähltheorie werden die Definitionen von Erzählen und Erzählung formuliert, die Erzählinstanz sowie die Darstellung von Zeit, Raum und handelnden Figuren analysiert. Zu den anderen Themen gehören auch die Unterscheidung zwischen den nichtfiktionalen und fiktionalen Texten, die mediale Gestaltung von Erzählung mit den Gattungsaspekten, mündliche Erzählung oder das Narrative in Musik, Malerei oder Lyrik208. Die Erzähltheorie ist im Allgemeinen textorientiert. Ihr Gegenstandsbereich umfasst auch situativ-historische Untersuchungen zu solchen Themen, wie die Kontexte Vgl. Welzer, Harald: "Unser Papa war in Stalingrad.“, a.a.O. Ebd. 205 Ebd. 206 Ebd. 207 Fludernik, Monika: Einführung in die Erzähltheorie. Darmstadt 2006, S. 17. 208 Vgl. ebd. S. 18. 203 204 45 der Produktion, Publikation, Verbreitung und Rezeption von narrativen Texten209. Sie funktioniert als eine Unterdisziplin der Literaturwissenschaft. In der Literaturwissenschaft entwickelten sich nach der Position von Wolf Schmid zwei Konzeptionen dessen, was als narrativ bezeichnet wird. Die klassische Tradition zählte zu den erzählenden Texten diejenigen Texte, die bestimmte Merkmale der Kommunikation enthielten210. Ausschlaggebend war dabei die Präsenz eines Mittlers zwischen dem Autor und der Geschichte, das heißt eines Erzählers, einer vermittelnden Instanz. Die zweite Theorie der Narrativität entwickelte sich in der strukturalistischen Narratologie. In dieser Richtung waren narrative Texte von den deskriptiven zu unterscheiden. Von der Narrativität zeugte nicht mehr die Präsenz eines Erzählers, sondern ein bestimmter Aufbau des darzustellenden Materials. Narrative Texte sollten nämlich eine temporale Struktur besitzen und Veränderungen darstellen211. Wolf Schmid bemerkt, dass sich beide Konzeptionen als unbefriedigend erweisen. Die traditionelle Konzeption ist nach der Position von Schmid zu restriktiv. Sie berücksichtigt nur Texte, in denen eine vermittelnde Instanz zu finden ist, damit schließt sie aus dem Bereich des Narrativen die dramatischen, lyrischen und filmischen Texte aus. Die strukturalistische Konzeption lässt dagegen alle Darstellungen außer acht, „deren Referent keine temporale Struktur besitzt und deshalb keine Veränderung enthält“212. Deshalb wurde in der Literaturwissenschaft eine Mischkonzeption entwickelt. Als narrativ im weiteren Sinne werden diejenigen Texte verstanden, die eine Veränderung einer Situation oder eines Zustands darstellen. Die Situation oder der Zustand werden dabei definiert, als „eine Menge von Eigenschaften, die sich auf eine Figur oder die Welt in einer bestimmten Zeit der erzählten Geschichte beziehen“213. Dabei kann sich um einen inneren oder einen äußeren Zustand handeln. Das hängt davon ab, ob die Eigenschaften Teile der Welt oder das Innere der Figur betreffen. Von der Narrativität ist dann zu sprechen, wenn mindestens „eine Veränderung eines Zustands in einem gegebenen zeitlichen Moment dargestellt wird“214. Die Veränderung muss dabei nicht explizit dargestellt werden, sie kann auch impliziert werden, beispielsweise wenn zwei miteinander kontrastierende Zustände dargestellt werden. 209 Vgl. ebd. Vgl. Schmid, Wolf: Elemente der Narratologie. Berlin 2005, S. 11. 211 Vgl. ebd. 212 Ebd. 213 Ebd. S. 13. 214 Ebd. 210 46 2.3.1 Narrative vs. deskriptive Texte Nach der Position von Wolf Schmid stehen den narrativen Texten im weiteren Sinne die deskriptiven Texte gegenüber. Deskriptive Texte beschreiben statische Situationen und Zustände, stellen soziale Milieus dar oder typologisieren natürliche wie soziale Phänomene215. Auch dann handelt sich um deskriptive Texte, wenn die dargestellten Zustände keine Similarität und keinen Kontrast enthalten, oder „nicht auf ein und denselben Agenten oder auf ein und dasselbe Element des setting bezogen sind“216. Wolf Schmid weist darauf hin, dass die Grenze zwischen narrativen und deskriptiven Texten flüssig ist, auch wenn beide Modi narrativ und deskriptiv eine klare Opposition bilden217. Jede Narration enthält auch beschreibende Elemente, beispielsweise wenn eine Ausgangssituation dargestellt wird. Möglich ist aber ebenfalls eine umgekehrte Situation. Narrative Elemente können nämlich die Deskription anschaulicher machen. Von dem narrativen oder deskriptiven Charakter des Textes zeugt, so Schmid, nicht die Menge von dynamischen oder statischen Segmenten, sondern die Gesamtfunktion dieser Segmente in dem Werk218. In den meisten Texten ist die Dominanz eines der Modi zu beobachten, wobei die Zuordnung eines Textes zu dieser oder jener Kategorie oft von der Interpretation abhängig ist. Schmid analysiert dieses Phänomen am Beispiel von einem Text, in dem nur zwei Situationen beschrieben werden. Als narrativ wird er dann interpretiert werden, wenn man bei der Analyse den Blick auf das Unterschiedliche im Gemeinsamen richtet und dafür eine Veränderung konjiziert219. Derselbe Text wird dagegen als Deskription verstanden, wenn „die Differenz der Situationen eher als Differenz von repräsentativen Facetten ein und desselben Phänomens“220 betrachtet wird. Im Unterschied zur Narration konzentriert man sich in diesem Fall auf das Gemeinsame im Unterschiedlichen. Nach der Position von Boris Tomaševskij soll eine Reisebeschreibung zu den deskriptiven Texten zugeordnet werden, „wenn sie nur vom Geschehenen erzählt und nicht von den persönlichen Abenteuern des Reisenden“221. Die Veränderung der inneren Zustände des Reisenden kann aber auch implizit dargestellt werden, das heißt durch Indizes angedeutet. In 215 Vgl. ebd., S. 17. Ebd. 217 Vgl. ebd. 218 Vgl. ebd. 219 Vgl. ebd 220 Ebd. 221 Zit. nach: Schmid, Wolf, ebd., S. 17. 216 47 diesem Fall spricht man von einer implizite narrativen Struktur. Schmid ist der Meinung, dass deskriptive Texte eine Tendenz zur Narrativität entfalten222. Diese Narrativität bezieht sich dabei nicht auf das Beschriebene sondern auf den Beschreibenden und seine Deskriptionshandlung223. Bei den Veränderungen werden dabei nicht die Veränderungen innerhalb der beschriebenen Welt gemeint, sondern diejenigen im Bewusstsein des Beschreibenden. Narrativ im engeren Sinne nennt Schmid Texte, die eine Geschichte denotieren und eine vermittelnde Instanz (einen Erzähler) mit darstellen (explixit oder implizit)224. Als eine weitere Gruppe von Texten unterscheidet er mimetische Texte, dass heißt Texte, die eine Geschichte ohne einen vermittelnden Erzähler präsentieren, wie beispielsweise Filme oder Dramas. Beide Textarten narrativ im engeren Sinne und mimetisch sind als die Untertypen von den narrativen Texten im weiteren Sinne zu verstehen. 2.3.2 Faktuales und fiktionales Erzählen In der Alltagssprache benutzt man das Wort ‚Erzählen’ in zahlreichen unterschiedlichen Bedeutungen, wie etwa „jemandem etwas im Vertrauen sagen“ oder „etwas Erfundenes erzählen“225. Martinez und Scheffel definieren ‚Erzählen’ allgemein als „eine Art von mündlicher oder schriftlicher Rede, in der jemand jemandem etwas Besonderes mitteilt“226. Die Rede als ‚Erzählung’ soll „einen ihr zeitlich vorausliegenden Vorgang vergegenwärtigt, der als ‚Geschehnis’ oder ‚Begebenheit’ bestimmt werden kann“227. Für die Zwecke einer Theorie des literarischen Erzählens muss aber diese Definition erweitert werden, weil es hier konkrete Unterschiede in der Verwendung des Wortes gibt. Mit Rücksicht auf den Realitätscharakter des Erzählten einerseits und die Redesituation der Erzählung andererseits konstatieren Martinez und Scheffel in Anlehnung an Gerard Genette, dass erzählt werden kann 1) von realen oder erfundenen Vorgängen und 2) im Rahmen von alltäglicher oder im Rahmen von dichterischer Rede228. Die Merkmalspaare »real vs. fiktiv« und »dichterisch vs. nichtdichterisch« 229 lassen sich natürlich kombinieren, so dass vier verschiedene Variationen möglich sind. 222 Vgl. ebd. S. 18. Vgl. ebd. 224 Vgl. ebd. 225 Martinez, Matias / Scheffel, Michael: Einführung in die Erzahltheorie. 6. Aufl., München: C.H.Beck 2006, S. 9. 226 Ebd. 227 Ebd. 228 Vgl. ebd. 223 48 Martinez und Scheffel bezeichnen nach Gerard Genette als faktual die authentische Erzählung von historischen Personen oder Ereignissen in Form beispielsweise eines Zeitungsberichts oder einer Biographie. Von der faktualen Erzählung dieser Art ist die Erzählung zu unterscheiden, die von erfundenen Vorgängen berichtet, wie eine Erzählung im Rahmen einer Fabel oder eines Märchens. Da aber in manchen Texten das Historische mit dem Erfundenen kombiniert wird, wie im Fall von Blechtrommel von Günter Grass, bedarf dieses Problem weiterer Erklärung. Vor allem sollen die Besonderheiten der ‚Dichtung’ bestimmt werden. Die Theorie des dichterischen Erzählens geht auf Aristoteles zurück. In der Poetik schrieb der Philosoph im IVv. Chr.: Denn der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich nicht dadurch voneinander, dass sich der eine in Versen und der andere in Prosa mitteilt [...]; sie unterscheiden sich vielmehr dadurch, dass der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen könnte.230 Aus diesem Fragment ergibt sich deutlich, dass nicht die sprachliche Form, sondern der Inhalt der Erzählung die Dichtung von der faktualen Erzählung unterscheidet. Die Dichtung beschäftigt sich nicht mit den Wirklichkeiten, sondern mit den Möglichkeiten. Aristoteles’ Differenzierung war die Antwort auf die Platonsche Beurteilung der Dichtung als einer schädlichen Täuschung. Aristoteles betrachtete sie als etwas Nützliches und Notwendiges, weil sie den Trieb zu der Nachahmung, einem Urtrieb des Menschen, kultiviere231. Im Gegensatz zu Platon, der in der Dichtung eine Lüge sah und der diesbezüglich alle Dichter aus seinem Idealstaat verjagen wollte, gab Aristoteles der Dichtung das Recht, die Grenzen der Realität zu überschreiten: Wenn ein Dichter Unmögliches darstellt, liegt ein Fehler vor. Doch hat es hiermit gleichwohl seine Richtigkeit, wenn die Dichtung auf diese Weise den ihr eigentümlichen Zweck erreicht.232 229 Vgl. ebd. Ebd. 231 Vgl. ebd. S. 12. 232 Zit. nach: Petersen, Jürgen H.: Textinterpretation. In: Gutzen, Dieter / Oellers, Norbert / Petersen, Jürgen H.: Einführung in die neuere deutsche Literaturwissenschaft. Ein Arbeitsbuch. Berlin 2006 (7. Aufl.), S, 125. 230 49 Das Problem des Verhältnisses von ‚Dichtung’ und ‚Lüge’ nahm unter anderem auch der englische Dichter Sir Philip Sidney im 16. Jh. an. Dabei konzentrierte er sich nicht auf den Inhalt der literarischen Texte, sondern auf den Status der dichterischen Rede. Seiner Meinung nach lügen die Dichter im Vergleich zu anderen Verfassern von Texten am allerwenigsten, weil sie in ihren Werken nichts behaupten (im Gegensatz z.B. zu den Geschichtsschreibern), sondern von erfundenen Gegenständen erzählen233. Das Geschäft eines Dichters ist demnach das Erfinden, nicht das Lügen. Die literarischen Werke sind in diesem Sinne fiktional, dass sie keinen Anspruch auf eine unmittelbare Referenzialisierbarkeit erheben234. Anders gesagt müssen sie nicht unbedingt in einem wirklichen Geschehen verwurzelt sein. Wolf Schmid betont diesbezüglich den Unterschied zwischen den Bezeichnungen ‚fiktional’ und ‚fiktiv’. Der Begriff des Fiktionalen bezieht sich auf den Text, der Begriff des Fiktiven charakterisiert dagegen den Status dessen, was im fiktionalen Text dargestellt wird235. So ist ein Roman fiktional, aber die in ihm beschriebene Welt fiktiv, weil sie mehr oder weniger ausgedacht wurde. Es gibt bestimmte Textsignale, die von der Fiktionalität eines Textes deuten können. Es handelt sich vor allem um gewisse Eingangsformeln, wie „Es war einmal“, oder Textschlüsse, wie das Wort „Ende“ am Schluss236. Käte Hamburger analysierte außerdem in ihrem Buch Logik der Dichtung237 textinterne Merkmale, die die Rezeption des Textes in die Richtung der Fiktionalität lenken. Zu solchen objektiven Symptomen der Fiktionalität gehören nach der Position von Hamburger unter anderem: 1) die Anwendung von Verben, die innere Vorgänge beschreiben, auf dritte Personen, ohne Bezug auf die Informationsquelle („er fühlte“, „sie dachte“); 2) die Verbindung der Zeitadverbien, die die Zukunft ausdrücken, mit dem Vergangenheitstempus der Verben („morgen war Weihnachten“)238. Obwohl die Thesen von Käte Hamburger auf Kritik stießen, bemerkte sie richtig, dass vor allem die unmittelbare Darstellung fremder Innenwelt die fiktionalen Texte von den faktualen unterscheidet. In der Logik der Dichtung notiert Hamburger: 233 Vgl. Martinez, Matias / Scheffel, Michael: Einführung in die Erzahltheorie, a.a.O., S. 13-15. Vgl. ebd., S. 13. 235 Vgl. Wolf: Elemente der Narratologie, a.a.O.,S. 32. 236 Vgl. Martinez, Matias / Scheffel, Michael: Einführung in die Erzahltheorie, a.a.O., S. 16. 237 Hamburger, Käte: Die Logik der Dichtung. Stuttgart 1968 238 Vgl. Wolf: Elemente der Narratologie, a.a.O., S. 37. 234 50 Die epische Fiktion ist der einzige erkenntnistheoretische Ort, wo die Ich-Originität (oder Subjektivität) einer dritten Person als einer dritten dargestellten werden kann.239 Nur in den fiktionalen Texten ist eine detaillierte Inszenierung von Innenleben möglich, in den faktualen, beispielsweise historiographischen Texten, wäre sie überhaupt nicht zulässig. Wolf Schmid bemerkt in Anlehnung an Cohn, dass die Allwissenheit des Erzählers ein Privileg und Anzeichen der Fiktion ist, weil sie in Wirklichkeit kein Wissen, sondern ein freies Erfinden ist240. In der Inszenierung von fremden Innenwelten sieht er einen der Gründe für die kulturelle und anthropologische Bedeutung der Fiktion241. Fiktionale Texte sind außerdem viel komplexer als die faktualen. Im Fall von faktualen Texten haben wir mit einer Situation zu tun, in der ein Autor Sätze produziert, die als seine tatsächlichen Behauptungen verstanden werden sollen. Bei den fiktionalen Texten gibt es dagegen zwei Sprecher – neben den Autor wird noch ein fiktiver Erzähler auf die Bühne gesetzt. Seine Behauptungen sollen nicht mit den Behauptungen des Autors gleichgesetzt werden. Anders gesagt ist der Autor nicht für den Wahrheitsgehalt der im Text beinhalteten Aussagen verantwortlich. Der Autor zitiert nur die Worte jemand anderen, daher sind seine Sätze unauthentisch, weil sie nicht als seine eigenen Behauptungen gelten. Authentisch werden dieselben Sätze nur, wenn man sie dem Erzähler zuschreibt. Gleichzeitig werden sie aber auch fiktiv, weil sie Teil einer fiktiven Welt sind242. Die Kommunikation im Fall von fiktionalen Texten verläuft demnach auf zwei Ebenen. Erstens handelt es sich um eine reale aber indirekte Kommunikation zwischen einem realen Autor und einem realen Leser. Zweitens haben wir mit einer imaginären Kommunikation zwischen einem fiktiven Erzähler und einem Leser zu tun. 2.3.3 Alltägliches und literarisches Erzählen Das zweite von Martinez und Scheffel vorgeschlagene Merkmalspaar von Erzählungen ist »dichterisch vs. nichtdichterisch«. Frieder Schülein und Jörn Stückrath sprechen in 239 Zit. nach Schmid, ebd., S. 39. Vgl. ebd. S. 40 241 Vgl. ebd. 242 Vgl. Martinez, Matias / Scheffel, Michael: Einführung in die Erzahltheorie, a.a.O., 17-18. 240 51 Bezug darauf vom literarischen und alltäglichen Erzählen. In ihrem Beitrag Erzählen243 analysieren sie die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen beiden Erzählformen. Das alltägliche Erzählen verstehen Schülein und Stückrath als eine kommunikative Handlung, die in solchen Situationen wie am Familientisch oder auf dem Pausenhof stattfindet. Alltägliches Erzählen nimmt Bezug auf die Alltagsrealität, ist in den Alltagssituationen eingebettet und stellt meistens selbsterlebte Ereignisse dar. Nichtsdestoweniger sind Alltagserzählungen oft komplexe Konstruktionen, die sich mit Hilfe von literaturwissenschaftlichen Begriffen beschreiben lassen. Von besonderer Bedeutung sind für sie die meta-narrativen bzw. meta-kommunikativen Erzählstrukturen, das heißt „Bemerkungen, die das Erzählen eröffnen, begleiten und abschließen lassen“244 und die dadurch die Adressaten zum Zuhören bewegen. Die Aufgabe der Erzähleröffnungen ist nach der Position von Schülein und Stückrath 1) die Aufmerksamkeit der Zuhörer zu erregen; 2) eine thematische Orientierung anzukündigen; 3) Spannung zu erzeugen245. In diesem Punkt kann der Erzähler auch die Rahmenbedingungen der Erzählung bestimmen. In der nächsten Phase, das heißt während der Erzählung ist es wichtig, das Interesse der Zuhörer an der Geschichte beizubehalten. Der Erzähler hat als Kommentator die Möglichkeit, mit bestimmten Formulierungen die Spannung des Publikums zu steigern oder die Wahrheit der erzählten Geschichte zu betonen. Abschließen kann man endlich die Erzählung verbal durch deutliche Schlussmarkierung oder auch nonverbal, indem man das Ende mit Hilfe von Mimik und Gestik akzentuiert246. Wie Schülein und Stückrath bemerken, hängt der Erfolg des Erzählers nicht allein von den meta-narrativen Bemerkungen ab. Die Gestaltung der Erzählung erfordert von dem Erzähler eine Reihe von Kenntnissen. Um einen kohärenten Text zu formulieren, soll er über eine Fähigkeit verfügen, Sätze thematisch und formal miteinander zu verbinden. Er muss den Zuhörern etwas Interessantes bieten, was sie überrascht und was sie emotional bewegt. Wichtig sind auch sprachliche Anforderungen. Von einem Erzähler erwartet man, dass er anschaulich, knapp sowie pointiert erzählt und dabei entbehrliche Informationen vermeidet. Mit Rücksicht darauf sprechen Schülein und Stückrath vom „sprachlichen 243 Vgl. Schülein, Frieder / Stückrath, Jörn: Erzählen. In: Brackert, Helmut / Stückrath, Jörn (Hg.): Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs. Hamburg 1992, S. 54-71. 244 Ebd. S. 56 245 Vgl. ebd. 246 Vgl. ebd. 52 Kunstwerk der Alltagserzählung“247. Die Meta-Narration kann auch im Fall vom literarischen Erzählen vorkommen. Anders aber als im alltäglichen Erzählen wird sie hier artistisch und spielerisch gebraucht, beispielsweise als Element einer Erzählung in einer Erzählung, wenn ein fiktiver Erzähler innerhalb einer Erzählung eine Geschichte erzählt und kommentiert. Bei der Analyse der kognitiv-emotionalen Struktur von Erzählungen knüpfen Schülein und Stückrath an die ‚story grammar’ an, die von einem amerikanischen Psychologen David E. Rumelhart beschrieben wurde. Anders gesagt handelt es sich um die ‚Grammatik’ der Ereignisketten248. Nach der Position von Rumelhart ist jede durch Sätze repräsentierte Geschichte als eine Story zu bezeichnen. Sie setzt sich aus einem Setting und einer Episode zusammen. Unter Setting versteht Rumelhart die Angaben „zum räumlich-zeitlichen Ereignisrahmen, den Personen und Dingen“249. Eine Episode ist dagegen eine „relativ einheitliche und abgeschlossene Kette von Ereignissen“ 250. Die Ereignisse teilt Rumelhart in zwei Typen. Erstens handelt es sich um die Events, dass heißt Ereignisse, die die Situation von der Person verändern251. Zweitens gibt es innerhalb der Episode die Reactions, also ereignisbezogene Verhaltensweisen der Person252. Die Beziehungen zwischen einzelnen Elementen der ‚story grammar’ gestalten sich folgendermaßen: Ein Setting ermöglicht eine Episode, Events verursachen Reactions. Schülein und Stückrath machen darauf aufmerksam, dass das von Rumelhart vorgeschlagene Strukturschema zu abstrakt und zu unspezifisch ist, damit es zur Beschreibung von allen Alltagserzählungen verwendet werden könnte. Anstatt dessen sprechen sie von einer triadischen Struktur der Erzählung: 1) Exposition (handlungseröffende Ereignisse), 2) Komplikation (handlungsbegleitende Ereignisse) und 3) Auflösung (handlungsabschließende Ereignisse)253. Solche triadische Struktur ist auch für viele einfache sowie komplexe literarische Erzählformen charakteristisch. Wie im Fall vom literarischen Erzählen sprechen wir auch in Bezug auf die Alltagserzählungen von einer vermittelnden Instanz. Dominant ist hier vor allem die Ich-Perspektive, in der Ereignisse aus der Sicht des Erzählers selbst dargestellt werden. Möglich ist aber auch die Er-Perspektive - wenn der Erzähler etwas „aus der zweiten 247 Ebd. Vgl. ebd. 249 Ebd. 250 Ebd. 251 Vgl. ebd. 252 Vgl. ebd. 253 Vgl. ebd. 248 53 Hand“ erzählt, oder wenn er etwas mitteilt, was er als Beobachter erlebt hat254. Die Erzählstrukturen in den literarischen Erzählungen erweisen sich dagegen als viel komplexer. Wie Schülein und Stückrath bemerken, sind sie nicht mehr dominant auf ein reales Ich reduzierbar. Bei der Analyse von Erzählinstanzen soll im Allgemeinen vor allem danach gefragt werden, aus welcher Position die Geschichte erzählt wird (als Handlungsbeteiligter oder als Unbeteiligter) und in welchem Erfahrungsmodus die Geschichte konstruiert wird (Wissen oder Erleben)255. Charakteristisch für das literarische Erzählen ist die Darstellung von Innerlichkeit, wozu innere Monologe und erlebte Rede gebraucht werden. Durch die Möglichkeit einer multiperspektivischen Darstellung der Geschichte kommen außerdem die Mehrdeutigkeit und verschiedene Erklärungskonzepte in Frage. Die Komplexität von literarischen Erzählungen erzwingt auch eine spezifische Zeitgestaltung. Während die Ereignisse im alltäglichen Erzählen mehr oder weniger chronologisch dargestellt werden, kommt im literarischen Erzählen oft zur Durchbrechung des linearen Ablaufs der Geschichte, also zu den so genannten Anachronien. Schülein und Stückrath konstatieren in ihrem Beitrag, dass der Hauptunterschied zwischen alltäglichem und literarischem Erzählen „in der unterschiedlichen Gestaltungskraft und Professionalität“256 des Erzählers besteht. Außerdem betrifft die Differenz auch die kommunikative Situation. Im Fall vom literarischen Erzählen haben wir mit einer Trennung zwischen dem Autor und dem Publikum zu tun. Hier gibt es keine Face-to-face-Kommunikation, keinen unmittelbaren Kontakt, was die soziale Einbettung und kommunikative Realisierung der Erzählung wesentlich verändert257. Der literarische Erzähler gewinnt im Gegensatz zu dem alltäglichen eine absolute Autonomie hinsichtlich dessen, was und wie er erzählt. Von ihm erwartet man nicht, dass er die Geschichte, die er erzählt, auch selbst erlebt hat. Zusammenfassend notieren Schülein und Stückrath: Literarisches Erzählen ist gegenüber dem alltäglichen aus konkreten Kommunikationssituationen entbunden oder freigestellt und ermöglicht dadurch einen potentiell unbeschränkten Zuwachs an Erfindung möglicher Welten, struktureller Komplexität und sprachlicher Formung258. 254 Vgl. ebd. Vgl. ebd 256 Ebd. 257 Vgl. ebd. 258 Ebd. 255 54 2.3.4 Das Was und das Wie eines Textes in historischer Hinsicht Die Einteilung in das Wie und das Was eines Textes geht auf die Unterscheidung zwischen fabula und sjužet zurück, die in dem Russischen Formalismus formuliert wurde. In seinem 1925 veröffentlichten Buch Theorie der Literatur259 definierte Boris Tomaševskij fabula als „die Gesamtheit der Motive in ihrer logischen, kausaltemporalen Verknüpfung“260, sjužet dagegen als „die Gesamtheit derselben Motive in derjenigen Reihenfolge und Verknüpfung, in der sie im Werk vorliegen“261. In den sechziger Jahren übersetzte Tzvetan Todorov die beiden Begriffe mit histoire und discourse ins Französische. Unter histoire verstand er dabei eine in dem Text erzählte Geschichte, mit discourse meinte er die Ebene der Erzählers, also die Weise, auf die die Geschichte darstellt wird262. Martinez und Scheffel bemerken, dass die Begriffspaare von Tomaševskij und Todorov nicht bedeutungsgleich sind. Als sjužet bezeichnete Tomaševskij nur die Reihenfolge der dargestellten Ereignisse, Todorovs discourse umfasst dagegen den sämtlichen Bereich der Vermittlung der Geschichte, das heißt zusätzlich auch die Perspektive, den Stil oder den Modus 263. Todorov erweiterte mit histoire auch die Bedeutung von fabula. Unter fabula verstand Tomaševskij nur die handlungsrelevanten Teile der dargestellten Welt, Todorovs histoire bezieht sich nicht ausschließlich auf das Geschehen, sondern auf das ganze Kontinuum der erzählten Welt, innerhalb dessen die Ereignisse stattfinden264. Anstatt der Oppositionen von Tomaševskij und Todorov, hat Gérard Genette in eine Dreiteilung Geschichte, Erzählung, Narration vorgeschlagen. Von Todorov übernahm er den Begriff der Geschichte (histoire) und bezeichnete sie als „das Signifikant oder den narrativen Inhalt“265. Den Begriff discourse differenzierte er dagegen in Erzählung (récit), verstanden als „Signifikant, die Aussage, der narrative Text oder Diskurs“ 266, und Narration (narration), die mit dem produzierenden narrativen Akt, also mit der Stimme gleichgesetzt wurde. Martinez und Scheffel bemerken, dass die Dreiteilung von Genette problematisch sein kann, besonders im Fall vom fiktionalen Erzählen. Auf der Ebene der Darstellung sprechen sie deshalb von Erzählung und Erzählen. Die Erzählung Tomaševskij, Boris: Theorie der Literatur. Wiesbaden 1985. Zit. nach: Martinez, Matias / Scheffel, Michael: Einführung in die Erzahltheorie, a.a.O., S. 22. 261 Ebd. 262 Vgl. ebd. 263 Vgl. ebd. 264 Vgl. ebd 265 Ebd. 266 Ebd. 259 260 55 definieren sie als „die erzählten Ereignisse in der Reihenfolge ihrer Darstellung im Text“267. Das Erzählen bezieht sich dagegen auf „die Präsentation der Geschichte und die Art und Weise dieser Präsentation in bestimmten Sprachen, Medien […] und Darstellungsverfahren“268. Auf der Seite der Handlung, bzw. des Erzählten unterscheiden Martinez und Scheffel vier Elementen: 1) Ereignis bzw. Motiv – das heißt eine elementare Einheit eines Textes im Bereich der Handlung; 2) Geschehen – Ereignisse werden zum Geschehen, wenn sie chronologisch aufeinander folgen; 3) Geschichte – wenn die Ereignisse nicht nur in einem chronologischen sondern auch in einem kausalen Zusammenhang stehen; 4) Handlungsschema – ein globales Schema der Geschichte, das aus den gesamten Ereignissen abstrahiert wird. Das Handlungsschema kann dabei nicht nur für den konkreten Text gelten, sondern für ganze Textgruppen, beispielsweise für Gattungen269. Martinez und Scheffel betonen, dass die Unterscheidung zwischen der Art der Darstellung und dem dargestellten Inhalt im Fall von fiktionalen Texten von besonderer Bedeutung ist. Da dieselbe Geschichte auf viele Weisen dargestellt werden kann, hat die Ebene der Vermittlung einen Einfluss auf Rezeption des Erzählten. Oder wie Franz Karl Stanzel konstatiert, üben „verschiedene Redestile oder Erzählweisen verschiedene Wirkungen auf den Zuhörer oder Leser“270 aus. Deshalb untersucht man nicht nur was erzählt wird, sondern auch wie die Geschichte präsentiert wird. 3 Geschichte und Generationendiskurs in Tanja Dückers’ Roman Himmelskörper Denn da wir nun einmal Resultate früherer Geschlechter sind, sind wir auch die Resultate ihrer Verirrungen, Leidenschaften und Irrthümer, ja Verbrechen; es ist nicht möglich, sich ganz von dieser Kette zu lösen. 271 Friedrich Nietzsche 267 Ebd. S. 25 Ebd. 269 Vgl. ebd. 270 Stanzel, Franz K.: Typische Formen des Romans. Göttingen. 1993, S. 3. 271 Nietzsche, Friedrich: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. In: Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe, Bd. 1, München 1988, S. 270. 268 56 3.1 Informationen zur Autorin Tanja Dückers272 Tanja Dückers wurde am 25. September 1968 in West-Berlin geboren. Sie studierte Kunstgeschichte, Amerikanistik und Germanistik. Ihre Magisterarbeit war eine interdisziplinäre Arbeit zwischen Philosophie, Kunstgeschichte und Amerikanistik und handelte von der Ästhetik des Erhabenen in der modernen Malerei. Dückers hat viele ausländische Aufenthaltsstipendien erhalten, unter anderem in den USA, Barcelona, Amsterdam und Krakau, sowie mehrere Preise und Auszeichnungen, beispielsweise ist sie vom Deutschen Historischen Museum in Berlin zu den 10 wichtigsten Schriftstellern Deutschlands unter 40 Jahren gewählt worden (und den "100 Kreativsten Köpfen Deutschlands"). Drei Jahre lang arbeitete sie als Nachrichten- und Wetterberichttexterin bei der Deutschen Welle TV in Berlin. Heute lebt sie in Berlin, ist als Schriftstellerin und Journalistin tätig. Ihre wichtigsten Veröffentlichungen sind: Spielzone (Roman, 1999); Café Brazil (Erzählungen, 2001); Luftpost, Gedichte Berlin-Barcelona (2001); Himmelskörper (Roman, 2003); Der längste Tag des Jahres (Roman, 2006); Morgen nach Utopia (Essays, 2007). Sie ist auch Mitherausgeberin der Anthologie Stadt.Land.Krieg. - Autoren der Gegenwart erzählen von der deutschen Vergangenheit aus dem Jahr 2004. 3.2 Wem gehört die Geschichte – Himmelskörper und der Generationenstreit um die Erinnerung in der Gegenwartsliteratur „Ich lese keine Kritiken mehr. […] Das regt so auf.“273 – sagte Tanja Dückers im Gespräch mit Anne Kathrin Hahn. Ihr 2003 veröffentlichter Roman Himmelskörper hat eine Lawine von Kritiken und Kommentaren ausgelöst – „vom Hochgesang bis zum Totalverriss“274. Die Ursache legte darin, dass Dückers’ Buch dasselbe Thema behandelt, wie die ein Jahr früher herausgegebene Novelle Im Krebsgang von Günter Grass. In beiden Fällen geht es nämlich um den Untergang des Schiffes ‚Wilhelm Gustloff’, das zum Ende des Krieges von den Russen torpediert worden war und an dessen Bord über 9000 Passagiere ums Leben gekommen sind. Im Kontext der beiden 272 Quelle: http://www.tanjadueckers.de/. Hahn, Anne Kathrin: Nicht mal bereut. Die Berliner Dichterin und Autorin Tanja Dückers im Gespräch über ‚Himmelskörper’. Unter: http://www.satt.org/literatur/04_02_dueckers.html (Zugriff am 16.02.2008). 274 Ebd. 273 57 Bücher erschienen die Fragen, wem eigentlich die Geschichte gehört und wer das Recht darauf hat, über die Geschichte zu schreiben – die Zeitzeugengeneration mit ihrer subjektiven Erinnerung oder die Enkel wie Tanja Dückers (Jahrgang 1968), die sich in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg eher im Spielraum der literarischen Fiktion bewegen, weil sie die damaligen Ereignisse nicht aus eigener Erfahrung kennen. Tanja Dückers verteidigt sich gegen die Vorwürfe, sie sei zu jung, um die NS-Vergangenheit in ihren Büchern zu thematisieren: Ich befürchte einen gewissen Authentizitätsdünkel. Dass mir mein Alter vorgeworfen wird und Ältere meinen, wenn man nicht selbst im Bombenhagel gestanden hat, sei man nicht berechtigt, über solche Themen zu schreiben. Vorbeugend habe ich eine Hauptfigur gewählt, die nicht auf der Gustloff war, sondern recherchieren muss275. Ihrer Meinung nach kann es eben heute zu einem Wandel in der deutschen Erinnerungskultur kommen. Die zwei Nachkriegsgenerationen hatten eine emotional gefärbte Einstellung zu dem Krieg, weil beide ihn noch erlebt hatten. Daher konnten auch zwei Stränge von Erinnerungen an die NS-Zeit gleichzeitig existieren: die offizielle Gedenkkultur mit den nationalsozialistischen Verbrechen im Zentrum und die private Sphäre, die weniger schuldhaft war und zugleich mehr vom eigenen Leiden geprägt wurde. Die Ursache dafür, dass in Deutschland viele Bücher über deutsche Opfergeschichte publiziert werden, sieht Dückers darin, dass Deutschland sich von seiner Vergangenheit befreien will und deshalb sich als leidendes Opfer entdeckt. In demselben Ton äußert sich Harald Welzer, wenn er sagt, dass es sein kann, „dass die aktuelle deutsche Leidenserzählung eine Reaktionsbildung auf ein Zuviel der anderen Erzählung ist“276. In ihrer eigenen Generation sieht Dückers eine Chance für die Vergangenheitsbewältigung, denn erst die Generation der Enkel kann „einen nüchternen Blick auf dieses Thema wagen“277. In Bezug auf die zahlreichen Vergleiche der beiden Bücher behauptet Dückers, dass Grass auf die natürliche Weise die Wahrheit verfälsche, 275 Tanja Dückers im Gespräch mit Tobias Haberl. Haberl, Tobias: Meine Version ist die richtige. Unter: http://www.berlinonline.de/berlinerzeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/2003/0322/leipzigerbuchmesse/0018/index.html (Zugriff am 11.03.2010). 276 Feddersen, Jan / Reinecke, Stefan: Das ist unser Familienerbe. Ein Gespräch über falsches Erinnern und richtiges Vergessen mit Aleida Assmann und Harald Welzer. Unter: http://www.taz.de/1/archiv/archiv/?dig=2005/01/22/a0308 (Zugriff am 11.03.2010). 277 Partouche, Rebecca: Der nüchterne Blick der Enkel. Wie begegnen junge Autoren der Kriegsgeneration? Ein Gespräch mit Tanja Dückers. In: Die Zeit. Nr. 19, 30.04.2003, S. 42. 58 wenn er die Deutschen, die mit der Gustloff untergegangen sind, eher als Opfer sieht. Sein Blick ist der seiner Generation, denn er selbst war in den Krieg involviert. „Ich dagegen, schreibt Dückers, habe die nötige historische Distanz und sehe die Fakten“278. Den Unterschied in den Sichtweisen erklärt sie am Beispiel der Gustloff: „Es wird of übersehen, dass dieses Schiff Tarnanstrich trug, dass es Flaks an Bord hatte, dass über 1000 Marinesoldaten, Marineoffiziere an Bord waren, dass es keineswegs ein reines Zivilistenschiff war“279. Ihre Methode, die auf Recherchieren beruht, mache also ihr Buch historisch treffender. An einer anderen Stelle stellt Dückers fest, dass sie mit den älteren Autoren wie Grass überhaupt nicht in Konkurrenz treten muss, weil sie gewissermaßen eine andere Geschichte erzählt. Der Unterschied liegt in der Perspektive – als eine aus Sicht der Enkel schreibende Autorin gibt sich Dückers kein Recht darauf, sich Erfahrungen literarisch anzueignen, die sie nicht hat280. Das bedeutet aber auch nicht, dass sie, ihrer Meinung nach, kein Anrecht auf die Spurensuche hat. Erlebtes und Recherchiertes müssen sich nicht ausschließen, sondern können parallel existieren und sich sogar ergänzen. In dem Gespräch mit Johanna Metz bemerkt Dückers: Jede Generation versucht, ein Ereignis zu ihrem zu erklären. […] Ich kann nicht über Stalingrad schreiben, weil ich es nicht erlebt habe, und ich tue es auch nicht. Was ich dokumentiere, sind die Reflexionen der Jüngeren über diese Zeit, ihre Fragen, ihr Nachfragen, ihr Unwohlsein. […] Es geht um die Fragen, die Enkel ihren Grosseltern stellen, über die Reaktionen darauf und den Schmerz, die Wut oder die Scham, die diese Fragen auslösen281. Für diese Einstellung und für das ganze Buch erfuhr Dückers einen großen Lob von Christa Wolf. An Himmelskörper fiel der älteren Autorin besonders das Interesse der 278 Tanja Dückers im Gespräch. Haberl, Tobias: Meine Version ist die richtige, a.a.O. Tanja Dückers im Gespräch. Partouche, Rebecca: Der nüchterne Blick der Enkel, a.a.O. 280 Vgl. Metz, Johanna: Das Anrecht auf die Spurensuche in der Vergangenheit. Ein Gespräch mit Tanja Dückers über Erzähltraditionen und die Rolle der Literatur in der Gedenkkultur. In: Das Parlament. Nr. 49, 04.12.2006, unter: http://www.bundestag.de/dasparlament/2006/49/Panorama/002.html (Zugriff am 11.03.2010). 281 Ebd. 279 59 Jungen an der Groβeltern-Generation: „dass jetzt die Enkel anfangen zu fragen, das hat mich gefreut“282. In Bezug auf die Untersuchungen, die im Buch Opa war kein Nazi dargestellt wurden, bemerkt Harald Welzer etwas Interessantes. Während in den realen Familiengesprächen mit einer emotionalen Bindung der Enkel an die Großeltern und damit einem Bedürfnis, von deren Verstrickung in das NS-System besser nichts zu erfahren, zu tun haben, gewinnt die Enkelin in dem Roman von Dückers eine um so größere Distanz zu eigenen Großeltern, je mehr sie von deren Geschichte weiß283. Darin sieht er einen ‚erstaunlichen Befund’ und konstatiert, dass von einer einzelnen literarischen Arbeit solcher Art wohl kaum auf eine generationsspezifische Perspektive rückgeschlossen werden kann284. Auf jeden Fall haben wir aber mit einer pluralistischen statt dogmatischen Sichtweise – neben den zahlreichen Opfergeschichten wird in Himmelskörper plötzlich die deutsche Täterschaft thematisiert. Michael Braun betont, dass die Autorengenerationen sich nicht mehr einig darüber sind, was vergessen werden kann und was erinnert werden muss285. Das soll aber nicht bedeuten, dass die Enkelgeneration wegen der mangelnden Erfahrung nicht zu Wort kommen darf. Eben deswegen sind, so Braun, neue Blicke in die alten Geschichten erforderlich, weil der Abstand zur Zeitzeugengenerationen wächst und bald keine mehr da sein werden. „Die deutsche Vergangenheit will von den jungen Autoren nicht mehr bewältigt, sie will vielmehr verstanden und eingeordnet werden in den Kontext eines zusammenwachsenden Europas“286 – schreib Braun in seinem Beitrag. 3.3 Zur Entstehungsgeschichte von Himmelskörper Die Umstände dessen, wie sie überhaupt auf die Gustloff-Geschichte gestoßen ist, erklärt Dückers folgendermaßen: 282 In meinem Buch geht's doch eigentlich sehr normal zu ... [...]. Christa Wolf und Tanja Dückers im Gespräch. In: Brigitte, Nr. 21, 1.10.2003, S. 28-33, hier: S. 31. 283 Vgl. Welzer, Harald: Schön unscharf. Über die Konjunktur der Familien- und Generationenromane. In: Mittelweg 36, 13. Jahrgang (2004), Nr. 1, S. 53-64, hier: S. 62. 284 Vgl. ebd. S. 63 285 Vgl. Braun, Michael: Wem gehört die Geschichte? Günter Grass, Tanja Dückers, Uwe Timm und der Streit um die Erinnerung in der Gegenwartsliteratur. In: Das Parlament. Nr. 49 / 04.12.2006, unter: http://www.bundestag.de/dasparlament/2006/49/Panorama/001.html (Zugriff am 04.06.2010). . 286 Ebd. 60 Bei der Auflösung der Wohnung meiner Großeltern fand ich Dokumente, wonach meine Tante und mein Onkel die Gustloff um ein Haar verpasst haben und mit dem Minensuchboot geflohen sind. Ich habe mich immer gefragt, wie es ihnen gelang, auf dieses Boot zu kommen und habe mir dazu etwas ausgedacht. Meine Recherche ergab aber auch, dass Nazis Privilege bei der Flucht hatten287. Die im Buch dargestellten Begebenheiten fiktiv sind, sie scheinen jedoch mindestens autobiographisch inspiriert zu werden. Im Gespräch mit Johanna Metz stellt Dückers selber fest: Im Kern ist die Fluchtgeschichte in Himmelskörper autobiographisch288. Obwohl im Roman dieselben Ereignisse thematisiert werden, wie in der Günter Grass’ Novelle Im Krebsgang, leugnet Dückers die Suggestion ab, sie ließe sich von Grass inspirieren. Als Grass’ Novelle 2002 erschien, hatte Dückers „Dreiviertel“ 289 ihres Romans schon geschrieben, und war „geschockt“290, dass zwei Leute bei unendlich viel Stoff über Gustloff gleichzeitig schreiben. Wie sie selbst berichtet, hat sie „seit zwei, drei Jahren“291 zu diesem Thema recherchiert, ist „mit der Gustloff eingeschlafen und wieder aufgewacht“, hat sich „alle Quellen mühevoll aus dem Internet oder aus Kleinstverlagen zusammengesucht“292. Die Situation, dass das Buch von Grass ein Jahr früher erschien, somit das Interesse der Öffentlichkeit auf sich zog und Der Spiegel anlässlich dieser Publikation die ganze Geschichte der Gustloff und deren Mythos für Millionen Leute aufbereitet hat, fand sie „ärgerlich“293. Nach einer kurzen „Schreibblockade“294, von vielen Leuten ermuntert, entschied jedoch Dückers, die Geschichte zu Ende zu schreiben, weil sie bemerkt hat, dass Grass das Thema ganz 287 Tanja Dückers im Gespräch . Haberl, Tobias: Meine Version ist die richtige, a.a.O. Tanja Dückers im Gespräch. Metz, Johanna: Das Anrecht auf die Spurensuche in der Vergangenheit, a.a.O. 289 Tanja Dückers im Gespräch. Huber, Andrea: Deutsche Opfer. Verdrängte Schuld: Die Berlinerin Tanja Dückers spricht über ihren Roman Himmelskörper. In: Berliner Morgenpost, 03.03.2003. 290 Tanja Dückers im Gespräch . Haberl, Tobias: Meine Version ist die richtige, a.a.O. 291 Zit. nach: Stüben, Jens: Erfragte Erinnerung – entsorgte Familiengeschichte. Tanja Dückers’ „Wilhelm-Gustloff“-Roman „Himmelskörper“. In: Beßlich, Barbara / Grätz, Katharina / Hildebrand, Olaf (Hg.): Wende des Erinnerns?: Geschichtskonstruktionen in der deutschen Literatur nach 1989. Berlin 2006, S. 169-189 (hier S. 169). 292 Tanja Dückers im Gespräch . Haberl, Tobias: Meine Version ist die richtige, a.a.O. 293 Ebd. 294 Haberl, Tobias: Tanja Dückers – eine sinnliche Geschichtsschreiberin. Unter: http://www.tanjadueckers.de (Zugriff am 14.05.2010) 288 61 anders behandelt als sie. Sie war schon „beruhigt“295, nahm aber das erste Kapitel, das sich vor allem auf das Schiff und dessen Konstruktion konzentrierte, aus dem Buch296. 3.4 Zur Analyse des Textes 3.4.1 Zum Inhalt von Himmelskörper Die Handlung des Romans geschieht, wie die Autorin selbst mitteilt297, im Jahre 2003. Freia (eigentlich Eva Maria), eine junge Meteorologin und Wolkenforscherin (und gleichzeitig auch die Ich-Erzählerin) aus (West-)Berlin befindet sich gerade auf dem Weg zum Kölner Kongress, auf dem sie am nächsten Tag einen Vortrag über die verschiedenen Wolken-Klassifikationenmodelle halten wird. Freia arbeitet seit einiger Zeit an der Erstellung eines Wolkenatlasses. Erfolglos sucht sie den Himmel nach Circus Perlucidus ab, einer einzigen Wolke, die sie bisher nur von Beschreibungen aus anderen Wolkenatlanten kennt und deren Bild ihr noch für den Atlas fehlt. Sogar den Namen ‚Wolke’ verdient Circus Perlucidus ihrer Meinung nach vielleicht nicht einmal. Er ist eher ein Hauch, durchscheinend aber nicht durchsichtig298. Nach Köln fährt sie mit einem Zug. Die Fotos, die sie immer dabei hat und die sie sich während der Fahrt anschaut, rufen bei ihr verschiedene Erinnerungen hervor: an ihren Zwillingsbruder Paul, ihre Mutter Renate, Großeltern Jo und Mäxchen, ihren Vater Peter und an verschiedene Momente aus der Vergangenheit der Familie. (Freias Erinnerungen an die Kindheit und Jugend werden in dem ganzen Buch mit den Ereignissen aus der Gegenwart verflochten). Auf dem Bahnsteig in Hannover bemerkt sie plötzlich ihre Mutter. Freia erinnert sich, dass Renate die Großmutter zu besuchen vorhatte, weil der Zustand der älteren Frau sich verschlimmert hatte, seitdem der Großvater gestorben war. Renate sieht aber ihre Tochter nicht und beide Frauen fahren in verschiedene Richtungen ab. Einige Zeit später trifft sich Freia mit ihrem Bruder Paul in seiner Wohnung und erzählt ihm von diesem unerwarteten „Nicht-Treffen“299 in Hannover. Paul bemerkt, dass Renate in letzter Zeit viel seine Schwester beschäftigt. Die Meteorologin vermutet, dass 295 Tanja Dückers im Gespräch . Haberl, Tobias: Meine Version ist die richtige, a.a.O. Tanja Dückers im Gespräch . Hahn, Anne Kathrin: Nicht mal bereut, a.a.O. 297 Vgl. Tanja Dückers im Gespräch . Metz, Johanna: Das Anrecht auf die Spurensuche in der Vergangenheit, a.a.O. 298 Vgl. Dückers, Tanja: Himmelskörper. Berlin 2005 (2. Aufl.), S. 12. 299 Ebd., S. 25. 296 62 die Ursache in ihrer Schwangerschaft liegt: die Tatsache, dass sie bald selbst Mutter wird, lässt sie irgendwie an andere Frauen aus ihrer Familie zu denken. Freia kann keine Ruhe finden, ihre Gedanken kreisen um die Vermutung, dass es in der Familie viel Ungeklärtes gibt - „als hätte mit meiner Schwangerschaft eine Art Wettlauf mit der Zeit begonnen, in der ich noch offene Fragen beantworten kann“300. An einem anderen Tag ist Freia mit ihrem Partner Christan verabredet. Da er aber nicht kommt, entscheidet sie sich, ihre Eltern zu besuchen. Der Vater ist nicht da, in dem Elternhaus wird Freia nur von ihrer Mutter empfangen. Beide Frauen unterhalten sich in der Küche, indem sie Essen vorbereiten. Renate erzählt ihrer Tochter von ihrer Jugend und von Rudolf – dem ersten im ihrem Leben Jungen, den sie geküsst hat. Sie erwähnt auch, dass sie Rudolf vor zwei Monaten auf der Beerdigung von Onkel Kazimierz in Warschau wieder gesehen hat, wobei man einen Eindruck haben kann, dass Rudolf auf sie einen großen Eindruck gemacht hat. Freia empfindet später dieses Gespräch als merkwürdig: Je mehr Zeit verging, desto irrealer kam mir Renates und mein Abend vor; wenn ich die Stimme meiner Mutter hörte, schien es mir unmöglich, dass sie mit mir über Rudolf gesprochen hatte301. Die Beziehung zwischen den beiden war bisher nicht besonders eng. Inzwischen stirbt Freias und Pauls Großmutter. Bei der Auflösung der Wohnung der Großeltern findet Freia viele Dokumente, die sie bisher nie gesehen hat, darunter Fotografien, Briefe und Postkarten aus der NS-Zeit: verschiedene Postkarten vom ‚Führer’, mehrere in der Handschrift der Großmutter verfasste „Vorschriften für eine Gratulation an Göring zur Geburt seines ersten und einzigen Kindes“302, „ein ovales Katzenauge fürs Fahrrad mit einem eingravierten hakenkreuz“, ausgeschnittene Bilder mit der NS-Fliegerin Hanna Reitsch, die während des Krieges an einem Militärprojekt gearbeitet hatte, im dessen Rahmen freiwillige Piloten ihr Leben in den Selbstmordangriffen nach dem Beispiel der Kamikaze-Angriffe japanischer Piloten haben opfern sollen. Unter vielen von den Großeltern hinterlassenen Sachen findet Freia schließlich auch das Buch Mein Kampf. Als Kinder assoziierten Freia und Paul den Krieg vor allem mit dem Großvater und seinem amputierten Bein. Die Prothese faszinierte die Geschwister deswegen, weil „man gegen dieses Bein treten konnte, ohne 300 Ebd., S. 25. Ebd., S. 39. 302 Ebd., S. 57. 301 63 dass Großvater davon die geringste Notiz nahm“303. Auf die Fragen nach diesem Krieg bekamen aber beide keine genauen Erklärungen, was ihrer Phantasie viel Spielraum für Spekulationen ließ: Paul und ich waren uns nicht ganz sicher, ob ‚Krieg’ eher einen Ort oder ein Ereignis bezeichnete. Ganz sicher aber war Vollmond, als ‚Krieg’ passierte. In den Märchen […] passierten die schrecklichen Dinge immer bei Vollmond304. Das verschwundene Bein konnte in den Vorstellungen der Kinder genauso gut durch einen „Silberlügenaal“ wie einen „Futterneidhai“ aus dem Bleichen See, einem Teich in der Nähe ihres Hauses, geschnappt werden: ’Krieg’ schien jedenfalls ein schrecklicher Ort zu sein, eine Gefahrzone, in die aus irgendeinen Grund nur Männer kamen. Es hieß noch, dass „Großvater hart gekämpft und Großmutter lange auf ihn gewartet“ habe305. Die Eltern halfen den Zwillingen natürlich nicht bei diesen naiven Erklärungsversuchen, was mit ‚Krieg’ gemeint wird: Wie Großvater lachten auch die anderen albern, wenn wir ihnen unsere neuesten Theorien vorstellten306. Konkrete Informationen zum Zweiten Weltkrieg erreichten die Zwillinge erst mit dem Eintritt ins Gymnasium. Es handelte sich dabei vor allem um Fakten und Daten . In der Familie wurden sie dagegen mit anderen, aus der Perspektive der einzelnen, leidenden Personen erzählten Geschichten, konfrontiert: mit der Plünderung des Königsbergs von Russen, der Verwundung des Großvaters in Russland, der Flucht der Familie aus Westpreußen. Je älter Freia wurde, desto klarer wurde es jedoch für sie, dass die Großeltern, besonders die Oma, nur diese Erinnerungen herbeiriefen, die die anderen Menschen zum Mitleid bewegen konnten. Sie erzählte beispielsweise gern davon, dass sie eine ganze Nacht und einen Morgen bei Minus zwanzig Grad im Schnee hatte stehen 303 Ebd., S. 77. Ebd., S. 79. 305 Ebd., S. 78. 306 Ebd., S. 81. 304 64 müssen. Die Geschichte der Flucht kannte Freia auswendig, sie wusste zum Beispiel, wo es die Kunstpausen geben wird oder wo sich der Großvater einschalten soll: Die Stimme meiner Großmutter zitterte nicht oder nicht mehr bei diesen Erinnerungen: zu oft hatte sie diese zurechtgelegten Sätze wiederholt. Wie eine Lehrerin klang sie […] oder eine Reiseführerin, nicht wie meine Großmutter307. Erst kurz vor ihrem Tod, als sie nicht mehr ganz bei Sinnen war, verriet die Großmutter die genauen Umstände der Flucht aus Westpreußen. Jo und Renate hatten Gdingen mit dem Minensuchboot ‚Theodor’ verlassen wollen. Als sie aber angekommen waren, war es schon spät gewesen und das Schiff war schon belegt gewesen. Die Tatsache, dass sie doch außer der Reihe an Bord genommen worden waren, verdankt Jo der damals fünfjährigen Renate, die eine Nachbarin mit ihrem Sohn als diejenige angezeigt hatte, die schon ganz lange „gar nicht mehr den Gruß gemacht“308 habe also nicht führertreu gewesen sei. Die denunzierte Familie war dann auf der Gustloff untergegangen. Jo und Renate hatten sich gerettet, oder wie Jo diese Situation kommentierte: „Renätchen hat uns das Leben gerettet“ 309. Jetzt, wenn die Großeltern nicht mehr leben und wenn die Wahrheit auf das Tageslicht gekommen ist, ist Freia im Stande, die Lücken in der Geschichte der Familie, die sie seit Langem bemerkt hat, zu klären. Zusammen mit Renate fährt sie nach Gdingen. Beide Frauen besichtigen den Hafen. Freia stellt ihrer Mutter viele Fragen, aber Renate kann ihr nicht sagen, wie die anderen damals Stalingrad kommentiert hatten, oder ob sie die Kriegsschiffe bewusst wahrgenommen hatte. Die Mutter erinnert sich nur daran, dass sie „damals die Kriegsschiffe langweilig fand, weil die alle nur grau waren“310 im Gegensatz zu den KdF-Schiffen, die sie hübscher fand und dass sie mit ihrem Vater „Russe’ gespielt hat. Freia erfährt, dass der Onkel Kazimierz die einzige Person außer der Eltern war, die genau wusste, wie und warum Jo und Renate auf das Minensuchboot gekommen waren. Anvertraut hat ihm Renate, weil sie mit eigenen Gedanken zu der Gustloff-Katastrophe nicht mehr zurechtkommen konnte. Sie fühlte sich ihr ganzes Leben schuldig an dem Tod der Frau und ihrem Sohn, obwohl ihre eigene Familie sie eher für eine Retterin hielt. In Gdynia findet Freia auch endlich den seit Jahren gesuchten Circus Perlucidus. 307 Ebd., S. 100-101. Ebd., S. 249. 309 Ebd., S. 250. 310 Ebd., S. 299. 308 65 Einige Zeit nach der Reise bringt Freia ihre Tochter zur Welt. Als Aino ein halbes Jahr alt ist, erfährt sie, dass Renate Selbstmord begangen hat. Zwei Jahre später beschließen die Zwillinge, ein Buch über diese Geschichte zu verfassen – Himmelskörper. 3.4.2 Zum Textanfang In Anlehnung an kognitive und rezeptionsorientierte Modelle lässt sich feststellen, dass der Erzählanfang und -schluss zu diesen Textteilen gehören, die nach der Lektüre eines Textes am stärksten im Bewusstsein des Lesers haften bleiben311. Dem Erzählanfang wird bei der Rezeptionssteuerung und Informationsverarbeitung eine besondere Rolle zugeschrieben: alle Informationen, die in einem Text an späteren Stellen vergeben werden, werden immer im Licht des am Anfang des Textes Gesagten gedeutet. Deshalb spielt der Erzählanfang bei der Interpretation der Texte eine Schlüsselrolle. Carsten Gansel nennt vier Varianten für den Beginn/Anfang eines Textes312: - ab ovo – dieser Typ bietet eine Art Einstieg in die Handlung und dient der Einstimmung auf die folgenden Ereignisse. Typisch ist der Erzählanfang ab ovo für die Märchen (z.B. „Es war einmal…“). - in medias res – als Beginn wird ein bestimmter Zeitpunkt mitten in der Geschichte gewählt. An dieser Stelle kennt also der Leser die Vorgeschichte noch nicht. Alles, was für das Verständnis der Handlung von Bedeutung ist, wird erst im weiteren Verlauf nachgeholt. Die Ereignisse werden in ihrer Chronologie mittels der Erzähltechniken wie Analepsen/aufbauende Rückwendungen dargestellt. Erst also am Ende ist der Leser imstande, alle Zusammenhänge zu begreifen. - in ultimas res – die Erzählung beginnt mit dem Ende der Geschichte oder kurz vor diesem Ende. Die Zusammenhänge der jeweiligen Handlungsstränge können 311 Vgl. Krings, Constanze: Zur Analyse des Erzählanfangs und des Erzählschlusses. In: Wenzel, Peter (Hg.): Einführung in die Erzähltextanalyse. Kategorien, Modelle, Probleme. Trier 2004, S. 163-179, hier: S. 163. 312 Vgl. Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur. Ein Praxishandbuch für den Unterricht. Berlin 1999, S. 74. 66 somit erst am Schluss verstanden werden. Bei diesem Typ des Textanfangs fällt die erzählte Zeit mit der Erzählzeit zusammen. - invocatio – es handelt sich um eine Einleitung oder ein Vorwort, in dem das Erzählen begründet oder legitimiert wird. Das kann im Form einer Widmung oder einer Rahmenerzählung stattfinden, möglich ist aber auch die Benennung der Herkunft oder Quelle der Geschichte. Das erste Kapitel des Romans von Tanja Dückers beginnt folgendermaßen: Ich hatte das Foto nicht dabei. Unruhig durchwühlte ich meine Reisetasche, durchblätterte einen Notizblock, eine Zeitung, schlug meinen Pass auf, suchte zwischen Bahn-Card und Bibliotheksausweis, zwischen Thermoskanne und getrockneten Früchten das kleine Schwarzweiβbild, das ich gestern aus dem FotoSchuhkarton genommen und auf meinen Schreibtisch gelegt hatte. Ich biss mir vor Wut auf die Lippen. Als ich den Kopf hob, begegnete sich dem Blick einer stark geschminkten jungen Mädchens, der nicht Mitleid, sondern Verachtung ausdrückte. Schließlich schlug ich den weißen Ordner mit vielen Klarsichtfolien wieder auf, einen Ordner der mich seit Jahre weite Reisen unternehmen ließ313. Eindeutig haben wir also in diesem Fall mit dem Erzählanfang in medias res zu tun. Als Ausgangspunkt für die Darstellung der Geschichte wurde ein Zeitpunkt mitten in der Geschichte gewählt. Man weiß nicht, wer erzählt, wo er sich befindet, was für ein Foto diese Person sucht und weswegen dieses Foto im Moment so bedeutsam ist. Man weiß sogar nicht, ob es sich um eine Frau oder einen Mann handelt, obwohl die Art der Aussage vermuten lässt, dass wir in diesem Fall eher mit einer Frau zu tun haben. Da es eine Einleitung fehlt, kann der Leser nur Vermutungen haben, was vorher passieren musste. Aufgrund dieses Anfangs kann man nur mit relativ großer Sicherheit feststellen, dass die Figur (wer auch immer) gerade auf einer Reise ist. Davon können die Reisetasche der Ordner, der „seit Jahren weite Reisen unternehmen ließ“, sowie die Thermoskanne, zeugen. Erst wenn die Geschichte auf weiteren Seiten fortgeführt wird, werden die gesamten Zusammenhänge offen gelegt. 3.4.3 Erzählanalyse nach Stanzel 313 Dückers, Tanja: Himmelskörper,.a.a.O., S. 7. 67 3.4.3.1 Zwei Grundformen des Erzählens Franz Stanzel unterscheidet in seinem Buch Typische Formen des Romans zwischen zwei Grundformen des Erzählens – einer berichtenden Erzählung einerseits und einer szenischen Darstellung andererseits314. Um den Unterschied zwischen beiden Formen zu veranschaulichen und zu zeigen, inwieweit die Erzählweise die Rezeption der Werke beeinflusst, benutzt Stanzel zwei Texte, die zwar einen ähnlichen Sachverhalt behandeln aber ihn auf verschiedene Art und Weise vermitteln. Im Fall von berichtender (oder panoramatischer) Darstellung werden Ereignisse aus einer zeitlicher und räumlicher Ferne erzählt, so dass bei dem Leser eine Vorstellung entsteht, dass sie in der Vergangenheit abgeschlossen sind. Der Erzähler scheint dabei, an den Einzelheiten und Details nicht interessiert zu sein. Es geht in erster Linie um eine dokumentarische, trockene Vermittlung von Informationen, die Begebenheiten werden in knapper Zusammenhang präsentiert. Mit der Distanz des Erzählers vom Geschehen wird auch ein engeres Engagement des Lesers mit dem Geschehen ausgeschlossen315. Dieses erfolgt erst im Fall von szenischer (mimetischer) Erzählung. Im Unterschied zur berichtenden Erzählung, die überwiegend im epischen Modus erfolgt, ist für die szenische Darstellung der dramatische Modus charakteristisch. Der Erzähler wird hier zu einem Augenzeuge der Ereignisse. Die szenische Art der Darstellung ermöglicht also dem Leser, sich in die Gestalten zu versetzen und aus ihrer Perspektive das Geschehen zu beobachten, wodurch sich die Erzähldistanz grundsätzlich verkürzt. Das epische Präteritum gibt seine Vergangenheitsbedeutung auf, die einzelnen Begebenheiten wirken demnach als wären sie gegenwärtig. Diesen Eindruck verstärken solche Zeitadverbien wie beispielsweise „gerade“ und „jetzt“. Im Gegensatz zu der berichtenden Erzählung wird in der szenischen Darstellung die genauere Schilderung von Raum, Zeit und Personen bevorzugt. Im Fall von den von Stanzel analysierten Texten bleibt die räumliche Kulisse die Gleiche, mit der Änderung der Vermittlungsweise ändert sich aber der atmosphärische Raum – herausgestellt werden Emotionen oder die Dynamik der Ereignisse. Zusammenfassend kann man sagen, dass es ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Gehalt und der Darstellungsform besteht. Der Gehalt der Erzählung wird damit zu einer Funktion der Erzählweise. Außerdem beeinflusst die vorherrschende Form des Erzählens den Grad der Anschaulichkeit sowie 314 315 Vgl. ebd. Vgl. ebd. S. 13. 68 der Aussagekraft. Mit der Änderung der Erzählform ändert sich also das Wirkungspotenzial der Erzählung316. Im Fall von Himmelskörper handelt es sich um die szenische Darstellung. Die Erzählung erfolgt im dramatischen Modus. Da in der Rolle des Erzählers eine der Figuren auftritt, die die Ereignisse mit eigenen Augen beobachtet und aus eigener Perspektive schildert, wird die Erzähldistanz deutlich kürzer. Man bekommt den Eindruck, dass sich das Erzählte gerade ereignet, auch im Fall von derjenigen Kapiteln, die die Kindheit und Jugend von Freia behandeln317. Mein Vater und ich liefen auf einem Pfad durch den dichten Wald; die Stämme der Tannen schienen sich in nichts aufzulösen, je höher sie reichten – so neblig war es. […] Es war so warm heute.318 Ich wunderte mich schon über nichts mehr und ging in die Küche, um meinem Vater mit der Salatsoße zu helfen.319 In diesen Passagen entsteht der Eindruck einer unmittelbaren Nähe zum erzählten Geschehen. Der Erzähler ist in die von ihm geschilderte Ereignisse involviert. Da er sein eigenes Leben erzählt, werden dem Leser seine inneren Zustände, Gefühle und Gedanken bekannt. 3.4.3.2 Erzählsituationen In dem Buch Typische Formen des Romans unterscheidet Stanzel zwischen drei Formen von Erzählsituationen: - Die auktoriale Erzählsituation – charakteristisch für diese Erzählsituation ist „die Anwesenheit eines persönlichen, sich in Einmengung und Kommentaren zum Erzählten kundgebenden Erzählers“320. Der Erzähler ist allwissend, gehört der erzählten Welt nicht an, berichtet über die Ereignisse aus einer distanzierten Perspektive. Er kennt nicht nur die Vergangenheit und Zukunft, sondern hat 316 Vgl. Kayser, Wolfgang: Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft. Tubingen/Basel 1992 (20. Aufl.). 317 Vgl. auch zeitdeckendes Erzählen 318 Dückers, Tanja: Himmelskörper, a.a.O.. S. 40. 319 Ebd., S. 122. 320 Stanzel, Franz: Typische Formen des Romans, a.a.O., S. 16. 69 auch die Möglichkeit, in Gedanken der Figuren zu blicken. Er sieht also und weiß alles. Die Grundform des Erzählens, die dieser Erzählsituation entspricht, ist die berichtende Erzählweise. Begrenzt ist der auktoriale Erzähler nur in diesem Sinne, dass er die Bewusstseinszustände der Figuren ausschließlich von außen wahrnehmen kann. - Die personale Erzählsituation – die Geschichte wird aus der Perspektive einer Figur erzählt, die der erzählten Welt angehört. Berichtet wird dabei in der 3. Person Singular, es handelt sich also um einen Er-Erzähler. Da der Erzähler nicht allwissend ist, wird hier auf die Einmischungen und Kommentare verzichtet. - Die Ich-Erzählsituation – erzählt wird die Geschichte in der 1. Person. Der Erzähler gehört der erzählten Welt an, „er selbst hat das Geschehen erlebt, miterlebt oder beobachtet, oder unmittelbar von den eigentlichen Akteuren des Geschehens in Erfahrung gebracht“321. In Bezug auf Stanzels Nomenklatur lässt sich feststellen, dass sich Dückers im Fall von Himmelskörper ausschließlich der Ich-Erzählsituation bedient. Schon der Textanfang weist auf die Ich-Erzählsituation hin: Ich hatte das Foto nicht dabei322. In der Rolle des Erzählers tritt Freia auf, die einerseits selbst an den Ereignissen beteiligt ist, andererseits aber auch die ihr erzählten Geschichten referiert. Sie gehört ohne Zweifel zu der Welt der Figuren. Innerhalb der Ich-Erzählsituation kann man weiterhin zwischen dem erzählenden und dem erlebten Ich unterscheiden. Das erlebende Ich liegt in dem Text dann vor, wenn es sich um das frühere Selbst des IchErzählers handelt 323 . Mit dem Rückblick des erzählenden Ichs auf das erlebte Ich haben wir in diejenigen Passagen zu tun, in denen Freia aus der Perspektive der erwachsenen Frau von ihrer Kindheit und Jugend berichtet: Ich blickte noch einmal auf das Bild von Peter mit den Kirschen über den Ohren und musste wieder daran denken, wie mein Vater früher taubengraue Briefe an 321 Ebd., S, 16. Dückers, Tanja: Himmelskörper, a.a.O., S. 7. 323 Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur, a.a.O., S. 30. 322 70 »Gott« geschrieben und ins Meer geworfen hatte. »Papa, was hast du denn Gott geschrieben?« fragten Paul und ich. Peter antwortete nur: »Das bleibt mein Geheimnis«324. Was das erzählende und von dem erlebten Ich unterscheidet, ist nicht nur der zeitliche Abstand (in diesem Fall etwa 25 Jahre) aber auch die größere Lebenserfahrung, dank deren das erzählende Ich die vergangenen Ereignisse beurteilen und interpretieren kann. So kann Freia als eine erwachsene Frau sagen: Weder Paul, der aus dem Stegreif Geschichten erfinden konnte, noch ich, das Mathe-As und Knobeltalent, und schon gar nicht meine Mutter, von der jeder glaubte, die und ihre Frauenzeitschriften, ihren Kräutergarten und ihre Königsberger Klopse in- und auswendig zu kennen, standen im Mittelpunkt unserer Familie. Nein, es war immer Peter325. Da der Ich-Erzähler als eine der Figuren in seinen Erfahrungen und Kenntnissen begrenzt ist, kann er auf keinen Fall als allwissend betrachtet werden. Bewegen kann er sich nur in den Grenzen von Raum und Zeit; von den Ereignissen, an denen er selbst nicht teilgenommen hat, kann er nur dann Kenntnis haben, wenn ihm davon erzählt wurde326. Die Unkenntnis des Ich-Erzählers über viele Aspekte des Familienlebens zeigt sich in folgenden Textbeispielen: Es gibt so viel Ungeklärtes in unserer Familie327. Für einen Moment schoss mir ein furioser Hoffnungsschimmer durch den Kopf. Vielleicht fuhr Renate ja gar nicht zu ihrer Mutter …? Vielleicht hatte sie es deshalb versäumt, ihre Zugreise mit meiner abzustimmen. Diesen wilden Moment lang, in dem ich auf meinen linken Daumenknöchel biss, bis er weiß wurde, wünschte ich mir, dass sie eine geheimnisvolle Reise anträte, dass sie Rudolf heimlich treffen, dass er sie hier mit einem von seiner Nervosität und seiner Hast 324 Dückers, Tanja: Himmelskörper, a.a.O., S. 9. Ebd., S. 10. 326 Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur, a.a.O., S. 32. 327 Dückers, Tanja: Himmelskörper, a.a.O., S. 26. 325 71 schon halb zerfledderten, doch farbenprächtigen Blumenstrauß vom Bahnhof abholen würde […]328. Von dem Ich-Erzähler kann nur das dargestellt werden, was er selbst denkt, fühlt oder sieht. Die Innenwelt der anderen Figuren sowie ihre Erfahrungen und Absichte bleiben ihm solange unbekannt, bis sie sich selbst mit ihnen verraten. Über alles also, was den Ich-Erzähler nicht unmittelbar betrifft, kann er sozusagen nur aus zweiter Hand Kenntnis haben. 3.4.4 Erzählanalyse nach Matias Martinez und Michael Scheffel 3.3.4.1 Faktuales und fiktionales Erzählen Im Vorwort des Buches weist die Autorin Tanja Dückers den Leser darauf hin, dass es sich bei der geschilderten Geschichte um rein fiktive Ereignisse und Personen handelt. Tanja Dückers betont: Dies ist ein Roman. Namen, Gestalten und Begebenheiten sind Erzeugnisse der Phantasie der Autorin. Historische Persönlichkeiten und Ereignisse sind ebenfalls fiktiv verwendet. Die Handlung ist keine Darstellung tatsächlicher Vorgänge, und es handelt sich nicht um Portraits realer Personen. Eventuelle Übereinstimmungen oder Ähnlichkeiten zu Personen und Ereignissen sind rein zufällig329. Die Autorin informiert den Leser an dieser Stelle darüber, dass obwohl im Buch auch historische Ereignisse und Namen vorkommen, soll der Roman nicht als Autobiographie einer real existierenden Person verstanden werden. Die dargestellte Geschichte ist fiktiv und deshalb handelt es sich im Fall von Himmelskörper um eine fiktionale Erzählung. 3.4.4.2 Zeit 328 329 Ebd., S. 19-20. Dückers, Tanja: Himmelskörper, a.a.O., S. 4. 72 In Anlehnung an Günther Müllers Konzept der „zweierlei Zeit“ unterscheiden Martinez und Scheffel zwischen erzählter Zeit und Erzählzeit330. Unter Erzählzeit verstehen sie jene Zeit, die der Erzähler für das Erzähler der jeweiligen Geschichte benötigt. Im Fall von einem Erzähltext, der keine konkreten Angaben über die Dauer des Erzählens enthält, wird die Erzählzeit einfach nach dem Seitenumfang bemessen. Die erzählte Zeit ist dagegen die Dauer der erzählten Geschichte331. Im Fall von Himmelskörper entspricht die Erzählzeit einem Umfang von circa dreihundert Druckseiten, während die in diesem Rahmen dargestellte Geschichte einen Zeitraum von etwa 60 Jahren umfasst (von den Ereignissen während des Zweiten Weltkrieges bis zu den gegenwärtigen Zeiten). Martinez und Scheffel zählen in Anlehnung an Gerard Genette drei zeitliche Kategorien auf. Nach der Position der beiden Literaturwissenschaftler lässt sich das Verhältnis zwischen der Zeit der erzählten Geschichte und der Zeit der Erzählung im Sinne der drei Fragen systematisieren: 1. In welcher Reihenfolge oder Ordnung wird das Geschehen in einer Erzählung dargestellt332? Bei der Erzählordnung handelt es sich um die Relation zwischen der Reihenfolge der einzelnen Ereignisse in der Geschichte und der Reihenfolge, in der sie im Text präsentiert werden. Die Geschichte kann chronologisch dargestellt werden – die Chronologie der Geschichte stimmt dann mit der Chronologie der Erzählung. In einem Text können aber auch Anachronien vorkommen, d h. Umstellungen der chronologischen Ordnung der Ereignisfolge. Martinez und Scheffel sprechen von zwei Formen der Anachronie. Im Fall von Analepse (Rückwendung) hat ein Ereignis zu einem früheren Zeitpunkt stattgefunden als dem, den die Erzählung bereits erreicht hat – es wird also nachträglich präsentiert (B A C)333. Die Anachronie in der Form einer Prolepse (Vorausdeutung) wird ein Ereignis, das noch in der Zukunft liegt, vorwegnehmend erzählt (A C B)334. 330 Vgl. Martinez, Matias / Scheffel, Michael: Einführung in die Erzahltheorie, a.a.O., S. 31. Vgl. ebd., S. 31. 332 Vgl. ebd., S. 32. 333 Vgl. ebd., S 33. 334 Vgl. ebd. 331 73 Der Roman Himmelskörper setzt sich aus insgesamt 24 Kapiteln zusammen. Die Geschichte wird anachronisch dargestellt. Im ersten Kapitel kennt der Leser die IchErzählerin Freia lernen. Sie ist gegen 30, arbeitet wissenschaftlich als eine Wolkenforscherin und erwartet ein Kind. An dieser Stelle weiß man nicht viel von ihrem Leben. Die Fotos von ihren Verwandten, die sie dabei hat, rufen bei ihr die Erinnerungen hervor – so hat der Leser eine Möglichkeit, einige Episoden aus Freias Kindheit kennen zu lernen und etwas von ihrer Familie zu erfahren. Die Erzählgegenwart wird also in diesem Kapitel durch Rückblenden durchbrochen, denn Freia erinnert sich an ihre Kindheit aus der Perspektive einer erwachsenen Person: Ich blickte noch einmal auf das Bild von Peter […]. Nach dem Abendessen stand er oft auf und verschwand. Erst im Morgengrauen kehrte er mit zerzausten Haaren und Blättern an den Ärmeln seines wetterfesten Anoraks zurück. Manchmal erzählte er uns, er habe im Wald mit Elfen gesprochen. Und dann malte Peter diese Elfen für uns335. Im zweiten Kapitel wird die Chronologie der Rahmenerzählung beibehalten. Freia trifft sich mit ihrem Bruder Paul und erzählt ihm von ihrer Reise. Auch in diesem Kapitel wird aber an manchen Stellen die Vergangenheit erwähnt: Erinnerst du dich noch, wie wir früher überlegt haben, was in unseren Gesichtern die Leute dazu bringt, zu wissen, wer von uns das Mädchen und wer der Junge ist? Da waren wir vielleicht sieben336. Die Chronologie des Erzählens wird deutlich erst im dritten Kapitel unterbrochen. Das hier dargestellte Gespräch mit der Mutter musste noch vor Freias Reise aus dem ersten Kapitel stattfinden, denn eben in diesem Moment hört Freia zum ersten Mal von Rudolf. Seit diesem Kapitel verflicht sich die Gegenwart mit der Vergangenheit. Da alle Ereignisse aus der Perspektive einer nach 2000 lebenden Frau erzählt werden, handelt es sich im Fall von Himmelskörper um Rückwendungen. Es bleibt aber noch die Frage offen, ob es aufbauende oder auflösende Rückwendungen sind. Zwischen beiden Typen von Analepse unterscheidet Eberhart Lämmert in seinem Buch Bauformen337. Bei der 335 Dückers, Tanja: Himmelskörper, a.a.O., S. 9. Ebd., S. 21-22. 337 Vgl. Martinez, Matias / Scheffel, Michael: Einführung in die Erzahltheorie, a.a.O., S. 36. 336 74 aufbauenden Rückwendung handelt es sich um einen Fall, in dem eine Art Exposition nachgereicht werden muss, um die Hintergründe einer zunächst unvermittelt präsentierten Situation zu verdeutlichen. Von einer aufbauenden Rückwendungen spricht Lämmert im Fall von Texten, die in medias res beginnen. Bei der auflösenden Rückwendung kann dagegen dann die Rede sein, wenn sie sich in der Regel am Ende der Erzählung findet und das bis dahin lückenhaft erzählte Geschehen ergänzt. Im Fall von Himmelskörper handelt es sich um aufbauende Rückwendungen. Die von Dückers angenommene Strategie ist die folgende: zuerst wird ein Ereignis aus der Vergangenheit beiläufig erwähnt, dann kommt ein oder mehrere Kapitel, in denen die Geschichte näher dargestellt wird. So werden Informationen Seite für Seite nachgereicht. Dass die Mutter eine sehr verschlossene Person ist, erfährt der Leser schon im ersten Kapitel. Das Geheimnis ihres Lebens klärt sich aber erst seit dem achtzehnten auf. Auch über Wieland wird schon im zweiten Kapitel gesprochen. Man muss aber als Leser bis zum elften, dreizehnten und fünfzehnten Kapitel warten, um zu erfahren, wer Wieland war und welche Rolle er in Freias Leben gespielt hat. Im Verlauf der Handlung werden langsam alle suggerierten Geheimnisse und alle Andeutungen geklärt, sodass die Geschichte der Familie am Ende des Buches völlig verständlich wird. Man kann also sagen, dass obwohl die einzelnen Episoden keiner Chronologie folgen, sind sie Elemente einer in sich geschlossenen Ganzheit. Der kausale Zusammenhang wird dadurch ohne Zweifel beibehalten. 2. Welche Dauer beansprucht die Darstellung eines Geschehens oder einzelner Geschehenselemente in einer Erzählung338? Bei der Erzähldauer handelt es sich um „eine Relation zwischen der Zeit, die die erzählten Ereignisse in Anspruch genommen haben sollen, und der für ihre Darstellung erforderlichen Textmenge“339. Mehrere Jahrhunderte können in ein paar Sätzen erzählt werden, ein Tag dagegen auf mehreren hundert Seiten. Martinez und Scheffel unterscheiden in Anlehnung an Lämmert und Genette zwischen zeitdeckendem, zeitraffendem (bzw. summarischen) und, zeitdehnendem Erzählen sowie zwischen einem Zeitsprung (einer Ellipse) und einer Pause. Am Beispiel von Himmelskörper 338 Vgl. ebd., S. 32. Marsden, Peter H.: Analyse der Zeit. In: Wenzel, Peter (Hg.): Einführung in die Erzähltextanalyse. Kategorien, Modelle, Probleme, a.a.O., S. 89-100. hier: s. 92. 339 75 lassen sich die drei ersten Grundformen des narrativen Tempos analysieren: die Szene, Dehnung und Raffung. Zeitdeckendes Erzählen kommt vor, wenn die Erzählzeit und erzählte Zeit übereinstimmen. Eigentlich muss also in solchem Fall nicht mehr erzählt sondern szenisch dargestellt werden. Ein Beispiel für zeitdeckendes Erzählen ist eine Figurenrede in einer Dialogszene, die ohne Auslassungen oder Erzählereinschübe wiedergegeben wird340. Von einer Raffung kann dann die Rede sein, wenn die Erzählzeit kürzer als die erzählte Zeit ist. Schließlich liegt eine Dehnung dann vor, wenn die für die Darstellung eines Ereignisses verwendete Erzählzeit – wie in einer Zeitlupe – deutlich länger ist, als die Zeit, die das Ereignis selbst beansprucht“ 341. Wie Martinez und Scheffel bemerken, halten sich die Erzählungen in der Regel „ebenso wenig durchgängig an die chronologische Ordnung eines Geschehens wie an seine zeitliche Dauer“342. Auch im Fall des Romans von Dückers variiert das Verhältnis der Dauer von Erzählzeit und erzählter Zeit. Es sind in Himmelskörper Textstellen zu finden, in denen szenisch dargestellt wird. In der folgenden Szene befindet sich Freia mit ihrem Vater im Wald, denn sie will unbedingt Geister beobachten. Das Fragment ist ziemlich lang, es veranschaulicht aber deutlich, worauf das zeitdeckende Erzählen beruht: »Du darfst nicht reden, Freia, du musst dich auf die Geistin konzentrieren. Wenn du ihr nicht Beachtung schenkst, ist sie eingeschnappt und schwingt sich fort, bevor wir sie überhaupt zu Gesicht bekommen haben.« »Da hat sie ja was mit mir gemeinsam!« »Freia, du wolltest doch heute unbedingt mitkommen, dann musst du jetzt auch ein bisschen still sein und mitmachen …« »Ja.« »Siehst du, wie sie mit ihren dünnen Armen die Nebelschleier vor uns lüftet?« »Ja.« »Siehst du, dass sie ihre Arme biegen kann wie du deine Lakritzstangen, nur dass sie weiß sind?« »Ja.« »Siehst du, wie sie sich jetzt zu Boden wirft, ihre Stirn einmal an den Stein vor uns legt, und hörst du, wie sie dabei mit windiger Stimme in sich hineinmurmelt und einen leisen Gesang anstimmt?« 340 Vgl. Martinez, Matias / Scheffel, Michael: Einführung in die Erzahltheoriea, a.a.O., S. 39. Ebd., S. 43-44. 342 Ebd., S 39. 341 76 »Ja!« »Und siehst du, wie sie sich jetzt auszieht, als wolle sie zu einem nächtlichen Bad schreiten, siehst du, wie sie einen Schleier nach dem anderen, wie sie ihren Schal und ihre Armreifen, ihr Kleid und ihren Schmuck in Richtung Wald wirft?« »Ja!« »Siehst du, wie der Nebel ihre Kleider vom Boden hebt?« »Und siehst du, wie sie jetzt eine lockende Geste macht, ihre Hand ausstreckt und mich anschaut, einen Zeigefinger mit einem Nagel, glänzend und lang wie die Schneide eines Taschenmessers, nach mir ausstreckt und ihn wieder zu sich heranholt?« »Ja, Papa, und ich glaube, sie lacht dabei wie eine Eule.« »Genau, verstehst du jetzt, weshalb ich nachts manchmal herkomme?« »Ja!« »Versprichst du mir, dass du das niemandem erzählst, auch nicht Mama?« »Ja. Versprochen!« »Schau mich an …« Mein Vater fasste mir unters Kinn, drehte meinen Kopf zu sich und blickte mich an. Sein Gesicht war sehr ernst, Wehmut oder Sehnsucht zeichnete sich wie so oft darin ab, weshalb ich ihn sehr gern mochte, und drum sagte ich ja343. Zuerst stimmen die Erzählzeit und erzählte Zeit überein. Der Erzähler hält sich mit seinen Einschüben zurück, obwohl Freia als Ich-Erzähler eine Geschichte erzählt, die sie als Kind selbst erlebt hat. Zu tun haben wir hier mit einer kommentarlosen Wiedergabe eines Figurendialogs. Erst am Ende des Zitats wird die Szene durch einen Erzählkommentar unterbrochen. An dieser Stelle stimmen die Erzählzeit und erzählte Zeit nicht mehr zusammen. Wenn man sich diese Szene vorstellt, dann kann man feststellen, dass es sich in diesem Fall mit großer Wahrscheinlichkeit um eine zeitdehnende Erzählung handelt. Erreicht wird eine Dehnung in literarischen Texten beispielsweise durch Einschübe, die innere Vorgänge der Figur darstellen – in diesem Fall sind es die Gedanken, die im Kopf Freias in der beschriebenen Situation erscheinen. Die Erzählung scheint hier also minimal länger als das Geschehen zu sein. Ein noch besseres Beispiel für eine zeitdehnende Erzählung ist im 22. Kapitel zu finden. Freia befindet sich mit ihrer Mutter in Gdingen. Beide Frauen machen einen Spaziergang zum Hafen und unterhalten sich. Am Ende dieser Passage schaut Freia in 343 Dückers, Tanja: Himmelskörper, a.a.O., S. 45-46. 77 den Himmel und bemerkt den seit Jahren gesuchten Circus Perlucidus. Die Situation könnte in der Wirklichkeit nur eine Weile dauern. In dem Buch wird sie aber zeitlich gedehnt, denn Freia macht sich bei der Beobachtung viele Gedanken über das vor einem Moment stattgefundene Gespräch mir Renate: Ich starrte in den jetzt schieferfarbenen Himmel, die Farbe, die ich am meisten hasste, und dachte nach über die Worte meiner Mutter. Mein so theatralischer Onkel uns meine so spröde Mutter […].344 Freia stellt sich in ihren Gedanken beide Personen vor. Sie denkt an Situationen aus ihrem Leben, an solche Einzelheiten wie „die überraschende Zartheit, Weichheit“ von „ungewöhnlich kleinen, zierlichen Händen“ des Onkels. Das Gespräch mit der Mutter wird nach einer Weile fortgesetzt. Die Beschreibung von Freias Gedanken musste also diese Situation zeitlich dehnen. Da entdeckte ich auf einmal etwas. Ich griff nach meinem Minifernglas und starrte in den Himmel. Eine Wolke, wie aus Seide, aus unendlich fein verschütteter Milch, aus Spucke, durchsichtig wie der so eigenartig fleischlose Körper von Quallen und doch deutlich erkennbar ihre Ränder, dort oben, in ich schätzte 15 000 Höhe, leicht bewegt.345 Im Roman von Dückers sind aber auch Stellen zu finden, an denen die Erzählung kürzer ist als das Geschehen, das sie präsentiert. Ein Beispiel für eine zeitraffende Erzählung ist das Textfragment, in dem die Oma sich mit Renate um die Namen ‚Gdingen’ und ‚Gotenhafen’ streitet: »Also, hör mal, Kind, in meiner Zeit hieß das Gotenhafen, ich habe in Gotenhafen gelebt, geheiratet, ein Kind bekommen, ich habe Gotenhafen verlassen müssen, und wenn ich schon meine Heimat verlieren musste, darf ich nicht einmal mehr Namen, Worte, Silben behalten? Muss ich denn alles aufgeben?«346 344 Ebd., S. 302. Ebd., S. 303. 346 Ebd., S. 124. 345 78 Die von Jo beschriebenen Fakten aus ihrem Leben erforderten in der Wirklichkeit einen Zeitaufwand von vielen Jahren, während sie im Text in einem Satz zusammengefasst werden. Die Erzählzeit ist hier also deutlich und ohne Zweifel kürzer als die erzählte Zeit. Ein anderes Beispiel für eine Raffung ist die Erzählung Mäxchens von einem Herrn namens Friggs, den er früher kannte und der 1945 eine verlassene Wohnung in Königsberg bezogen hatte. Herr Friggs hatte sich eine neue Prothese machen lassen und nach sechs Monaten wollte er sie abholen: Zweimal humpelte Friggs an der Orthopädie vorbei. Das Firmenschild war entfernt, und in den Schaufenstern lagen nur Watte und Packpapier. Die Werkstatt war geräumt. Friggs wollte sich schon enttäuscht auf den Heimweg machen, da lief ihm eine Frau aus dem Haus in die Arme. Die sagte ihm, dass die Werkstatt in irgendeine Schule verlegt worden sei. Und so kam es, dass unser Held Tag für Tag, mit seinem kaputten Bein und schmerzverzerrtem Gesicht, die Schulen der Stadt ablief. […] Nach vier Tagen entdeckte er tatsächlich eine Sporthalle […]. Er fand, was er suchte […].347 Die von Mäxchen geschilderte Geschichte umfasste in der Wirklichkeit einen Zeitraum von vielen Monaten. In dem Buch sind es ein paar Sätze. Auch in diesem Fall ist also die Erzählzeit viel kürzer als die erzählte Zeit. 3. In welchen Wiederholungsbeziehungen stehen das Erzählte und das Erzählen, d. h. mit welcher Frequenz wird ein sich wiederholendes oder nicht wiederholendes Geschehen in einer Erzählung präsentiert?348 Bei der Kategorie der Frequenz wird danach gefragt, ob ein Ereignis wiederholt oder einmal erzählt wird und wie oft es sich wiederholt (wenn überhaupt). Martinez und Scheffel unterscheiden in Anlehnung an Genette zwischen singulativer, repetitiver und iterativer Erzählung349. Von einer singulativen Erzählung kann dann die Rede sein, wenn einmal erzählt wird, was sich einmal ereignet hat. Dieser Typ ist in Erzählungen meistens der Regelfall. Im Fall von einer repetitiven Erzählung wird wiederholt erzählt, 347 Ebd., S. 101-102. Martinez, Matias / Scheffel, Michael: Einführung in die Erzahltheorie, a.a.O., S. 32. 349 Vgl. ebd., S. 45-47. 348 79 was sich einmal ereignet hat. Die iterative Erzählung liegt schließlich dann vor, wenn einmal erzählt wird, was sich wiederholt ereignet hat. Im Roman von Dückers sind verschiedene Typen der Erzählung zu finden. Eine iterative Erzählung kommt beispielsweise in diesen Textfragmenten vor, in denen Freia davon erzählt, wie sie und Paul als Kinder in den Wald liefen: Es war immer ein großartiger, feierlicher Moment […] Obwohl wir täglich in den Wald liefen […].350 Manchmal lagen wir in der Sonne und wurden braun […]. Und manchmal wurden wir plötzlich von warmem Sommerregen überrascht.351 Jedes Mal, wenn wir wieder am anderen Ufer ankamen, waren wir erleichtert […] als wären wir die erfahrensten Naturbezwinger.352 Bereits die Adverbien wie „immer“, „täglich“, „manchmal“, „jedes Mal“ verweisen auf Ereignisse, die sich wiederholt ereignen mussten. Eine umgekehrte Situation, dass heißt solche, dass es wiederholt erzählt wird, was sich einmal ereignet hat, ist vor allem dort anzutreffen, wo die Großeltern vom Zweiten Weltkrieg erzählen. Das Motiv der Flucht aus Westpreußen kommt im Buch mehrmals vor, weil es für die ganze Geschichte von besonderer Bedeutung ist. Mit jeder weiteren Erzählung erfährt auch Freia etwas Neues von diesen Ereignissen, so dass diese Geschichte am Ende völlig klar wird. In meisten Fällen stellt aber der Roman den Regelfall dar. Es wird einmal erzählt, was sich einmal ereignet hat. 3.4.4.3 Fokalisierung Bei der Kategorie der Fokalisierung handelt es sich um den Standpunkt, von dem aus das Erzählte vermittelt wird. Martinez und Scheffel unterscheiden zwischen drei Typen der Fokalisierung353: - Nullfokalisierung – „Übersicht“ – der Erzähler weiß mehr, als irgendeine Figur; 350 Dückers, Tanja: Himmelskörper, a.a.O., S. 49-50. Ebd., S. 51-52. 352 Ebd., S. 52. 353 Martinez, Matias / Scheffel, Michael: Einführung in die Erzahltheorie, a.a.O., S. 64. 351 80 - Interne Fokalisierung – „Mitsicht“ – der Erzähler weiß genau das, was die Figur; - Externe Fokalisierung – „Auβensicht“ – der Erzähler sagt weniger, als die Figur weiß. Da im Fall von Himmelskörper in der Rolle des Erzählers eine der Figuren auftritt, handelt es sich um die interne Fokalisierung, also um die Mitsicht. Erzähler und Träger der Perspektive sind identisch. Der Blickwinkel, aus dem die Geschichte erzählt wird, ist eindeutig auf die Wahrnehmung der erlebenden Figur (Freia) begrenzt, was bedeutet, dass der Leser nur diese Informationen erhält, die dieser Figur zur Verfügung stehen. Das folgende Textfragment veranschaulicht das: Die Erwachsenen tuschelten oft, und ich bekam mit, dass es immer darum ging, ob wir »zu jung dafür« seien. Als ich einmal die Badtür öffnete, standen sich meine Mutter und meine Großmutter sehr nah gegenüber, mit in die Huften gestemmten Händen. […] Gerade öffnete meine Mutter den Mund wie ein Fisch unter Wasser und hauchte: »Von dem Schiff erzählst du ihnen nichts…« Jos Gesicht fiel in sich zusammen, es war, als würde man in eine Torte scheiden, sie sah überraschend weich und jung aus. »Erinnerst du dich noch an Rudi?« fragte meine Mutter jetzt. Und meine Großmutter legte meiner Mutter eine Hand auf die Schulter. So zärtlich gingen die beiden sonst nie miteinander um. Und eben schienen sie doch noch böse aufeinander zu sein. Ich verstand das alles nicht mehr. Wer sollte Rudi denn sein? Meine Mutter lächelte, sie hörte nicht mehr auf zu lächeln, und ich bekam Angst vor ihrem verzerrten Gesicht.354 Eindeutig weist die zitierte Passage darauf hin, dass der Erzähler nicht alles weiß. Freia beobachtet ihre Mutter und Großmutter. Der Mangel an Informationen verursacht, dass sie die Situation nicht versteht. Sie ist überrascht über die Tatsache, wie die beiden Frauen miteinander umgehen, denn solch ein Verhalten hat sie vorher noch nie gesehen. Sie versteht auch nicht, wovon Renate spricht. Da die Kenntnisse des Leser auf die Perspektive der erzählenden Figur begrenzt sind, bleiben auch ihm die Einzelheiten dieser Situation unbekannt. 3.4.4.4 Stimme 354 Dückers, Tanja: Himmelskörper, a.a.O., S. 85-86. 81 3.4.4.4.1 Zeitpunkt des Erzählens Da Geschichten in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erzählt werden können, unterscheiden Martinez und Scheffel in Anlehnung an Genette verschiedene Arten des Verhältnisses zwischen dem Zeitpunkt des Erzählens und dem des Erzählten: früheres, gleichzeitiges und späteres Erzählen355. Der erste Typ des Erzählens kommt eher selten vor, in der Regel nur in Form von kurzen Binnenerzählungen. Es handelt sich um Wunschphantasien oder Prophezeiungen. Bei dem gleichzeitigen Erzählen haben wir mit einer zeitlichen Koinzidenz von Erzählen und Erzähltem. Im Fall von späterem Erzählen erfolgt schließlich das Erzählen im epischen Präteritum. Es gibt also einen zeitlichen Abstand zum Erzählten – der Akt des Erzählens ist den erzählten Ereignissen zeitlich nachgeordnet. Dieser Typ des Erzählens stellt den Regelfall dar. Die Geschichte von Freias Familie wird im epischen Präteritum erzählt: Meine Mutter stand irritiert, fast ein wenig erschrocken, in der Tür. Aber dann bat sie mich herein und schien sich auf einmal doch zu freuen. Wir gingen in die Küche […]356. Der zeitliche Abstand zum Hier und Jetzt ändert sich je nach dem Kapitel in Abhängigkeit davon, welche Ereignisse aus der Vergangenheit gerade beschrieben werden. Auf jeden Fall handelt es sich aber bei Dückers um späteres Erzählen. 3.4.4.4.2 Ort des Erzählens Die Frage nach dem Ort des Erzählens hängt mit dem Problem zusammen, auf welcher Ebene es erzählt wird. Es handelt sich dabei um die so genannten Binnenerzählungen also Erzählungen in den Erzählungen. Auf der ersten Ebene erfolgt die Erzählung des Rahmenerzählers und diese Ebene bezeichnen Martinez und Scheffel als extradiegetisch. Die zweite Ebene ist die intradiegetische Ebene. Hier erfolgt die Erzählung innerhalb der Rahmenerzählung. Möglich ist auch die dritte Ebene, die so 355 356 Vgl. Martinez, Matias / Scheffel, Michael: Einführung in die Erzahltheorie, a.a.O., S. 69. Dückers, Tanja: Himmelskörper, a.a.O., S. 29. 82 genannte metadiegetische, die eine weitere Erzählung in der Erzählung in der Rahmenerzählung darstellt. Im Roman Himmelskörper erfolgt auf der ersten, extradiegetischen Ebene die Erzählung des Rahmenerzählers, in dessen Rolle Freia auftritt. Da aber die Erzählungen der anderen Figuren, beispielsweise der Großeltern, in wörtlicher Rede wiedergegeben werden, soll im Roman, wenigstens in einigen Passagen, noch die zweite, intradiegetische Ebene ausgesondert werden, denn „jedes Ereignis, von dem in einer Erzählung erzählt wird, liegt auf der nächsthöheren diegetischen Ebene zu der, auf der der hervorbringende narrative Akt dieser Erzählung angesiedelt ist“357. Der Rahmenerzähler zitiert Geschichten, die ihm von anderen erzählt worden sind, und an denen er selbst nicht teilgenommen hat. Von diesen Geschichten distanziert er sich, wovon einzelne kritische Kommentare zeugen können (siehe: Erzählhaltung). Im Fall von einem intradiegetischen Erzähler spricht man von einer intradiegetischen Sprechsituation358. Sie ist Teil der erzählten Geschichte und benötigt intradiegetische Hörer (Freias Familie) sowie raumzeitliche Umstände, unter denen erzählt wird (Kamin-Abende). Nach der Position von Jens Stüben ist das wortwörtliche Wiedergabe der Erzählungen der Kriegsgeneration von großer Bedeutung für die Rezeption des Romans und wurde von der Autorin absichtlich eingeführt: Obwohl sie Freias Großeltern grundsätzlich nicht freispricht (siehe: Die Generation der Zeitzeugen), versucht sie auf diese Weise der Kriegsgeneration gerecht zu werden, indem sie die Leiden der Zivilbevölkerung, auch unschuldigen Frauen und Kinder, nicht ausblendet359. 3.4.4.4.3 Stellung des Erzählers zum Geschehen In Bezug auf den Erzähler kann man schließlich danach fragen, in welchem Maße er an dem erzählten Geschehen beteiligt ist. Martinez und Scheffel sprechen von zwei Arten der Beziehung von Erzähler und Figuren360. Zum einen kann der Erzähler an der von ihm erzählten Geschichte je nach Mittelbarkeit beteiligt sein als Beobachter, als Nebenfigur oder als Hauptfigur. In solchen Fällen dominiert die erste Person, wobei es 357 Gérard Genette: Die Erzählung. 2. Auflage München 1998, s 163. Vgl. Martinez, Matias / Scheffel, Michael: Einführung in die Erzahltheorie, a.a.O., s 84. 359 Stüben, Jens: Erfragte Erinnerung – entsorgte Familiengeschichte, a.a.O., S. 186. 360 Martinez, Matias / Scheffel, Michael: Einführung in die Erzahltheorie, a.a.O., S. 80. 358 83 sich aber um ein erzählendes oder ein erzähltes bzw. erlebendes Ich handeln kann. Zum anderen ist es auch möglich, dass der Erzähler nicht zu den Figuren der erzählten Geschichte gehört und es die dritte Person dominiert. In dem ersten Fall sprechen Martinez und Scheffel von einem homodiegetischen Erzähler, im zweiten Fall dagegen von einem heterodiegetischen Erzähler. Den Spezialfall, in dem ein homodiegetischer Erzähler seine eigene Geschichte erzählt, bezeichnen Martinez und Scheffel als autodiegetisch. Im Fall von Himmelskörper handelt es sich um einen autodiegetischen Erzähler. Zwar treten im Buch andere Figuren auf, die für den Verlauf der Geschichte von Bedeutung sind und deren Vergangenheit teils auch rekonstruiert wird, der Fokus fällt aber auf die Erfahrungen von Freia, die als künftige Mutter sich als Element der Familie neu zu finden versucht: […] ich weiß auch nicht, woher meine Unruhe stammt … vielleicht ist es ein unbewusster Drang, zu wissen, in was für einen Zusammenhang, in was für ein Nest ich da mein Kind setze […] Plötzlich war ich ein Teil einer langen Kette, einer Verbindung, eines Konstrukts, das mir eigentlich immer suspekt gewesen war.361 Sie ist gleichzeitig ein erzählendes und erlebendes Ich. In zahlreichen Rückwendungen rekonstruiert sie als autodiegetischer Erzähler verschiedene Ereignisse aus ihrer Vergangenheit und verarbeitet die Geschichte der Familie, weil diese letztendlich auch ihre eigene Identität bestimmt. Da diese Unterscheidung von Martinez und Scheffel sich mit den verschiedenen Erzählebenen kombinieren lässt, kann man nach der Position der beiden Literaturwissenschaftler von vier Erzähltypen sprechen: - extradiegetisch-heterodiegetisch – Erzähler erster Stufe, der der erzählten Geschichte nicht angehört. - extradiegetisch-homodiegetisch – Erzähler erster Stufe, der seine eigene Geschichte erzählt. - intradiegetisch-heterodiegetisch – Erzähler zweiter Stufe, der in der erzählten Geschichte nicht vorkommt. 361 Dückers, Tanja: Himmelskörper, a.a.O., S. 26. 84 - intradiegetisch-homodiegetisch – Erzähler zweiter Stufe, der seine eigene Geschichte erzählt. Im Fall von Freia und ihrer Geschichte handelt es sich um einen Erzähler erster Stufe, der sich auf seine eigene Geschichte konzentriert. Wenn man aber die Erzählungen der Großeltern als eine Art der Binnenerzählungen betrachtet, kommt noch der Erzähler zweiter Stufe, der seine eigene Geschichte erzählt, in Frage. 3.4.5 Erzählanalyse nach Jürgen H. Petersen 3.4.5.1 Erzählform Nach der Position von Petersen lassen sich drei Erzählformen unterscheiden: Ich-Form, Er-Form und Du-Form362. Bei dieser Kategorie handelt es sich also um die Frage, wer als Erzähler die Geschichte erzählt. Im Fall von der Ich-Form berichtet der Erzähler von sich selbst, er tritt also sowohl als erzählendes Medium als auch als handelnde Person auf. Bei der Er-Form erzählt der Erzähler von Erlebnissen anderer Figuren. In der DuForm wird schließlich jemand (der Leser oder eine Figur) als Du angeredet. Im Fall des Romans Himmelskörper wird die Geschichte in der 1. Person Singular erzählt, das heißt in der Ich-Form, was schon am Beispiel der schon zitierten Textfragmente verdeutlicht worden ist. 3.4.5.2 Erzählverhalten Den Begriff Erzählverhalten benutzt Petersen anstelle der Kategorie der Erzählsituation von Stanzel. Petersen wirft Stanzel vor, dass er die Erzählform und das Verhalten des Erzählers innerhalb einer Erzählform nicht voneinander trennt, was eine detaillierte Textanalyse unmöglich macht.363. Petersen definiert das Erzählverhalten als das „Verhalten des Narrators zum Erzählten“ im Sinne einer Präsentation der Geschichte364 und unterscheidet zwischen dessen drei Formen: dem auktorialen, personalen und neutralen Erzählverhalten. Bei dem auktorialen Erzählverhalten geht es um diejenigen 362 Vgl. Petersen, Jürgen H.: Textinterpretation. In: Gutzen, Dieter / Oellers, Norbert / Petersen, Jürgen H.: Einführung in die neuere deutsche Literaturwissenschaft, a. a .O., S. 43-121 (hier S. 46). 363 Ebd., S. 49. 364 Zit nach: Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur, a.a.O., S. 35. 85 Passagen, „in denen sich der Erzähler selbst ins Spiel bringt und kommentierend, reflektierend, urteilend eingreift“365. Im Fall vom personalen Erzählverhalten tritt der Erzähler hinter die Figuren zurück und beobachtet die Welt mit ihren Augen. Das neutrale Erzählverhalten steht schließlich für diejenige Erzählweise, in der die Geschichte aus einer Distanz erzählt wird. Der Erzähler verhält sich in diesem Fall möglichst objektiv, verzichtet auf Wertungen. Bei Dückers tritt das personale Erzählverhalten auf. Der Erzähler wählt den Blickwinkel einer der Figuren und beobachtet die Welt mit ihren Augen. Petersen leugnet der These, dass personales Erzählverhalten beim Ich-Erzählen nicht vorkommen könne, denn der Ich-Erzähler berichte sowieso von sich selbst und daher könne nicht noch eigens hinter sich selbst zurücktreten, um seine eigene Optik zu wählen366. Petersen betont vielmehr, dass es zwischen dem erzählenden und erlebenden Ich zu unterscheiden ist und deshalb kann das erzählende Ich eine andere als seine augenblickliche Perspektive wählen und zwar in dem Fall, wenn er aus der Optik des erlebenden Ichs berichtet und dabei die Dinge so schildert, wie er sie damals wahrgenommen hat aber wahrscheinlich nicht mehr wahrnimmt. Im Roman Himmelskörper gibt es viele Fragmente, in denen der Erzähler die Perspektive des erlebenden Ichs wählt. Es handelt sich vor allem um diese Passagen, in denen Freia in ihren Erzählungen zu ihrer eigenen Kindheit und Jugend zurückkehrt. Wenn man aber dazu noch berücksichtigt, dass Paul und Freia erst nach zwei Jahren nach den letzten Ereignissen beschlossen haben, ein Buch darüber zu verfassen, kann die ganze Geschichte betrachtet werden, als wäre sie aus der Sehweise eines erlebenden Ichs erzählt. Daher sind in Freias Erzählung so viele Fragezeichen zu finden und deshalb stellt sie sich so viele Fragen. Ihr Blickwinkel ist begrenzt, als eine der Figuren kann sie nicht alles wissen. Das erzählende Ich kann mit der Freia aus dem letzten Kapitel identifiziert werden, die nach einiger Zeit die Ereignisse aus ihrem Leben ordnen und beschreiben will. In allen anderen Kapiteln wird die Optik des erlebenden Ichs gewählt, also die Perspektive von Freia, wie sie damals war, mit dem Wissen, das sie damals hatte. 3.4.5.3 Standort des Erzählers und die Erzählperspektive 365 366 Petersen, Jürgen H.: Textinterpretation, a. a .O., S. 49. Ebd., S. 50. 86 Den Standort des Erzählers (den point of view) definiert Petersen als das räumliche Verhältnis des Erzählers zu Figuren und Vorgängen367. Es handelt sich dabei um zwei Möglichkeiten: die olympische Position und ein begrenzter Blick. Die Erzählperspektive beantwortet die Frage, inwieweit der Erzähler in Gedanken und Gefühlen der Figuren blicken kann. Petersen spricht von der Erzählperspektive der Innensicht und Auβensicht. Der Standort des Erzählers ist im Fall von Himmelskörper ohne Zweifel begrenzt. In der Rolle des Erzählers tritt eine der Figuren auf, Ereignisse werden mit ihren Augen gesehen und aus ihrer Perspektive beschrieben. Dabei ist der Erzähler nicht im Stande, in Gedanken der anderen Figuren einzublicken. Als Beweis dafür kann ein Textfragment dienen, in dem Freia ihre Mutter beobachtet: Renate war während des Wortgefechts ans Fenster getreten und schaute unbeteiligt in die Dunkelheit. Wie oft hatte ich mich in solchen Momenten gefragt, was sie da draußen eigentlich sieht368. Es handelt sich bei diesem Textfragment um die Auβensicht. Der Erzähler kann nicht in Renates Gedanken und Gefühle hineinzublicken. Freia sieht die Mutter, die sich regelmäßig auf bestimmte Weise verhält, hat aber keine Kenntnisse über ihre innere Welt und ihre Motivation. Das betrifft auch andere Figuren. Nach einer Streit mit Wieland bemerkt Freia: […] wenn wir uns trafen, wirkte Wieland abgelenkt und verschlossen. Aber da er mir oft Plätzchen vom Bäcker mitbrachte oder selbstbespielte Kassetten, bekam ich das Gefühl, er hätte mir gegenüber ein schlechtes Gewissen369. Auch in diesem Fall kann man von der Auβensicht sprechen. Freia kann nur vermuten, dass das Verhalten ihres Freundes durch Gewissensbisse verursacht wird. Alles, was sie wahrnimmt, ist nur das Äußere der anderen Figuren. In die Gefühlswelt von Wieland hat sie keinen Zugang. 367 Vgl. ebd., S. 51. Dückers, Tanja: Himmelskörper, a.a.O., S. 54. 369 Ebd., S. 193. 368 87 3.4.5.4 Erzählhaltung Während die Kategorie des Standortes des Erzählers sich auf die räumliche Verhältnisse bezieht, wird mit der Erzählhaltung die innere wertende Einstellung des Erzählers dem Erzählten gegenüber. Je nach der Passage kann sie als kritisch, neutral, bejahend etc. bestimmt werden. In meisten Fällen ist die Erzählhaltung in Himmelskörper neutral. Freia schildert verschiedene Ereignisse aus ihrem Leben. Es gibt aber auch Fragmente, in denen sie das Geschehene bewusst bewertet. Im zehnten Kapitel wird eine Geschichte erzählt, in der Jo in den dreißiger Jahren, als sie einmal in einem Lebensmittelladen gewesen war, einem Jungen mit Judenstern eine Banane geben wollte, aber Angst hatte und deshalb tat sie das nicht. Freia kommentiert: Das Absurde an der Bananengeschichte war, dass Jo ihr Abwägen, ihren Wunsch zu helfen, ihre Unsicherheit und Angst jedes Mal derart dramatisch schilderte, dass man am Ende fast den Eindruck bekommen konnte, Jo hätte ein KZ befreit. Irgendwie gelang es ihr, das Unterlassen einer Handlung zur Heldentat zu stilisieren370. In diesem Fragment ist die Erzählhaltung kritisch. Freia bemerkt die Diskrepanz zwischen dem, was Jo wirklich getan hat, und dem, wie sie selbst ihr eigenes Verhalten wahrnimmt und schildert. Sofort reagiert sie auch auf die Worte ihres Großvaters, der Kuckucksbienen (Schmarotzerarten) mit Juden vergleicht („Für mich sind die Kuckucksbienen die Juden im Bienenvolk“). Freia berichtet: Paul und ich warfen uns einen langen erstaunten Blick zu. So hatte Großvater noch nie gesprochen, bei keinem der Kamin-Abende.371 Die zitierten Fragmente zeigen Distanz des Erzählers dem Erzählten gegenüber. . 3.4.6 Figuren und Figurenkonstellationen 370 371 Ebd., S. 105. Ebd., S. 187. 88 Literarische Figuren definiert Jürgen Link als „fiktive anthropomorphe Individuen“, deren Gedanken, Reden und Handlungen in literarischen Texten eine Rolle spielen372. Obwohl literarische Figuren aus Wörtern und Sätzen bestehen, also ihre materielle Existenz auf Druckerschwärze beschränkt ist, kommt es im Prozess des Lesens oft zu einer Identifikation des Rezipienten mit der Figur bzw. zu einer emotionalen Reaktion auf ihr Handeln. Jörn Stückrath erklärt diese suggestive Wirkung fiktiver Figuren einerseits dadurch, dass der Leser oft viel über ihr Innenleben weiß, andererseits aber dadurch, dass das Universum, innerhalb dessen sich die Figuren bewegen, von ihnen als real wahrgenommen wird, wodurch eine Illusion entsteht, dass es sich auch um reale Personen handelt373. Bei der Figurenkonstellation wird dagegen nach der Rolle einer Figur als Teil einer größeren Systems gefragt374. In Tanja Dückers’ Roman Himmelskörper wird der Leser mit Figuren konfrontiert, die drei Generationen einer und derselben Familie vertreten (Freias Tochter wird nicht mitgezählt). Die Geschichte der Familie zeigt deutlich, wie sehr die Vergangenheit bis in die Gegenwart hineinwirken kann, besonders wenn es sich um solche Ereignisse handelt, wie die Erfahrungen aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges. Im folgenden Unterkapitel wird in erster Linie danach gefragt, wie die einzelnen Generationen mit der im Familiengedächtnis bewahrten Vergangenheit umgehen und auf welche Weise sie ihre Identität aufbauen. 3.4.6.1 Generation der Zeitzeugen – Jo und Mäxchen Unter den wichtigsten Figuren im Roman sind eben Jo und Mäxchen Vertreter derjenigen Generation, die die Zeit des Krieges bewusst erlebt hat. Sie sind zuerst auch die einzigen Familienmitglieder, die von den damaligen Ereignissen mehr oder weniger gern erzählen. Mäxchens im Krieg verlorenes Bein wirkt wie ein „verkörperter Bezug zur Vergangenheit“375 und ruft bei den Enkeln Fragen sowie Vermutungen hervor. Nach 372 Link, Jürgen: Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe: eine programmierte Einführung auf strukturalistische Basis. München 1997, S. 232. 373 Stückrath, Jörn: Figur und Handlung. In: Brackert, Helmut/Stuckrath, Jörn (Hg.): Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs. Hamburg 1996 (4. Aufl.), S. 40-54 (hier S. 41). 374 Bachorz, Stephanie: Zur Analyse der Figuren. In: Wenzel, Peter (Hg.): Einführung in die Erzähltextanalyse. Kategorien, Modelle, Probleme. Trier 2004, S. 51-67 (hier S. 56). 375 Giesler, Birte: „Der Satz ‚ich erinnere mich nicht’ könnte zur Ausrede werden…“ Gender und Gedächtnis in Tanja Dückers’ Generationenroman Himmelskörper. In: FGS – Freiburger Geschlechterstudien, Jg. 12, Nr. 19 (2006): Erinnern und Geschlecht, Band I, S. 171- 201 (hier S. 175). 89 der Position von Birte Giesler verlor Mäxchen mit dem Bein auch seine soziale Männlichkeit376. In dem Buch heißt es: Als er unter Hitler in den Krieg zog, war er noch Maximilian. Später, als beinamputierter Mann, der völlig auf die Pflege meiner Großmutter angewiesen war, wurde er nach und nach erst Max, dann Mäxchen377. Mäxchens kindlich klingelnder Vorname weist also auf seine Position in der Ehe hin, die der eines Kindes entspricht: »Mäxchen, iss noch ein Wurstbrot, du hast ja heute Abend kaum etwas gegessen!« Unsere Großmutter beugte sich über den Esstisch […]. Sie schnitt eine Scheibe Vollkornbrot energisch in acht kleine Häppchen. Unser Großvater saß mit einem umgebundenen Lätzchen vor seinem Teller und sah ihr verdrießlich zu.378 Eben Mäxchen versucht aber als erster, die Neugier der Enkel auf den Krieg zu befriedigen, was bei Jo Ärger hervorruft. Im Laufe der Zeit ändert sich aber das Verhältnis der beider zur Vergangenheit. Mäxchen spricht nicht viel vom Krieg, Jo hingegen, die uns, als wir klein waren, vor Großvater Erzählungen schützen wollte, sprach später bei jeder sich bietenden Gelegenheit und schließlich, je älter und dementer sie wurde, immerfort über den Krieg.379 Nach der Position von Michael Braun wird im Fall der beiden eine Opposition zwischen „Geschichtsvergessenheit“ und „Geschichtsversessenheit“ deutlich: Als würde der Großvater zu wenig und die Großmutter zu viel Geschichte brauchen380. Nicht aber das ist von Bedeutung, wie viel von dem Krieg sie erzählen, sondern was sie erzählen. In ihren Darstellungen erscheint der Krieg als eine Katastrophe, die „irgendwann“ zu ihnen „herübergeweht“ geworden ist und das Leben der unschuldigen Menschen zunichte gemacht hat. Sowie Mäxchen als auch Johanna zeigen sich selbst in erster 376 Vgl. ebd. Dückers, Tanja: Himmelskörper, a.a.O., S. 48. 378 Ebd., s 49. 379 Ebd., S. 98. 380 Braun, Michael: Wem gehört die Geschichte? Günter Grass, Tanja Dückers, Uwe Timm und der Streit um die Erinnerung in der Gegenwartsliteratur. In: Das Parlament. Nr. 49 / 04.12.2006, unter: http://www.bundestag.de/dasparlament/2006/49/Panorama/001.html (Zugriff am 04.06.2010). 377 90 Linie als Opfer des Krieges. In den Erzählungen von Jo fällt der Fokus auf ihre Flucht aus Gotenhafen im Januar 1945. Immer wieder wird die Sehnsucht nach der zwangsweise verlassenen Heimat betont und das eigene Leiden exponiert. Auch Mäxchen, der von technischen Besonderheiten des militärischen Ausrüstung der deutschen Armee sachlich berichtet, zeigt sich bei personalen Erinnerungen an den Krieg als tief verletzter Mensch: Wenn er plötzlich über seine eigenen Erlebnisse sprach, dann nur äußerst gefühlsbetont. Er fluchte uns schimpfte, er schüttelte den Kopf, bohrte seinen Zeigefinger in die Luft, entwarf wirre Topographien im Wohnzimmer, trommelte auf die Tischplatte. Manchmal standen ihm auch die Tränen in den Augen. Und manchmal strich er über seine Prothese und sah Paul und mich, stellvertretend für diejenigen, die ihn in den Krieg geschickt hatten, vorwurfsvoll und unendlich traurig an.381 Beide neigen dabei zur Tendenz, die von Harald Welzer im Buch Opa war kein Nazi beschrieben worden ist. Deutlich werden in den Erzählungen der Großeltern die Deutschen und die Nazis als zwei verschiedene Gruppen dargestellt. Jo distanziert sich beispielsweise eindeutig von der damaligen, gegen Juden gerichteten Politik: Das war damals so eine Mode, aber ich hab das mit diesen Rassengesetzen nie recht verstanden. […] Das hat für mich die Nazis endgültig diskreditiert.382 Sich selber schildert sie als eine Person, die mit Juden sogar Mitleid hatte, wovon die schon erwähnte „Bananengeschichte“ zeugt. An einer anderen Stelle sagt sie mit voller Überzeugung: Freia, wir waren keine Nazis. Jede gewalttätige Ausschreitung haben wir abgelehnt. Grob, furchtbar fanden wir das. Vulgär. […] Unser Umfeld war treudeutsch, aber nicht nazideutsch. Das war ein großer Unterschied, müsst ihr wissen.383 381 Dückers, Tanja: Himmelskörper, a.a.O., S. 97. Ebd., S. 104. 383 Ebd., S. 126. 382 91 Interessant ist es, dass in ihrer Erzählungen dieselben Stereotype funktionieren, die von Welzer aufgrund der Interviews mit Familien beschrieben worden sind. So werden beispielsweise die Russen als die ‚Bösen’ mit Plünderungen, Vergewaltigungen und Mord assoziiert: Weiß du, wie der Russe in Ostpreußen gewütet hat? Leute in Kirchen gedrängt und erschossen, Frauen vergewaltigt, Kinder, das waren doch alles Unschuldige! Also der Russe hat heimtückisch Ostpreußen abgeriegelt […] und Millionen von Zivilisten gezwungen, die Flucht übers Meer anzutreten.384 In Jos Erinnerungen werden die Russen als „Bestien“385 dargestellt, die „ihr Königsberg“386 „in Schutt und Asche“387 gelegt haben. Sie ignoriert Renates Bemerkungen, dass die Deutschen dieselbe Verbrechen an anderen Menschen begangen haben wie die Russen und selbst die Verantwortung für die katastrophalen Folgen des Krieges tragen. Sie versteht die unmenschlichen Russen immer in der Opposition zu den unschuldigen Deutschen. Das Bild eines rücksichtslosen Russen, dessen Opfer die deutsche Zivilbevölkerung war, ist hier charakteristisch. Nie wird auch von anderen Nationen als Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft gesprochen, was den antagonistischen Modus kennzeichnet. Auch in Bezug auf die Polen bedienen sich die Großeltern der Stereotype, obwohl sie selbst einen polnisch klingenden Familiennamen „Bonitzky“ tragen. Sie sprechen beispielsweise von der „Polen-Wirtschaft“388. Konsequent wollen sie den von den Nazis geschaffenen Ortsnamen „Gotenhafen“ nicht aufgeben, obwohl Gdynia als polnische Stadt entstanden ist, und eben zuerst die polnische Bevölkerung von den Nazis aus ihr vertrieben worden war. Wie Jens Stüben bemerkt, hatten sie deswegen überhaupt kein Recht auf ihre Heimat, denn der „Aufstieg“ der Familie (Umzug nach Gotenhafen) ging auf Kosten der Polen389. Man könnte fragen, was verursacht hat, dass Jo und Mäxchen in ihren Erzählungen aus der Kriegszeit vor allem die zum Mitleid bewegende Erinnerungen betont und ihre eigene Verwicklung in die Nazi-Ideologie verschwiegen haben. Ewelina Kamińska 384 Ebd., S. 128. Ebd., S. 106. 386 Ebd. 387 Ebd., S. 100. 388 Ebd., S. 155. 389 Stüben, Jens: Erfragte Erinnerung – entsorgte Familiengeschichte, a.a.O., S. 176. 385 92 zählt eine Reihe von Verdrängungsmechanismen auf, die ihres Erachtens in dem Verhalten der beiden Personen zu beobachten sind: „es wird dem Verlorenen (Bein, Jugend) nachgegangen; die zu bewältigende Schuldlast wird als Gefühlsstarre, Derealisierung oder als Ungeschehenmachen ferngehalten; das frühere Verhalten wird quasi rational erklärt oder mit eigener Unwissenheit gerechtfertigt“390. Noch kurz vor dem Lebensende lassen sich die Großeltern in einem anderen Licht sehen. Als erster macht das Mäxchen, der sich in seinen Reflexionen über Bienenzucht (ein Bienenhaus hat er von einem Nachbarn nach dessen Tod übernommen) mit eigener Weltanschauung verrät: Der Mensch […] sollte sich ein Vorbild an den Bienen nehmen. Sie stechen jeden fremden ab.391 Hierarchie und Ordnung seien die »zentralen Säulen«, auf denen der Bienenstaat seinen Erfolg aufbaute. Nie würde eine Biene die ihr zugewiesene Aufgabe ablehnen […], nie würden »Klassenschranken« durchbrochen werden.392 Innerhalb dieses „perfekten Systems“ gibt es Arbeiterinnen, die „ihren Teil zum Gelingen des Ganzen [beitragen]“ und eine Königin, nach deren Tod alles „auseinander bricht“ und Staat zerfällt. Mäxchens Bemerkung Das Volk braucht einen Führer. Aber nur einen.393 Verursacht, dass die Konnotationen mit Hitlers nationalsozialistischem Staat noch eindeutiger sind. In weiteren Textfragmenten vergleicht der todkranke Mäxchen die Kuckucksbienen mit Juden, die sich an den Grundlagen [bereichern], die andere Völker für sie geschaffen haben. Nutznießerisch. Berechnend. Aber eine starke Bienenkönigin […] lässt die Kuckucksbienen natürlich verjagen. Kamińska, Ewelina: Die ‚nötige historische Distanz’ der Enkelgeneration. Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper“ (2003). In: Gansel, Carsten / Zimniak, Paweł (Hg.): Das „Prinzip Erinnerung“ in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989. Göttingen 2010, S. 149-160 (hier S. 153). 391 Dückers, Tanja: Himmelskörper, a.a.O., S. 183. 392 Ebd., S. 182. 393 Ebd., S. 183. 390 93 Auch die demente Jo lässt sich am Ende ihres Lebens als Parteimitglieder erkennen. Erst der Tod der beiden bringt aber die ganze Wahrheit ans Tageslicht. Die von Freia bei der Wohnungsauflösung entdeckten Gegenstände sind mehr als bloße Relikte der Vergangenheit. Eindeutig weisen sie auf damalige Einstellungen und Werthaltungen der Großeltern hin, auf ihre Faszination über Hitler und nationalsozialistische Ideologie. Zusätzlich erfährt Freia von Renate, dass die Großeltern „zu Hause Strichlisten über die Nachbarn geführt haben“394. Es entsteht eine Diskrepanz zwischen dem, wie sich Jo und Mäxchen selber dargestellt haben und wer sie wirklich gewesen sind. Zum einen haben sie die Vergangenheit bewusst verschwiegen, als ob sie sich von ihr trennen möchten. Zum anderen haben sie aber die „Erinnerungsstücke“395 aus der eigener NaziVergangenheit jahrelang aufbewahrt, also für aufbewahrenswert gehalten, beispielsweise das Buch Mein Kampf, nachdem sie es noch Anfang ‚45 vielen anderen Büchern vorgezogen und auf die Flucht mitgenommen [hatten]396 obwohl Jo berührt erzählt hat, dass sie bei dem Hausverlassen, fast alles habe dalassen müssen. Anstelle der Opferrolle tritt in diesem Moment die Schuldfrage auf. Mit ihren „Privilegien“ und ihrer Nazi-Verstrickung können Jo und Mäxchen nicht mehr als passive Leidende wahrgenommen werden. Eindeutig richtet sich Dückers gegen den „Mythos vom verleugneten Leiden unschuldiger deutscher Ostflüchtlinge“ 397. Am Beispiel von Freias Großeltern zeigt sie, dass sich unter diesen Flüchtlingen und Vertriebenen auch politisch agierende Parteimitglieder befunden haben, die Hitler mit voller Überzeugung verehrt haben und deshalb moralische Verantwortung für die Folgen des Krieges tragen. Bewusst spricht die Autorin die Bonitzkys am Ende des Buches nicht frei: „das sind eben keine verkappten Widerstandskämpfer gewesen, sondern die waren richtig dabei und haben es nicht mal bereut“398. 3.4.6.2 Generation der Kinder – Peter und Renate 394 Dückers, Tanja: Himmelskörper, a.a.O., S. 251. Ebd., S. 57. 396 Ebd., S. 262. 397 Baier, Lothar: Über den Wolken. In der Luft. Tanja Dückers’ neuer Roman „Himmelskörper“. In: Freitag. Die Ost-West-Wochenzeitung, Nr. 35, 22.03.2003, S. 14. 398 Tanja Dückers im Gespräch . Hahn, Anne Kathrin: Nicht mal bereut, a..a.O. 395 94 Freias Eltern sind Vertreter der Generation der ‚Achtundsechziger’. Sie bilden keine besonders glückliche und gelungene Ehe. Der Vater trifft sich mit anderen Frauen und erzählt den Kindern, dass es Elfen seien. Anders als in der Ehe der Großeltern, dominiert in diesem Paar Peter und eben er hat den größeren Einfluss auf die kleinen Paul und Freia, die von den von ihm erzählten Geschichten begeistert sind. Über ihre Eltern äußert sich Freia in Oppositionen: [Renate] glaubte immer, etwas nicht zu können399. Paul und ich verstanden nicht, dass Peter irgend etwas nicht konnte400. Peter stand im Mittelpunkt der Familie, Renate war dagegen „langweilig“, „still“, hatte „ein enormes Talent im Nicht-Anwesend-Sein“, während der Vater „gar nicht anders [konnte], als mit zerlesenen Zeitungen, zerknüllten Pfefferminzbonbontütchen und natürlich einer zum Schneiden dicken Luft Spuren zu hinterlassen“401. Freia konstatiert: Wie oft hatte ich am Abendbrottisch neben ihr [der Mutter] gesessen und nicht gewusst, worüber ich mich mit ihr unterhalten sollte. Wie oft habe ich sie beim Abwaschen allein gelassen, weil sie mich gelangweilt hatte und ich mir lieber von Peter auf dem Sofa etwas über Waldgeister erzählen ließ.402 Die zitierten Beispiele zeigen deutlich, dass die Kinder mehr Respekt gegenüber dem Vater als der Mutter hatten. Auch als erwachsene Person fühlt sich Freia in Anwesenheit ihrer Mutter unsicher, distanziert. In Bezug auf das Thema ‚Nazi-Zeit’ und ‚Zweiter Weltkrieg’ verhalten sich die beiden Elternteile auch anders. Peter will über den Krieg überhaupt nicht sprechen, weil weder er noch seine Familie einen Schaden in damaliger Zeit erlitten hat. Aus dieser Grund wird er auch von Bonitzkys als „Günstling des Schicksals oder auch einfach ein Weichei […] der über die wirklich wichtigen Dinge im Leben besser zu schweigen hätte“403. Im Gegensatz zu ihm schaltet sich Renate in Gespräche über den Krieg ein. Die in der Regel stille Frau weist das sachliche Wissen über damalige Zeiten vor („Sie schien dennoch die einzige zu sein, die sich für 399 Dückers, Tanja: Himmelskörper, a.a.O., S. 10. Ebd., S. 11. 401 Ebd., S. 15. 402 Ebd., S. 18-19. 403 Ebd., S. 96. 400 95 Publikationen über den Krieg interessierte“.404), kritisiert die Verbrechen der Nazis, macht ihren eigenen Eltern Vorwürfe, tritt in Opposition zu ihnen („Sprich bitte nicht immer von » Gotenhafen «, Jo. Das hieß früher und heißt jetzt wieder Gdingen, oder, auf polnisch, Gdynia“.405), wird aber von beiden Bonitzkys jedes Mal als inkompetent unterbrochen und ignoriert („[sie] meinten, dieses oder jenes Detail hätte sie aber nun vollkommen falsch wiedergegeben“406), so dass sie letzten Endes auch immer „resigniert“ verstummt und „Jo weiterreden [lässt]“407. Erst wenn Renates Rolle in der Flucht aus Ostpreußen erklärt wird, beginnt Freia sowohl das Verhalten als auch das Interesse ihrer Mutter an Publikationen über den Krieg und über die »Gustloff« zu verstehen. Sie weiß so viel über dieses Schiff, weil sie später, durch starke Gewissensbisse, den kleinen Rudi, dessen Mutter sie als fünfjähriges Kind denunziert hat und der aus diesem Grund auf die »Gustloff« kam, unter den Überlebenden gesucht hat. Identisch wie Johanna pflegt Renate Erinnerungen an die Vergangenheit, was sich am Beispiel ihrer „Sammelwut“408 beobachten lässt. Sie verwahrt alles, was sie mit anderen Familienmitgliedern assoziiert: alte Kostüme der Kinder, Freias Zöpfe, Peters Zigarettenstummel, Pauls Zeichnungen, sogar das künstliche Gebiss von Jo mit der Begründung: […] das sind für mich Erinnerungen, Erinnerungen an ihr Lächeln, an früher, und ich kann das nicht einfach wegwerfen.409 Am stärksten wirken aber die mit dem Bücherwissen ergänzte, fast das ganze Leben lang unausgesprochene Erinnerungen an die Flucht. Renate ist nicht im Stande, sich selbst als Heldin oder Lebensretterin wahrzunehmen, zu der sie von anderen, älteren Familiemitgliedern stilisiert wird. Vielmehr sieht sie sich als Täterin oder „Komplizin der Täter“410, die die anderen durch ihre Denunziation in den Tod geschickt hat und dieses Schuldgefühl, das von ihren Eltern niemals empfunden wurde, kann sie oder sogar will sie ihr Leben lang nicht überwinden: 404 Ebd., S. 98. Ebd., S. 124. 406 Ebd., S., 98. 407 Ebd., S. 98. 408 Ebd., S. 73. 409 Ebd., S. 284. 410 Stüben, Jens: Erfragte Erinnerung – entsorgte Familiengeschichte, a.a.O., S. 177. 405 96 Manchmal frage ich mich nur, welche Lebensberechtigung ich eigentlich noch habe, wenn schon jemand [Kazimierz], der nur Opfer war, sich später umbringt …411 Sie lebt in einer permanenten Angst vor Schiffen: Schon wenn ich nur das Wort »Schiff« denke, meine ich, dass der liebe Gott, wenn ich es je wagen sollte, einen Fuß auf so ein Ding zu setzen, mich gleich bestrafen würde!412 Nach der Position von Jens Stüben, leidet Renate „unter der Last der archivierten Erinnerungen“413 von denen sie dominiert, sogar „erdrückt“414 wird. Die Reise nach Gdingen soll therapeutisch wirken, die wirkliche Befreiung von dieser Erdrückung findet Renate aber erst im Freitod: bevor sie sich umbringt, räumt sie Schränke aus, wirft alle Erinnerungsstücke weg. Dückers stellt eine These auf, dass eben die Generation in der Mitte, die 68erGeneration die Gefährdeteste sei, weil ihre Vertreter „eigentlich auch stark involviert sind, aber weder so verdrängen können, noch so einen Abstand haben“415, wie die Großeltern, die radikal verdrängen und „sich ihre immer gleichen rituellen Legenden erzählen“ und die Kinder, die „einfach genug historische Distanz haben, um sich das anzueignen, ohne daran zu zerbrechen“416. Kazimierz und Renate begehen Suizid, weil sie als Vertreter der Mittelgeneration „zu nahe dran sind“ und sich mit ihrem historischen Bewusstsein sowie mit eigenem Involviertsein nicht zurechtfinden können. Sie als die Verstrickte417 und er als Mensch, der die Kindheit im zerbombten, entvölkerten Warschau verbracht hatte. Renates Schuld- und Verantwortungsgefühl sowie ihr Selbstmord schockieren besonders in der Gegenüberstellung zu ewigen Klagen ihrer Eltern, die sich als ausschließlich Opfer des Krieges und nicht als Täter 411 Dückers, Tanja: Himmelskörper, a.a.O., S. 303. Ebd., S. 300. 413 Stüben, Jens: Erfragte Erinnerung – entsorgte Familiengeschichte, a.a.O., S. 178-179. 414 Ebd. S. 179. 415 Tanja Dückers im Gespräch . Hahn, Anne Kathrin: Nicht mal bereut, a..a.O. 416 Ebd. 417 Vgl. Dückers, Tanja: Himmelskörper, a.a.O. S. 300. 412 97 wahrnehmen. Sie stirbt als eine Person, die man am wenigsten für schuldig hält. „Unschuldig schuldig geworden“418 ist sie. 3.4.6.3 Generation der Enkel – Freia und Paul Freia und ihr Zwillingsbruder Paul wuchsen in Westberlin auf. Da das Haus ihrer Eltern am Stadtrand, mit Wald und einem Teich in der Nähe, gelegen war, lebten die Kinder von Anfang an dicht an der Natur, was einerseits ihre Phantasie entwickelt, andererseits aber auch ihre Zukunft beeinflusst hat („Wir legten uns hin, schauten zwischen den gezackten Farnblättern in den Himmel. Dort, auf »unserer« Insel muss meine Liebe für Wolken begonnen haben.“419). Im Buch wird grundsätzlich der Reifungsprozess von Freia und Paul dargestellt – von der glücklichen, „idyllischen“420 Kindheit, durch die typischen Probleme des Jugendalters (jugendliche Auflehnung, erste Liebe, Suche nach eigener Identität), bis zum Erwachsenwerden. Obwohl beide Personen eine tiefe Bindung aneinander haben, sind sie vom Charakter her zwei verschiedene Typen. Paul ist ein Künstler, Freia dagegen eine Naturwissenschaftlerin. Die ergänzen sich, funktionieren gut zusammen. Mit Absicht hat die Autorin beide Figuren so geschaffen: Sie habe „den Zugang zur Geschichte in zwei Facetten spalten“ wollen, den rational wissenschaftlichen und den irrational künstlerischen421. Informationen über den Zweiten Weltkrieg beziehen Freia und Paul als Personen, die diese Ereignisse selbst nicht erlebt haben, in erster Linie aus zwei Quellen: aus der eigenen Familie und aus der Schule. Die erste Konfrontation mit Filmen, die das Schrecken des Krieges dokumentierten („Leichen, ausgemergelt und nackt, […] brennende Häuser, […] zitternde Menschen, […] Explosionen, […] Gaskammern […]“) verdeutlicht die Diskrepanz zwischen dem, was in der Familie erzählt wurde und dem, wie die Geschichte institutionell vermittelt wird: Stüben, Jens: Erfragte Erinnerung – entsorgte Familiengeschichte, a.a.O., S. 177. Dückers, Tanja: Himmelskörper, a.a.O. S. 51 420 Tanja Dückers im Gespräch. Partouche, Rebecca: Der nüchterne Blick der Enkel, a.a.O. 421 Tanja Dückers im Gespräch. Hahn, Anne Kathrin: Nicht mal bereut, a.a.O. 418 419 98 Die Bilder, die wir nach Großvaters seltsamem Monolog über »Russland« in dem dunklen Gewölbe zu sehen bekamen, das sich Grundschule nannte, waren unfassbar, sie schienen aus einer anderen Welt zu stammen422. Es muss betont werden, dass Freia und Paul, anders als die Vertreter der ersten und zweiten Generation, auf das Wissen über den Zweiten Weltkrieg grundsätzlich nicht emotional reagieren – zwar kennen sie „das exakte Datum der Reichkristallnacht“, halten aber sie selbst bloß für „ein schönes Wort“ („ich dachte dabei an Schneeblumen am Fenster“). Die Informationen über Nationalsozialismus werden neben den anderen „gepaukt“423, so dass alles fast verschmelzt: Hitlers Aufstieg und Fall schienen uns so logisch und naturgegeben wie die Fälle der lateinischen Substantive, die uns ebenso quälten wie die Sprünge seiner Laufbahn. Die Fülle all der Informationen hilft aber den Zwillingen nicht, den Krieg mit seinen Ursachen, Wirkungen und Nebenerscheinungen zu begreifen. Verschiedene Zusammenhänge bleiben für sie unverständlich: Warum jemand, der arbeitslos und durch Landverlust »geknechtet« ist, plötzlich Lust auf Massenerschießungen bekommt, anstatt mit seiner Geliebten in meinetwegen etwas zerschlissener Kleidung spazieren zu gehen, erhellte sich Paul und mir nicht […].424 Diese Situation vertieft zusätzlich die Tatsache, dass Freia und Paul im Familienkreis anstatt ermuntert weiterzufragen, für „unmündig“425 erklärt und auch ignoriert werden, als hätten sie kein Recht, Fragen zu stellen, nur weil sie den Krieg selbst nicht erlebt haben. Sie begreifen die Zeit des Nationalsozialismus nicht, können aber gleichzeitig niemanden befragen, oder „verantwortlich machen für die seltsamen, schrecklichen Dinge, die damals geschehen waren“426. 422 Dückers, Tanja: Himmelskörper, a.a.O., S. 92. Ebd., S. 95. 424 Ebd., S. 95. 425 Ebd. 426 Ebd., S. 96. 423 99 Wie im Fall von Untersuchungen, die im Buch Opa war kein Nazi beschrieben worden sind, existieren auch im Geschichtsbewusstsein der Zwillinge zwei Dimensionen – die erste kognitive, die mit Fakten über Verbrechen und Vernichtung bebildert ist, und die zweite emotionale, zu der die persönlichen Erzählungen von Großeltern mit ihrem Heldentum, ihrem Leiden und Verlust gehören. Da in der Familie andere Bilder von der nationalsozialistischen Vergangenheit vermittelt werden, als in der Schule, werden die Großeltern automatisch aus dem Verdächtigtenkreis ausgeschlossen. Deshalb fällt es Freia so schwer, Jo und Mäxchen als eifrige Nationalsozialisten wahrzunehmen: […] nie wäre mir früher in den Sinn gekommen, Mäxchen und Jo als Nazis zu bezeichnen. Mein Großvater mit seiner Prothese und seinem wunden Stumpf hatte bei uns seit jeher uneingeschränkte Liebe und Zuneigung erhalten, und wenn Jo von der »glücklichsten Zeit ihres Lebens« berichtete, wirkte sie mädchenhaft-naiv. Oft Erzähltes wie »Die berühmte Bananengeschichte« ließen sie zwar nicht heldenhaft, aber doch mitfühlend erscheinen. Und wenn Großvater erregt von Messerschmitts, der Flakabwehr, der Hauptkampflinie und Ähnlichem sprach, dachten Paul und ich: So sprechen alte Männer wohl vom Krieg427. Die Entdeckung in der Bonitzkys Wohnung führt bei Freia zu einem inneren Konflikt: Waren Jo und Mäxchen Opfer oder waren sie Täter. Waren sie liebende Großeltern, so wie sie Freia ihr ganzes Lebens lang erfahren hat, oder waren sie Nazis, wie sich das aus den Dokumenten ergibt: Wie konnte ich die vielleicht gelegentlich etwas barsche Großmutter, die seit ich denken konnte, alle Ferien mit uns verbracht hatte, mit der Frau in Verbindung bringen, die Göring eine Gratulationskarte schrieb und die die Gesichter ihrer Mitmenschen auf edle und unedle Züge untersucht hatte, auch wenn sie später vorgab, dass diese Dinge die Nazis »diskreditiert« hätten?428 Wie es schon gesagt worden ist, bemerktm Harald Welzer einen bedeutsamen Unterschied zwischen den realen Familiengesprächen und dem, wie sich Freia letzten Endes verhält. Während die Enkel gewöhnlich dazu neigen, von der Verstrickung der eigenen Großeltern in das NS-System nichts zu erfahren, gelingt es Freia, eine gewisse 427 428 Ebd., S. 263. Ebd., S. 268. 100 Distanz zu ihrem Großvater und ihrer Großmutter zu gewinnen429. Im ersten Moment erlebt Freia eine Krise. Ähnlich wie Renate, die ihre Lebensberechtigung bezweifelt, fühlt sie sich schuldig: In den nächsten Tagen fürchtete ich, mein Kind zu verlieren. Wenn ich nachts im Bett lag und grübelte, legte ich eine Hand auf meinen Bauch, und er kam mir fremder vor als je. Vielleicht schien es mir ungerecht, dass ich, nachdem ich von all den Toten und dem perfiden Gluck meiner Familie gehört hatte, Leben gebären würde.430 Dann aber versucht sie, mit der schwierigen Vergangenheit der eigenen Familie zurechtzukommen. Freia geht den kontroversen Fundstücken auf den Grund, schlägt in Geschichtsbüchern und Lexika nach, erzählt von ihnen ihrem Bruder und Paul verwandelt diese Geschichten in Zeichnungen und Gemälde. Dann kann Freia die sie belastenden Gegenstände erleichtert wegwerfen. Auf diese Weise geht sie mit der fragwürdigen Vergangenheit um: Sie eignet sich diese intellektuell an, um sich dann davon zu trennen431 und diesen Prozess bezeichnet sie als „Transformationsarbeit“432. Es handelt sich dabei darum, den Dingen ihren Status zu nehmen, sie zu entmaterialisieren und zu vernichten, weil sie als der „Müll“433 nicht dessen wert sind, weiter aufbewahrt zu werden. Da aber die Vergangenheit, besonders von solchen Ereignissen wie der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg, nicht vergessen werden soll, entscheiden sich die Zwillinge, diese Geschichte im Wort festzuhalten, also ein Buch darüber zu schreiben, aber „bloß kein Tagebuch, nicht so mit Datum und Chronologiezwang, eher ein bisschen märchenhaft …“434. Auf diese Weise bleibt nach der Position von Jens Stüben „die Essenz des Familiengedächtnisses“ bewahrt, ohne dass man sich von ihr erdrückt und mit ihr unaufhörlich konfrontiert füllen muss435. Die von Freia und Paul verfassten Himmelskörper überliefern als Erinnerungsbuch das Geschehene, lassen sich aber dabei beliebig zuklappen und wieder öffnen436. 429 Welzer, Harald: Schön unscharf. Über die Konjunktur der Familien- und Generationenromane. In: Mittelweg 36 (2004), H. 1 (Beilage: Literatur), S. 53-64 (hier S. 62). 430 Dückers, Tanja: Himmelskörper, a.a.O., S. 253-254. 431 Tanja Dückers im Gespräch. Hahn, Anne Kathrin: Nicht mal bereut, a..a.O. 432 Dückers, Tanja: Himmelskörper, a.a.O., S. 56. 433 Ebd., S. 272. 434 Ebd., S. 273. 435 Stüben, Jens: Erfragte Erinnerung – entsorgte Familiengeschichte, a.a.O., S. 180. 436 Ebd. 101 3.4.7 Raumdarstellung Literarische Raumdarstellung wird im Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie als ein „Oberbegriff für die Konzeption, Struktur und Präsentation der Gesamtheit von Schauplätzen, Landschaft, Naturerscheinungen und Gegenständen“437 in Erzähltexten definiert. Wichtig ist es aber zu betonen, dass der Raum nicht nur eine Hintergrundfolie für die Figuren und für die Entwicklung der Handlung ist 438, sondern auch die Stimmung und Atmosphäre in dem Text erzeugt. Nach der Position von Elisabeth Ströker lassen sich drei Ausprägungen des Raumes unterscheiden439: - Gestimmter bzw. atmosphärischer Raum – es handelt sich um einen Raum, in dem eine Atmosphäre, eine besondere Stimmung herrscht. Diese können dabei durch verschiedene Faktoren beeinflusst werden – wie Assoziationen, die der Raum auslöst, oder Situationen, in denen sich der Wahrnehmende befindet440. Der Raum als gestimmter Raum existiert nur subjektiv. - Aktionsraum – ist ein Raum der Bewegung. Hier werden die Handlungen der Figuren realisiert. Durch Handlung des Subjekts kann der Aktionsraum verändert werden. - Anschauungsraum – in dieser Raumstruktur spielt das Sehen die entscheidende Rolle. Von Bedeutung ist hier alles, was die Figur sieht. Der Anschauungsraum ‚zeigt sich’ dem Subjekt. Birgit Haupt macht darauf aufmerksam, dass es sich bei gestimmtem Raum, Aktionsraum und Anschauungsraum nicht um drei voneinander getrennte Räume handelt. Die unterschiedlichen Wahrnehmungsformen kommen in der Praxis meistens zusammen vor, weil Fühlen, Handeln und Sehen in der Regel gleichzeitig stattfindende Vgl. Nünning, Ansgar (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen Grundbegriffe. Stuttgart 2001, S. 536. 438 Vgl. Haupt, Birgit: Zur Analyse des Raums. In: Wenzel, Peter (Hg.): Einführung in die Erzähltextanalyse. Kategorien, Modelle, Probleme, a.a.O., S. 69-87. 439 Ebd. 440 Ebd., S. 70. 437 102 Prozesse sind441. Nach der Position von Carsten Gansel können Räume auch vorkommen als442: - Geographisch-physikalische Schauplätze (wie Stadt oder Zimmer) zu einer bestimmten Tageszeit (z.B. in der Nacht) oder bei einem bestimmten Wetter (wie Sturm oder Kälte); - Bestimmte soziale Milieus (soziale Gruppen, Familie); - Bestimmte Gesellschaften oder Epochen mit entsprechenden Normen und Werten (DDR, NS-Zeit) - Fremde unbekannte Orte, die erkundet werden müssen. Gansel betont, dass atmosphärisch gestimmte Räume auch eine symbolische Bedeutung erlangen können, wodurch sie zu Bedeutungsräumen werden. Das geschieht aber nur dann, wenn „der dargestellte Raum von übergreifenden symbolischen Belang für die Erzählung insgesamt ist“443. 3.4.7.1 Lotmans Raumsemantik In seinem Buch Die Struktur literarischer Texte444 beschäftigte sich Jurij M. Lotman mit dem Problem des künstlerischen Raumes. Den Begriff ‚Raum’ definierte er in Anlehnung an A.D. Aleksandrov als „die Gesamtheit homogener Objekte (Erscheinungen, Zustände, Funktionen, Figuren, Werte von Variablen u. dgl.), zwischen denen Relationen bestehen, die den gewöhnlichen Relationen gleichen (Ununterbrochenheit, Abstand u. dgl)“445. Lotman bemerkt in seinem Text, dass „für den Menschen in der Mehrzahl der Fälle die Denotate verbaler Zeichen irgendwelche räumlichen, sichtbaren Objekte sind“446, was zu einer für den Menschen spezifischen Rezeption verbalisierter Modelle führt. Sogar die im höchsten Grade verallgemeinernde Begriffe wie etwa ‚alles’ oder ‚Unbegrenztheit’ haben für die Mehrheit von uns einen räumlichen Charakter. So werden Begriffe, die nicht räumlicher Natur sind, in räumlichen Modellen dargestellt. Die Wirklichkeit wird mittels der „Sprache räumlicher 441 Ebd., S 71. Vgl. Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur, a.a.O., S. 41. 443 Ebd. 444 Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte. München 1972. 445 Ebd. S. 312. 446 Ebd. S. 312 442 103 Relationen“447 gedeutet, was bedeutet, dass man den Begriffsoppositionen wie ‚hoch – niedrig’ oder ‚nah – fern’ eine Bedeutung ‚wertvoll – wertlos’ und ‚eigen – fremd’ zuschreibt448. In seinem Buch schreibt Lotman: Wir lösen abstrakte Probleme mit Hilfe räumlicher Vorstellungen, die wir in Gedanken drehen und wenden können. Wir benutzen räumliche Gedächtnisstützen, um uns eine Folge wichtiger Gedanken in Erinnerung zu rufen. In mündlicher und schriftlicher Kommunikation verwenden wir räumliche Bilder und Metaphern. Wir haben Tagträume und Phantasien über reale und imaginäre Orte449. Nach der Position von Lotman werden alle kulturellen Modelle der menschlichen Welt mit solchen räumlichen Charakteristiken ausgestattet, also topologisch strukturiert, „sei es in Form der Gegenüberstellung ‚Himmel – Erde‘ oder ‚Erde – Unterwelt‘ […], sei es in Form einer sozial-politischen Hierarchie mit der zentralen Opposition der ‚Oberen – Niederen‘, sei es in Form einer ethischen Merkmalhaltigkeit in der Opposition ‚rechts – links‘“450. Raummodelle, so Lotman, werden damit zu einem Organisationsprinzip für den Aufbau eines ‚Weltbildes’, dass heißt eines ideologischen Modells, das für die jeweilige Kultur charakteristisch ist451. In den literarischen Texten haben wir dagegen mit der Semantisierung des Raumes zu tun. Die topologisch strukturierte Ordnung der Welt macht in dem Modell Lotmans gerade die räumliche Ordnung zentral für die Bedeutungskonstituierung von narrativen Texten452. Die Erwägungen Lotmans zum Raum müssen an dieser Stelle um seine Konzeption der Sujets ergänzt werden. Als ‚Sujet’ bezeichnete Lotman, anders als Tomaševskij, die globale Struktur der Handlung. Ein Sujet setzt sich im Sinne Lotmans aus drei Elementen zusammen, zu denen gehören: 1. ein semantisches Feld [i.e. eine erzählte Welt], das in zwei komplementäre Untermengen aufgeteilt ist; 2. eine Grenze zwischen diesen Untermengen, die unter normalen Bedingungen impermeabel ist, im vorliegenden Fall jedoch (der sujethaftige Text spricht immer von einem vorliegendem Fall) sich für den die 447 Ebd. 313 Vgl. ebd. S. 313 449 Ebd. S. 329. 450 Vgl. Martinez, Matias / Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, a.a.O., S. 143. 451 Vgl. Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte, a.a.O., S. 313. 452 Vgl. Martinez, Matias / Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, a.a.O. S. 143. 448 104 Handlung tragenden Helden als permeabel erweist; 3. der die Handlung tragende Held453. Ein Sujet entsteht, wenn die Figur die Grenze zwischen den komplementären Teilräumen überschreitet. Der komplementäre Gegensatz der Teilraume entfaltet sich dagegen auf drei Ebenen454. Die erste Ebene bildet der topologische Raum, der in der erzählten Welt durch Oppositionen wie ‚innen vs. außen’ oder ‚hoch vs. tief’ differenziert wird. Auf der zweiten Ebene werden diese topologischen Oppositionen mit ursprünglich nicht-topologischen semantischen Gegensatzpaaren verbunden, wobei diese Gegensatzpaaren wertend sind, wie ‚natürlich vs. künstlich’ und ‚gut vs. böse’. Auf der dritten Ebene wird die semantisch aufgeladene topologische Ordnung durch topographische Ordnung der erzählten Welt konkretisiert, wie ‚Stadt vs. Wald’, ‚Himmel vs. Hölle’. Die Raumdarstellung wird somit zu einer „Sprache, die die anderen, nichträumlichen Relationen des Textes ausdrückt“. Die räumliche Ordnung ist in der erzählten Welt ein organisierendes Element, „um das herum auch die nichträumlichen Charakteristika aufgebaut werden“. Als Beispiel solchen Prozesses nennt Lotman den Raum in Göttlicher Komödie von Dante Alighieri. Strukturiert wird hier der Raum topologisch durch das Gegensatzpaar ‚oben vs. unten’, semantisch durch den Gegensatz von ‚gut vs. böse’, topographisch durch die Achse, die sich zwischen den beiden am weitesten voneinander entfernten Punkten des Weltalls ausdehnt, das heißt zwischen der Hölle im Mittelpunkt der Erde mit dem Sitz Luzifers und der obersten Himmelssphäre mit dem Sitz Gottes455. In dem Werk unternimmt der IchErzähler eine Reise durch die drei Regionen, die normalerweise durch undurchlässige Grenzen voneinander getrennt sind: Hölle, Läuterungsberg und Himmel. Die Grenze wird „zu einem wichtigsten topologischen Merkmal des Raumes. […] Sie teilt den Raum in zwei disjunkte Teilräume. Ihre wichtigste Eigenschaft ist ihre Unüberschreitbarkeit. […] Die Grenze, die den Raum teilt, muss unüberwindlich sein und die innere Struktur der beiden Teile verschieden“456. Die Überschreitung von solchen Grenzen ist für Lotman ein notwendiges Merkmal von sujethaltigen, also narrativen Texten, die er von den sujetlosen Texten unterscheidet, das heißt solchen, die einen deutlich klassifikatorischen Charakter haben, keine Grenzüberschreitung 453 Lotman, Jurij M.: Die Struktur des künstlerischen Textes. Frankfurt (M.) 1973, S. 360. Vgl. Martinez, Matias / Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, a.a.O., S.140-141. 455 Vgl. Martinez, Matias / Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, a.a.O., S.143. 456 Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte, a.a.O., S. 327. 454 105 aufweisen und eine bestimmte Welt mit ihrer Organisation bestätigen. Als Beispiele von sujetlosen Texten zählte Lotman Telefonbücher, sujetlose lyrische Gedichte oder Kalender auf. Eine Folge der Einteilung der Welt in zwei Teile ist auch die Differenzierung der Figuren in bewegliche und unbewegliche457. Für die unbewegliche Figuren ist die Grenzüberschreitung verboten. Sie gehören zu der Klassifikation und bestätigen sie. Nur die beweglichen Figuren haben das Recht darauf, die Grenze zu überschreiten. Wenn die dargestellte Welt zum Beispiel in Tote und Lebendige eingeteilt ist, wobei die beiden Teile durch eine unüberschreitbare Grenze getrennt sind, funktioniert ein sujethaltiger Texte auf diese Weise, dass er das Verbot für die meisten Figuren beibehält, gleichzeitig aber eine Figur oder eine Gruppe von Figuren einführt, die dem Verbot nicht unterliegen und die die gegebene Struktur überwinden458. „Ein Sujet – schreibt Lotman – kann […] immer zu einer Grundepisode kontrahiert werden – dem Überqueren der grundlegenden topologischen Grenze in seiner räumlichen Struktur“459. Die narrativen Texte differenzierte Lotman in 1) revolutionäre Texte, also solche, in denen es zu einer Grenzüberscheitung tatsächlich kommt, und 2) resistutive, das heißt Texte, in denen die Grenzüberschreitung entweder versucht wird aber dann scheitert oder gelungen ist aber dann wieder rückgängig gemacht und aufgehoben wird. Ort der Handlung in den literarischen Texten waren für Lotman mehr als bloße Beschreibung der Landschaft oder des dekorativen Hintergrunds. Das räumliche Kontinuum der Textes wird, so Lotman, zu einem gewissen Gesamt-Topos, der immer mit einer bestimmten Gegenständlichkeit (einer Füllung) ausgestattet wird. Art dieser Füllung zeigt verschiedene Tendenzen, je nach der Epoche, sie kann sich beispielsweise der alltäglichen Umwelt der Leser annähern, oder sich ganz von der bekannten Realität distanzieren460. 3.4.7.2 Raumdarstellung in Himmelskörper 457 Vgl. ebd., S. 338. Vgl. Ebd. 338 459 Ebd., S. 357. 460 Ebd., S.. 329. 458 106 Im geographischen Sinne spannt sich der im Roman dargestellte Raum von Ost- und Westpreußen (Königsberg, ‚Gotenhafen’) und sozialistischem Warschau, bis zu Berlin und Gdingen in der Gegenwart. Ein gutes Beispiel für einen dominant atmosphärischen Raum ist die Umgebung des Familienhauses von Freia und Paul mit dem Wald und dem Bleichen See. Eine besondere Rolle spielte dieser Ort vor allem in der Kindheit der Zwillinge. Schon das Betreten dieses Raumes wird mit bestimmten Emotionen und Einstellungen begleitet, was davon zeugt, dass der Wald nicht nur eine Hintergrundfolie der Handlung ausmacht, sondern die Stimmung der Figuren aktiv prägt: Es war immer ein großartiger, feierlicher Moment, die wenigen Meter Rasen zu verlassen, die unser Haus vom Wald trennten, und plötzlich von der Dunkelheit umgeben zu sein. Obwohl wir täglich in den Wald liefen, blieb der Moment des Eintritts für uns etwas Besonderes. Vielleicht lag es daran, dass die Tannen sehr dicht standen, ausnehmend viele Nadeln trugen, vielleicht war der Rasen besonders ordentlich gemäht und kurz – jedenfalls hielt ich bei den ersten Schritten immer die Luft an, um die finsteren Tannen mit dieser demütigen Geste gnädig zu stimmen. Kaum war ich dann zwei, drei Meter im Dunkeln, durfte ich wieder atmen461. Im gleichen Ton wird das Verlassen des Raumes markiert. Freia berichtet: Nun kam ein anderer besonderer Moment: Der Austritt aus dem Waldreich und der erste Schritt auf dem Rasen462. Beide Fragmente zeigen deutlich, dass der Wald als atmosphärischer Raum eine geschlossene Ganzheit bildet und zumindest aus der Perspektive der Kinder durch eine scharfe Grenze von dem Rest der Welt getrennt wird. Der Raum wird also nicht als getreues Abbild der Wirklichkeit verstanden, sondern als eine spezifische Form der Weltauffassung der Figuren. Was innerhalb dieses Raumes passiert, wird im Text als märchenhaft dargestellt – in diesem Sinne kann also der Raum als ‚Stimmungsträger’463 bezeichnet werden. Hier behauptet der Vater mit Elfen zu sprechen und den 461 Dückers, Tanja: Himmelskörper, a.a.O., S. 49-50. Ebd., S. 52. 463 Zimniak, Paweł: Poetische , Logik ’ der Raumperformationen – Raum als Stimmungsträger. (Manuskript). 462 107 Waldgeistern in „weiße[n], leichte[n] Kleider[n]“464 zu begleiten. Im Zentrum der Geschehnisse befindet sich der Bleiche See („den wir so getauft hatten, weil Peter einmal behauptet hatte, dort in der Nacht eine besonders bleiche Geistin beobachtet zu haben“465) mit einer Insel in der Mitte. Wie der ganze Wald, wird auch der Teich von beiden Kindern spezifisch wahrgenommen: Nach ein paar Minuten kamen wir an den Bleichen See. […] Wir liebten diesen See, vollkommen still war er, und wir begrüßten ihn immer auf die gleiche Weise: Hand in Hand traten wir ans Ufer und beugten uns nach vorne466. Es muss betont werden, dass der atmosphärische Raum nicht nur die Stimmung der Figuren prägt, sondern auch ihre Wahrnehmung der Welt beeinflusst. Als Beleg dafür können diejenigen Passagen dienen, in denen die Zwillinge das Phänomen des Krieges zu verstehen versuchen, indem sie die für sie unklare Geschichte mit bekannten Bildern füllen. Den ‚Krieg’ und den daraus resultierenden Verlust des Beines von dem Großvater lokalisieren sie zuerst eben am Bleichen See: Nachts hatte sich ein durch das Leuchten von Großvaters Taschenlampe gestört fühlendes Grübelmonster, ein Silberlügenaal oder ein Futterneidhai aus dem Bleichen See erhoben und einmal kräftig nach Großvaters Bein geschnappt. […] Wir wollten auch wissen, ob Großvater wohl den Silberlügenaal, der sein Bein erwischt hatte, anschließend mit einem Schwert geköpft hatte467. Erst später, wenn sie begreifen, „dass es unendlich viel mehr Seen auf der Welt gibt als den Bleichen See“468, aktualisieren die Zwillinge ihre Geschichte, indem sie zu vermuten beginnen, dass „Großvater bei den Pfadfinderwanderungen durch ein anderes Grübelmonster ein einem anderen See, fern unserem Haus, vielleicht sogar fern unserer Stadt, um sein Bein gekommen war“469. Immerfort werden aber die Vorstellungen der Zwillinge über den Krieg durch den bekannten Raum geprägt. Der Wald und der Bleiche See sind ein Ausgangspunkt für ihre Weltauffassung. 464 Dückers, Tanja: Himmelskörper, a.a.O., S. 42. Ebd., S. 50. 466 Ebd., S. 50. 467 Ebd., S. 79. 468 Ebd., S. 81. 469 Ebd., S. 81. 465 108 Im Laufe der Geschichte verändert sich aber die Stimmung dieses Raumes wesentlich. Den Wandel in dessen Wahrnehmung zu unterschiedlichen Zeitpunkten kann man am Beispiel von zwei Fragmenten beobachten. Zuerst erzählt Freia: Paul und ich hatten keine Angst, uns im Wald zu verlaufen, obwohl das Märchen von Hänsel und Gretel uns einmal eine ganze Nacht lang nicht hatte schlafen lassen470. Dann aber verändert sich Freias Raumempfinden: Als ich klein war, hatte ich mich nie im Wald gefürchtet; höchstens vielleicht weit hinter unseren Seen, aber nicht in dem Stück zwischen unserem und dem Schluckauf-Teich. Ich konnte in den Wald eintauchen und mich mit größter Selbstverständlichkeit und Leichtigkeit in ihm bewegen. Dann kam eine Zeit – ich weiß nicht genau, wann sie anfing […] – als ich mich selber steif, ungelenk, wie ein Fremdkörper im Wald fühlte. Mir fehlte die Ruhe, mich auf seine Ruhe einzulassen, mich in den Farn zu legen und in den Himmel gucken zu können und dabei die Zeit zu vergessen. Immer erwartete ich etwas oder jemanden, nie konnte ich mehr einfach in der Sonne liegen, […] nie konnte ich diesen früheren Glückszustand wiederherstellen471. Solch eine Veränderung kann durch eine Reihe von Faktoren beeinflusst werden. Einerseits erweitert sich mit dem Heranwachsen der Zwillinge ihr Erfahrungshorizont. Die Welt wird plötzlich größer und ist nicht mehr auf den Stadtrand und den Wald begrenzt. Das kann die Unsicherheit und Angst hervorrufen, der Wald ist kein Ort mehr, in dem man sich geborgen fühlen kann – daher die Unruhe. Andererseits ändern sich aber auch Freias Beziehungen zu anderen Figuren und diese Tatsache hat auch den Einfluss auf ihre Wahrnehmung der Welt. Paul tritt in den Hintergrund, während Wieland seinen Platz belegt und zu einer Person wird, ohne die die Welt als unkomplett und bedrohlich erscheint: 470 471 Ebd., S. 52. Ebd., S. 114-115. 109 Erst als Wieland und ich Hand in Hand durch den Wald gingen und die Zweige unter unseren festen Schuhwerk knackten, fühlte ich mich wieder aufgehoben und sicher im Reich des Dunklen472. […] In diesem Sinne kann man Freias Worte interpretieren, wenn sie eingesteht, dass sie jemanden erwartet. Zwei Seiten weiter bestätigt sie selbst: Plötzlich war die Welt unvollkommen, wenn ich allein war, ohne Wieland473. Wenn man diese Äußerungen summiert, dann stellt es sich fest, dass der Wald als atmosphärischer Raum an Bedeutung verliert und seit diesem Zeitpunkt eher zu einer Hintergrundfolie der Handlung wird. Zwar herrscht hier immer noch eine gewisse Stimmung (Unsicherheit), man kann aber dem Eindruck nicht widerstehen, dass der Schwerpunkt der Räumlichkeit von dem Wald auf Freias Beziehung mit Wieland verschoben wird. Die Beziehung als eine Form eines bestimmten sozialen Milieus wird damit zu einem Raum, der auch atmosphärisch beladen wird und ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit erzeugt. Den Raum in Form von einem geographisch-physikalischen Schauplatz zu einer bestimmten Tageszeit und bei einem bestimmten Wetter kann man gut am Beispiel derjenigen Passagen analysieren, in denen die Großmutter die Geschichte von der Flucht aus ‚Gotenhafen’ erzählt. Im ersten Fragment kommt es zur Vergegenwärtigung von Vergangenem anlässlich des Geburtstags von Mäxchen. Zu einem unmittelbaren Anstoß für Jos Erzählung wird die Äußerung des Vaters, der über die Temperatur draußen („minus zwölf Grad“474) flucht. Jo reagiert sofort: Minus zwölf Grad! Ihr seid doch vorhin bei unserm kleinen Abendspaziergang nicht etwa erfroren, oder? Wenn ich daran denke, wie wir damals die ganze Nacht und einen Morgen bei minus zwanzig Grad im Schnee draußen am Pier gestanden haben! Tante Lena, Renätchen und ich. Und viele Leute – uns ging’s ja noch gut – waren wochenlang im Winter auf den Trecks unterwegs!475 472 Ebd., S. 115. Ebd., S. 117. 474 Ebd., S. 99. 475 Ebd., S. 99. 473 110 Der in dieser Erinnerung geschilderte Raum wird in erster Linie durch eine ungeheuere Kälte gekennzeichnet. Es herrscht Winter, am Boden liegt Schnee. Kontrastiert wird dieser Raum mit der Situation im Zimmer: [Der Vater hatte] die Heizung hochgedreht und sich noch ein Glas Glühwein eingeschenkt. Wir saßen um den Kamin, den meine Eltern an kalten Winterabenden anzündeten. […]; wie hypnotisiert starrten wir in die Flammen476. Nicht zufällig wird das „Flackern, Knacken und Knistern des Feuers“ mit dem frostigen Winter zusammengestellt. Wir haben in diesen Passagen mit zwei verschiedenen Räumen zu tun. Die in ihnen herrschenden Stimmungen werden durch solche Oppositionen erzeugt wie Wärme - Kälte, Behaglichkeit – Spannung. Das im Kamin prasselte Feuer steigert das Grauen der von Jo geschilderten Winternacht und -morgen. An einer anderen Stelle greift Jo wieder an diese Geschichte und nochmalig kommt es zur Gegenüberstellung von damals und jetzt im Kontext des Winters: Diese milden Winter jetzt sind eine neue Erfindung vom Himmel… verdienen eigentlich nicht mehr den Namen ‚Winter’477. Ohne Zweifel dient dieser Vergleich der Betonung der Schwierigkeit von damaligen Bedingungen. Die Atmosphäre der Kälte wird dadurch beibehalten. Jo setzt die Geschichte fort: Ihr könnt euch das Gedränge, die Aufregung am Hafen nicht vorstellen! Schiffe überall, Flüchtlingstrecks, ein Chaos ohnegleichen. Überall standen, lagen und saßen die Menschen bei minus zwanzig Grad! Am Kai, in den Schuppen, Speichern, in den Lagerhallen, in Hauseingängen und auf den ganz vereisten Strassen von Gotenhafen. […] Und es hörte gar nicht mehr auf zu schneien!478 Die Wetterbedingungen scheinen also diesmal nur beiläufig angegeben zu werden. In den Vordergrund treten die im Hafen stattfindenden Ereignisse. Der Raum wird wesentlich erweitert. Die Situation beschränkt sich nicht mehr nur auf das passive Im- 476 Ebd., S. 99. Ebd., S. 137. 478 Ebd., S. 137. 477 111 Schnee-Stehen, sondern umfasst einen konkreten geographischen Ort. Die Dynamik der Aussage („standen, lagen […] saßen“) und Mehrzahl der aufgezählten Teilorte veranschaulichen die in diesem Raum herrschende Verwirrung. Die Atmosphäre des Raumes wird vor allem durch solche Wörter wie ‚Gedränge’ und ‚Aufregung’ bestimmt. Mäxchens Bemerkungen „2000-Tonnen-Frachter, Küstenmotorschiffe, Vorpostenboote, Hafenschlepper Hafenkommandanturen für waren den von den Flüchtlingstransport Kriegsmarinenstellen freigegeben und worden“479 verschieben den Schwerpunkt von dem schwierigen Schicksal der im Schnee wartenden Menschen auf organisierte Operationen. Der Fokus fällt auf allgemeine Hektik angesichts der aufkommenden Gefahr. Mit demselben Ort aber anders geschildertem Raum wird der Leser noch einmal konfrontiert, wenn Freia mit seiner Mutter nach Gdingen (Gdynia) fährt. Beide Frauen machen einen Spaziergang zum Hafen. Freia berichtet: Am Ende der Promenade befand sich unmittelbar vor dem Hafen ein Sandstrand, wo trotz des einbrechenden Abends immer noch Kinder im Wasser herumsprangen, Jugendliche sich lachend nasse Handtücher auf die Rucken klatschen und Verfolgungsjagden veranstalteten, Mütter Kinder riefen, Väter Kinder huckepack nahmen und mit ihnen jenseits der durch Bojen markierten Grenze schwammen. Ein Eisverkäufer bahnte sich seinen Weg mit zwei großen Kuhltaschen durch das Gewimmel brauner und blasser Gliedmaβen, bückte sich, um Geld entgegenzunehmen und Eis am Stiel auszuteilen. […] es [war] jetzt Hochsommer […] und wir [waren] auf Besuch auf einer Art polnischem Mallorca480. Im Vergleich zu den Erzählungen von Jo verändert sich die Atmosphäre des Raumes wesentlich. Nichts scheint hier von den Ereignissen in der Vergangenheit zu zeugen. Es herrscht die Atmosphäre des Vergnügens und der guten Unterhaltung. Die Leute spielen sorglos mit ihren Kindern, das ‚Gewimmel’ von jetzt hat nichts mit dem ‚Gedränge’ von damals zu tun. Freia, die diesen Ort von erschütternden Erzählungen ihrer Großmutter kennt, scheint enttäuscht zu sein oder mindestens diesen fröhlichen Ansicht nicht zu akzeptieren: 479 480 Ebd., S. 137. Ebd., S. 294-295. 112 Die Fotos, die Erzählungen waren meine Wirklichkeit gewesen, und ich wusste nicht, wie ich sie auch nur im Entfernsten mit dieser gelosten Strandatmosphäre in Übereinstimmung bringen sollte. Mir schien, jemand könnte gleich eine Leinwand vor mir hochziehen, hinter der die >Gustloff< zum Vorschein kommen würde, das Schiff von dicht gedrängten, in dicke Mäntel und Schals gehüllten Menschen umgeben, am Horizont schwarzer, hochaufgetürmter Cumulonimbus481. Sie wünscht sich etwas zu sehen, was nicht mehr existiert – die Ereignisse, die lange vorbei sind. In diesem Sinne ist Gdingen 2003 kein Handlungsraum sondern ein gestimmter Anschauungsraum, denn Freia ist nicht im Stande, die Gestalt dieses Raums zu beeinflussen. Sie kann die Situation nur beobachten, auch wenn sie mit der Wirklichkeit nicht zurechtkommen will. In dieser Passage wird die Ratlosigkeit der Figur der vorübergehenden Zeit gegenüber geschildert. Freia möchte die vergangene, von ihren Großeltern erzählten Ereignisse aus der Vergangenheit herbeirufen, aber sie kann es nicht, denn die Vergangenheit gibt es gemäß der Definition nicht mehr. Die Frau setzt ihren Bericht fort: An den Buden entlang schlenderten wir zum Hafen. […] Im Hafen lagen riesige Schiffe, größtenteils ziemlich rostig, Wasser aus Schiffsklappen hatte eine braune Spur auf dem weißen Lack hinterlassen, die Farbe der Container auf den großen Frachtern […] blätterte ab.482 Das Vergehen der Zeit wird durch die Betonung des Verfallensprozesses der Schiffe verdeutlicht (Rost, abgeblätterte Farbe). Während Mäxchen von „2000-TonnenFrachter[n], Küstenmotorschiffe[n], Vorpostenboote[n], Hafenschlepper[n]“483, die als Transportmittels für die Flüchtlinge haben dienen sollen, erzählt hat, sieht seine Enkelin Schiffe, die auf keinen Fall für militärische Zwecke benutzt werden. Der Hafen steht still, es geschieht nichts. Nichts zeugt auch davon, was hier vor 60 Jahren passiert ist. Der Dynamik der Erzählungen der Großeltern wird die Passivität dessen entgegengesetzt, was Freia vor den Augen hat. Auch weitere Bilder betonen den Prozess des Zeitvergehens: 481 Ebd. S. 295-296. Ebd., S. 296. 483 Ebd., S. 137. 482 113 Am Kai lag ein Militärschiff mit dem nüchternen Namen >H 34<, das sich von nahem als Museumsschiff entpuppte.484 Das Militärschiff wird nicht mehr im Kampf benutzt, denn es gibt keinen Krieg mehr. Als Museum kann es bestimmte Aspekte der Vergangenheit veranschaulichen, es gehört aber der Gegenwart an. Freias Suchen nach der von den Eltern erzählten Wirklichkeit verläuft also im Sande. Die Ereignisse aus dem Jahr 1945 sind zeitlich sowie räumlich entfernt. In Gdingener Hafen herrscht keine Atmosphäre der Angst und der Unruhe mehr. Die Erzählung von Freia zeigt die Distanz, die die Generation der Enkel von dem Zweiten Weltkrieg trennt. Auf die natürliche Weise kann diese Generation die Vergangenheit nicht so wahrnehmen, wie Menschen, die in damalige Ereignisse engagiert gewesen waren. Ihr Kontakt mit der Vergangenheit basiert auf Erzählungen und den Erinnerungen von anderen einerseits und auf historischen Daten und Fakten andererseits. Das Herbeirufen von Bildern, die der Frau von den Großeltern vermittelt worden sind, veranschaulicht, inwieweit das Familiengedächtnis ihre Vorstellungen von damaligen Ereignissen geprägt haben. Das gemeinsame Familiengedächtnis, an dem Freia teilhat, kann aber die Tatsache nicht verändern, dass sie in einem anderen Raum lebt als ihre Eltern und Großeltern. Die oben genannten Beispiele zeigen deutlich, dass bei der Raumwahrnehmung sowie der Raumerfahrung nicht nur das Statische sondern auch das Relationale und Performative von Bedeutung ist485. In Anlehnung an Horst Wenzel erklärt Paweł Zimniak dieses Phänomen dadurch, dass Räume in Abhängigkeit von dem Blickpunkt des Beobachters jeweils anders wahrgenommen und interpretiert werden486. Jede Wahrnehmung des Raumes wird durch die spezifische Einbindung des Wahrnehmenden beeinflusst, die in Feststellungen, Überlegungen, Zweifeln oder Vorbehalten ausgedrückt werden kann. In den literarischen Texten wie Himmelskörper von Tanja Dückers sind Räume narrativ erzeugte Konstruktionen, die einerseits kulissenhaft eine textkonstitutive Funktion erfüllen, andererseits aber „performativ über die SubjektObjekt-Beziehung“ konstituiert werden487. 484 Im Sinne des Relationalen Ebd., S. 296. Zimniak, Paweł: Poetische , Logik ’ der Raumperformationen – Raum als Stimmungsträger (Manuskript). 486 Ebd. 487 Ebd. 485 114 und Performativen muss dabei der Begriff ‚Raum’ im Zusammenhang mit dem wahrnehmenden und empfindenden Subjekt, „das sich in deinen räumlichen Zugehörigkeiten und als ‚Empfindungsmaterial’ erfassen lässt“, betrachtet werden488. Literarische Texte sind deshalb für die Selbstbeobachtung von Erinnerungskulturen von Bedeutung, weil sie in ihrer Funktion als spezifische Wahrnehmungsformen von Welt und Reflexionsinstanzen ein semantisches und performatives Archiv darstellen489. 3.4.8 Zum Erzählschluss Nach der Position von Constanze Krings erfüllt der Erzählschluss eine wichtige Rolle bei der Rezeption eines Textes, worauf es schon bei der Analyse des Erzählanfangs hingewiesen wurde. Am Erzählschluss wird das Gelesene unter Anpassung aller früheren Informationen an das am Ende Präsentierte rekapituliert490, was die ganzheitliche Interpretation eines Textes beeinflusst. Wie der Erzählanfang kann auch das Textende verschiedene Formen annehmen. In Anlehnung an Carsten Gansel wird zwischen folgenden Möglichkeiten unterschieden491: - offenes Ende – bei diesem Typ bleiben Konflikte nicht gelöst, möglich sind auch mehrere alternative Schlüsse; - geschlossenes Ende – im Text wird eine konkrete Lösung dargestellt (beispielsweise in Form von Erfüllung der Wunsche der Figur); - erwartetes Ende – das Ende des Textes ergibt sich aus den Handlungssträngen als ihre logische Konsequenz. Bei manchen Texten wird am Ende die ‚epische Gerechtigkeit’ hergestellt, es kommt also zur Bestätigung von allgemein anerkannten Normen und Werte; - unerwartetes Ende – das Ende des Textes ist nicht logisch nachvollziehbar. Der Roman Himmelskörper endet grundsätzlich auf erwartete Weise: Freia findet, wonach sie gesucht hat. Einerseits sind das Antworten auf die Fragen, die ihre Familie betreffen. Freia erfährt zuerst von Jo und dann auch von der Mutter so viel, dass sie endlich im Stande ist, die verborgenen Geheimnisse aufzuklären und die Lücken in der 488 Ebd. Ebd. 490 Krings, Constanze: Zur Analyse des Erzählanfangs und des Erzählschlusses, a.a.O., S. 163. 491 Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur, a.a.O., S. 64-66. 489 115 Geschichte der Familie zu ergänzen. Andererseits findet sie auch den Cirrus Perlucidus. Nicht zufällig bemerkt Freia die seit Langem gesuchte Wolke in dem Moment, wenn der Rest der Wahrheit über die Flucht aus Gdingen ans Tageslicht kommt – beide Prozesse verflechten sich im Laufe der Handlung und sind miteinander eng verbunden. In beiden Fällen wird das „Fremde“ und „Ungreifbare“492, womit sich noch niemand beschäftigt hat, entdeckt und erfasst. Das einzige unerwartete Element ist Renates Selbstmord. Freias Mutter kehrt nach Gdingen zurück und wird mit dem Ort konfrontiert, an dem die Tragik ihres Lebens ihren Anfang hatte. Hier offenbart sie der Tochter ihre Zweifel an eigener „Lebensberechtigung“493. Als Leser erwartet man aber, dass die Reise nach Gdingen für Renate wie eine Katharsis gewirkt hat, so dass sie endlich ihre innere Ruhe finden wird. Renate scheitert aber am Ende des Buches. Der Tod dieser weichen, immer im Hintergrund stehenden und leidenden Frau war aber nicht zufällig: „Weil der Leser solch eine Figur am wenigsten für schuldig hält, da ist der Überraschungseffekt am größten.“494. 3.5 Einordnung in die Gattungstypologie Bei der Einordnung des Romans in die Gattungstypologie wird von dem Begriff des Gedächtnisromans ausgegangen. Astrid Erll definiert Gedächtnisromane als „narrativfiktionale Texte […], die auf zeitgenössische Erinnerungskulturen und ihre Herausforderungslagen in deutlicher Weise Bezug nehmen, Modelle für und von Kollektivgedächtnis inszenieren und anhand einer ausgeprägten Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses perspektivieren, welche im Sinne eines Wirkungspotentials eine Rezeptionshaltung nahe legt, bei der das Dargestellte vom Leser auf die Wirklichkeit der Kollektivgedächtnisse bezogen wird“495. Im Fall von Gedächtnisromanen ist es wichtig, dass sie immer in Erinnerungskulturen entstehen, die sich in bestimmten Problemkonstellationen befinden. Ohne Zweifel greift der Roman Himmelskörper aktuelle Probleme des kollektiven Gedächtnisses der deutschen Erinnerungskultur auf, ist somit erinnerungskulturell präfiguriert. Die zahlreichen Kommentare, Vorwürfe sowie Interviews mit der Autorin beweisen auch, dass das Buch 492 Dückers, Tanja: Himmelskörper, a.a.O., S. 12. Ebd., S. 303. 494 Tanja Dückers im Gespräch. Hahn, Anne Kathrin: Nicht mal bereut, a.a.O. Dazu vgl. Kapitel. 495 Erll, S. 181 493 116 von Dückers als Medium der kollektiven Gedächtnisbildung und -reflexion fungiert. Es handelt sich dabei um den kommunikativen bzw. erfahrungshaftigen sowie den antagonistischen Modus. Für die genauere Einordnung von Himmelskörper ist jedoch die Einteilung, die von Birgit Neumann vorgeschlagen wurde, von größerer Bedeutung. Im Rahmen der Gattung fictions of memory, zu der sie Texte zählt, „die wechselseitige Durchdringung von Erinnerungen, Identitäten und Narrationen in ihrer individuellen bzw. kollektiven Dimension vor Augen führen […] [und] Fragen nach dem spezifischen Leistungspotential von Erinnerung in den Vordergrund rücken“496, unterscheidet Neumann zwischen vier Typen: dem autobiographischen Gedächtnisroman, dem kommunalen Gedächtnisroman, dem autobiographischen Erinnerungsroman und dem soziobiographischen Erinnerungsroman. Da aber die im Roman von Dückers thematisierten Erinnerungen nicht kollektiver, sondern individueller Natur sind, bleibt es nur zu unterscheiden, ob es sich im Fall von Himmelskörper um einen autobiografischen Gedächtnis- oder Erinnerungsroman handelt. Mit dem ‚autobiographisch’ wird dabei die Ich-Form gemeint. Sowohl in autobiographischen Gedächtnis- als auch Erinnerungsromanen stehen Erinnerungen im Vordergrund. Während aber sich die Gedächtnisromane eher auf die Präsentation der Vergangenheit konzentrieren, wobei ein Eindruck entsteht, dass es sich um abgeschlossene Erfahrungen handelt, fällt der Fokus im Fall von Erinnerungsromanen auf den Prozess des Erinnerns selbst. Hier kann die Erinnerung nicht als abgeschlossen betrachtet werden. Dominant ist dabei die externe Fokalisierung. Das erzählende Ich ist im Hier und Jetzt verortet, erinnert die vergangenen Erfahrungen aus der gegenwärtigen Perspektive, deshalb erscheint ihm die Erinnerung als lückenhaft und unvollkommen. Aus diesem Grund wird auch die Authentizität des Erinnerten in Frage gestellt. Bei den Gedächtnisromanen wird dagegen im Laufe der Erzählung eine kohärente Geschichte konstruiert. Es wird auch in diesen Romanen dominant intern fokalisiert, was die Authentizität des Erzählten verstärkt. Die Identität des erzählenden Ichs wird stabilisiert, denn „die Möglichkeit von subjektiv erlebter biographischer Kontinuität und lebensweltlicher Kohärenz hängt daher in hohem Maße von der Konstruktion einer gelungenen Geschichte ab“497. Aufgrund der aufgezählten Merkmale lassen sich die Himmelskörper als ein Gedächtnisroman einordnen. Es wird aus der internen Neumann, Birgit: Erinnerung – Identität – Narration: Gattungstypologie und Funktionen kanadischer „Fictions of memory“. Berlin 2005, S. 1. 497 Ebd. S. 242. 496 117 Fokalisierung erzählt. Nicht der Vorgang des Erinnerns steht im Zentrum, sondern die vergangenen Ereignisse, die von den Kinderjahren bis in die Gegenwart erzählt werden und auf eindeutige Weise die aktuelle Lage und Identität der Erzählinstanz bestimmen. Die Geschichte scheint damit abgeschlossen zu sein – im Laufe der Handlung werden alle Fragen beantwortet und alle Lucken gefüllt. Im letzten Kapitel stellt es sich fest, dass die Geschichte aus der Perspektive einer erwachsenen Frau dargestellt wird und dass von ihr verfasste Buch Himmelskörper eine Art Bewältigung der kontroversen Vergangenheit ihrer Familie ist. Die Geschichte wird damit erfolgreich zu Ende gebracht. Zusätzlich lässt sich das Buch folgendermaßen klassifizieren: - als Entwicklungsroman498 stellt es den Reifeprozess der Protagonistin dar - von einem Kind bis zu einer erwachsenen, selbstbewussten Frau, die selbst Mutter wird. In der Suche nach eigener Identität reflektiert die Hauptfigur sowohl die Umwelt als auch sich selbst. Ihre Persönlichkeit entwickelt sich im Laufe der Handlung; - als Generationen- bzw. Familienroman – beschrieben wird die Familie und die Verhältnisse zwischen den Generationen. Nach der Position von Sigfrid Löffler ist „diese Gattung […] derzeit das bevorzugte Format der Auseinandersetzung mit der Schreckensgeschichte des 20. Jahrhunderts“, weil es „den Zweiten Weltkrieg und seine Folgen“499 familiarisiert. Am Beispiel von Himmelskörper lässt sich beobachten, auf welche Weise die älteren Generationen den Kindern ihre Erfahrungen vermitteln und wie die Kinder mit der Vergangenheit umgehen. Die Geheimnisse und gewisse Kommunikationsunfähigkeit führen dabei zum Familienzerfall. 3.6 Fazit In dem Roman Himmelskörper ist dargstellt worden, auf welche Weise die Geschichte im Generationengedächtnis funktionieren kann. Bei der Analyse der Figuren hat sich erwiesen, dass jede Generation ihre eigene Vergangenheit besitzt, dass dieselben 498 Interview Löffler, Sigfrid: Die Familie. Ein Roman : geschrumpft und gestückelt, aber heilig. In: Literaturen 06/2005, S. 25. 499 118 Ereignisse von verschiedenen Generationen auf unterschiedliche Weise wahrgenommen und erinnert werden können. Die Analyse des Romans hat auch gezeigt, dass Tanja Dückers ihre Kompetenzen nicht überschreitet, wenn sie über Ereignisse schreibt, die sie nicht erlebt hat. Ihre Perspektive ist die der Enkel. Sie recherchiert, vergleicht die Fakten, stellt Fragen und versucht, die Schlussfolgerungen zu ziehen. Zwar stellt sie die konkreten Personen unter Anklage (liebende Großeltern der Hauptfigur) und betont ihre Täterrolle, lässt aber gleichzeitig alle Figuren sprechen, wodurch die Leiden der Zivilbevölkerung infolge des Krieges nicht ausgeblendet werden. Auf diese Weise gelingt es ihr, sich vom historischen Relativismus, dessen Spuren im heutigen öffentlichen Diskurs leider zu finden sind, fern zu halten. Sie versucht auch nicht, sich in die Position einer anderen Generation zu versetzten. Selbst die von ihr verwendeten Erzähltechniken veranschaulichen, dass es überhaupt nicht möglich ist, wodurch der Roman an Authentizität gewinnt. Nichtsdestoweniger verbindet das ‚Prinzip Erinnerung’ auf bestimmte Weise alle drei Generationen, was beweist, dass die NS-Zeit als Gegenstand der Erinnerung immer noch Teil des kommunikativen, nicht nur des kulturellen, Gedächtnisses bleibt. Tanja Dückers wird vorgeworfen, dass sie zu beliebig „große Geschichte mit kleinen Geschichten“500 verbindet und zu viele Themen in ihrem Buch behandelt. Man soll aber berücksichtigen, dass die Essenz des Lebens der dritten Generation auf keinen Fall der Krieg ausmacht. Die Enkel haben eigene Probleme, auf die sie in erster Linie ihre Aufmerksamkeit lenken. Deshalb bietet auch der Roman einen grundsätzlich realitätsnahen Einblick in die Situation der dritten Generation. Im Vordergrund steht Freia mit ihrem Leben, nicht die ‚Gustloff’-Katastrophe, auch wenn diese Katastrophe bis in die Gegenwart hineinwirkt. Am Beispiel des Romans kann man schließlich beobachten, auf welche Weise die Literatur in einer Erinnerungskultur wirken kann. Nach der Position von Dückers kann die Botschaft eines Romans „einen viel nachhaltigeren Eindruck beim Leser hinterlassen als ein Sachbuch zu gleichen Thematik“501. Die Literatur transportiert die Geschichte und trägt damit zur Entwicklung von Geschichtsbewusstsein bei, verleiht 500 Emmerich, Wolfgang: Dürfen die Deutschen ihre eigenen Opfer beklagen? Schiffsuntergänge 1945 bei Uwe Johnson, Walter Kempowski, Günter Grass, Tanja Dückers und Stefan Chwin. In: Böning, Holger / Jäger, Hans Wolf / Kątny Andrzej / Szczodrowski Marian (Hg.): Danzig und der Ostseeraum. Sprache, Literatur, Publizistik. Bremen 2005, S. 293-323 (hier S. 312). 501 Tanja Dückers im Gespräch. Metz, Johanna: Das Anrecht auf die Spurensuche in der Vergangenheit, a.a.O. 119 „den kollektiven Erlebnissen ein individuelles Gesicht“502, was besonders jetzt von Bedeutung ist, wenn der zeitliche Abstand zu damaligen Ereignissen immer größer wird und die Zeitzeugengeneration langsam abstirbt. Der Roman Himmelskörper bezieht sich eindeutig auf die außerliterarische, vorgängige, erinnerungskulturelle Wirklichkeit, macht diese Wirklichkeit zum Element seiner narrativen Struktur, wodurch er als Medium des kollektiven Gedächtnisses an der Reflexion über die Erinnerungskultur beteiligt sein kann. 4 Zusammenfassung In der vorliegenden Arbeit wollte ich am Beispiel des Romans Himmelskörper von Tanja Dückers analysieren, auf welche Weise Erinnerungen an den deutschen Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg im Rahmen des Familiengedächtnisses funktionieren können. Die Untersuchungen zeigen, dass in der privaten Erinnerung ein anderes Bild von der Vergangenheit gepflegt wird, als in der institutionalisierten Form. Während auf der offiziellen Ebene die nationalsozialistischen Verbrechen ins Zentrum gestellt werden, konzentrieren sich die privaten Familiengedächtnisse eher auf die Perspektive der Opfer. Dieser Diskurs wird in erster Linie vom Leiden der eigenen Familienangehörigen geprägt. Das widerspricht natürlich nicht der Überzeugung, dass der Zweite Weltkrieg eine Katastrophe in der Menschheitsgeschichte war. Die Tendenz lässt aber zumindest die eigenen Nächsten vor der Verantwortung für diese Katastrophe schützen und sie entweder als Leidende oder als Mitglieder der Widerstandsbewegung wahrnehmen. Tanja Dückers vertritt die junge Autorengeneration, die den Zweiten Weltkrieg nicht erlebt hat. Aus diesem Grund wird auch bezweifelt, ob sie Recht darauf habe, sich über die Ereignisse aus der Vergangenheit zu äußern, die sie selbst nicht erlebt hat, wogegen sie auch kategorisch protestiert. Interessant ist bei Dückers die Tatsache, dass sie in ihrem Buch, gegen Tendenz, die Grosseltern der Hauptfigur unter Anklage stellt. Die dreißigjährige Freia gerät angesichts der Entdeckung, wer ihre Oma und Opa in der Nazi-Zeit wirklich gewesen sind, in ein Dilemma: Wie kann man die Erinnerung an die vertraute Personen aus der eigenen Familie mit dem Bewusstsein ihrer kontroversen Vergangenheit vereinen. Mit ihrem Roman vertritt Dückers die 502 Steinbrink, Gesa: Wer suchet, der findet. Tanja Dückers beobachtet seltene Wolkenformation. Literaturkritik.de, Nr. 6, Juni 2003, unter: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=6082&ausgabe=200306 (Zugriff am 10.05.2010). 120 Meinung, dass die Abrechnung mit der Nazi-Vergangenheit ein immer noch aktuelles Thema ist. Die Erinnerungsliteratur, zu der Dückers’ Roman gehört, ist eines der Medien des kollektiven Gedächtnisses. Deswegen wurde in dem methodologischen Teil der Arbeit danach gefragt, was unter dem Begriff des kollektiven Gedächtnisses überhaupt verstanden wird, und auf welche Weise Gesellschaften die Vergangenheit erinnern. Berücksichtigt wurden dabei die Gedächtniskonzepte von Maurice Halbwachs, Aby Warburg und Pierre Nora. Dargestellt wurde anschließend der aktuelle Forschungsstand mit den Theorien von Jan und Aleida Assmann, Harald Welzer, sowie dem mehrdimensionalen Modell zur Beschreibung von kulturellen Erinnerungsprozessen, das and der Justus–Liebig–Universität Gießen entwickelt wird. Da die Ebene der Präsentation der Geschichte genau so wichtig ist, wie die Geschichte selbst, wurde schließlich in diesem Teil die Literatur in narratologischer Perspektive aufgegriffen. Der Fokus fiel dabei auf die Unterschiede zwischen dem faktualen sowie dem alltäglichen und dem literarischen Erzählen. Der analytischer Teil der Arbeit bezieht sich schon unmittelbar auf Tanja Dückers und ihren Roman. In Bezug auf die Erzähltheorien von Franz K. Stanzel, Matias Martinez, Michael Scheffel und Jürgen H. Petersen wurde die Erzählweise in Himmelskörper analysiert. Dargestellt wurde auch Lotmans Theorie von der Bedeutung der Räumlichkeit in den narrativen Texten. Die Analyse des Raumes, als eines der Elemente, die die dargestellte Welt konstruieren, konzentrierte sich auf dessen Präsentationsweise und Funktionalisierung. Betont wurde auch das Verhältnis zwischen den Räumen und Figuren. Ein wichtiger Aspekt dieses Arbeitsteils ist die Analyse der Figuren. Es wurde danach gefragt, auf welche Weise die drei Generationen einer und derselben Familie am Familiengedächtnis teilnehmen und was den Inhalt dieses Gedächtnisses ausmacht. Die Einordnung des Buches in die Gattungstypologie ist das letzte Element des analytischen Teils der vorliegenden Arbeit. 5 Streszczenie Głównym celem niniejszej pracy jest prześledzenie na przykładzie powieści Tanji Dückers Himmelskörper, w jaki sposób w pamięci rodzinnej funkcjonować mogą wspomnienia o wydarzeniach związanych z niemieckim narodowym socjalizmem i drugą wojną światową. Jak pokazują badania, wspomnienia prywatne często zasadniczo 121 różnią się co do treści od historii przekazywanej w formie zinstytucjonalizowanej. Podczas gdy w oficjalnym dyskursie mówi się o zbrodniach faszystowskich Niemiec, pamięć rodzinna koncentruje się raczej na perspektywie ofiar, podkreślając cierpienia doznane w wyniku wojny zarówno członków własnej rodziny jak i całego narodu niemieckiego. Perspektywa ta nie wyklucza naturalnie świadomości, jak wielką katastrofą w dziejach ludzkości była wojna, istnieje natomiast tendencja do oddzielania Niemców, a w szczególności najbliższych, od sprawców. Autorka powieści Himmelskörper, Tanja Dückers, należy do pokolenia młodych autorów, które drugiej wojny światowej nie doświadczyło. Z tego też powodu poddawane jest w wątpliwość jej prawo pisania o sprawach, które w żaden sposób nie były jej udziałem. Dückers otwarcie buntuje się przeciwko odbieraniu jej możliwości wypowiadania się o przeszłości, czego wyraz daje w swojej powieści. Wartym uwagi jest fakt, że wbrew tendencji sadza ona na ławie oskarżonych dziadków głównej bohaterki. Freia, kobieta trzydziestoletnia, staje przed dylematem, jak pogodzić pamięć o zaufanych osobach z kręgu najbliższej rodziny z odkryciem ich nazistowskiej przeszłości. Dückers staje tym samym na stanowisku, że rozrachunek z nazizmem nie jest sprawą zamkniętą, a pozostaje ważnym, aczkolwiek trudnym problemem niemieckim. Ponieważ literatura pamięci, w nurt której wpisuje się powieść Dückers, jest jednym z medium pamięci zbiorowej, konieczne było przestudiowanie samego pojęcia pamięci zbiorowej. W części teoretycznej pracy przywołane zostały koncepcje M. Halbwachsa, A. Warburga i P. Nora. Przedstawiony został również współczesny stan badań nad zjawiskiem pamięci zbiorowej z uwzględnieniem teorii Aleidy i Jana Assmannów, H. Welzera oraz wielowymiarowego modelu do badań nad pamięcią zbiorową stworzonego i rozwijanego na Uniwersytecie Justusa Liebiga w Gießen. Z uwagi na fakt, iż sposób prezentacji opowiadanej historii jest równie ważny jak sama historia, poruszony został w tej części pracy także temat literatury w pespektywie narratologicznej. Skupiono się przy tym na wykazaniu różnic pomiędzy tekstem faktualnym bądź sposobem opowiadania, jakim posługujemy się na co dzień, a fikcją literacką. Część analityczna odnosi się już bezpośrednio do Tanji Dückers i jej powieści. W oparciu o teorie narratologiczne F. Stanzela, M. Martineza, M. Scheffela i J. Petersena zanalizowano powieść Himmelskörper pod kątem sposobu narracji. Przywołano również koncepcję J. Łotmana dotyczącą znaczenia przestrzenności w tekstach literackich. Przy analizie przestrzeni, 122 jako elementu konstruującego świat przedstawiony, zwrócono uwagę głównie na sposób jej prezentacji, funkcje, a także na związek przestrzeni z postaciami, jako że historie przez nie opowiadane nigdy nie dzieją się w próżni, a sposób modelowania przestrzeni zasadniczo wpływa na nastrój powieści i tym samym na recepcję tekstu. Ważnym elementem tej części pracy jest analiza bohaterów powieści ze szczególnym uwzględnieniem ich stosunku do przeszłości w kontekście drugiej wojny światowej. Prześledzono, w jaki sposób kolejne pokolenia jednej i tej samej rodziny uczestniczą w pamięci rodzinnej i co stanowi treść tej pamięci. Usytuowanie powieści w typologii gatunkowej stanowi element ostatni tej części pracy. 6 Literaturverzeichnis 6.1 Primärliteratur DÜCKERS, TANJA: Himmelskörper. Roman. Berlin 2005. 6.2 Sekundärliteratur 1) Benutzte Literatur zum Thema Literatur – Gedächtnis ASSMANN, ALEIDA: Was sind kulturelle Texte? In: Poltermann, Andreas (Hg.): Literaturkanon – Medienereignis – Kultureller Text. Formen interkultureller Kommunikation und Übersetzung. Göttinger Beiträge zur Internationalen Übersetzungsforschung. Bd. 10. Berlin 1995. ASSMANN, ALEIDA/ FREVERT, UTE: 1998 – Zwischen Geschichte und Gedächtnis. In: Assmann, Aleida/ Frevert, Ute: Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945. Stuttgart 1999. ASSMANN, ALEIDA: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen. Wissen. Ethik. Jahrgang 13/2002, S. 183-190. ASSMANN, ALEIDA: Zur Mediengeschichte des kulturellen Gedächtnisses. In: Erll, Astrid / Nünning, Ansgar: Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität. Historizität. Kulturspezifität, Berlin 2004, S. 45-60. ASSMANN, ALEIDA: Der lange Schatten der Vergangenheit: Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München 2006. ASSMANN, ALEIDA: Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen. Berlin 2006. 123 ASSMANN, ALEIDA: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 2006. ASSMANN, JAN: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Assmann, Jan / Hölscher, Tonio (Hg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt (M.) 1988. ASSMANN, JAN: Religion und kulturelles Gedächtnis. Zehn Studien. München 2000. ASSMANN, JAN: Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 2005. BAIER, LOTHAR: Über den Wolken. In der Luft. Tanja Dückers’ neuer Roman „Himmelskörper“. In: Freitag. Die Ost-West-Wochenzeitung, Nr. 35, 22.03.2003, S. 14. BRAUN, MICHAEL: Wem gehört die Geschichte? Günter Grass, Tanja Dückers, Uwe Timm und der Streit um die Erinnerung in der Gegenwartsliteratur. In: Das Parlament. 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