3 Geschichte und Generationendiskurs in Tanja Dückers` Roman

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Geschichte und Generationendiskurs in Tanja Dückers’
Roman Himmelskörper (2003)
Inhaltsverzeichnis
1 Literatur und Gedächtnis – Zur Zielbestimmung ................................ 3
2 Methodologischer Ansatz und Forschungstand .................................... 5
2.1 Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen als Gegenstände der
kulturwissenschaftlichen Forschung ............................................................................. 5
2.1.1 Gedächtnisdiskurs ............................................................................................ 8
2.1.1.1 Forschung in den 1920er Jahren – Maurice Halbwachs’ und Aby
Warburgs Konzepte .............................................................................................. 9
2.1.1.2 Pierre Nora und lieux de mémoire .......................................................... 15
2.1.1.3 ‚Kulturelles Gedächtnis’ von Aleida und Jan Assmann ......................... 18
2.1.1.4 Harald Welzer und das Konzept des ‚sozialen Gedächtnisses’ .............. 23
2.1.1.5 Sonderforschungsbereich 434 »Erinnerungskulturen« ........................... 24
2.1.2 Zum Begriff ‚Medium des kollektiven Gedächtnisses’ ................................. 26
2.1.2.1 Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses ............................. 28
2.1.3 Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses und ihre Modi ................................ 35
2.2 Opa war kein Nazi – Geschichte im Generationengedächtnis .............................. 40
2.3 Text im narratologischen Diskurs ......................................................................... 45
2.3.1 Narrative vs. deskriptive Texte ...................................................................... 47
2.3.2 Faktuales und fiktionales Erzählen ................................................................ 48
2.3.3 Alltägliches und literarisches Erzählen.......................................................... 51
2.3.4 Das Was und das Wie eines Textes in historischer Hinsicht.......................... 55
3 Geschichte und Generationendiskurs in Tanja Dückers’ Roman
Himmelskörper ........................................................................................... 56
3.1 Informationen zur Autorin Tanja Dückers............................................................ 57
3.2 Wem gehört die Geschichte – Himmelskörper und der Generationenstreit um die
Erinnerung in der Gegenwartsliteratur ....................................................................... 57
3.3 Zur Entstehungsgeschichte von Himmelskörper .................................................. 60
3.4 Zur Analyse des Textes......................................................................................... 62
3.4.1 Zum Inhalt von Himmelskörper ..................................................................... 62
3.4.2 Zum Textanfang ............................................................................................. 66
3.4.3 Erzählanalyse nach Stanzel ............................................................................ 67
3.4.3.1 Zwei Grundformen des Erzählens .......................................................... 68
3.4.3.2 Erzählsituationen .................................................................................... 69
3.4.4 Erzählanalyse nach Matias Martinez und Michael Scheffel .......................... 72
3.3.4.1 Faktuales und fiktionales Erzählen ......................................................... 72
3.4.4.2 Zeit .......................................................................................................... 72
3.4.4.3 Fokalisierung .......................................................................................... 80
3.4.4.4 Stimme .................................................................................................... 81
3.4.4.4.1 Zeitpunkt des Erzählens ................................................................... 82
3.4.4.4.2 Ort des Erzählens ............................................................................. 82
3.4.4.4.3 Stellung des Erzählers zum Geschehen ........................................... 83
3.4.5 Erzählanalyse nach Jürgen H. Petersen ......................................................... 85
3.4.5.1 Erzählform .............................................................................................. 85
3.4.5.2 Erzählverhalten ....................................................................................... 85
3.4.5.3 Standort des Erzählers und die Erzählperspektive .................................. 86
3.4.5.4 Erzählhaltung .......................................................................................... 88
3.4.6 Figuren und Figurenkonstellationen .............................................................. 88
3.4.6.1 Generation der Zeitzeugen – Jo und Mäxchen ....................................... 89
3.4.6.2 Generation der Kinder – Peter und Renate ............................................. 94
3.4.6.3 Generation der Enkel – Freia und Paul ................................................... 98
3.4.7 Raumdarstellung .......................................................................................... 102
3.4.7.1 Lotmans Raumsemantik ....................................................................... 103
3.4.7.2 Raumdarstellung in Himmelskörper ..................................................... 106
3.4.8 Zum Erzählschluss ....................................................................................... 115
3.5 Einordnung in die Gattungstypologie ................................................................. 116
3.6 Fazit .................................................................................................................... 118
4 Zusammenfassung ................................................................................ 120
5 Streszczenie ........................................................................................... 121
6 Literaturverzeichnis ............................................................................. 123
6.1 Primärliteratur ..................................................................................................... 123
2
6.2 Sekundärliteratur ................................................................................................. 123
1 Literatur und Gedächtnis – Zur Zielbestimmung
Wir haben das 20. Jahrhundert verlassen, aber es hat uns nicht verlassen1.
Es lässt sich in der letzten Zeit ein wachsendes Interesse an der Vergangenheit
beobachten. Besonders das Thema des Zweiten Weltkrieges ist immer wieder im
öffentlichen
Diskurs
präsent.
Es
entstehen
Romane,
Filme,
Artikel
und
Autobiographien, die an diese Zeit erinnern, wobei gerade jetzt die letzte Gelegenheit
besteht, mit der Zeitzeugengeneration zu sprechen. Auch die politischen Debatten sind
von der Reflexion über die Erinnerung an die NS-Zeit nicht frei. Der Roman
Himmelskörper von Tanja Dückers ist nur einer der Beweise dafür, dass die Erinnerung
an den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg in der deutschen Gesellschaft
immer noch lebendig und aktuell ist. Die Autorin vertritt die Generation, die die Zeit
des Krieges selbst nicht erlebt hat. In diesem Kontext wird überlegt, ob sie überhaupt
Recht darauf hat, diese Ereignisse in ihrem Buch zu thematisieren. Die Frage danach,
wem die Geschichte gehören soll, ist eines der Probleme die in dieser Arbeit berührt
werden sollen.
Die Erinnerungsliteratur, zu der Dückers’ Roman gehört, ist eines der Medien des
kollektiven Gedächtnisses. Deswegen soll im methodologischen Teil der Arbeit danach
gefragt werden, was unter dem Begriff des kollektiven Gedächtnisses überhaupt
verstanden wird, und auf welche Weise Gesellschaften die Vergangenheit erinnern.
Dargestellt werden dabei die klassischen Gedächtniskonzepte von Maurice Halbwachs,
Aby Warburg und Pierre Nora sowie der aktuelle Forschungsstand mit den Theorien
von Jan und Aleida Assmann, Harald Welzer und dem mehrdimensionalen Modell zur
Beschreibung von kulturellen Erinnerungsprozessen, das an der Justus–Liebig–
Universität Gießen entwickelt wird. Als sehr interessant für die Thematik dieser Arbeit
erweisen sich die Untersuchungen, die im Rahmen des Forschungsprojekts ‚Tradierung
von Geschichtsbewusstsein’ geführt und im Buch Opa war kein Nazi dargestellt worden
sind. Aus diesem Grund werden sie auch kurz rekapituliert werden. Da die Ebene der
1
Braun, Michael: Wem gehört die Geschichte? Literatur als Erinnerungskultur. In: Jahresbericht 2006
der Konrad-Adenauer-Stiftung. Sankt Augustin 2007, S. 61-65 (hier S. 62), unter:
http://www.kas.de/upload/dokumente/jahresbericht2006/jahresbericht_low.pdf (Zugriff am 12.09.2010).
3
Präsentation der Geschichte genau so wichtig ist, wie die Geschichte selbst, soll
schließlich in diesem Teil die Literatur in narratologischer Perspektive, unter besonderer
Berücksichtigung der Unterschiede zwischen dem faktualen sowie dem alltäglichen und
dem literarischen Erzählen, aufgegriffen werden.
Der analytischer Teil der Arbeit konzentriert sich in erster Linie auf die narratologische
Analyse des Romans. In Bezug auf die Erzähltheorien von Franz K. Stanzel, Matias
Martinez, Michael Scheffel und Jürgen H. Petersen soll vor allem die Erzählweise in
Himmelskörper analysiert werden. Bei der Kategorie des Raumes, als eines der
Elemente, die die dargestellte Welt konstruieren, wird nach dessen Präsentationsweise
und Funktionalisierung gefragt. Als wichtiger Aspekt dieses Arbeitsteils erweist sich
die Analyse der Figuren. Im Kontext des Themas der vorliegenden Arbeit soll vor allem
danach gefragt werden, auf welche Weise die drei Generationen einer und derselben
Familie am Familiengedächtnis teilnehmen und was den Inhalt dieses Gedächtnisses
ausmacht. Die Aufgabe des analytischen Teils ist es auch zu untersuchen, inwieweit die
von Dückers dargestellten Situationen den realen Familienverhältnissen entsprechen
und ob Dückers ihre Kompetenzen wirklich überschreitet, wenn sie über Ereignisse
schreibt, die sie selbst nicht erlebt hat. Zum Schluss soll der Roman in die
Gattungstypologie eingeordnet werden.
4
2 Methodologischer Ansatz und Forschungstand
2.1 Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen als Gegenstände der
kulturwissenschaftlichen Forschung
Die Vergangenheit ist niemals tot, sie ist nicht
einmal vergangen.2
William Faulkner
Das Gedächtnis gehört zu diesen Forschungsgegenständen, die von verschiedenen
Disziplinen und unter verschiedenen Aspekten analysiert werden können. Hier kreuzen
sich kulturwissenschaftliche, naturwissenschaftliche und informationstechnische Fragen
und Interessen3, wobei der Vielfalt von Forschungsmöglichkeiten verursacht, dass keine
der Disziplinen im Stande ist, das Gedächtnis endgültig zu bestimmen. In Bezug darauf
spricht man von der Transdisziplinarität des Gedächtnis-Phänomens4. Das folgende
Kapitel konzentriert sich vor allem auf die kulturwissenschaftliche Perspektive, die das
Gedächtnis hauptsächlich als ein kollektives, zwischen den Menschen entstandenes und
funktionierendes Phänomen behandelt. In diesem Kontext ist das Gedächtnis als ein
„Kollektivbegriff für angesammelte Erinnerungen, als Fundus und Rahmen für einzelne
memoriale Akte und Einträge“5 zu verstehen. Kollektives Gedächtnis heißt sozial
vermitteltes und geteiltes Gedächtnis, oder mit Worten Jurij Lotmans „ein nicht erblich
vermitteltes Gedächtnis eines menschlichen Kollektivs“6.
Aleida Assmann weist darauf hin, dass obwohl die Begriffe ‚Gedächtnis’ und
‚Erinnerung’ oft synonym auftreten, gibt es zwischen ihnen wesentliche Unterschiede7.
Das Gedächtnis ist in dem biologischen Organ des Gehirns und dem neuronalen
Netzwerk verwurzelt und dient als Disposition zum Erinnern, das als die Tätigkeit des
Zurückblickens auf vergangene Ereignisse verstanden werden soll. Das Gedächtnis ist
nur die Voraussetzung des Erinnerns, ohne ein organisches Gedächtnis wären
Erinnerungen unmöglich. Gedächtnis und Erinnern unterscheiden sich voneinander
auch in Bezug auf ihre Zeitstruktur. Während das Gedächtnis, verstanden als
Sammelbegriff für Erinnerungen und metaphorisch als ein externer Daten-Speicher, die
„Informationen aus ihrer Zeitlichkeit herausholt und auf Dauer stellt 8“, findet das
Erinnern nur in der Gegenwart statt, indem es in diskontinuierliche Akte zerfällt9. Im
2
Faulkner, William: Requiem für eine Nonne. Roman in Szenen. Berlin Darmstadt Wien. Deutsche BuchGemeinschaft, 1961, 1. Akt, 3. Szene.
5
Fall von Erinnern ist also nichts dauerhaft, „sondern muss durch Wiederholungen
immer wieder neu hergestellt werden“10.
Nach der Position von Jan Assmann, einem Ägyptologen und Kulturwissenschaftler,
sind Gedächtnis und Erinnerung in den letzten Jahren zum „neuen Paradigma der
Kulturwissenschaften“11 geworden. Das steigende Interesse am Gedächtnis-Thema
begründet Assmann mit drei Hauptfaktoren. In der ersten Linie sieht er in der
Entwicklung
der
elektronischen
Speichermedien,
als
einer
Art
künstlichen
Gedächtnisses, die Revolution, deren Bedeutung er selbst mit der Erfindung von Schrift
und
Buchdruck
vergleicht,
und
die
die
traditionellen
Archivierungs-
und
Gebrauchsweisen von Informationen radikal geändert hat12. In Bezug darauf spricht er
auch von der „Haltung der Nach-Kultur“13, die „etwas Zu-Ende-Gekommenes14“, die
die vergangene Tradition erinnert und zum Gegenstand der Aufarbeitung macht15. Die
wichtigste Rolle spielt aber, so Assmann, die Tatsache, dass wir uns in einem Punkt der
Geschichte befinden, in dem die „Generation von Zeitzeugen der schwersten
Verbrechen und Katastrophen“16, der Shoah und des Nationalsozialismus, langsam
abstirbt. Es entsteht die Notwendigkeit, die historischen Ereignisse trotz der
wachsenden zeitlichen Distanz und des Verlustes von Überlebenden im Bewusstsein der
Nachgeborenen aufzubewahren. In demselben Ton äußert sich auch Aleida Assmann,
wenn sie schreibt, dass „es wohl nichts gibt, was die Erinnerung so nachhaltig in Gang
gesetzt hat wie die Katastrophe der Zerstörung und des Vergessens“17 des 20.
3
Vgl. Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses,
München 2006, S. 16. Proszę dokonać takich wcięć na linijce dla lepszej widoczności numeracji.
4
Vgl. ebd., S. 16.
5
Assmann, Aleida/ Frevert, Ute: 1998 – Zwischen Geschichte und Gedächtnis. In: Assmann, Aleida/
Frevert, Ute: Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen
Vergangenheiten nach 1945. Stuttgart 1999, S. 21-52 (hier S. 35).
6
Zit. nach: Erll, Astrid: Medium des kollektiven Gedächtnisses: Ein
(erinnerungs)kulturwissenschaftlicher Kompaktbegriff. In: Erll, Astrid/Nünning, Ansgar (Hg.): Medien
des kollektiven Gedächtnisses: Konstruktivität, Historizität, Kulturspezifität. Berlin 2004, S. 3-22
(hier S. 4) .
7
Vgl. Assmann, Aleida: Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen.
Berlin 2006, S. 180.
8
Ebd.
9
Vgl. ebd.
10
Ebd.
11
Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen
Hochkulturen. München 2005, S. 11.
12
Vgl. ebd.
13
Ebd.
14
Ebd.
15
Ebd.
16
Ebd.
17
Assmann, Aleida: Erinnerungsräume, a.a.O., S. 18.
6
Jahrhunderts. Die Vergegenwärtigung und die Aufarbeitung des Vergangenen finden im
Rahmen der Erinnerungskulturen statt.
Den Begriff ‚Erinnerungskulturen’ verwendet man seit den 1990er Jahren anstelle der
älteren Formulierung ‚Vergangenheitsbewältigung’18. Hans-Günter Hockerts definiert
Erinnerungskulturen als einen "lockeren Sammelbegriff für die Gesamtheit des nicht
spezifisch wissenschaftlichen Gebrauchs der Geschichte für die Öffentlichkeit“19. Die
Erinnerungskulturen sind ein universales Phänomen. Es lässt sich keine soziale Gruppe
denken, in der gar keine Formen des Bezugs auf die Vergangenheit zu finden wären20.
Die Vergangenheit kann in den Gesellschaften auf verschiedene Weise erinnert und
gepflegt werden, wie durch Gedenkstätten, Denkmäler, Museen, Feste, Jahrestage und
damit verbundene Gedenkreden. Es geht dabei oft nicht bloß um eine objektive,
wissenschaftliche Erinnerungsweise, sondern um eine emotional gefärbte Einstellung zu
dem
Vergangenen.
Christoph
Corneließen
betont
die
Dynamik
von
Erinnerungskulturen, indem er schreibt:
Erinnerungskulturen sind das Ergebnis von Aushandlungen in der Öffentlichkeit,
die sich aus einem Spannungsfeld zwischen individueller Erfahrung und
Erinnerung, politisch normierter sowie gesellschaftlich gewünschtem Gedenken
und wissenschaftlich objektivierter Geschichte ergeben21.
Die kollektiven Erinnerungen sind keine geschlossenen, ein für alle Mal festgelegten
und erstarrten Systeme. Sie werden modifiziert und aktualisiert, traumatische Ereignisse
werden oft erst nach Jahren verarbeitet. Die Grenze zwischen Vergessen und Erinnern
in den Erinnerungskulturen ist also flüssig, erinnert wird das, was gerade in der
Gesellschaft als relevant gilt. Die Forscher wie Aleida Assmann machen einen
Unterschied zwischen Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, zwischen einem
unabhängigen, zivilkulturellen Umgang mit Erinnerung und der gewaltsamen
Instrumentalisierung der Vergangenheit durch politische Mächte22. Die Verantwortung
18
Vgl. Corneließen, Christoph: Erinnern in Europa. Unter:
http://www.bpb.de/themen/8JVYJ2,0,Erinnern_in_Europa.html (Zugriff am 17.12.2009).
19
Hans-Günter Hockerts: Zugänge zur Zeitgeschichte. Primärerfahrung, Erinnerungskultur,
Geschichtswissenschaft, in: Konrad H. Jarausch/ Martin Sabrow (Hrsg.): Verletztes Gedächtnis.
Erinnerungskultur und Zeitgeschichte im Konflikt, Frankfurt a. M. 2002, S. 39-73 (Zit. nach: Corneließen,
Christoph: a.a.O.).
20
Vgl. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis, a.a.O., S. 30.
21
Corneließen, Christoph, a.a.O.
22
Vgl. Assmann, Aleida Der lange Schatten der Vergangenheit: Erinnerungskultur und
Geschichtspolitik. München 2006, C.H. Verlag, S. 274.
7
dafür, wie und wozu das Vergangene präsentiert und gebraucht wird, wird dem Staat
zugeschrieben, denn eben der Staat soll in Bezug auf die Erinnerung für kulturelle
Freiheit und Pluralität eintreten.
2.1.1 Gedächtnisdiskurs
Obwohl Stiftung und Pflege des kulturellen Erbes anscheinend zur Grundausstattung
des Menschen gehören und sich verschiedene Formen des kollektiven Bezugs auf die
Vergangenheit bis in die Antike zurückverfolgen lassen23, ist die wissenschaftliche
Beschäftigung mit dem Phänomen des kollektiven Gedächtnisses eine relativ neue
Erscheinung. Erst seit den 1920er Jahren erforscht man in der Kulturwissenschaft, wie
die Gesellschaften die Vergangenheit erinnern und welche Funktionen diese Akte
erfüllen. Zu dieser Zeit entstanden auch die ersten Gedächtnistheorien. Für die heutige
Forschung zum kollektiven Gedächtnis sind zwei Traditionsstränge mit dem
Ausgangspunkt in den 1920er Jahren von besonderer Bedeutung24. Verbunden sind sie
mit den Namen Maurice Halbwachs und Aby Warburg, die als die Allerersten das
Phänomen des kollektiven Gedächtnisses systematisch untersucht und beschrieben
haben. Halbwachs prägte in seinen soziologischen Studien das Konzept der mémoire
collective, Warburg beschäftigte sich mit einem europäischen Bildgedächtnis25. Nach
einer Pause wurde das Gedächtnis-Thema erst in den 1980er Jahren in der
kulturhistorischen Forschung wieder aufgegriffen. Sehr bedeutsam und einflussreich
erwies sich auf der internationalen Bühne Pierre Noras Konzept der lieux de mémoire.
Im deutschsprachigen Raum entwickelten Aleida und Jan Assmann einige Jahre später
den Begriff des ‚kulturellen Gedächtnisses’. Ihr Konzept gilt bis heute weltweit als das
am besten ausgearbeitete26. Der deutsche Sozialpsychologe Harald Welzer spricht in
Bezug auf das kollektive Gedächtnis über das soziale Gedächtnis 27. Erwähnenswert ist
schließlich
der
1997
gegründete
Gießener
23
Sonderforschungsbereich
434
Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart/Weimar:
J.B. Metzler 2005, S. 13.
24
Vgl. ebd.
25
Vgl. ebd.
26
Vgl. ebd.
27
Vgl. Welzer, Harald (Hg.): Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung.
Hamburg 2001, S. 9-21.
8
»Erinnerungskulturen«, im dessen Rahmen die Inhalte und Formen kultureller
Erinnerungen in ihrer Pluralität, Konstruktivität und Dynamik untersucht werden28.
2.1.1.1 Forschung in den 1920er Jahren – Maurice Halbwachs’ und Aby Warburgs
Konzepte
Maurice Halbwachs gilt als Vater der Gedächtnisforschung. Obwohl seine Werke wie
auch die ganze Beschäftigung mit dem Gedächtnis-Thema nach dem Krieg in
Vergessenheit gerieten, nehmen heute fast alle Theoretiker des kollektiven
Gedächtnisses Bezug auf ihn. Seine Konzepte werden zum Diskussionsgegenstand und
inspirieren neue Theorien.
Zuerst studierte Halbwachs Philosophie bei Henri Bergson, dann wandte er sich der
Soziologie zu und wurde Schüler Émile Durkheims. In seinen Schriften bezog sich
Halbwachs auf die Theorien beider Lehrer. Gegen den Subjektivismus Bergsons richtete
er eine These, dass die Erinnerung ein kollektives statt rein individuelles Phänomen ist.
Der Durkheimsche Begriff des kollektiven Bewusstseins wurde ihm dagegen zur
Grundlage seiner eigenen Studien zum Phänomen des kollektiven Gedächtnisses29.
Astrid Erll zählt in ihrem Beitrag zu Halbwachs drei Untersuchungsbereiche auf, die in
seinen Studien hinsichtlich des kollektiven Gedächtnisses unterschieden werden
können. Zum ersten beschäftigte er sich mit der Theorie der sozialen Bedingtheit
individueller Erinnerung. Zweitens untersuchte er die Formen und Funktionen des
zwischen den Generationen funktionierenden Gedächtnisses. Und schließlich weitete er
den Begriff der mémoire collective auf die Ebene kultureller Überlieferung und
Traditionsbildung aus30.
Der Ausgangspunkt und die Hauptthese Halbwachschen Theorie zum Phänomen des
kollektiven Gedächtnisses ist die schon erwähnte Annahme der sozialen Bedingtheit des
Gedächtnisses. Neben dem Begriff der mémoire collective also des kollektiven
Gedächtnisses, bediente sich Halbwachs in seiner Theorie auch der Bezeichnung cadres
sociaux also die sozialen Bezugsrahmen. Er stellte fest, dass sich ohne diese
Bezugsrahmen kein individuelles Gedächtnis entwickeln und erhalten könnte. Im 1925
veröffentlichten Buch Les cadres sociaux de la mémoire (Das Gedächtnis und seine
sozialen Bedingungen) notiert Halbwachs:
28
Vgl. Konzept des Gießener Sonderforschungsbereichs 434 Erinnerungskulturen. Unter:
http://www.uni-giessen.de/erinnerungskulturen/home/konzept.html (Zugriff am 17.12.2009).
29
Vgl. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis, a.a.O., S. 35.
30
Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, a.a.O., S. 14.
9
Es gibt kein mögliches Gedächtnis außerhalb derjenigen Bezugsrahmen, deren sich
die in der Gesellschaft lebenden Menschen bedienen, um ihre Erinnerungen zu
fixieren und wiederzufinden.31
Der Mensch wächst auf und funktioniert nicht in einem Vakuum, sondern in der
Umgebung von anderen Menschen. Das Gedächtnis entfaltet sich erst im Prozess der
Integration des Menschen in die Gesellschaft, ähnlich wie die Sprache. Es wächst „von
außen in den Menschen hinein“32. Ohne Kontakt zu anderen Menschen, in Einsamkeit
aufgewachsen, hätte das Individuum keine Erinnerungen, denn es würden die
unabdingbaren Bezugsrahmen fehlen. Die Erinnerungen entstehen nur durch Interaktion
und Kommunikation mit anderen Menschen im Rahmen sozialer Gruppen33. In
demselben Buch bemerkt Halbwachs ein paar Seiten vorher:
Jede noch so persönliche Erinnerung, selbst von Ereignissen, deren Zeuge wir
alleine waren, selbst von unausgesprochenen Gedanken und Gefühlen, steht zu
einem Gesamt von Begriffen in Beziehung, das noch viele andere außer uns
besitzen, mit Personen, Gruppen, Orten, Daten, Wörtern und Sprachformen,, auch
mit Überlegungen und Ideen, d.h. mit dem ganzen materiellen und geistigen Leben
der Gruppen, zu denen wir gehören und gehört haben.34
Die sozialen Rahmen ermöglichen, die verschiedenen vergangenen Ereignisse zu
lokalisieren und sie dadurch auch zu erinnern. Nicht nur konstituieren, sondern auch
stabilisieren sie die Erinnerungen der Individuen. Astrid Erll fügt hinzu, dass sich aus
den cadres sociaux im wörtlichen Sinne des sozialen Umfelds die cadres sociaux im
metaphorischen Sinne der Denkmuster ableiten lassen35. Diese Denkschemata lenken
Wahrnehmungen und Erinnerungen in bestimmte Richtungen einer kollektiven,
symbolischen Ordnung, an der wir teilhaben36. Ohne Zweifel haben wir auch
individuelle Gedächtnisse, diese Gedächtnisse sind aber kollektiv geprägt, weil sie im
31
Halbwachs, Maurice: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Frankfurt (M.) 1985, S. 121.
Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen. Wissen. Ethik. Jahrgang 13/2002 (S.
183-190, hier S. 184).
33
Vgl. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis, a.a.O, S. 36.
34
Halbwachs, Maurice: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, a.a.O, S. 71.
35
Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, a.a.O., S. 15.
36
Ebd.
32
10
Rahmen sozialer Gruppen entstanden sind. Deshalb spricht Halbwachs vom kollektiven
Gedächtnis, an dem die individuellen Gedächtnisse partizipieren:
Es würde in diesem Sinne ein kollektives Gedächtnis und einen Rahmen des
Gedächtnisses geben, und unser individuelles Denken wäre in dem Maβe fähig sich
zu erinnern, wie es sich innerhalb dieses Bezugsrahmens hält und an diesem
Gedächtnis partizipiert.37
Astrid Erll nennt die Beziehung zwischen dem kollektiven und dem individuellen
Gedächtnis eine wechselseitige Abhängigkeit38. Im Individuum offenbart sich das
Gedächtnis der Gruppe, aber „erst über individuelle Erinnerungsakte wird das kollektive
Gedächtnis beobachtbar“39. Weil die Menschen zu verschiedenen sozialen Gruppen
gehören, haben sie auch verschiedene Erfahrungen und daraus resultierende
Erinnerungen. Eben das macht die Gedächtnisse der Menschen einzigartig aus und
unterscheidet sie von den anderen Gedächtnissen. Wenn die bestimmten Bezugsrahmen
verschwinden, wenn man einer bestimmten sozialen Gruppe nicht mehr angehört,
verliert man auch die damit verbundenen Erinnerungen. Folgendermaßen erklärt
Halbwachs das Vergessen:
Wenn bestimmte Erinnerungen nicht zum Vorschein kommen, dann keineswegs
darum, weil sie zu alt und allmählich verblasst wären, vielmehr weil sie einst in ein
Vorstellungssystem eingebaut waren, das sie heute nicht mehr vorfinden.40
Den Prozess des Verblassens und Vergessens der Erinnerungen erläutert der Soziologe
auch mittels der Analyse von Träumen. Eben deswegen vergisst man relativ schnell,
wovon man geträumt hat, weil unsere Träume nur auf sich selbst basieren. Niemand
außer uns hat den Zugang zu ihnen und niemand ist im Stande uns zu helfen, sie im
Gedächtnis beizubehalten. Während wir die Erfahrungen und Erinnerungen mit
unserem sozialen Umfeld teilen und unser Gedächtnis auf den Gedächtnissen der
anderen stützen, sind die nächtlichen Träume unsere privaten und in voller Einsamkeit
erlebten Geschichten, die außerdem oft eine Mischung aus den schon geschehenen und
37
Halbwachs, Maurice: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, a.a.O, S.21.
Vgl. Erll, Astrid, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, a.a.O., S. 16.
39
Ebd.
40
Halbwachs, Maurice: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, a.a.O, S. 135.
38
11
nur möglichen Situationen sind. Man hat keine Mittel, um diese Geschichten nach dem
Erwachen wieder zu ergreifen. Halbwachs konstatiert:
Der Traum beruht auf sich selber, während unsere Erinnerungen sich auf die aller
anderen und auf die großen Bezugsrahmen des Gesellschaftsgedächtnisses
stützen.41
Darin besteht eben die stabilisierende Funktion der Bezugsrahmen.
Maurice Halbwachs unterschied in seinen Studien drei Dimensionen der mémoire
collective. Die erste Dimension machen die schon beschriebenen, sozial geprägten
individuellen Gedächtnisse aus. Das kollektive Gedächtnis besteht in diesem Fall aus
mehreren Einzelgedächtnissen. Die zweite Dimension ist das Generationengedächtnis,
das Halbwachs am Beispiel vom Familiengedächtnis analysiert. Das Familiengedächtnis
ist intergenerationell. Es umfasst die Gedächtnisse der Großeltern, Eltern und Kinder
und reicht so weit in die Vergangenheit, wie sich die ältesten Familienmitglieder
zurückerinnern können. Dieses Gedächtnis entsteht durch gemeinsam geteilte
Erfahrungen und durch mündliche Überlieferung, dank der auch diejenigen am
Gedächtnis partizipieren, die die erinnerten Geschichten und Ereignisse nicht selbst
erlebt haben. Die dritte und letzte Dimension der mémoire collective ist schließlich das
kulturelle Gedächtnis, das vor allem Aleida und Jan Assmann breiter beschrieben
haben. Im Allgemeinen handelt es sich in diesem Fall um die Tradierung des kulturellen
Wissens.
Betonen muss man noch, dass Halbwachs das kollektive Gedächtnis radikal von der
Geschichte trennte. Obwohl beide Formen des Vergangenheitsbezugs sind, lassen sie
sich miteinander nicht vereinbaren. In dem Buch Le memoire collective (Das kollektive
Gedächtnis) notiert er:
Die Geschichte beginnt im Allgemeinen erst an dem Punkt, wo die Tradition
aufhört und sich das kollektive Gedächtnis auslöst.42
Erst dann kann von der Geschichte als der Domäne der Historiker die Rede sein, wenn
die Vergangenheit nicht mehr vom kollektiven Gedächtnis lebender Gruppen in
41
42
Halbwachs, Maurice: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, a.a.O., S. 72.
Halbwachs, Maurice: Das kollektive Gedächtnis. Frankfurt a.M.: Fischer 1991, S. 66.
12
Anspruch genommen wird43. Die Geschichte, so Halbwachs, ist eine Abfolge von
Fakten, eine unparteiische Ordnung der gleichberechtigten Ereignisse aus der
Vergangenheit. Sie ist universal, das Gedächtnis dagegen partikulär, kollektiv, also
gruppenspezifisch. Die Träger des kollektiven Gedächtnisses sind Gruppen, die nicht
nur zeitlich und räumlich begrenzt sind, sondern auch deren Erinnerungen Wert an sich
haben. Halbwachs war der Meinung, dass die historischen Fakten niemandem etwas
bedeuten, das heißt, dass sie als leere Abstraktionen funktionslos und aus allen
Bindungen und Verbundenheiten ausgelöst sind. Das kollektive Gedächtnis besitzt
dagegen eine identitätsbildende Funktion. Hier wird nicht alles erinnert, sondern nur
das, was die Bedürfnisse der Gruppe befriedigt und ihren Interessen entspricht, also was
diese Gruppe stabilisiert. Mit Harald Welzers Worten ist das Gedächtnis „ein
konstruktives
System,
das
Realität
nicht
einfach
abbildet,
sondern
auf
unterschiedlichsten Wegen und nach unterschiedlichsten Funktionen filtert und
interpretiert“44. Es gibt nur eine Geschichte aber viele selektive Kollektivgedächtnisse.
Astrid Erll bemerkt, dass bei solch einem Prozess Verzerrungen und Umgewichtungen
bis hin zur Fiktion möglich sind45. Es handelt sich in diesem Fall nicht um ein Abbild
der Vergangenheit, sondern um eine Art Rekonstruktion. Dabei kann das Gedächtnis
einfach sehr kreativ sein.
Das zweite wichtige Konzept des kollektiven Gedächtnisses aus den 1920er Jahren
kommt von dem Kunst- und Kulturtheoretiker Aby Warburg. Anders als Halbwachs,
der sich vor allem auf die soziale Dimension der Kultur konzentrierte und auf „die
aktive, bewusste, konstruktive und Bedürfnissen der Gegenwart entsprechende
Aneignung einer Identitätsbezogenen Vergangenheit durch die soziale Gruppe“46 den
Druck legte, interessierte sich Warburg für die materiale Dimension der Kultur, die
ausdrucksstark aber auch eng mit unbewussten, psychischen Prozessen verbunden ist.
Da er sich mit der Kontinuität der Sternsymbolik und dem Nachleben der Antike in der
Renaissance beschäftigte, bemerkte er, dass bestimmte künstlerische Formen in
verschiedenen Epochen ständig wiederkehren. Dabei formulierte er eine These, dass
diese Erscheinung nicht nur auf die bewusste Aneignung der antiken Motive durch
Künstler, sondern vor allem auf die erinnerungsauslösende Kraft der kulturellen
43
Vgl. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis, a.a.O., S. 44.
Welzer, Harald: Das kommunikative Gedächtnis. C.H.Beck München, S. 20.
45
Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, a.a.O., S. 17.
46
Ebd. S. 21.
44
13
Symbole zurückzuführen ist47. In seiner Theorie benutzte Warburg den von Richard
Semon, einem Biologen, entwickelten Begriffs des ‚Engramms’. Semon bezeichnete als
Engramme bestimmte physiologische Spuren oder Veränderungen, die durch Reize in
die Organismen eingeschrieben werden48. Die Summe von Engrammen nannte er
‚Mneme’, die als Gedächtnis zu verstehen ist, weil „bei Wiederkehr der gleichen
Reizsituation die Reaktionen kraft Erinnerung wiederholt werden können“49. Für
Warburg waren kulturelle Engramme (oder auch Dynamogramme) bestimmte Symbole,
die die „‚mnemische Energie’ speichern, um sie unter den jeweiligen historischen
Bedingungen wieder zu entladen50. Es handelte sich also nicht um biologische
Grundlagen des Gedächtnisses wie bei Semon, sondern um die immanente
Gedächtniskraft der Bilder. Als Engramme bezeichnete Warburg vor allem die so
genannten ‚Pathosformeln’, das heißt Symbole, in denen sich das antike Pathos
niedergeschlagen hatte51. Bei seiner Beschäftigung mit der Kunst der Renaissance
beobachtete er, dass sich die Künstler der antiken Symbolik bedienten, wenn sie die
Leidenschaft der Figuren in Physiognomie und Gebärde darstellen und die
Ausdruckskraft der Bilder steigern wollten. In Bezug darauf erklärt Aleida Assmann,
dass mit der Wiederholung der Bildformel mehr aufgerufen wurde als nur ein
bestimmtes Motiv52. Bei jedem solchem Versuch kam es nämlich zur Aktivierung des in
die Formel eingeprägten Affektpotentials und zur Steigerung der Durchschlagskraft der
Bilder. Die mit solch einem Potential ausgestatteten Symbole nannte Warburg
‚Energiekonserven’ und argumentierte, dass die Kultur auf dem Gedächtnis der
Symbole beruhe53. Nicht die mündliche Rede, sondern die Kunstwerke machte er zum
zentralen Medium des kollektiven Gedächtnisses. Auf diese Weise entwickelte er das
Konzept des europäischen Bildgedächtnisses, in Bezug auf das er auch den Begriff des
‚sozialen Gedächtnisses“ verwendete. Warburg betonte in seinen Schriften, dass das
soziale Gedächtnis Veränderungen unterliegt, die für jede Zeit und jeden Ort typisch
sind. Die Analyse dieser Aktualisierungen könnte erlauben, Folgerungen auf die
47
Vgl. ebd.
Vgl. Semon, Richard: Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens.
Leipzig, Engelmann 1920.
49
Semon, Richard. Zit. nach Meyer-Kalkus, Reinhart: Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert.
Akademie Verlag, Berlin 2001, S.219.
50
Vgl. Öhlschläger, Claudia: Gender/Körper, Gedächtnis und Literatur. In: Erll, Astrid/ Nünning, Ansgar
(Hg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und
Anwendungsperspektiven. Berlin: de Gruyter 2005, S. 217-248 (hier S. 236).
51
Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, a.a.O., S.19.
52
Vgl. Assmann, Aleida: Erinnerungsräume, a.a.O., S. 226.
53
Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, a.a.O., S.19.
48
14
mentale, geistige Dimension der Kultur und auf den Zeitgeist zu ziehen, denn die
Vergangenheit wird immer in der Abhängigkeit von dem jeweiligen Zeitalter erinnert.
In Bezug darauf schreibt Warburg:
Die Abweichungen der Wiedergabe, im Spiegel der Zeit erschaut, geben die
bewusst und unbewusst auswählende Tendenz des Zeitalters wieder und damit
kommt die wunschbildende, idealsetzende Gesamtseele an das Tageslicht.54
Das Verfahren der Wiederholung und Aktualisierung der Formen versuchte Warburg in
seinem unvollendeten Projekt ‚Mnemosyne’ zu veranschaulichen55. Es handelte sich
dabei um eine Ausstellung, in deren Rahmen auf großen Tafeln Abbilder von
Kunstwerken, Briefmarken, Plakate und Fotografien versammelt wurden mit dem Ziel,
die Gültigkeit „antiker Ausdruckswerte bei der Darstellung bewegten Lebens in der
Kunst der europäischen Renaissance“56 nachzuweisen und damit das Konzept des
europäischen Bildgedächtnisses zu illustrieren. Die originellen Tafeln haben sich nicht
erhalten.
2.1.1.2 Pierre Nora und lieux de mémoire
Das einflussreichste Konzept zum Problem des kollektiven Gedächtnisses nach dessen
Wiederauftauchen in den 1980er Jahren kommt von dem französischen Historiker
Pierre Nora. Der Ausgangspunkt seiner Überlegungen zu lieux de mémoire
(Erinnerungsorte) war die Halbwachs’sche Trennung zwischen Gedächtnis und
Geschichte. In dem heute schon kanonischen Text der Gedächtnisforschung Zwischen
Geschichte und Gedächtnis legt Nora den Druck auf die Unterschiede zwischen den
beiden:
Gedächtnis, Geschichte: keineswegs sind dies Synonyme, sondern, wie uns heute
bewusst wird, in jeder Hinsicht Gegensätze. […] Das Gedächtnis ist ein stets
aktuelles Phänomen, eine in ewiger Gegenwart erlebte Bindung, die Geschichte
hingegen die Repräsentation der Vergangenheit. […] Das Gedächtnis rückt die
54
Ebd.
Vgl. Warburg, Aby: Der Bilderatlas Mnemosyne. Martin Warnke (Hg.), Berlin 2003.
56
Warburg, Aby. Zit. nach: Öhlschläger, Claudia: Gender/Körper, Gedächtnis und Literatur, a.a.O. S.
236.
55
15
Erinnerung ins Sakrale, die Geschichte vertreibt sie daraus, ihre Sache ist die
Entzauberung. Das Gedächtnis erwächst einer Gruppe, deren Zusammenhang es
stiftet. […].57
Das Gedächtnis ist immer mit lebendigen Trägern verbunden, die nach ihren Interessen
selektiv erinnern und vergessen. Die Geschichte ist dagegen objektiv und neutral,
„gehört allen und niemandem“58. Mit dieser Formulierung wiederholte Nora die These
Halbwachs’. Während aber Halbwachs in seinen Schriften von der Existenz kollektiver
Gedächtnisse ausging, schrieb Nora in Bezug auf die ihm gegenwärtige Zeit in einem
oft zitierten Satz etwas ganz Gegensätzliches:
Nur deshalb spricht man so viel vom Gedächtnis, weil es keines mehr gibt.59
Nach der Position von Aleida Assmann sind diese Worte zu verstehen als der Ausdruck
der Überzeugung von der Gedächtniskrise, einer „Abkoppelung der Gegenwart von der
Vergangenheit“60, einem endgültigen Verschwinden des Gedächtnisses „im Feuer der
Geschichte“61. Zu solch einer Feststellung kam Nora aufgrund der Analyse der
französischen Geschichte und der kollektiven Identität der Franzosen, die er in seinem
siebenbändigen Werk Les lieux de memoire darstellte. Während noch das 19.
Jahrhundert das Jahrhundert der Nationalstaaten war, kam es im 20. zur Abkehr von der
Idee der Nationalstaatlichkeit. Die Gesellschaftsstruktur hat sich geändert und
differenziert,
innerhalb
einer
Gesellschaft
gibt
Vertreter
von
verschiedenen
Erinnerungskulturen. Demnach ist es nicht mehr möglich, ein nationales Gedächtnis zu
kreieren, das identitätsstiftend wirken könnte. Als weitere Gegner des Gedächtnisses
zählt
Nora
solche
Modernisierungsphänomene
auf
wie
Individualisierung,
Demokratisierung, Vermassung, dekonstruktiven Einfluss der Geschichtswissenschaften
auf die identitätsfundierende Mythen62. Statt also von dem kollektiven Gedächtnis im
Halbwachs’schen Sinne spricht Nora von den lieux de mémoire63, von den
57
Nora, Pierre. Zit. nach: Assmann, Aleida: Erinnerungsräume, a.a.O., S. 132.
Ebd., S. 133
59
Nora, Pierre: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Zit. nach Assmann, Aleida: Erinnerungsräume,
a.a.O., S. 11.
60
Ebd., S. 13.
61
Nora, Pierre. Zit. nach: Assmann, Aleida: Erinnerungsräume, a.a.O., S.13.
62
Vgl. Schmidt, Patrick: Zwischen Medien und Topoi: Die Lieux de mémoire und die Medialität des
kulturellen Gedächtnisses. In: Erll, Astrid/ Nünning, Ansgar (Hg.): Medien des kollektiven
Gedächtnisses. Konstruktivität. Historizität. Kulturspezifität. Berlin 2004, S. 25-43 (hier S. 31).
63
Vgl. Nora, Pierre: Erinnerungsorte Frankreichs. Beck, 2005.
58
16
Erinnerungsorten, die die Erinnerungsbilder der Franzosen aufrufen und als „Stützen
der Erinnerung“64 dienen sollen. Dabei handelt sich nicht ausschließlich um Orte im
geografischen Sinne, sondern auch um Kunstwerke, Denkmäler, Gedenktage,
historische Persönlichkeiten, symbolische Handlungen oder philosophische Texte, die
das nicht mehr vorhandene kollektive Gedächtnis der Nation ersetzen. „Erinnerungsorte
sind zersprengte Fragmente eines verlorenen oder zerstörten Lebenszusammenhangs“65
schreibt Assmann in ihrem Kommentar zu Noras Worten „Es gibt lieux de mémoire,
weil es keine milieux de mémoire gibt“66. Was vorher Gegenstand des Gedenkens
innerhalb der Gedächtnisgemeinschaften war, verwandelte sich jetzt in Erinnerungsorte
im Sinne der Reste der vormaligen Tradition. Nora zählte konkrete Voraussetzungen
auf, die Geschehnisse oder Gegenstände erfüllen müssen, um als Erinnerungsorte gelten
zu können. Seinen Überlegungen nach kann man zwischen drei Dimensionen der
Erinnerunngsorte unterscheiden: zwischen einer materiellen, funktionalen und
symbolischen Dimension. Im ersten Fall handelt es sich nicht nur um Gegenstände, die
man anfassen kann, wie Kunstwerke, sondern auch um vergangene Ereignisse, die „ein
materieller Ausschnitt einer Zeiteinheit“ sind67. Die zweite Dimension weist auf
bestimmte Funktion hin, die die Objektivationen innerhalb der Gesellschaft erfüllt
hatten, bevor sie zu Erinnerungsorten wurden. Als Beispiel nennt Nora das berühmte
Buch Histoire de France von Ernest Lavisse, das ursprünglich als Schulbuch diente68.
Die symbolische Dimension verbindet sich schließlich mit der symbolischen
Bedeutung, die intentional den Objektivationen zugeschrieben wird. Es handelt sich um
solche Fälle, wenn Handlungen zu Ritualen werden, oder wenn Orte mit bestimmter
Atmosphäre umgeben sind69. Alle drei Voraussetzungen erfüllt beispielsweise
Auschwitz, das als Konzentrationslager zum bestimmten Zweck gebaut wurde, heute an
die Verbrechen an der Menschheit erinnert und mit Aura des Todes verbunden ist.
Astrid Erll bemerkt, dass Pierre Nora, trotz der konkreten Hinweise, die Definition der
Erinnerungsorte in seinen zahlreichen Beiträgen mehrmals dekonstruiert70. So
avancieren
zu
diesem
Rang
auch
Redeweisen,
Denkfiguren
und
soziale
Umgangsformen. Da der Historiker letztendlich keine eindeutige Definition formuliert,
64
Rüsen, Jörn: Kultur macht Sinn. Wien 2006, S. 84.
Assmann Aleida: Erinnerungsräume, a.a.O., S. 309.
66
Nora, Pierre. Zit. nach: Assmann, Aleida, ebd., S. 339.
67
Nora, Pierre. Zit. nach: Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, a.a.O., S. 24.
68
Vgl. ebd.
69
Vgl. ebd.
70
Vgl. ebd.
65
17
schlägt Erll vor, als Erinnerungsorte diese kulturellen Phänomene (ob material, sozial
oder mental) zu bezeichnen, die „auf kollektiver Ebene bewusst oder unbewusst in
Zusammenhang mit Vergangenheit oder nationales Identität gebraucht werden71“.
Obwohl Noras Feststellungen auf Kritik stießen, besonders die Idee der völligen
Ausschluss der memorialen Funktion der Geschichtsschreibung und des damit
verbundenen Verfalls des Gedächtnisses72, fand seine Methode in anderen Ländern
Anerkennung. Nach dem Vorbild von Lieux de mémoire wurden zahlreiche Nationen
und Regionen erinnerungshistorisch untersucht. Die bekannte deutsche Publikation zu
diesem Thema ist das dreibändige Werk der Historiker Étienne François und Hagen
Schulze Deutsche Erinnerungsorte, in dem die wichtigsten Bezugspunkte im kulturellen
Gedächtnis der Deutschen dargestellt werden, wobei der Druck nicht nur darauf gelegt
wird, auf welche Weise die Erinnerungsorte als loci memoriae entstanden sind, sondern
auch darauf, wie sich ihre Symbolik im Laufe der Zeit verändert hat73.
2.1.1.3 ‚Kulturelles Gedächtnis’ von Aleida und Jan Assmann
Nach der Position von Harald Welzer verdankt die Kulturwissenschaft den Arbeiten von
Jan und Aleida Assmann vor allem die genaue Bestimmung und Differenzierung des
Halbwachsschen Konzepts vom kollektiven Gedächtnis74. In den 1980er Jahren prägten
Assmanns den Begriff des ‚kulturellen Gedächtnisses’, den sie von dem
‚kommunikativen Gedächtnis’ einerseits und der Geschichte als Wissenschaft
andererseits abtrennten. In ihren Schriften stellten sie das Verhältnis zwischen Kultur
und Gedächtnis dar, wobei sich ihr Konzept durch solide, theoretische Begründung und
Systematisierung charakterisiert und heute zu meistdiskutierten Konzepten der
kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung gehört.
Die Assmannsche Trennung zwischen dem kollektiven und dem kulturellen Gedächtnis
basiert auf einer Feststellung, dass es einen Unterschied gibt zwischen dem kollektiven
Gedächtnis, das sich auf die Alltagskommunikation stützt, und dem kollektiven
Gedächtnis, das auf symbolischen Gütern, Riten und Kodierungen der kulturellen
71
Ebd.
Vgl. Egon Flaig, Soziale Bedingungen des Vergessens. In: Vorträge aus dem Warburg-Haus, Bd. 3,
Berlin 1999, S. 97 und Erll Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, a.a.O,. S 25.
73
Vgl. Francois, Etienne/ Schulze, Hagen (Hrsg.): Deutsche Erinnerungsorte. 3 Bde. München: Beck
2001.
74
Vgl. Welzer, Harald: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München 2002. S.
13.
72
18
Objektivationen beruht75. Die beiden Gedächtnis-Rahmen unterscheiden sich wesentlich
voneinander in ihren Inhalten, Formen, Medien, Trägern und schließlich in ihrer
Zeitstruktur. Das kommunikative Gedächtnis entsteht „in einem Milieu räumlicher
Nähe,
regelmäßiger
Interaktion,
gemeinsamer
Lebensformen
und
geteilter
Erfahrungen“76, durch Austausch der Informationen zwischen den Zeitgenossen. Die
Assmanns knüpfen damit an die These Halbwachs’ an, dass die Erinnerungen der
Individuen ausschließlich in Kommunikation mit den Mitmenschen entstehen können.
Da das kommunikative Gedächtnis die Geschichtserfahrungen der Individuen zum
Inhalt hat und auf ihren organischen Gedächtnissen basiert, ist auch sein Zeithorizont
beschränkt. Er wandert „mit dem fortschreitenden Gegenwartspunkt mit“77 und umfasst
jeweils drei bis vier Generationen, also 80-100 Jahre. Das ist der Zeitraum, in dem die
Generationen gleichzeitig existieren und „durch persönlichen Austausch eine
Erfahrungs-, Erinnerungs-, und Erzählgemeinschaft bilden“78. In Bezug auf das
kommunikative Gedächtnis kann man also auch von dem Kurzzeitgedächtnis der
Gesellschaft sprechen. Es ist informell und im hohen Maße unorganisiert, weil jeder
hier das Recht darauf hat, über eigene Erfahrungen zu erzählen und die gemeinsame
Vergangenheit zu erinnern. Das kommunikative Gedächtnis hat diesbezüglich keine
Fixpunkte, erst durch organisierte und zeremonialisierte Kommunikation über die
Vergangenheit ist die dauerhafte Fixierung der Inhalte dieses Gedächtnisses möglich79.
Seit diesem Punkt kann die Rede vom kulturellen Gedächtnis sein und eben diese
Gedächtnisform liegt im Zentrum der Forschung beider Assmanns. Jan Assmann
definiert das kulturelle Gedächtnis als den
jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an WiedergebrauchsTexten, -Bildern und –Riten [...], in derer Pflege sie ihr Selbstbild stabilisiert und
vermittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen, vorzugsweise (aber nicht ausschließlich)
75
Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, a.a.O., S. 27-33
Assmann, Aleida / Frevert, Ute: 1998 – Zwischen Geschichte und Gedächtnis. In: Assmann, Aleida /
Frevert, Ute: Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen
Vergangenheiten nach 1945. Stuttgart 1999, S. 21-52 (hier S. 36).
77
Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Assmann, Jan/ Hölscher, Tonio
(Hg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt (M.) 1988, S. 11.
78
Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen, Wissen, Ethik. Streitform für
Erwägungskultur. Jg. 13 (2002), H. 2, S. 183-190 (hier S. 185).
79
Vgl. Welzer, Harald: Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung. Hamburg 2001, S.
13.
76
19
über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewusstsein von Einheit und
Eigenart stützt.80
Den Inhalt des kulturellen Gedächtnisses bilden Geschehnisse aus der weit
zurückliegenden Vergangenheit, die vor allem die stabilisierende Funktion für das
Selbstbild der sozialen Gruppen erfüllen. Aleida Assmann notiert, dass das kulturelle
Gedächtnis den Bürgern einer Gesellschaft dazu dient, „in langfristiger historischer
Perspektive
überlebenszeitlich
zu
kommunizieren“81.
In
dem
Beitrag
zur
Mediengeschichte des kulturellen Gedächtnisses erweitert sie diesen Gedanken
folgendermaßen:
Das kulturelle Gedächtnis schafft die materiellen und institutionellen Grundlagen
dafür, dass Menschen sich überhaupt auf eine sehr viel frühere Zeit beziehen
können und auch selbst erwarten dürfen, zu einer späteren Nachwelt noch sprechen
zu können. 82
Die Erinnerungen an vergangene Geschehnisse funktionieren zunächst immer im
Rahmen des kommunikativen Gedächtnisses. Wenn sie aber für die Gesellschaft von
großer Bedeutung sind, werden sie kanonisiert und gehen auf diese Weise in das
kulturelle Gedächtnis über. Im Unterschied zum unorganisierten kommunikativen
Gedächtnis, ist das kulturelle Gedächtnis im hohen Grad gestiftet, zeremonialisiert und
an feste Objektivationen gebunden. Es vermittelt einen festen Bestand an Inhalten und
Sinnstiftungen, deshalb erfordert es spezialisierte und ausgebildete Trägerschaft, die die
Tradition kontinuiert sowie die Inhalte des kulturellen Gedächtnisses interpretiert und
weitergibt, wie Priester oder Schamanen83. Zusammenfassend kann man nach Jan
Assmann
folgende
Merkmale
des
kulturellen
Gedächtnisses
aufzählen:
Identitätskonkretheit – das kulturelle Gedächtnis ist konstitutiv für die Identität der
sozialen Gruppen; Rekonstruktivität – das kulturelle Gedächtnis ist retrospektiv, es
bezieht sich auf die Gegenwart; Geformtheit – im Unterschied zum kommunikativen ist
das
kulturelle Gedächtnis
auf die Kontinuierung von Sinn
80
anhand
fester
Assmann, Jan : Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, a.a.O., S. 15.
, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses, a.a.O., S. 189.
82
Assmann, Aleida: Zur Mediengeschichte des kulturellen Gedächtnisses. In: Erll, Astrid / Nünning,
Ansgar: Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität. Historizität. Kulturspezifität, Berlin
2004, S. 45-60 (hier S. 47).
83
Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, a.a.O., S. 28.
81
20
Ausdrucksformen und -medien angewiesen, wie Riten, Schrift oder Bilder;
Organisiertheit – das kulturelle Gedächtnis ist institutionalisiert, seine Träger
spezialisiert; Verbindlichkeit – das kulturelle Gedächtnis gilt für alle Mitglieder der
Gruppe in dem Sinne als verbindlich, dass es aus ihm eine Wertperspektive und ein
Relevanzgefälle für die Gruppe resultiert; Reflexivität – das kulturelle Gedächtnis
reflektiert die Lebenswelt und das Selbstbild der Gruppe, sowie sich selbst 84. Nach der
Position von Harald Welzer liegt ein gemeinsames Merkmal beider Gedächtnis-Rahmen
darin, dass sowohl das kommunikative als auch das kulturelle Gedächtnis überwiegend
intentional mit der Vergangenheit umgehen. Seiner Meinung nach handelt es sich in
beiden Fällen um eine bewusste bzw. eine bewussteinfähige Praktiken der
Kommunikation und Formung von Vergangenheit85.
Von großer Bedeutung ist in der Theorie Assmanns die Betonung der Relation zwischen
kultureller Erinnerung, kollektiver Identitätsbildung und politischer Legitimierung. Mit
dieser Frage beschäftigt sich vor allem Jan Assmann. In dem 1992 veröffentlichten
Buch Das kulturelle Gedächtnis schreibt er:
Gesellschaften
imaginieren
Selbstbilder
und
kontinuieren
über
die
Generationenfolge hinweg eine Identität, indem sie eine Kultur der Erinnerung
ausbilden; und sie tun das [...] auf ganz verschiedene Weise.86
So kommt Assmann zur Unterscheidung zwischen den oralen und skripturalen Kulturen
hinsichtlich der Medien der Überlieferung und zwischen den heißen und kalten
Kulturen, wenn es um die gedächtnispolitischen Strategien geht. Im ersten Fall spricht
er von der rituellen Kohärenz oraler Kulturen und der textuellen Kohärenz skripturaler
Kulturen87, weil sowohl die Mündlichkeit als auch die Schriftlichkeit die zwei
Hauptmedien des kulturellen Gedächtnisses sind. Orale Kulturen überliefern die Inhalte
des kulturellen Gedächtnisses durch Wiederholungen der Mythen, wobei sie einen
besonderen Druck auf die Genauigkeit legen, denn jede Abweichung und Veränderung
beeinträchtigt den Überlieferungszusammenhang. Das kulturelle Gedächtnis in den
oralen Kulturen beruht vor allem auf den organischen Gedächtnissen der Schamanen.
Skripturelle Kulturen wenden sich dagegen der Schrift zu, so sind sie auch im Stande,
84
Vgl. ebd., S. 28-29, und Welzer, Harald: kommunikative Gedächtnis, a.a.O., S.14.
Vgl. Welzer, Harald: Das soziale Gedächtnis, a.a.O., hier S. 15.
86
Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis, a.a.O., S. 18.
87
Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, a.a.O., S. 30.
85
21
mehr und genauer zu überliefern88. Der Vorteil von Schrift liegt dabei darin, dass sie als
ein externer Gedächtnisspeicher auch dann Inhalte vermittelt, wenn die Kontinuität
einer Gesellschaft bricht, wenn die Kultur nicht mehr existiert. Schriftliche Texte
brauchen aber ausgelegt und interpretiert, in jeder Gegenwart erneut angeeignet zu
werden;
diesbezüglich
sind
Deuter
und
Kommentatore
nötig.
Die
zweite
Unterscheidung betrifft heiße und kalte Kulturen, wobei es sich darum handelt, zu
welchem Zweck die Kulturen ihre Erinnerungen ausnutzen. Wenn die Erinnerung zur
Entwicklung antreibt und die Kultur durch „ein gieriges Bedürfnis nach Veränderung“89
gekennzeichnet ist, wird sie als heiß bezeichnet. Kalt sind dagegen diejenigen Kulturen,
die
dem
geschichtlichen
Wandel
Widerstand
gedächtnispolitischen Strategien muss
man
leisten.
In
Bezug
noch hinzufügen, dass
auf
die
es
eine
Abhängigkeitsbeziehung zwischen den politischen Mächten und dem kollektiven
Gedächtnis besteht. Während bestimmte Machstrukturen die Gestalt des kulturellen
Gedächtnisses beeinflussen können, wirkt das Gedächtnis als legitimierend (wenn sich
die gegenwärtige Situation aus der gemeinsamen Vergangenheit ableitet) oder
delegitimierend (wenn die vergangene Zeit als besser beurteilt wird) auf die politischen
Mächte.
In Anlehnung an Maurice Halbwachs und Pierre Nora beschäftigten sich Assmanns in
ihren Schriften mit dem Verhältnis zwischen Geschichte und Gedächtnis. In 1999
erschienenem Buch Erinnerungsräume notiert Aleida Assmann:
Die schroffe Polarisierung von Geschichte und Gedächtnis erscheint mir ebenso
unbefriedigend wie ihre vollständige Gleichsetzung. Ich mochte [...] deshalb
vorschlagen, Geschichte und Gedächtnis als zwei Modi der Erinnerung
festzuhalten, die sich nicht gegenseitig ausschließen und verdrängen müssen.90
Aleida Assmann unterscheidet zwischen dem unbewohnten und bewohnten Gedächtnis,
die sie anders entsprechend als Speicher- und Funktionsgedächtnis bezeichnet. Zu den
wichtigsten
Merkmalen
des
Funktionsgedächtnisses
zählt
sie
Wertbindung,
Gruppenbezug, Selektivität und Zukunftsorientierung auf. Das Speichergedächtnis setzt
sie dagegen mit den historischen Wissenschaften gleich und bezeichnet es als
88
Vgl. Assmann, Jan: Religion und kulturelles Gedächtnis. Zehn Studien. München 2000, S. 139.
Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis, a.a.O., S. 68.
90
Assmann, Aleida: Erinnerungsräume, a.a.O., S. 133-134.
89
22
‚Gedächtnis der Gedächtnisse’91 oder ‚Menschheitsgedächtnis’92, das alles Vergangene
aufbewahrt und zur eventuellen Verfügung für das Funktionsgedächtnis stellt. Das
Speichergedächtnis
besteht
aus
bedeutungsneutralen
Funktionsgedächtnis – aus bedeutungsbeladenen.
Elementen,
das
Aleida Assmann beschreibt den
Unterschied zwischen den beiden Modi folgendermaßen:
Auf kollektiver Ebene enthält das Speichergedächtnis das unbrauchbar, obsolet und
fremd Gewordene, das neutrale, identitäts-abstrakte Sachwissen, aber auch das
Repertoire verpasster Möglichkeiten, alternativer Optionen und ungenutzter
Chancen. Beim Funktionsgedächtnis dagegen handelt es sich um ein angeeignetes
Gedächtnis, das aus einem Prozeβ der Auswahl, der Verknüpfung, der
Sinnkostitution [...] hervorgeht. Die strukturlosen, unzusammenhängenden
Elemente treten ins Funktionsgedächtnis als komponiert, konstruiert, verbunden
ein. Aus diesem konstruktiven Akt geht Sinn hervor, eine Qualität, die dem
Speichergedächtnis grundsätzlich abgeht.93
Das Speichergedächtnis existiert als eine Art Archiv, in dem ständig neue Daten
angesammelt werden. Erst über das Funktionsgedächtnis wird die Identität der Gruppen
und Gesellschaften konstituiert. Das Verhältnis zwischen den beiden wird als
perspektivisch bezeichnet: Vor dem Hintergrund des Speichergedächtnisses hebt sich
das Funktionsgedächtnis als Vordergrund ab94.
2.1.1.4 Harald Welzer und das Konzept des ‚sozialen Gedächtnisses’
In Bezug auf das kollektive Gedächtnis benutzt der Sozialpsychologe Harald Welzer
den Begriff ‚soziales Gedächtnis’. Darunter versteht er „die Gesamtheit der sozialen
Erfahrungen der Mitglieder einer Wir-Gruppe“95. Aufgrund der Überlegungen Peter
Burkes zum sozialen Gedächtnis96 und der Assmannschen Theorien unterscheidet
Walzer zwischen vier Medien der sozialen Praxis der Vergangenheitsbildung:
91
Ebd. S. 134.
Ebd. 137.
93
Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis, a.a.O., S.137.
94
Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, a.a.O., S. 31.
95
Welzer, Harald (Hg.): Das soziale Gedächtnis, a.a.O., S. 15.
96
Vgl. Burke, Peter: Geschichte als soziales Gedächtnis. In: Assmann, Aleida / Harth, Dietrich (Hg.):
Mnemosyne. Formen und Funktionen kultureller Erinnerung. Frankfurt (M.) 1991, S. 289-304.
92
23
Interaktionen, Aufzeichnungen, Bilder und Räume97, wobei er betont, dass diese
Medien im Unterschied zu ihrer Funktion im kommunikativen und kulturellen
Gedächtnis nicht zwecks der Traditionsbildung erstellt wurden, dennoch aber die
Geschichte transportieren und die Vergangenheit bilden98. Unter ‚Interaktion’ versteht
Walzer die kommunikativen Praktiken, die „entweder per se die Modi der
Vergegenwärtigung von Vergangenem betreffen oder Vergangenheit en passant
thematisieren“99. Dabei handelt sich um solche kommunikative Tradierung von
Vergangenheit, im deren Rahmen nicht explizit über die Vergangenheit gesprochen
werden muss, um sie doch zu vermitteln. Die Geschichte wird absichtslos, unbemerkt
und beiläufig transportiert, beispielsweise wenn bei dem Erzählen persönlicher
Erlebnisse zusätzlich Fakten über die historischen Bedingungen vermittelt werden100.
Dieselbe Situation findet im Fall von Aufzeichnungen und Bilder statt. Ein Bündel
Liebesbriefe aus dem Familienarchiv transportiert über Schrift, Papier und Briefmarken
Informationen über die Vergangenheit, obwohl es überhaupt nicht zu diesem Zweck
entstanden ist101. Als Medien „absichtsloser Geschichtsvermittlung“102 können auch
Filme und Fotos gelten, die die historischen Umstände visuell darstellen und somit das
Vergangene mittransportieren. Schließlich sind als Räume Häuser und Städte zu
verstehen, die „in Beton, Stein und Asphalt materialisierte historische Zeiten
repräsentieren“103. Welzer macht aufgrund von seinen Überlegungen deutlich, dass die
Praktiken des kommunikativen Gedächtnisses nur einen geringen Teil des sozialen
Gedächtnisses sind104. Er betont auch, dass sich die dargestellten, analytischen
Trennungen in der Praxis der Vergangenheitsbildung überlagern können. Das ist der
Fall, wenn beispielsweise ein Foto von einem familiären Fest einen Mann in SSUniform zeigt und „die Vergangenheitserzählung en passant schnell in eine explizite
Veranstaltung des kommunikativen Gedächtnisses verwandelt werden“105 kann.
2.1.1.5 Sonderforschungsbereich 434 »Erinnerungskulturen«
97
Vgl. Welzer, Harald: Das soziale Gedächtnis, a.a.O., S. 16.
Vgl. ebd.
99
Ebd.
100
Vgl. ebd., S.17.
101
Vgl. ebd.
102
Ebd., S. 18.
103
Ebd.
104
Vgl. ebd.
105
Ebd.
98
24
Der Sonderforschungsbereich (SFB) 434 »Erinnerungskulturen« wurde an der JustusLiebig-Universität Gieβen im Jahre 1997 „als einer der ersten und größten
geisteswissenschaftlichen Forschungsverbünde dieser Art“106 gegründet. Zum Ziel
setzte man die Erforschung von Formen und Inhalten kultureller Erinnerung von der
Antike bis ins 21. Jahrhundert107. Der SFB »Erinnerungskulturen« betonte von Anfang
an die Dynamik und Pluralität der kulturellen Erinnerung, womit er sich gegen das
zunächst statisch und überhistorisch angelegte Konzept des kulturellen Gedächtnisses
von Jan und Aleida Assmann richtete108. Diesbezüglich bevorzugt man in erster Linie
den Begriff ‚Erinnerung’ statt ‚Gedächtnis’, das in der Regel mit Speichermetaphern
assoziiert wird. Des Weiteren privilegiert man die Pluralform Erinnerungskulturen,
womit
man
auf
die
Vielfalt
und
historisch-kulturelle
Variabilität
der
Erinnerungspraktiken und -konzepte hinweist109.
Im Rahmen des SFB »Erinnerungskulturen« beteiligen sich Spezialisten aus zahlreichen
kulturwissenschaftlichen Disziplinen, unter anderem aus den Geschichtswissenschaften,
Literaturwissenschaften,
der
Philosophie,
Soziologie,
klassischen
Philologie,
Politikwissenschaft, Kunstgeschichte und Orientalistik mit solchen bekannten und
anerkannten Forschern wie Birgit Neumann, Jürgen Reulecke, Ansgar Nünning, Astrid
Erll oder Günter Oesterle. Die interdisziplinäre Erinnerungsforschung ermöglicht, die
Rahmenbedingungen
des
historischen
Erinnerns,
die
Entstehung
spezifischer
Erinnerungskulturen sowie die verschiedenen Modi der kollektiven Erinnerung zu
untersuchen110. Diese drei Ebenen bilden die Struktur des Modells zur Beschreibung
von kulturellen Erinnerungsprozessen, das im Rahmen des SFB »Erinnerungskulturen«
entwickelt wurde. Der Schwerpunkt der Forschung und Publikationen liegt dabei vor
allem in der Untersuchung der spezifischen Erinnerungskulturen und bildet damit einen
bedeutsamen Teil der kulturhistorischen Gedächtnisforschung. Dabei handelt es sich um
solche Aspekte wie die Erinnerungshoheit (zwischen hegemonialer Erinnerungskultur
und
Konkurrenz
von
Erinnerungskulturen
innerhalb
der
Gesellschaft),
die
Erinnerungsinteressen von verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen (Konkurrenz oder
Nebeneinanderexistieren),
die
Erinnerungstechniken
106
und
verschiedene
Homepage des Sonderforschungsbereichs 434 »Erinnerungskulturen« unter: http://www.unigiessen.de/erinnerungskulturen/home/index.html (Zugriff am 06.02.2010).
107
Vgl. ebd.
108
Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, a.a.O., S. 34.
109
Vgl. ebd.
110
Vgl. Konzept des Sonderforschungsbereichs 434 »Erinnerungskulturen« unter: http://www.unigiessen.de/erinnerungskulturen/home/konzept.html (Zugriff am 06.02.2010).
25
Darstellungsformen der Vergangenheit in den Gesellschaften111. Nicht ohne Bedeutung
bleiben auch die Beschäftigung im Rahmen des SFB »Erinnerungskulturen« mit den
Gedächtnismedien sowie dessen Beitrag zur Ausarbeitung der Konzepte der
kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung112.
2.1.2 Zum Begriff ‚Medium des kollektiven Gedächtnisses’
Aus dem skizzierten Gedächtnisdiskurs ergibt sich deutlich, dass das kollektive
Gedächtnis ein durch Medien vermitteltes Gedächtnis ist. Beatrace Hendrich ist sogar
der Meinung, dass die Existenz der Medien „eine elementare Voraussetzung für die
Existenz einer Gesellschaft und Kultur“113 ist. Eine präzise Definition des Mediums als
‚Medium des kollektiven Gedächtnisses’ ist aber problematisch, denn sowohl der
Begriff ‚Medium’ als auch ‚kollektiv’ kommen bei einer tiefgründigen Analyse als nicht
leicht zugänglich vor114. In Anlehnung an Siefried J. Schmidt schlägt Astrid Erll vor,
vom Medium als ‚Kompaktbegriff’ zu sprechen. In seinem Buch Kalte Faszination
unterscheidet Schmidt vier Komponenten, durch die Medien definiert werden:
Mein Vorschlag geht dahin, am Kompaktbegriff ‚Medium’ folgende Aspekte zu
unterscheiden, die als konstitutive Komponenten von Medien interpretiert werden
können:
Dispositiv
semiotische
Kommunikationsinstrumente,
beziehungsweise
die
jeweilige
das
technisch-mediale
Medientechnologie,
die
sozialsystemische Institutionalisierung eines Mediums sowie die jeweiligen
Medienangebote.115
Bei den Kommunikationsinstrumenten handelt es sich um „alle materialen
Gegebenheiten, die semiosefähig sind und zur geregelten, dauerhaften, wiederholbaren
und gesellschaftlich relevanten strukturellen Koppelung im Sinne je system-spezifischer
111
Vgl. Erll, Astrid: Gedächtnis und Erinnerungskulturen, a.a.O., S. 35.
Vgl. ebd,. S. 36
113
Hendrich, Beatrice:“ Im Monat Muharrem weint meine Laute!“ – Die Erinnerungsdimensionen der
anatolischen Langhalslaute im Alevitentum. In: Erll, Astrid / Nünning, Ansgar: Medien des kollektiven
Gedächtnisses. Konstruktivität. Historizität. Kulturspezifität, Berlin 2004, S. 159-177 (hier s. 160).
114
Vgl. Echterhoff, Gerald: Das Außen des Erinnerns: Was vermittelt individuelles und kollektives
Gedächtnis? Ebd., S 61-82 (hier S. 74).
115
Schmidt, Siegfried. J: Kalte Faszination: Medien, Kultur, Wissenschaft in der Mediengesellschaft.
Weilerswist: Velbrück 2000, S. 93-94. Zit. nach: Erll, Astrid: Medium des kollektiven Gedächtnisses: Ein
(erinnerungs)kulturwissenschaftlicher Kompaktbegriff. In: Erll, Astrid / Nünning, Ansgar: Medien des
kollektiven Gedächtnisses, a.a.O., S. 3-22 (hier S. 13).
112
26
Sinnproduktion genutzt werden können“116, wie beispielsweise natürliche Sprachen,
Bilder, Töne oder Schriften. Als Medientechnologien bzw. den technisch-medialen
Dispositiv
versteht
Schmidt
„Druck-,
Film-
oder
Fernsehtechniken“117.
Die
sozialsystemische Institutionalisierung umfasst Institutionen und Organisationen wie
Schulen oder Fernsehanstalten. Die jeweiligen Medienangebote werden schließlich
„von den drei anderen Komponenten geprägt“118. Nach der Position von Astrid Erll
konstituiert sich ‚ein Medium des kollektiven Gedächtnisses’ erst im Zusammenspiel
von solchen verschiedenen sozialen und medialen Phänomenen119. Die Funktion der
Medien des kollektiven Gedächtnisses beschränkt sich dabei nicht nur auf die
Übermittlung von Gedächtnisinhalten. Medien, so Erll, sind „keine neutralen Träger
von vorgängigen, gedächtnisrelevanten Informationen“120. Nach Sybille Krämer
wiederholt sie, dass Medien eine konstituierende Kraft besitzen, die „die Modalitäten
unseres Denkens, Wahrnehmens, Erinnerns, Kommunizierens prägt“121. Mit anderen
Worten wird das kollektive Gedächtnis nicht nur medial vermittelt, sondern auch medial
konstruiert122. Astrid Erll zählt drei Funktionen von Medien des kollektiven
Gedächtnisses
auf:
Speicherung,
Zirkulation
und
cue123.
Die
Aufgabe
der
Speicherfunktion ist es, die Gedächtnisinhalte aufzubewahren und durch die Zeit
hindurch zur Verfügung zu halten. Die Zirkulation von Gedächtnisinhalten findet
dagegen dort statt, wo die persönliche Kommunikation zwischen den Mitgliedern einer
Erinnerungsgemeinschaft nicht mehr möglich ist. Die Zirkulationsfunktion gibt also
eine Chance, über die Räume hinweg zu kommunizieren. Mit cues wird schließlich die
Abruffunktion der Medien des kollektiven Gedächtnisses gemeint. Cues dienen als
Erinnerungsanlässe, wie beispielsweise Orte, die mit bestimmten vergangenen
Geschehnissen assoziiert werden. Betonen muss man noch, dass in den meisten Fällen
den Gedächtnismedien alle drei Funktionen gleichzeitig zuzuordnen sind.
116
Ebd.
Ebd.
118
Ebd.
119
Vgl. ebd.
120
Ebd.
121
Ebd.
122
Ebd.
123
Vgl. Erll, Astrid: Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses. In: Erll, Astrid / Nünning,
Ansgar (Hg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft: Theoretische Grundlegung und
Anwendungsperspektiven. Berlin 2005, S 249-276.
117
27
Jens Ruchatz spricht in Bezug auf Medien des kollektiven Gedächtnisses von
‚Externalisierung’ und ‚Spur’124. Mit der ‚Externalisierung’ meint er dabei die
traditionelle Konzeption von Medien als Träger von Gedächtnisinhalten. Die
Konzeption der ‚Spur’ umfasst dagegen solche Medien, die selbst keine Spuren sind,
wie im Fall der Externalisierung, sondern „nur eine technisierte und standardisierte
Möglichkeit, dauerhafte Spuren zu erzeugen“125. Die ‚Spur’ wird nicht als
Repräsentation sondern als Resultat eines vergangenen Geschehens verstanden. Sie
zeigt genau „jenes singuläre, punktuelle Ereignis an, das sie hervorgebracht hat“126.
2.1.2.1 Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses
‚Literatur als Medium des Gedächtnisses’ ist eines der drei Gedächtniskonzepten, die in
der literaturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung ausgearbeitet worden sind. Die
zwei anderen sind ‚Gedächtnis der Literatur’ und Gedächtnis in der Literatur’127. Im
Rahmen des Konzeptes ‚Gedächtnis der Literatur’ wird der Druck auf die
Intertextualität gelegt. Die intertextuellen Relationen versteht man dabei als
‚Erinnerungsakte’, was bedeutet, dass Literatur „durch den Bezug auf vorgängige Texte,
auf Gattungen, Formen, Strukturen, Symbole und Topoi“128 an sich selbst erinnert.
Erforscht werden vor allem die Beziehungen zwischen verschiedenen Kunstwerken,
sowie Wiederholungen und Aktualisierungen ästhetischer Formen129. Die zweite
Richtung der literaturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung – ‚Gedächtnis in der
Literatur’ – beschäftigt sich mit den Darstellungsweisen von Erinnerung in den
literarischen Werken. Man konzentriert sich auf die Frage, „mit welchen Verfahren
Inhalte und Funktionsweisen des Gedächtnisses thematisiert und inszeniert werden“130.
Untersucht wird sowohl die Darstellung von individuellen als auch von kollektiven
Erinnerungen.
124
Vgl. Ruchatz, Jens: Fotografische Gedächtnisse. Ein Panorama medienwissenschaftlicher
Fragestellungen. In: : Erll, Astrid / Nünning, Ansgar: Medien des kollektiven Gedächtnisses, a.a.O., S.
83-105 (hier S. 86).
125
Ebd. S. 89.
126
Ebd.
127
Vgl. Erll, Astrid / Nünning, Ansgar: Literaturwissenschaftliche Konzepte von Gedächtnis. Ein
einführender Überblick. In: Erll, Astrid / Nünning, Ansgar (Hg.): Gedächtniskonzepte der
Literaturwissenschaft, a.a.O., S. 1-7 (hier S. 2).
128
Ebd.
129
Vgl. ebd. S. 3.
130
Ebd. S. 4.
28
Das
literaturwissenschaftliche
Gedächtniskonzept
‚Literatur
als
Medium
des
Gedächtnisses’ charakterisieren Astrid Erll und Ansgar Nünning folgendermaßen:
In dieser Perspektive konstituiert sich Literatur als ein Medium, das nicht nur auf
Gedächtnisprozessen beruht (‚Gedächtnis der Literatur’) oder Gedächtnis darstellt
(‚Gedächtnis in der Literatur’) sondern das überdies auch ‚Gedächtnis’ [...] in der
Erinnerungskultur vermittelt.131
Nach der Position von Astrid Erll beruht die Wirkung der Literatur als Medium des
kollektiven
Gedächtnisses
auf
„Ähnlichkeiten
und
Differenzen
zu
erinnerungskulturellen Prozessen“132. Literatur und Gedächtnis kreuzen sich an drei
Schnittpunkten133. In der ersten Linie handelt es sich um das Verfahren der
Verdichtung, die sowohl in Erinnerungskulturen als auch in der Literatur ein zentrales
Merkmal ist. Verdichtet wird die Bedeutung der Vergangenheit, wenn komplexe
vergangene Ereignisse anhand von einzelnen Symbolen oder Persönlichkeiten
repräsentiert werden, beispielsweise wenn ein Datum für mehrere Erinnerungen steht.
In der Literatur verfährt der Prozess der Verdichtung in Metaphern und Allegorien. Die
Verdichtung bedeutet in diesem Fall die Koexistenz von verschiedenen semantischen
Bereichen auf dem engsten Raum. Die Entschlüsselung des Sinnes von verdichteten
Erinnerungsorten sowie der sprachlichen Bilder ist jeweils vom Kontext abhängig, das
heißt von den Praktiken und Deutungsweisen der jeweiligen Erinnerungsgemeinschaft.
Der zweite Schnittpunkt von Literatur und Gedächtnis ist die Narration. Das kollektive
Gedächtnis stützt sich auf narrative Vorgänge – das historische Geschehen sowie die
individuellen Erfahrungen werden narrativisiert und dadurch zu sinnvollen Geschichten
konstruiert. Im Fall von literarischen Texten wie Roman oder Novelle ist die Narration
auch von zentraler Bedeutung. Schließlich betrifft der letzte Schnittpunkt die
Gattungmuster, die Astrid Erll in Bezug auf die Erinnerungskulturen als
„konventionalisierte Weisen der Kodierung von Geschehensverläufen“134 bestimmt.
Gattungsspezifische Formen sind Gegenstände des kollektiven Gedächtnisses und
gehören zum gemeinsamen Wissen der Gesellschaften. Als solche werden sie von
Individuen im Prozess der Sozialisation erworben und bei der Rezeption von
131
Ebd. S. 5.
Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, a.a.O., S. 143.
133
Vgl. ebd., S. 144-147.
134
Ebd. S. 146.
132
29
literarischen Texten benutzt. Das Verhältnis zwischen der Literatur und dem
erinnerungskulturellen Kontext erweist sich als sehr eng. Die Literatur zieht die
existierenden Muster heran, verarbeitet sie und gibt sie in die Erinnerungskultur zurück.
Von den anderen schriftlichen Medien des kollektiven Gedächtnisses unterscheiden sich
literarische Texte in bestimmten Punkten. Erstens besitzen sie einen fiktionalen Status,
deshalb haben sie auch einen eingeschränkten Anspruch an Objektivität, Referenzialität
und Faktentreue135. Außerdem sind literarische Texte vielstimmig, das heißt „sie
repräsentieren verschiedene Redeweisen und Diskurse und führen sie modellhaft
zusammen“136, im Unterschied zu wissenschaftlichen Spezialdiskursen. Deshalb kann
die Diskursvielfalt einer Erinnerungskultur in ihnen Anklang finden.
Das Verhältnis zwischen dem kulturellen Gedächtnis, der Literatur und ihrer Wirkung
in der Erinnerungskultur lässt sich mit Hilfe von einem literaturwissenschaftlichen
Modell veranschaulichen. Das Modell wurde von Paul Ricœur entworfen und von ihm
als Kreis der Mimesis bezeichnet137. Unterschieden wird dabei zwischen den drei
Darstellungsstufen: der Mimesis I, Mimesis II und Mimesis III. Nach der Position von
Ricœur sind bei der literarischen Welterzeugung drei Aspekte von Bedeutung: 1) Die
Präfiguration des Textes, das heißt die Bezugnahme des Textes auf die außertextuelle,
vorgängige, erinnerungskulturelle Wirklichkeit, wie Handlungsmuster, Praktiken,
Stereotypen und Wahrnehmungen (Mimesis I). In den literarischen Texten können auch
nicht-bewusste oder nicht-intentionale, das heißt implizite Formen des kollektiven
Gedächtnisses artikuliert werden. 2) Die textuelle Konfiguration zu einem fiktionalen
Gebilde (Mimesis II) – hier werden die Elemente, die im Rahmen des Mimesis I
ausgewählt wurden, zu einer Geschichte verknüpft. So entsteht eine exemplarische
narrative Struktur. 3) Die Refiguration des Textes durch den Leser (Mimesis III).
Einerseits wird dem Text von dem Leser eine Bedeutung zugeschrieben, andererseits
verändert aber der Text die Wirklichkeitswahrnehmung des Lesers, seine kulturelle
Praxis und die Wirklichkeit selbst138. Astrid Erll macht darauf aufmerksam, dass die
Literatur dann in der Erinnerungskultur wirkt, wenn sie als ein Medium des kollektiven
Gedächtnisses betrachtet wird. Den Einfluss der Rezeption von literarischen Texten auf
den Leser fasst sie folgendermaßen zusammen:
135
Vgl. ebd. S. 148.
Ebd.
137
Vgl. ebd. S. 150.
138
Vgl. ebd. S. 150.
136
30
Literatur prägt Kollektivvorstellungen vom Ablauf und vom Sinn vergangener
Ereignisse, deutet die Gegenwart und weckt Erwartungen für die Zukunft. Aus der
kollektiven Refiguration können aber auch tatsächliche Handlungen, von
veränderten Formen der Alltagskommunikation bis hin zur politischen Aktion,
hervorgehen.139
Der literarische Prozess erscheint also als ein aktiver Vorgang, an dem die symbolische
Ordnung der Kultur, das literarische Verfahren sowie die Rezeption ebenso beteiligt
sind. Schematisch kann man das auf folgende Weise veranschaulichen:
Dreistufige Mimesis des kollektiven Gedächtnisses140
In Anlehnung an Maurice Halbwachs’ Konzept des cadres sociaux spricht Astrid Erll
im Kontext der Litaratur von einem cadre médiale141. Die Literatur funktioniert als ein
medialer Rahmen des Erinnerns. Anders gesagt scheint die Lektüre von literarischen
Texten individuelle Gedächtnisse in gleichem Maße zu beeinflussen, wie die Interaktion
innerhalb von sozialen Gruppen oder die mediale Kommunikation, die nicht auf
fiktionalen Texten basiert. Die Literatur ist eine „Quelle der kulturellen Paradigmen“142.
In den literarischen Werken werden Modelle und Schemeta entwickelt, die einerseits
die Wahrnehmung der Wirklichkeit präformieren, andereseits aber auch die
139
Ebd. S. 152.
Ebd. S. 154.
141
Vgl. Erll, Astrid: Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses, a.a.O., S. 259.
142
Ebd.
140
31
persönlichen Erinnerungen sowie die Vorstellungen von der Vergangenheit prägen143.
Astrid Erll bemerkt, dass schon Halbwachs dieses Phänomen am Beispiel eines
Spaziergangs durch London beschrieben hat144. Halbwachs berichtet in seinem Buch,
inwieweit die Lektüre der Romane von Dickens seine Wahrnehmung der Stadt
präformiert hat und umgekehrt, denn eben London selbst die Erinnerungen an
bestimmte literarische Werke hervorgerufen hat. Der Autor scheint damit als ein
„Kommunikationspartner bei der sozialen Gedächtnisbildung“145 zu fungieren. Die
Literatur erfüllt dagegen die Funktion eines Mediums, aus dem soziale Bezugsrahmen
abgeleitet werden. Im Bereich der Sozialpsychologie wurde die Wirkungsweise der
Literatur als medialen Rahmen des Erinnerns von Harald Welzer untersucht. In
Anlehnung an lebensgeschichtlichen Interviews stellte Welzer fest, dass narrativfiktionale Texte den Inhalt sowie die Struktur von autobiographischen Erinnerungen
von Interviewten beeinflusst haben, wobei das Eindringen von Elementen der
fiktionalen Erzählungen in eigene Lebensgeschichten in meisten Fällen auf unbewusster
Ebene verlief. Nach der Position von Welzer ist es sogar „ziemlich wahrscheinlich, dass
wir alle unseren eigenen Lebensgeschichten Elemente und Episode beigefügt haben, die
andere – fiktive oder reale – Personen erlebt haben und nicht wir selbst“146. Aus der
neuropsychologischer Perspektive lässt sich dieses Phänomen dadurch erklären, „dass
die neuronalen Verarbeitungssysteme für visuelle Perzeptionen und für phantasierte
Inhalte sich überlappen, so dass auch rein imaginäre Geschehnisse mit visueller
Prägnanz ‚vor den Augen’ des sich Erinnernden stehen können“147. So können auch die
durch die Lektüre von literarischen Texten erzeugten Vorstellungen nicht von den
tatsächlich erlebten Situationen unterschieden werden.
Wie andere Medien des kollektiven Gedächtnisses weisen auch die literarischen Texte
alle drei Funktionsaspekte auf – Literatur dient in der Erinnerungskultur als ein
Speicher- und Zirkulationsmedium, sowie als cue. Als Speichermedien gelten vor allem
die ‚kulturellen Texte’, die in der Assmannschen Forschung von den anderen
literarischen Texten unterschieden wurden. Der Unterschied zwischen beiden
Textsorten liegt dabei nicht in den textinternen Merkmalen und in der Struktur, sondern
in ihrer Rezeption, die sich durch „Verehrung, wiederholtes Studium und
143
Ebd.
Vgl. ebd.
145
Ebd.
146
Zit. nach: Erll, Astrid, ebd., S. 260.
147
Ebd.
144
32
Ergriffenheit“148 auszeichnet. Literarische Texte sind nicht verbindlich. Sie markieren
eine
Wirklichkeitsversion
und
charakterisieren
sich
durch
einen
gewissen
Deutungsspielraum. Erst dann werden sie zu den kulturellen Texten, wenn sie ihre
Mehrdeutigkeit zugunsten einer einheitlichen Aussage verlieren. Gewonnen wird dabei
eine kulturelle Tiefendimension:
Während der literarische Text nur unverbindliche Sinnangebote vermittelt, Teil
seiner Epoche ist und mit ihrem Wandel auch seine Interessantheit verliert,
vermittelt der kulturelle Text eine verbindliche, unhintergehbare und zeitlose
Wahrheit.149
In dieser Perspektive sind kulturelle Texte sowohl erinnerndes Medium als auch
erinnerter Gegenstand des kulturellen Gedächtnisses zugleich. Ein ‚Paradigma des
kulturellen Textes’ ist nach der Position von Aleida Assmann die Bibel150.
Die Funktion des Zirkulationsmediums des kollektiven Gedächtnisses erfüllt die
Literatur in den so genannten ‚kollektiven Texten’. Im Unterschied zu den
(hoch)kulturellen Texten, gehören die kollektiven Texte meistens der Populärliteratur
an.
Sie
„erzeugen,
perspektivieren
und
zirkulieren
Inhalte
des
kollektiven
Gedächtnisses“151, deshalb werden sie auch nicht als verbindliche Elemente und zu
erinnernde Gegenstände des kulturellen Gedächtnisses rezipiert, sondern dienen als
„Vehikel der kollektiven medialen Konstruktion und Vermittlung von Wirklichkeitsund Vergangenheitsversionen“152. Die Rolle der kollektiven Texte bei der Konstitution
der kollektiven Gedächtnisse ist nicht zu überschätzen. Sie vermitteln Geschichtsbilder,
Normen, Werte und kollektive Identitäten. Nach der Position von Astrid Erll soll man
auf die Vorstellung verzichten, dass nur ‚hohe Literatur’ mit Bezug auf das kulturelle
Gedächtnis gelesen wird. Gerade in der Trivialliteratur, so Erll, werden Mythen erzeugt
sowie kulturspezifische Sinnstiftungsschemata vermittelt153. Sie benutzt symbolische
Ressourcen, die dem kulturellen Gedächtnis angehören. Astrid Erll konstatiert:
148
Assmann, Aleida. Zit. nach: Erll, Astrid, ebd., S. 261.
Ebd. S. 262
150
Vgl. Assmann, Aleida: Was sind kulturelle Texte? In: Poltermann, Andreas (Hg.): Literaturkanon –
Medienereignis – Kultureller Text. Formen interkultureller Kommunikation und Übersetzung. Göttinger
Beiträge zur Internationalen Übersetzungsforschung. Bd. 10. Berlin 1995, S. 232-244 (hier S. 237).
151
Erll, Astrid: Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses, a.a.O., S. 262.
152
Ebd.
153
Vgl. ebd., S. 263
149
33
Die
Erinnerung
Sinnkonstruktionen
an
eine
fundierende
normativer
und
Vergangenheit
formativer
Art
und
sind
kollektive
offensichtlich
gesamtgesellschaftlich mehr durch populäre Zirkulationsmedien bestimmt als
durch institutionell vermittelte Speichermedien, die im Rahmen der Enkulturation,
etwa in der Schule oder bei der religiösen Unterweisung, aktualisiert werden.154
In einem ähnlichen Ton äußert sich der deutsche Soziologe Niklas Luhmann, indem er
schreibt, dass Zirkulationsmedien Massenmedien sind155.
Als cue kann schließlich unter anderem Goethes Faust betrachtet werden, weil schon
die Nennung des Titels in der Gesellschaft Assoziationen mit der deutschen Tradition
sowie der deutschen Nationalliteratur hervorruft.
Im Allgemeinen kann man nach Astrid Erll sagen, dass literarische Texte als Medien
des kollektiven Gedächtnisses vielfältige erinnerungskulturelle Funktionen erfüllen. Sie
dienen zur „Vermittlung von Schemata zur Kodierung von Lebensverläufen, der
Herausbildung von Vorstellungen über vergangene Lebenswelten, der Zirkulation von
Geschichtsbildern, der Aushandlung von Erinnerungskonkurrenzen sowie der Reflexion
über Prozesse und Probleme des kollektiven Gedächtnisses“156. Sie sind in der
Erinnerungskultur allgegenwärtig, sowohl in Form von populärer Trivial- als auch
kanonisierter
Hochliteratur.
Zu
den
wichtigen
Themen
der
heutigen
Literaturwissenschaft zählt der Zusammenhang zwischen Literatur, Erinnerung und
Identität. Wie Birgit Neumann bemerkt, wird in vielen Erzähltexten dargestellt, auf
welche Weise Individuen und Kollektive sich erinnern, vergessen und wie sie auf der
Basis von oftmals ephemeren Vergangenheitsversionen ihre Identitäten imaginieren157.
„Literarischen Texte – so Neumann - sind auf vielfältige Art und Weise mit
Konstruktionen und Konzepten von Erinnerung und Identität eng verbunden. Sie greifen
auf Elemente der präexistenten (Erinnerungs-)Kultur zurück und konstruieren mit
formästhetischen Verfahren eigenständige, symbolisch verdichtete Erinnerungs- und
Identitätsmodelle“158. Das Verhältnis zwischen literarischer Inszenierung und
Erinnerung erweist sich als gegenseitig, denn die literarischen Inszenierungen können
auch auf die individuellen sowie kollektiven Erinnerungen zurückwirken und auf diese
154
Ebd.
Vgl. Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien. Opladen 1995.
156
Erll, Astrid: Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses, a.a.O., S. 249.
157
Vgl. Neumann, Birgit: Literatur, Erinnerung, Identität. In: Erll, Astrid / Nünning, Ansgar (Hg.):
Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft, a.a.O., S. 149-178 (hier S. 149).
158
Ebd.
155
34
Weise Vergangenheitsversionen und Selbstbilder aktiv mitprägen. „Identität wird
gestaltet, ja konstruiert durch Erinnerung“159 – schreibt Jörn Rüsen. Romane, in denen
das Zusammenspiel von Erinnerung und Identität in ihrer individuellen oder kollektiven
Dimension inszeniert wird, bezeichnet Birgit Neumann als fictions of memory160.
In seinem Beitrag Literatur und kollektives Gedächtnis in der DDR schreibt Carsten
Gansel von zwei Funktionen literarischer Texte als Medien des kommunikativen und
kulturellen Gedächtnisses. Einerseits sind literarische Texte ein Medium, „über das in
Form von narrativen Inszenierungen individuelle und generationenspezifische
Erinnerung für das kollektive Gedächtnis bereitgestellt wird“161. Andererseits bilden sie
aber individuelle, generationenspezifische und kollektive Formen von Erinnerung
gewissermaßen ab, so dass diese wieder beobachtbar werden.162
Astrid Erll bezeichnet Literatur als ein „machtvolles Medium des kollektiven
Gedächtnisses“163.
2.1.3 Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses und ihre Modi
Unter dem Begriff ‚Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses’ versteht man „die
Gesamtheit der Formen und Verfahren eines literarischen Textes, die im Sinne eines
Wirkungspotentials dazu führen können, dass dieser Text von der Leserschaft als
kollektiver Text aktualisiert wird“164. Die Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses ist
also eine literarische Strategie. Ihre Ausprägungen findet sie in verschiedenen Modi,
wobei als ‚Modus’ eine Kategorie der erinnerungshistorischen Narratologie verstanden
werden soll. Die Modi der Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses (Astrid Erll
unterscheidet zwischen dem ‚kommunikativen’, ‚kulturellen’, ‚antagonistischen’ und
dem
‚reflexiven’
Modus)
konstituieren
sich
als
„ein
Ensemble
textueller
Darstellungsverfahren“165. Erzeugt werden sie durch verschiedene literarische
159
Rüsen, Jörn: Einleitung: Für eine interkulturelle Kommunikation in der Geschichte. Die
Herausforderungen des Ethnozentrismus in der Moderne und die Antwort der Kulturwissenschaft. In:
Rüsen, Jörn / Gottlob, Michael / Mittag, Achim (Hg.): Die Vielfalt der Kulturen. Erinnerung. Geschichte,
Identität. Frankfurt (M.) 1998.
160
Vgl. Neumann, Birgit: Literatur, Erinnerung, Identität, a.a.O., S. 164.
161
Gansel, Carsten: Zwischen offiziellem Gedächtnis und Gegen-Erinnerung – Literatur und kollektives
Gedächtnis in der DDR. In: Gansel, Carsten (Hg.): Gedächtnis und Literatur in den ‚geschlossenen
Gesellschaften‘ des Real-Sozialismus zwischen 1945 und 1989. Göttingen 2007, S. 13-38 (hier S. 17).
162
Ebd.
163
Vgl. Erll, Astrid: Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses, a.a.O., S. 271.
164
Ebd., S. 268.
165
Erll, Astrid: Gedächtnisromane. Literatur über den Ersten Weltkrieg als Medium englischer und
deutscher Erinnerungskulturen in den 1920er Jahren. Trier 2003, S. 148.
35
Ausdrucksformen, wie „Selektionsstruktur, Konfiguration, paratextuelle Gestaltung,
Erzählerdiskurs,
Fokalisierung,
Zeit-
und
Raumdarstellung,
Symbolik
oder
Metaphorik“166. Sie basieren außerdem auf der ‚Semantisierung literarischer Formen’ –
einerseits machen die genannten Darstellungsverfahren ein Wirkungspotential aus,
andererseits können aber die Wirkungspotentiale erst im Leseprozess aktualisiert
werden und dadurch zur historischen Wirkung des Gedächtnisses beitragen 167.
Analogisch hängt die Semantisierung literarischer Formen sowohl von den textinternen
Merkmalen als auch von der Sinnzuweisung seitens der Leser ab. Astrid Erll bemerkt,
dass die Modi der Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses „zu verschiedenen
Funktionalisierungen
von
Gedächtnisromanen
als
Medien
des
kollektiven
Gedächtnisses“168 führen. Dazu, dass der Gedächtnisroman als Medium des
kommunikativen Gedächtnisses lesbar wird, trägt der dominant kommunikative Modus
bei. Bei der Dominanz des kulturellen Modus wird der Roman als Medium des
kulturellen Gedächtnisses
rezipiert.
Der
antagonistische
Funktionalisierung
Textes
als
Medium
des
Erinnerungskonkurrenzen
verantwortlich.
Modus
der
Betrachtet
ist
für die
Aushandlung
wird
schließlich
von
der
Gedächtnisroman als Medium der Beobachtung zeitgenössischer Erinnerungskulturen,
wenn der reflexive Modus dominiert. Die vier Modi des kollektiven Gedächtnisses
können nach der Position von Astrid Erll folgendermaßen charakterisiert werden169:
-
Kommunikativer bzw. erfahrungshaftiger Modus – Das Erzählte erscheint hier
als Gegenstand des alltagsweltlichen kommunikativen Gedächtnisses. Es
dominieren diejenigen Darstellungsverfahren, durch die die in dem Text
dargestellte Wirklichkeit als Lebenserfahrung einer sozialen Gruppe oder einer
Epoche inszeniert wird. Der literarische Text wird dadurch zu einem
erfahrungsgesättigten Medium. Das fiktionale Geschehen wirkt, so Erll, als
„Teil der Kontaktzone einer erweiterten Gegenwart“170. In dem kommunikativen
bzw. erfahrungshaftigen Modus werden Alltagshaltigkeit, Authentizität und
sinnliche
Erfahrungsspezifität
suggeriert.
Die
für
ihn
spezifische
Darstellungsweise ähnelt der Repräsentation der Vergangenheit im Rahmen des
166
Ebd.
Ebd.
168
Ebd.
169
Vgl. Erll, Astrid: Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses, a.a.O., S. 268-269.
170
Ebd.
167
36
individuell-autobiographischen Gedächtnisses und seiner kollektivierten und
medialisierten Variante, das heißt des kommunikativen Gedächtnisses. Typische
literarische Formen und Darstellungsverfahren, die diesen Modus konstituieren,
sind beispielsweise fingiertes mündliches Erzählen, alltagssprachliche und
gruppenspezifische Ausdrücke oder die Verfahren der Innenweltdarstellung, in
denen Aspekte pränarrativer Erfahrung veranschaulicht werden. Es handelt sich
also um solche Verfahren, die den Endruck von ‚Realismus’ geben.
-
Kultureller bzw. monumentaler Modus – Zu diesem Modus führt eine Dominanz
von diesen Darstellungsverfahren, die den Text als traditionshaltiges und
verbindlichen Sinn stiftendes Medium betrachten lässt. In diesem Fall ähnelt die
Darstellungsweise der Repräsentation der Vergangenheit durch Praktiken und
Medien des kulturellen Gedächtnisses, wie Ritual, Nationalgeschichtsschreibung
oder Mythos. Die in dem Text inszenierte Wirklichkeit verweist auf den
‚Fernhorizont der Kultur’. Typische Formen sind somit formelhafte und
archaisierende Wendungen, Symbole und Allegorien.
-
Antagonistischer Modus – Die Erinnerungskonkurrenzen werden in diesem
Modus literarisch ausgehandelt. Der antagonistische Modus basiert auf den
Strategien, die darauf abzielen, „bestehende Gedächtnisnarrative affirmativ zu
verstärken oder aber subversiv zu dekonstruieren und durch andere zu
ersetzen“171. Die literarischen Werke mit dem dominierenden antagonistischen
Modus vermitteln Normen und Werte bestimmter sozialer Gruppen und
desavouieren gleichzeitig die Sinnwelten der anderen Formationen. In dem Buch
Kultur – Gedächtnis – Literatur betont Astrid Erll, dass „im Gedächtnisroman
nicht nur Konkurrenzen nationaler Gedächtnisse auf antagonistische Weise
verhandelt werden, sondern auch die Gedächtnisse innergesellschaftlichen
Gruppen“172, wie die Gedächtnisse von Generationen, sozialen Klassen,
religiösen Gemeinschaften oder Geschlechtern. Die Gedächtnisromane, in denen
dieser Modus dominiert, sind standortgebunden und perspektivisch. Zu den
typischen Formen gehören zum Beispiel stereotypisierende Wendungen oder
einseitige Selektionsstrukturen, die die Erinnerungen und Erfahrungen von
konkurrierenden Gruppen außer Acht lassen. Darauf, welchen Gedächtnissen
‚richtige’ und relevante Erinnerungen zugesprochen werden und welchen
171
172
Ebd. S. 269.
Erll, Astrid: : Gedächtnisromane, a.a.O., S. 155.
37
dagegen nicht, weisen die Handlungsstruktur, die Figurenkonstellation sowie
die Perspektivenstruktur hin.
-
Reflexiver Modus – In diesem Fall dient der literarische Text der Beobachtung
von Erinnerungskulturen. Inszeniert werden sowohl die Funktionsweisen als
auch die Probleme des kollektiven Gedächtnisses. In erster Linie handelt es sich
also nicht um die Gedächtnisbildung sondern um die Gedächtnisreflexion173. Da
die Gedächtnisromane mit dem dominierenden reflexiven Modus Instanzen der
Beobachtung zweiter Ordnung sind, hat der Leser an einer distanzierten
Betrachtung
von
Erinnerungskulturen
teil.
Zu
den
typischen
Darstellungsverfahren zählen somit diejenigen Formen, die Probleme, Prozesse
und Funktionsweisen des kollektiven Gedächtnisses thematisieren und
inszenieren, wie die Reflexion über Gedächtnis in der Figuren- oder
Erzählerrede
oder
die
Darstellung
von
Wirkungsweisen
der
Erinnerungspraktiken auf der Ebene der Handlung.
Es muss betont werden, dass die Modi nie in einer reinen Form vorkommen. Die
Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses stützt sich eher auf die Verbindungen
unterschiedlicher Modi. In der Regel bewegt sie sich innerhalb einer Skala, deren
Eckpunkte der kommunikative und der kulturelle Modus sind. Als Beispiel der Romane,
in denen beide Modi zu erkennen sind, erwähnt Astrid Erll die Kriegsromane der
1920er Jahre. Dargestellt wurde in ihnen der Erste Weltkrieg, der gleichzeitig
Gegenstand beider Gedächtnisse, sowohl der kommunikativen als auch des kulturellen,
war. Astrid Erll kommentiert diese Erscheinung folgendermaßen:
Die Funktion, die Gedächtnismedien in dieser Situation zukommt, ist durch ihre
Darstellung des Kriegs die Erinnerung gemäß beider Gedächtnisrahmen modellhaft
in Einklang zu bringen und damit Möglichkeiten lebensweltlicher und ‚kultureller’
Sinnstiftung aufzuzeigen.174
Die Verbindung beider Modi der Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses in diesen
Romanen
entspricht
also,
so
Erll,
den
Herausforderungslagen
ihres
erinnerungskulturellen Kontextes. Dieselbe Situation haben wir im Fall der Shoah, die
173
174
Vgl. ebd., S. 157.
Ebd., S. 152.
38
einerseits noch viele Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg zum relativ nahen
Vergangenheit gehörte und somit Gegenstand der individuell-autobiographischen und
kommunikativen Gedächtnisse war, andererseits aber wegen ihrer einschneidenden
Bedeutung im Rahmen des kulturellen Gedächtnisses verortet werden sollte.
„Die
literarische Erinnerung an Katastrophen, Kriege und Revolutionen – schreibt Erll – ist
oft geprägt von Versuchen, beide Gedächtnis-Rahmen durch die Verknüpfung von
erfahrungshaftigen und monumentalen Darstellungsformen zu relationieren“175.
Gedächtnisromane, in denen beide Modi vorkommen, erfüllen im Allgemeinen zwei
erinnerungskulturelle
Funktionen.
Einerseits
werden
Inhalte
der
kulturellen
Gedächtnisses durch Erfahrungshaftigkeit angereichert und in die Kontaktzone der
Gegenwart zurückgeführt, andererseits aber dient das Oszillieren zwischen dem
kommunikativen und kulturellem Modus der Überführung der gelebten Erinnerung in
kulturelles Gedächtnis176. Der kommunikative bzw. erfahrungshaftige und kulturelle
bzw. monumentale Modus schließen sich also nicht aus, sondern sind als „stets
ineinander greifende Formen des literarischen Vergangenheitsbezugs zu verstehen“177.
Was den antagonistischen Modus betrifft, braucht er den kommunikativen oder den
kulturellen Modus als Basis, denn erst dann werden die in ihm dargestellten
Antagonismen wirksam, wenn der Text von der Leserschaft als Medium des kollektiven
Gedächtnisses rezipiert wird178. Bei der Kombination von antagonistischem und
kulturellem Modus kann man von der kulturellen (De-)Legitimierung sprechen, aber
auch die literarische Inszenierung vom kollektiven Gedächtnisses kann als
delegitimierend oder legitimatorisch wirken. Der reflexive Modus beschränkt sich
dagegen nur selten auf die distanzierte Beobachtung des kollektiven Gedächtnisses. Oft
verbinden sie sich auch mit antagonistischen Implikationen. In solchen Situationen
kommt es zu einer ‚antagonistischen Reflexion’179, die zum Beispiel Mechanismen der
Propaganda zu entlarven versucht.
Die Erwägungen zum Thema Modi der Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses könnte
man mit Worten von Astrid Erll zusammenfassen:
175
Erll, Astrid: Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses, a.a.O., S. 270.
Vgl. Erll, Astrid: Gedächtnisromane, a.a.O.. S. 152.
177
Erll, Astrid: Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses, a.a.O., S. 269.
178
Vgl. Gedächtnisromane, a.a.O., S. 152.
179
Vgl. ebd., S. 159.
176
39
Wird ein literarischer Text leserseitig als kollektiver Text aktualisiert, so eröffnen
die Modi der Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses verschiedene Optionen seiner
erinnerungskulturellen Funktionalisierung: Literatur kann als Zirkulationsmedium
für die Herausbildung und Transformation von kulturellem Gedächtnis fungieren;
sie kann kommunikative Gedächtnisse ikonisch anreichern; sie kann bestehende
Gedächtnisnarrative dekonstruieren und Gegen-Erinnerung in das kollektive
Gedächtnis einschreiben; sie kann die Reflexion über Funktionsweisen und
Probleme des kollektiven Gedächtnisses anregen.180
Dabei stellen die Modi der Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses sowohl
narratologische als auch erinnerungshistorische Kategorien dar, denn die Analyse der
Texte mit dem Ziel, die Dominanz eines oder des anderen Modus festzustellen, kann
nur mit der Kenntnis historischer Erinnerungskulturen einhergehen181.
2.2 Opa war kein Nazi – Geschichte im Generationengedächtnis
Das Phänomen des Generationengedächtnisses am Beispiel des Familiengedächtnisses
wurde schon von Maurice Halbwachs analysiert und beschrieben. Als besonders
interessant im Kontext dieser Arbeit erscheinen aber die Untersuchungen, die im
Rahmen des Forschungsprojekts ‚Tradierung von Geschichtsbewusstsein’ geführt
wurden und in denen man die Frage zu beantworten versucht, wie der
Nationalsozialismus und der Holocaust im deutschen Familiengedächtnis repräsentiert
sind, dass heißt, „was ‚ganz normale’ Deutsche aus der NS-Vergangenheit erinnern, wie
sie darüber sprechen und was davon auf dem Wege kommunikativer Tradierung an die
Kinder- und Enkelgenerationen weitergegeben wird“182. Die Ergebnisse dieser
Untersuchungen, die auf Familiengesprächen und Einzelinterviews basieren, wurden in
dem Buch Opa war kein Nazi: Nationalismus und Holocaust im Familiengedächtnis 183
von Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschuggnall dargestellt. Sie zeigen
deutlich, dass in den Familien andere Bilder von der nationalsozialistischen
Vergangenheit vermittelt werden als in den Medien oder in der Schule. Diese
180
Erll, Astrid: Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses, a.a.O., S. 269.
Vgl. ebd., S. 271.
182
Welzer, Harald / Moller, Sabine / Tschuggnall, Karoline: Opa war kein Nazi: Nationalsozialismus und
Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt (M.) 2002. S. 11
183
Ebd.
181
40
Diskrepanz
ergibt
sich
aus
dem
Unterschied
zwischen
dem
kognitiven
Geschichtswissen einerseits und den emotionalen Vorstellungen über die Vergangenheit
andererseits.
Es
„existiert
nationalsozialistischen
neben
einem
Vergangenheit
ein
wissensbasiertem
weiteres,
‚Lexikon’
emotional
der
bedeutenderes
Referenzsystem für die Interpretation dieser Vergangenheit, zu dem konkrete Personen
– Eltern, Groβeltern, Verwandte – ebenso gehören wie die Briefe, Fotos und persönliche
Dokumente aus der Familiengeschichte“184. Während das ‚Lexikon’ von Vernichtung
und Verbrechen erzählt, ist dieses familiäre ‚Album’ mit Krieg, Opferschaft,
Heldentum, Leiden und Faszination bebildert. Die Schwierigkeit, besonders auf der
Seite der Nachfolgegenerationen, besteht darin, die als verbrecherisch markierte
Vergangenheit mit eigenem Familiengedächtnis in Einklang zu bringen. Die Enkel und
Urenkel lösen dieses Problem, indem sie gute Geschichten über ihre Opas und Omas
erzählen – „Geschichten über das Dagegensein, das Mundaufmachen, Geschichten aber
auch über alltägliches Heldentum, das bis zum Erschießen sadistischer Offiziere und
Verstecken jüdischer Häftlinge reicht“185. Verankert wird dieser Prozess zum großen
Teil in der Weise, auf die das Familiengedächtnis funktioniert und in den Funktionen,
die es zu erfüllen.
Wie die Autoren bemerken, stellt das Familiengedächtnis „kein umgrenztes und
abrufbares Inventar von Geschichten“186 dar, sondern besteht in der kommunikativen
Vergegenwärtigung von Geschichten und Episoden, die in Beziehung zu den
Familienmitgliedern
stehen
und
über
die
sie
gemeinsam
sprechen.
Diese
Vergegenwärtigung findet meistens beiläufig und absichtslos – wie beispielsweise „in
einer alltäglichen, in keiner Weise auf das Erzählen von Erinnerungen bezogenen
sozialen Situation“187 - statt. Thematisiert wird das Vergangene zu unterschiedlichsten
möglichen Anlässen nicht nur von den Akteuren der damaligen Ereignissen sondern
auch von den Angehörigen der Nachfolgegenerationen. „Die kommunikative
Vergegenwärtigung von Vergangenem in der Familie - schreiben die Autoren – ist
mithin kein bloßer Vorgang der Aktualisierung und der Weitergabe von Erlebnissen und
Ereignissen, sondern immer auch eine gemeinsame Praxis, die die Familie als eine
Gruppe definiert, die eine spezifische Geschichte hat, an der die einzelnen Mitglieder
184
Ebd., S. 10.
Welzer, Harald: "Unser Papa war in Stalingrad." Wie die Deutschen sich an das "Dritte Reich" und
den Krieg erinnern. Unter: http://www.bpb.de/themen/3946QF.html (Zugriff am 01.05.2010).
186
Welzer, Harald / Moller, Sabine / Tschuggnall, Karoline: Opa war kein Nazi, a.a.O., S. 19.
187
Ebd. S. 18.
185
41
teilhaben und die sich – zumindest in ihrer Wahrnehmung – nicht verändert“188. Wie
aber die Untersuchungen zeigen, werden die Geschichten von den Familiemitglieder
nicht nur wiederholt, sondern auch interpretiert, ergänzt oder völlig neu gestaltet.
Diesen Prozess ermöglicht die Spezifik der kommunizierten Geschichten, die nicht
vollständig, linear und konsistent sind, sondern eher in Fragmenten bestehen und
Anknüpfspunkte für „unterstützende, unterbrechende und korrigierende Kommentare
und Ergänzungen“189 bieten. So kann es zu unabsichtlichen Verfälschungen kommen.
Als Teilbereich des kommunikativen Gedächtnisses ist das Familiengedächtnis ein
lebendiges Gedächtnis. Es gelten hier andere Wahrheitskriterien als in der
Wissenschaft. Nach der Position von Harald Welzer geht es im Familiengedächtnis um
„Übereinstimmung in den Gefühlen und Bewertungen, die Geschichten hervorrufen,
nicht darum, ob sie historischer Überprüfung standhalten würden“190. Die Fiktion gehört
sogar zu dem Charakteristika des Familiengedächtnisses, weil dieses Gedächtnis nicht
„auf der Einheitlichkeit des Inventars seiner Geschichten, sondern auf der
Einheitlichkeit und Wiederholung der Praxis des Erinnerns sowie auf der Fiktion seiner
kanonisierten Familiengeschichte“ basiert. Mittels der Fiktion wird die Kohärenz und
Identität der Familie sicherstellt. Die Wahrheitskriterien sind also in erster Linie an
Wir-Gruppenidentität und -loyalität orientiert, was im Fall von Geschichten aus der NSVergangenheit bestimmte Konsequenzen hat. Aufgrund der Gesprächen mit den
Familien, die im Rahmen des Projekts ‚Tradierung von Geschichtsbewusstsein’ geführt
worden sind, kann man folgende sich wiederholende Elemente des intergenerationelen
Diskurses feststellen:
1. Obwohl solche Dokumente wie Briefe oder Fotos aus der NS-Vergangenheit nur
selten in den Familienarchiven aufbewahrt werden und dadurch den Kindern
bzw. Enkeln bekannt sind, werden die Geschichten, insbesondere die
problematischen, dass heißt solche, die die Beteiligung der Eltern bzw.
Großeltern an NS-Verbrechen berühren, doch erzählt191. Wie aber die Forscher
festgestellt haben, lassen diese Erzählungen keine Spuren in den Geschichten,
die von den Angehörigen der Nachfolgegeneration über ihre Vorfahren erzählt
werden. Zentrale Elemente der so genannten problematischen Geschichten
188
Ebd. S. 20.
Ebd. S. 20.
190
Welzer, Harald: "Unser Papa war in Stalingrad.", a.a.O.
191
Vgl. Welzer, Harald / Moller, Sabine / Tschuggnall, Karoline: Opa war kein Nazi, a.a.O., S. 52.
189
42
kommen in ihren Erzählungen überhaupt nicht vor, als hätten sie diese
Geschichiten gar nicht gehört. Wie die Forscher behaupten, ist das mit den
Loyalitätsbedingungen verbunden, die nicht zulassen, „dass ein Vater oder
Großvater sich als eine Person zeigt, die einige Jahrzehnte zuvor Menschen
getötet hat“192. Das Überhören von Tätergeschichten resultiert daraus, dass die
Kinder bzw. Enkel sich ein Bild des geliebten Menschen in der Praxis
gemeinsam verbrachter Lebenszeit herausgebildet haben und dieses Bild
retroaktiv auf alle Aspekte seiner Lebensgeschichte hin generalisieren, auch auf
diese Zeit, in der sie selbst noch nicht auf der Welt waren. Deshalb können sie
sich nicht vorstellen, dass ihr Vater oder Großvater etwas Böses getan hat. Wie
die Autoren des Buches bemerken, sind die Kriegserinnerungen im
Familiengedächtnis „in Form von Geschichten repräsentiert, die sich nach jenen
Vorstellungen der nachfolgenden Generationen umformen lassen, die diese von
den erzählenden Zeitzeugen haben – und so werden sie erinnert und
weitererzählt“193.
2. In zwei Dritteln der durchgeführten Interviews wurden die Familienangehörigen
aus der Zeitzeugengeneration entweder als Opfer der NS-Vergangenheit
und/oder als Helden des alltäglichen Widerstands194 dargestellt. In den
Vorstellungen der Kinder- und Enkelgeneration erscheinen die Eltern und
Großeltern im Zusammenhang mit der NS-Zeit in erster Linie als Leidende – als
Opfer von Armut und Not, als Vergewaltigungs- und Gewaltopfer von
russischen Besatzungssoldaten, als Flüchtlinge und potenzielle KZ-Opfer, als
Opfer des Krieges an der Heimatfront und im Bombenkrieg195 – als Menschen,
denen die ständige Gefahr drohte. Harald Welzer spricht von einer paradoxen
Folge
der
gelungenen
Aufklärung
über
die
nationalsozialistische
Vergangenheit196. Je mehr die Angehörigen der Nachfolgegenerationen über
Kriegsverbrechen, Verfolgung und Vernichtung wissen, desto größer wird ihr
Bedürfnis (unter den Anforderungen der familialen Loyalitätsverpflichtungen),
eigenen Verwandten die Rolle der guten Deutschen zuzuschreiben. So
entwickeln sie die Geschichten in denen ihre Vorfahren trotz der Gefahr sich
192
Ebd.
Ebd.
194
Vgl. ebd., S. 54.
195
Vgl. ebd., S. 86.
196
Vgl. Welzer, Harald: "Unser Papa war in Stalingrad.", a.a.O.
193
43
„zwar
vorsichtig
aber
couragiert
über
die
zeitgenössischen
Normen
hinweggesetzt und die in ihrem praktischen Verhalten gegen das System
gehandelt haben“197. Es herrscht also die Tendenz zur Heroisierung der eigenen
Vorfahren. Auch wenn die Zeitzeugen selbst von den „harmlosen, oft
fragwürdigen,
gelegentlich
eher
skandalösen
Handlungen“198
erzählen,
verändern sich die Geschichten auf ihrem Weg durch die Generationen auf diese
Art und Weise, dass besonders die Enkel eindeutig davon überzeugt sind, dass
die Großeltern, wenn es darauf ankam, eben geholfen, versteckt oder gerettet
haben, selbst wenn es für sie gefährlich war199.
3. Das Phänomen der kumulativen Heroisierung verstärkt die Überzeugung der
jungen Menschen davon, dass die Deutschen und die Nazis zwei verschiedene
Gruppen gewesen seien200. Das Dritte Reich verstehen sie als ein Zwangs- und
Terrorsystem, dessen Opfer die Deutschen selbst waren. Die Nazis erscheinen
dagegen als die anderen, als die Gegentypen zu eigenen Vorfahren, als die
„Leute in Uniformen“, mit denen man selbst nichts zu tun hatte. Selbst wenn die
Familienangehörige Mitglieder der Partei gewesen sind oder für die Gestapo
gedient
haben,
funktionieren
sie
in
den
Vorstellungen
der
Nachfolgegenerationen als ‚keine Nazis’. Die Mitgliedschaft in der Partei wird
von den Zeitzeugen selbst mit ökonomischen Motiven begründet und nicht auf
ideologische Überzeugungen zurückgeführt. Bei den Kindern und Enkeln
funktioniert dagegen in Bezug auf die Mitgliedschaft eine Meinung, dass es in
den totalitären Systemen manchmal notwendig ist, „scheinbar mitzutun, um
effizient widerstand leisten zu können“201. In ihren Vorstellungen werden die
Großeltern immer als Anti-Nationalsozialisten dargestellt, auch wenn sie „die
nach Parteizugehörigkeit und Funktion alles andere als Gegner des Systems
waren“202. Die Distanz der eigenen Vorfahren zu den Nazis und zum
Geschehenen im Dritten Reich wird von Generation zu Generation immer
größer.
197
Welzer, Harald / Moller, Sabine / Tschuggnall, Karoline: Opa war kein Nazi, a.a.O., S. 53.
Ebd., S. 66.
199
Ebd.
200
Vgl. ebd., S. 79.
201
Ebd., S. 104.
202
Ebd., S. 53.
198
44
Die Ergebnisse der Untersuchungen zeigen also deutlich, dass es extreme Unterschiede
zwischen der offiziellen Gedenkkultur und dem privaten Erinnern in Deutschland gibt.
In der deutschen Bevölkerung herrscht deutlich die Auffassung vor, dass die eigenen
Familienangehörige keine Nazis und somit keine Antisemiten und Tatbeteiligte
gewesen sind. Abgesehen von dem Wahrheitsgehalt der in den Interviews erzählten
Geschichten schreibt aber Harald Welzer davon, dass diese Tendenz allerdings nicht nur
negativ zu bewerten ist. Der Soziologe schlägt vor, aus den Geschichten von
Zivilcourage, Widerstand und Heldentum der Grosseltern, eine „praktisch wirksame
Alltagstheorie“203 abzuleiten, dass „individueller Widerstand auch in totalitären
Zusammenhängen möglich und sinnvoll ist, dass es also auf die Verantwortung des
Einzelnen ankommt“204. Außerdem haben die Enkel deutlich „das Leitbild antinationalsozialistisch eingestellter Personen“205 favorisiert. Ihre Geschichten von den
widerständigen Vorfahren mögen nach der Position von Harald Welzer ein Beispiel
dafür geben, „sich selbst couragiert zu verhalten, wenn nahe Menschen bedroht oder
verfolgt werden“206.
2.3 Text im narratologischen Diskurs
Die Narratologie oder anders die Erzähltheorie untersucht die Erzählung als Gattung.
Sie versucht, die „typischen Konstanten, Variablen und Kombinationen [der Erzählung]
zu beschreiben und innerhalb von theoretischen Modellen (Typologien) die
Zusammenhänge zwischen den Eigenschaften narrativer Texte zu klären“207. Im
Rahmen der Erzähltheorie werden die Definitionen von Erzählen und Erzählung
formuliert, die Erzählinstanz sowie die Darstellung von Zeit, Raum und handelnden
Figuren analysiert. Zu den anderen Themen gehören auch die Unterscheidung zwischen
den nichtfiktionalen und fiktionalen Texten, die mediale Gestaltung von Erzählung mit
den Gattungsaspekten, mündliche Erzählung oder das Narrative in Musik, Malerei oder
Lyrik208. Die Erzähltheorie ist im Allgemeinen textorientiert. Ihr Gegenstandsbereich
umfasst auch situativ-historische Untersuchungen zu solchen Themen, wie die Kontexte
Vgl. Welzer, Harald: "Unser Papa war in Stalingrad.“, a.a.O.
Ebd.
205
Ebd.
206
Ebd.
207
Fludernik, Monika: Einführung in die Erzähltheorie. Darmstadt 2006, S. 17.
208
Vgl. ebd. S. 18.
203
204
45
der Produktion, Publikation, Verbreitung und Rezeption von narrativen Texten209. Sie
funktioniert als eine Unterdisziplin der Literaturwissenschaft.
In der Literaturwissenschaft entwickelten sich nach der Position von Wolf Schmid zwei
Konzeptionen dessen, was als narrativ bezeichnet wird. Die klassische Tradition zählte
zu den erzählenden Texten diejenigen Texte, die bestimmte Merkmale der
Kommunikation enthielten210. Ausschlaggebend war dabei die Präsenz eines Mittlers
zwischen dem Autor und der Geschichte, das heißt eines Erzählers, einer vermittelnden
Instanz. Die zweite Theorie der Narrativität entwickelte sich in der strukturalistischen
Narratologie. In dieser Richtung waren narrative Texte von den deskriptiven zu
unterscheiden. Von der Narrativität zeugte nicht mehr die Präsenz eines Erzählers,
sondern ein bestimmter Aufbau des darzustellenden Materials. Narrative Texte sollten
nämlich eine temporale Struktur besitzen und Veränderungen darstellen211. Wolf
Schmid bemerkt, dass sich beide Konzeptionen als unbefriedigend erweisen. Die
traditionelle Konzeption ist nach der Position von Schmid zu restriktiv. Sie
berücksichtigt nur Texte, in denen eine vermittelnde Instanz zu finden ist, damit schließt
sie aus dem Bereich des Narrativen die dramatischen, lyrischen und filmischen Texte
aus. Die strukturalistische Konzeption lässt dagegen alle Darstellungen außer acht,
„deren Referent keine temporale Struktur besitzt und deshalb keine Veränderung
enthält“212. Deshalb wurde in der Literaturwissenschaft eine Mischkonzeption
entwickelt. Als narrativ im weiteren Sinne werden diejenigen Texte verstanden, die eine
Veränderung einer Situation oder eines Zustands darstellen. Die Situation oder der
Zustand werden dabei definiert, als „eine Menge von Eigenschaften, die sich auf eine
Figur oder die Welt in einer bestimmten Zeit der erzählten Geschichte beziehen“213.
Dabei kann sich um einen inneren oder einen äußeren Zustand handeln. Das hängt
davon ab, ob die Eigenschaften Teile der Welt oder das Innere der Figur betreffen. Von
der Narrativität ist dann zu sprechen, wenn mindestens „eine Veränderung eines
Zustands in einem gegebenen zeitlichen Moment dargestellt wird“214. Die Veränderung
muss dabei nicht explizit dargestellt werden, sie kann auch impliziert werden,
beispielsweise wenn zwei miteinander kontrastierende Zustände dargestellt werden.
209
Vgl. ebd.
Vgl. Schmid, Wolf: Elemente der Narratologie. Berlin 2005, S. 11.
211
Vgl. ebd.
212
Ebd.
213
Ebd. S. 13.
214
Ebd.
210
46
2.3.1 Narrative vs. deskriptive Texte
Nach der Position von Wolf Schmid stehen den narrativen Texten im weiteren Sinne die
deskriptiven Texte gegenüber. Deskriptive Texte beschreiben statische Situationen und
Zustände, stellen soziale Milieus dar oder typologisieren natürliche wie soziale
Phänomene215. Auch dann handelt sich um deskriptive Texte, wenn die dargestellten
Zustände keine Similarität und keinen Kontrast enthalten, oder „nicht auf ein und
denselben Agenten oder auf ein und dasselbe Element des setting bezogen sind“216.
Wolf Schmid weist darauf hin, dass die Grenze zwischen narrativen und deskriptiven
Texten flüssig ist, auch wenn beide Modi narrativ und deskriptiv eine klare Opposition
bilden217. Jede Narration enthält auch beschreibende Elemente, beispielsweise wenn
eine Ausgangssituation dargestellt wird. Möglich ist aber ebenfalls eine umgekehrte
Situation. Narrative Elemente können nämlich die Deskription anschaulicher machen.
Von dem narrativen oder deskriptiven Charakter des Textes zeugt, so Schmid, nicht die
Menge von dynamischen oder statischen Segmenten, sondern die Gesamtfunktion
dieser Segmente in dem Werk218. In den meisten Texten ist die Dominanz eines der
Modi zu beobachten, wobei die Zuordnung eines Textes zu dieser oder jener Kategorie
oft von der Interpretation abhängig ist. Schmid analysiert dieses Phänomen am Beispiel
von einem Text, in dem nur zwei Situationen beschrieben werden. Als narrativ wird er
dann interpretiert werden, wenn man bei der Analyse den Blick auf das
Unterschiedliche im Gemeinsamen richtet und dafür eine Veränderung konjiziert219.
Derselbe Text wird dagegen als Deskription verstanden, wenn „die Differenz der
Situationen eher als Differenz von repräsentativen Facetten ein und desselben
Phänomens“220 betrachtet wird. Im Unterschied zur Narration konzentriert man sich in
diesem Fall auf das Gemeinsame im Unterschiedlichen. Nach der Position von Boris
Tomaševskij soll eine Reisebeschreibung zu den deskriptiven Texten zugeordnet
werden, „wenn sie nur vom Geschehenen erzählt und nicht von den persönlichen
Abenteuern des Reisenden“221. Die Veränderung der inneren Zustände des Reisenden
kann aber auch implizit dargestellt werden, das heißt durch Indizes angedeutet. In
215
Vgl. ebd., S. 17.
Ebd.
217
Vgl. ebd.
218
Vgl. ebd.
219
Vgl. ebd
220
Ebd.
221
Zit. nach: Schmid, Wolf, ebd., S. 17.
216
47
diesem Fall spricht man von einer implizite narrativen Struktur. Schmid ist der
Meinung, dass deskriptive Texte eine Tendenz zur Narrativität entfalten222. Diese
Narrativität bezieht sich dabei nicht auf das Beschriebene sondern auf den
Beschreibenden und seine Deskriptionshandlung223. Bei den Veränderungen werden
dabei nicht die Veränderungen innerhalb der beschriebenen Welt gemeint, sondern
diejenigen im Bewusstsein des Beschreibenden.
Narrativ im engeren Sinne nennt Schmid Texte, die eine Geschichte denotieren und eine
vermittelnde Instanz (einen Erzähler) mit darstellen (explixit oder implizit)224. Als eine
weitere Gruppe von Texten unterscheidet er mimetische Texte, dass heißt Texte, die
eine Geschichte ohne einen vermittelnden Erzähler präsentieren, wie beispielsweise
Filme oder Dramas. Beide Textarten narrativ im engeren Sinne und mimetisch sind als
die Untertypen von den narrativen Texten im weiteren Sinne zu verstehen.
2.3.2 Faktuales und fiktionales Erzählen
In der Alltagssprache benutzt man das Wort ‚Erzählen’ in zahlreichen unterschiedlichen
Bedeutungen, wie etwa „jemandem etwas im Vertrauen sagen“ oder „etwas Erfundenes
erzählen“225. Martinez und Scheffel definieren ‚Erzählen’ allgemein als „eine Art von
mündlicher oder schriftlicher Rede, in der jemand jemandem etwas Besonderes
mitteilt“226. Die Rede als ‚Erzählung’ soll „einen ihr zeitlich vorausliegenden Vorgang
vergegenwärtigt, der als ‚Geschehnis’ oder ‚Begebenheit’ bestimmt werden kann“227.
Für die Zwecke einer Theorie des literarischen Erzählens muss aber diese Definition
erweitert werden, weil es hier konkrete Unterschiede in der Verwendung des Wortes
gibt. Mit Rücksicht auf den Realitätscharakter des Erzählten einerseits und die
Redesituation der Erzählung andererseits konstatieren Martinez und Scheffel in
Anlehnung an Gerard Genette, dass erzählt werden kann 1) von realen oder erfundenen
Vorgängen und 2) im Rahmen von alltäglicher oder im Rahmen von dichterischer
Rede228. Die Merkmalspaare »real vs. fiktiv« und »dichterisch vs. nichtdichterisch« 229
lassen sich natürlich kombinieren, so dass vier verschiedene Variationen möglich sind.
222
Vgl. ebd. S. 18.
Vgl. ebd.
224
Vgl. ebd.
225
Martinez, Matias / Scheffel, Michael: Einführung in die Erzahltheorie. 6. Aufl., München: C.H.Beck
2006, S. 9.
226
Ebd.
227
Ebd.
228
Vgl. ebd.
223
48
Martinez und Scheffel bezeichnen nach Gerard Genette als faktual die authentische
Erzählung von historischen Personen oder Ereignissen in Form beispielsweise eines
Zeitungsberichts oder einer Biographie. Von der faktualen Erzählung dieser Art ist die
Erzählung zu unterscheiden, die von erfundenen Vorgängen berichtet, wie eine
Erzählung im Rahmen einer Fabel oder eines Märchens. Da aber in manchen Texten das
Historische mit dem Erfundenen kombiniert wird, wie im Fall von Blechtrommel von
Günter Grass, bedarf dieses Problem weiterer Erklärung. Vor allem sollen die
Besonderheiten der ‚Dichtung’ bestimmt werden.
Die Theorie des dichterischen Erzählens geht auf Aristoteles zurück. In der Poetik
schrieb der Philosoph im IVv. Chr.:
Denn der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich nicht dadurch
voneinander, dass sich der eine in Versen und der andere in Prosa mitteilt [...]; sie
unterscheiden sich vielmehr dadurch, dass der eine das wirklich Geschehene
mitteilt, der andere, was geschehen könnte.230
Aus diesem Fragment ergibt sich deutlich, dass nicht die sprachliche Form, sondern der
Inhalt der Erzählung die Dichtung von der faktualen Erzählung unterscheidet. Die
Dichtung beschäftigt sich nicht mit den Wirklichkeiten, sondern mit den Möglichkeiten.
Aristoteles’ Differenzierung war die Antwort auf die Platonsche Beurteilung der
Dichtung als einer schädlichen Täuschung. Aristoteles betrachtete sie als etwas
Nützliches und Notwendiges, weil sie den Trieb zu der Nachahmung, einem Urtrieb des
Menschen, kultiviere231. Im Gegensatz zu Platon, der in der Dichtung eine Lüge sah und
der diesbezüglich alle Dichter aus seinem Idealstaat verjagen wollte, gab Aristoteles der
Dichtung das Recht, die Grenzen der Realität zu überschreiten:
Wenn ein Dichter Unmögliches darstellt, liegt ein Fehler vor. Doch hat es hiermit
gleichwohl seine Richtigkeit, wenn die Dichtung auf diese Weise den ihr
eigentümlichen Zweck erreicht.232
229
Vgl. ebd.
Ebd.
231
Vgl. ebd. S. 12.
232
Zit. nach: Petersen, Jürgen H.: Textinterpretation. In: Gutzen, Dieter / Oellers, Norbert / Petersen,
Jürgen H.: Einführung in die neuere deutsche Literaturwissenschaft. Ein Arbeitsbuch. Berlin 2006 (7.
Aufl.), S, 125.
230
49
Das Problem des Verhältnisses von ‚Dichtung’ und ‚Lüge’ nahm unter anderem auch
der englische Dichter Sir Philip Sidney im 16. Jh. an. Dabei konzentrierte er sich nicht
auf den Inhalt der literarischen Texte, sondern auf den Status der dichterischen Rede.
Seiner Meinung nach lügen die Dichter im Vergleich zu anderen Verfassern von Texten
am allerwenigsten, weil sie in ihren Werken nichts behaupten (im Gegensatz z.B. zu
den Geschichtsschreibern), sondern von erfundenen Gegenständen erzählen233. Das
Geschäft eines Dichters ist demnach das Erfinden, nicht das Lügen. Die literarischen
Werke sind in diesem Sinne fiktional, dass sie keinen Anspruch auf eine unmittelbare
Referenzialisierbarkeit erheben234. Anders gesagt müssen sie nicht unbedingt in einem
wirklichen Geschehen verwurzelt sein. Wolf Schmid betont diesbezüglich den
Unterschied zwischen den Bezeichnungen ‚fiktional’ und ‚fiktiv’. Der Begriff des
Fiktionalen bezieht sich auf den Text, der Begriff des Fiktiven charakterisiert dagegen
den Status dessen, was im fiktionalen Text dargestellt wird235. So ist ein Roman
fiktional, aber die in ihm beschriebene Welt fiktiv, weil sie mehr oder weniger
ausgedacht wurde. Es gibt bestimmte Textsignale, die von der Fiktionalität eines Textes
deuten können. Es handelt sich vor allem um gewisse Eingangsformeln, wie „Es war
einmal“, oder Textschlüsse, wie das Wort „Ende“ am Schluss236. Käte Hamburger
analysierte außerdem in ihrem Buch Logik der Dichtung237 textinterne Merkmale, die
die Rezeption des Textes in die Richtung der Fiktionalität lenken. Zu solchen objektiven
Symptomen der Fiktionalität gehören nach der Position von Hamburger unter anderem:
1) die Anwendung von Verben, die innere Vorgänge beschreiben, auf dritte Personen,
ohne Bezug auf die Informationsquelle („er fühlte“, „sie dachte“); 2) die Verbindung
der Zeitadverbien, die die Zukunft ausdrücken, mit dem Vergangenheitstempus der
Verben („morgen war Weihnachten“)238. Obwohl die Thesen von Käte Hamburger auf
Kritik stießen, bemerkte sie richtig, dass vor allem die unmittelbare Darstellung fremder
Innenwelt die fiktionalen Texte von den faktualen unterscheidet. In der Logik der
Dichtung notiert Hamburger:
233
Vgl. Martinez, Matias / Scheffel, Michael: Einführung in die Erzahltheorie, a.a.O., S. 13-15.
Vgl. ebd., S. 13.
235
Vgl. Wolf: Elemente der Narratologie, a.a.O.,S. 32.
236
Vgl. Martinez, Matias / Scheffel, Michael: Einführung in die Erzahltheorie, a.a.O., S. 16.
237
Hamburger, Käte: Die Logik der Dichtung. Stuttgart 1968
238
Vgl. Wolf: Elemente der Narratologie, a.a.O., S. 37.
234
50
Die epische Fiktion ist der einzige erkenntnistheoretische Ort, wo die Ich-Originität
(oder Subjektivität) einer dritten Person als einer dritten dargestellten werden
kann.239
Nur in den fiktionalen Texten ist eine detaillierte Inszenierung von Innenleben möglich,
in den faktualen, beispielsweise historiographischen Texten, wäre sie überhaupt nicht
zulässig. Wolf Schmid bemerkt in Anlehnung an Cohn, dass die Allwissenheit des
Erzählers ein Privileg und Anzeichen der Fiktion ist, weil sie in Wirklichkeit kein
Wissen, sondern ein freies Erfinden ist240. In der Inszenierung von fremden Innenwelten
sieht er einen der Gründe für die kulturelle und anthropologische Bedeutung der
Fiktion241. Fiktionale Texte sind außerdem viel komplexer als die faktualen. Im Fall von
faktualen Texten haben wir mit einer Situation zu tun, in der ein Autor Sätze produziert,
die als seine tatsächlichen Behauptungen verstanden werden sollen. Bei den fiktionalen
Texten gibt es dagegen zwei Sprecher – neben den Autor wird noch ein fiktiver
Erzähler auf die Bühne gesetzt. Seine Behauptungen sollen nicht mit den Behauptungen
des Autors gleichgesetzt werden. Anders gesagt ist der Autor nicht für den
Wahrheitsgehalt der im Text beinhalteten Aussagen verantwortlich. Der Autor zitiert
nur die Worte jemand anderen, daher sind seine Sätze unauthentisch, weil sie nicht als
seine eigenen Behauptungen gelten. Authentisch werden dieselben Sätze nur, wenn man
sie dem Erzähler zuschreibt. Gleichzeitig werden sie aber auch fiktiv, weil sie Teil einer
fiktiven Welt sind242. Die Kommunikation im Fall von fiktionalen Texten verläuft
demnach auf zwei Ebenen. Erstens handelt es sich um eine reale aber indirekte
Kommunikation zwischen einem realen Autor und einem realen Leser. Zweitens haben
wir mit einer imaginären Kommunikation zwischen einem fiktiven Erzähler und einem
Leser zu tun.
2.3.3 Alltägliches und literarisches Erzählen
Das zweite von Martinez und Scheffel vorgeschlagene Merkmalspaar von Erzählungen
ist »dichterisch vs. nichtdichterisch«. Frieder Schülein und Jörn Stückrath sprechen in
239
Zit. nach Schmid, ebd., S. 39.
Vgl. ebd. S. 40
241
Vgl. ebd.
242
Vgl. Martinez, Matias / Scheffel, Michael: Einführung in die Erzahltheorie, a.a.O., 17-18.
240
51
Bezug darauf vom literarischen und alltäglichen Erzählen. In ihrem Beitrag Erzählen243
analysieren sie die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen beiden Erzählformen.
Das alltägliche Erzählen verstehen Schülein und Stückrath als eine kommunikative
Handlung, die in solchen Situationen wie am Familientisch oder auf dem Pausenhof
stattfindet. Alltägliches Erzählen nimmt Bezug auf die Alltagsrealität, ist in den
Alltagssituationen eingebettet und stellt meistens selbsterlebte Ereignisse dar.
Nichtsdestoweniger sind Alltagserzählungen oft komplexe Konstruktionen, die sich mit
Hilfe von literaturwissenschaftlichen Begriffen beschreiben lassen. Von besonderer
Bedeutung
sind
für
sie
die
meta-narrativen
bzw.
meta-kommunikativen
Erzählstrukturen, das heißt „Bemerkungen, die das Erzählen eröffnen, begleiten und
abschließen lassen“244 und die dadurch die Adressaten zum Zuhören bewegen. Die
Aufgabe der Erzähleröffnungen ist nach der Position von Schülein und Stückrath 1) die
Aufmerksamkeit der Zuhörer zu erregen; 2) eine thematische Orientierung
anzukündigen; 3) Spannung zu erzeugen245. In diesem Punkt kann der Erzähler auch
die Rahmenbedingungen der Erzählung bestimmen. In der nächsten Phase, das heißt
während der Erzählung ist es wichtig, das Interesse der Zuhörer an der Geschichte
beizubehalten. Der Erzähler hat als Kommentator die Möglichkeit, mit bestimmten
Formulierungen die Spannung des Publikums zu steigern oder die Wahrheit der
erzählten Geschichte zu betonen. Abschließen kann man endlich die Erzählung verbal
durch deutliche Schlussmarkierung oder auch nonverbal, indem man das Ende mit Hilfe
von Mimik und Gestik akzentuiert246. Wie Schülein und Stückrath bemerken, hängt der
Erfolg des Erzählers nicht allein von den meta-narrativen Bemerkungen ab. Die
Gestaltung der Erzählung erfordert von dem Erzähler eine Reihe von Kenntnissen. Um
einen kohärenten Text zu formulieren, soll er über eine Fähigkeit verfügen, Sätze
thematisch und formal miteinander zu verbinden. Er muss den Zuhörern etwas
Interessantes bieten, was sie überrascht und was sie emotional bewegt. Wichtig sind
auch sprachliche Anforderungen. Von einem Erzähler erwartet man, dass er
anschaulich, knapp sowie pointiert erzählt und dabei entbehrliche Informationen
vermeidet. Mit Rücksicht darauf sprechen Schülein und Stückrath vom „sprachlichen
243
Vgl. Schülein, Frieder / Stückrath, Jörn: Erzählen. In: Brackert, Helmut / Stückrath, Jörn (Hg.):
Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs. Hamburg 1992, S. 54-71.
244
Ebd. S. 56
245
Vgl. ebd.
246
Vgl. ebd.
52
Kunstwerk der Alltagserzählung“247. Die Meta-Narration kann auch im Fall vom
literarischen Erzählen vorkommen. Anders aber als im alltäglichen Erzählen wird sie
hier artistisch und spielerisch gebraucht, beispielsweise als Element einer Erzählung in
einer Erzählung, wenn ein fiktiver Erzähler innerhalb einer Erzählung eine Geschichte
erzählt und kommentiert.
Bei der Analyse der kognitiv-emotionalen Struktur von Erzählungen knüpfen Schülein
und Stückrath an die ‚story grammar’ an, die von einem amerikanischen Psychologen
David E. Rumelhart beschrieben wurde. Anders gesagt handelt es sich um die
‚Grammatik’ der Ereignisketten248. Nach der Position von Rumelhart ist jede durch
Sätze repräsentierte Geschichte als eine Story zu bezeichnen. Sie setzt sich aus einem
Setting und einer Episode zusammen. Unter Setting versteht Rumelhart die Angaben
„zum räumlich-zeitlichen Ereignisrahmen, den Personen und Dingen“249. Eine Episode
ist dagegen eine „relativ einheitliche und abgeschlossene Kette von Ereignissen“ 250. Die
Ereignisse teilt Rumelhart in zwei Typen. Erstens handelt es sich um die Events, dass
heißt Ereignisse, die die Situation von der Person verändern251. Zweitens gibt es
innerhalb der Episode die Reactions, also ereignisbezogene Verhaltensweisen der
Person252. Die Beziehungen zwischen einzelnen Elementen der ‚story grammar’
gestalten sich folgendermaßen: Ein Setting ermöglicht eine Episode, Events verursachen
Reactions. Schülein und Stückrath machen darauf aufmerksam, dass das von Rumelhart
vorgeschlagene Strukturschema zu abstrakt und zu unspezifisch ist, damit es zur
Beschreibung von allen Alltagserzählungen verwendet werden könnte. Anstatt dessen
sprechen sie von einer triadischen Struktur der Erzählung: 1) Exposition
(handlungseröffende Ereignisse), 2) Komplikation (handlungsbegleitende Ereignisse)
und 3) Auflösung (handlungsabschließende Ereignisse)253. Solche triadische Struktur ist
auch für viele einfache sowie komplexe literarische Erzählformen charakteristisch.
Wie im Fall vom literarischen Erzählen sprechen wir auch in Bezug auf die
Alltagserzählungen von einer vermittelnden Instanz. Dominant ist hier vor allem die
Ich-Perspektive, in der Ereignisse aus der Sicht des Erzählers selbst dargestellt werden.
Möglich ist aber auch die Er-Perspektive - wenn der Erzähler etwas „aus der zweiten
247
Ebd.
Vgl. ebd.
249
Ebd.
250
Ebd.
251
Vgl. ebd.
252
Vgl. ebd.
253
Vgl. ebd.
248
53
Hand“ erzählt, oder wenn er etwas mitteilt, was er als Beobachter erlebt hat254. Die
Erzählstrukturen in den literarischen Erzählungen erweisen sich dagegen als viel
komplexer. Wie Schülein und Stückrath bemerken, sind sie nicht mehr dominant auf ein
reales Ich reduzierbar. Bei der Analyse von Erzählinstanzen soll im Allgemeinen vor
allem danach gefragt werden, aus welcher Position die Geschichte erzählt wird (als
Handlungsbeteiligter oder als Unbeteiligter) und in welchem Erfahrungsmodus die
Geschichte konstruiert wird (Wissen oder Erleben)255. Charakteristisch für das
literarische Erzählen ist die Darstellung von Innerlichkeit, wozu innere Monologe und
erlebte Rede gebraucht werden. Durch die Möglichkeit einer multiperspektivischen
Darstellung der Geschichte kommen außerdem die Mehrdeutigkeit und verschiedene
Erklärungskonzepte in Frage. Die Komplexität von literarischen Erzählungen erzwingt
auch eine spezifische Zeitgestaltung. Während die Ereignisse im alltäglichen Erzählen
mehr oder weniger chronologisch dargestellt werden, kommt im literarischen Erzählen
oft zur Durchbrechung des linearen Ablaufs der Geschichte, also zu den so genannten
Anachronien. Schülein und Stückrath konstatieren in ihrem Beitrag, dass der
Hauptunterschied zwischen alltäglichem und literarischem Erzählen „in der
unterschiedlichen Gestaltungskraft und Professionalität“256 des Erzählers besteht.
Außerdem betrifft die Differenz auch die kommunikative Situation. Im Fall vom
literarischen Erzählen haben wir mit einer Trennung zwischen dem Autor und dem
Publikum zu tun. Hier gibt es keine Face-to-face-Kommunikation, keinen unmittelbaren
Kontakt, was die soziale Einbettung und kommunikative Realisierung der Erzählung
wesentlich verändert257. Der literarische Erzähler gewinnt im Gegensatz zu dem
alltäglichen eine absolute Autonomie hinsichtlich dessen, was und wie er erzählt. Von
ihm erwartet man nicht, dass er die Geschichte, die er erzählt, auch selbst erlebt hat.
Zusammenfassend notieren Schülein und Stückrath:
Literarisches
Erzählen
ist
gegenüber
dem
alltäglichen
aus
konkreten
Kommunikationssituationen entbunden oder freigestellt und ermöglicht dadurch
einen potentiell unbeschränkten Zuwachs an Erfindung möglicher Welten,
struktureller Komplexität und sprachlicher Formung258.
254
Vgl. ebd.
Vgl. ebd
256
Ebd.
257
Vgl. ebd.
258
Ebd.
255
54
2.3.4 Das Was und das Wie eines Textes in historischer Hinsicht
Die Einteilung in das Wie und das Was eines Textes geht auf die Unterscheidung
zwischen fabula und sjužet zurück, die in dem Russischen Formalismus formuliert
wurde. In seinem 1925 veröffentlichten Buch Theorie der Literatur259 definierte Boris
Tomaševskij fabula als „die Gesamtheit der Motive in ihrer logischen, kausaltemporalen Verknüpfung“260, sjužet dagegen als „die Gesamtheit derselben Motive in
derjenigen Reihenfolge und Verknüpfung, in der sie im Werk vorliegen“261. In den
sechziger Jahren übersetzte Tzvetan Todorov die beiden Begriffe mit histoire und
discourse ins Französische. Unter histoire verstand er dabei eine in dem Text erzählte
Geschichte, mit discourse meinte er die Ebene der Erzählers, also die Weise, auf die die
Geschichte darstellt wird262. Martinez und Scheffel bemerken, dass die Begriffspaare
von Tomaševskij und Todorov nicht bedeutungsgleich sind. Als sjužet bezeichnete
Tomaševskij nur die Reihenfolge der dargestellten Ereignisse, Todorovs discourse
umfasst dagegen den sämtlichen Bereich der Vermittlung der Geschichte, das heißt
zusätzlich auch die Perspektive, den Stil oder den Modus 263. Todorov erweiterte mit
histoire auch die Bedeutung von fabula. Unter fabula verstand Tomaševskij nur die
handlungsrelevanten Teile der dargestellten Welt, Todorovs histoire bezieht sich nicht
ausschließlich auf das Geschehen, sondern auf das ganze Kontinuum der erzählten
Welt, innerhalb dessen die Ereignisse stattfinden264. Anstatt der Oppositionen von
Tomaševskij und Todorov, hat Gérard Genette in eine Dreiteilung Geschichte,
Erzählung, Narration vorgeschlagen. Von Todorov übernahm er den Begriff der
Geschichte (histoire) und bezeichnete sie als „das Signifikant oder den narrativen
Inhalt“265. Den Begriff discourse differenzierte er dagegen in Erzählung (récit),
verstanden als „Signifikant, die Aussage, der narrative Text oder Diskurs“ 266, und
Narration (narration), die mit dem produzierenden narrativen Akt, also mit der Stimme
gleichgesetzt wurde. Martinez und Scheffel bemerken, dass die Dreiteilung von Genette
problematisch sein kann, besonders im Fall vom fiktionalen Erzählen. Auf der Ebene
der Darstellung sprechen sie deshalb von Erzählung und Erzählen. Die Erzählung
Tomaševskij, Boris: Theorie der Literatur. Wiesbaden 1985.
Zit. nach: Martinez, Matias / Scheffel, Michael: Einführung in die Erzahltheorie, a.a.O., S. 22.
261
Ebd.
262
Vgl. ebd.
263
Vgl. ebd.
264
Vgl. ebd
265
Ebd.
266
Ebd.
259
260
55
definieren sie als „die erzählten Ereignisse in der Reihenfolge ihrer Darstellung im
Text“267. Das Erzählen bezieht sich dagegen auf „die Präsentation der Geschichte und
die Art und Weise dieser Präsentation in bestimmten Sprachen, Medien […] und
Darstellungsverfahren“268. Auf der Seite der Handlung, bzw. des Erzählten
unterscheiden Martinez und Scheffel vier Elementen: 1) Ereignis bzw. Motiv – das heißt
eine elementare Einheit eines Textes im Bereich der Handlung; 2) Geschehen –
Ereignisse werden zum Geschehen, wenn sie chronologisch aufeinander folgen; 3)
Geschichte – wenn die Ereignisse nicht nur in einem chronologischen sondern auch in
einem kausalen Zusammenhang stehen; 4) Handlungsschema – ein globales Schema der
Geschichte, das aus den gesamten Ereignissen abstrahiert wird. Das Handlungsschema
kann dabei nicht nur für den konkreten Text gelten, sondern für ganze Textgruppen,
beispielsweise
für
Gattungen269.
Martinez
und
Scheffel
betonen,
dass
die
Unterscheidung zwischen der Art der Darstellung und dem dargestellten Inhalt im Fall
von fiktionalen Texten von besonderer Bedeutung ist. Da dieselbe Geschichte auf viele
Weisen dargestellt werden kann, hat die Ebene der Vermittlung einen Einfluss auf
Rezeption des Erzählten. Oder wie Franz Karl Stanzel konstatiert, üben „verschiedene
Redestile oder Erzählweisen verschiedene Wirkungen auf den Zuhörer oder Leser“270
aus. Deshalb untersucht man nicht nur was erzählt wird, sondern auch wie die
Geschichte präsentiert wird.
3 Geschichte und Generationendiskurs in Tanja Dückers’ Roman
Himmelskörper
Denn da wir nun einmal Resultate früherer Geschlechter sind,
sind wir auch die Resultate ihrer Verirrungen, Leidenschaften
und Irrthümer, ja Verbrechen; es ist nicht möglich, sich ganz
von dieser Kette zu lösen. 271
Friedrich Nietzsche
267
Ebd. S. 25
Ebd.
269
Vgl. ebd.
270
Stanzel, Franz K.: Typische Formen des Romans. Göttingen. 1993, S. 3.
271
Nietzsche, Friedrich: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. In: Sämtliche Werke,
Kritische Studienausgabe, Bd. 1, München 1988, S. 270.
268
56
3.1 Informationen zur Autorin Tanja Dückers272
Tanja Dückers wurde am 25. September 1968 in West-Berlin geboren. Sie studierte
Kunstgeschichte, Amerikanistik und Germanistik. Ihre Magisterarbeit war eine
interdisziplinäre Arbeit zwischen Philosophie, Kunstgeschichte und Amerikanistik und
handelte von der Ästhetik des Erhabenen in der modernen Malerei. Dückers hat viele
ausländische Aufenthaltsstipendien erhalten, unter anderem in den USA, Barcelona,
Amsterdam und Krakau, sowie mehrere Preise und Auszeichnungen, beispielsweise ist
sie vom Deutschen Historischen Museum in Berlin zu den 10 wichtigsten Schriftstellern
Deutschlands unter 40 Jahren gewählt worden (und den "100 Kreativsten Köpfen
Deutschlands"). Drei Jahre lang arbeitete sie als Nachrichten- und Wetterberichttexterin
bei der Deutschen Welle TV in Berlin. Heute lebt sie in Berlin, ist als Schriftstellerin
und Journalistin tätig. Ihre wichtigsten Veröffentlichungen sind: Spielzone (Roman,
1999); Café Brazil (Erzählungen, 2001); Luftpost, Gedichte Berlin-Barcelona (2001);
Himmelskörper (Roman, 2003); Der längste Tag des Jahres (Roman, 2006); Morgen
nach Utopia (Essays, 2007). Sie ist auch Mitherausgeberin der Anthologie
Stadt.Land.Krieg. - Autoren der Gegenwart erzählen von der deutschen Vergangenheit
aus dem Jahr 2004.
3.2 Wem gehört die Geschichte – Himmelskörper und der Generationenstreit
um die Erinnerung in der Gegenwartsliteratur
„Ich lese keine Kritiken mehr. […] Das regt so auf.“273 – sagte Tanja Dückers im
Gespräch mit Anne Kathrin Hahn. Ihr 2003 veröffentlichter Roman Himmelskörper hat
eine Lawine von Kritiken und Kommentaren ausgelöst – „vom Hochgesang bis zum
Totalverriss“274. Die Ursache legte darin, dass Dückers’ Buch dasselbe Thema
behandelt, wie die ein Jahr früher herausgegebene Novelle Im Krebsgang von Günter
Grass. In beiden Fällen geht es nämlich um den Untergang des Schiffes ‚Wilhelm
Gustloff’, das zum Ende des Krieges von den Russen torpediert worden war und an
dessen Bord über 9000 Passagiere ums Leben gekommen sind. Im Kontext der beiden
272
Quelle: http://www.tanjadueckers.de/.
Hahn, Anne Kathrin: Nicht mal bereut. Die Berliner Dichterin und Autorin Tanja Dückers im
Gespräch über ‚Himmelskörper’. Unter: http://www.satt.org/literatur/04_02_dueckers.html (Zugriff am
16.02.2008).
274
Ebd.
273
57
Bücher erschienen die Fragen, wem eigentlich die Geschichte gehört und wer das Recht
darauf hat, über die Geschichte zu schreiben – die Zeitzeugengeneration mit ihrer
subjektiven Erinnerung oder die Enkel wie Tanja Dückers (Jahrgang 1968), die sich in
Bezug auf den Zweiten Weltkrieg eher im Spielraum der literarischen Fiktion bewegen,
weil sie die damaligen Ereignisse nicht aus eigener Erfahrung kennen. Tanja Dückers
verteidigt sich gegen die Vorwürfe, sie sei zu jung, um die NS-Vergangenheit in ihren
Büchern zu thematisieren:
Ich befürchte einen gewissen Authentizitätsdünkel. Dass mir mein Alter
vorgeworfen wird und Ältere meinen, wenn man nicht selbst im Bombenhagel
gestanden hat, sei man nicht berechtigt, über solche Themen zu schreiben.
Vorbeugend habe ich eine Hauptfigur gewählt, die nicht auf der Gustloff war,
sondern recherchieren muss275.
Ihrer Meinung nach kann es eben heute zu einem Wandel in der deutschen
Erinnerungskultur kommen. Die zwei Nachkriegsgenerationen hatten eine emotional
gefärbte Einstellung zu dem Krieg, weil beide ihn noch erlebt hatten. Daher konnten
auch zwei Stränge von Erinnerungen an die NS-Zeit gleichzeitig existieren: die
offizielle Gedenkkultur mit den nationalsozialistischen Verbrechen im Zentrum und die
private Sphäre, die weniger schuldhaft war und zugleich mehr vom eigenen Leiden
geprägt wurde. Die Ursache dafür, dass in Deutschland viele Bücher über deutsche
Opfergeschichte publiziert werden, sieht Dückers darin, dass Deutschland sich von
seiner Vergangenheit befreien will und deshalb sich als leidendes Opfer entdeckt. In
demselben Ton äußert sich Harald Welzer, wenn er sagt, dass es sein kann, „dass die
aktuelle deutsche Leidenserzählung eine Reaktionsbildung auf ein Zuviel der anderen
Erzählung ist“276. In ihrer eigenen Generation sieht Dückers eine Chance für die
Vergangenheitsbewältigung, denn erst die Generation der Enkel kann „einen nüchternen
Blick auf dieses Thema wagen“277. In Bezug auf die zahlreichen Vergleiche der beiden
Bücher behauptet Dückers, dass Grass auf die natürliche Weise die Wahrheit verfälsche,
275
Tanja Dückers im Gespräch mit Tobias Haberl. Haberl, Tobias: Meine Version ist die richtige. Unter:
http://www.berlinonline.de/berlinerzeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/2003/0322/leipzigerbuchmesse/0018/index.html (Zugriff am 11.03.2010).
276
Feddersen, Jan / Reinecke, Stefan: Das ist unser Familienerbe. Ein Gespräch über falsches Erinnern
und richtiges Vergessen mit Aleida Assmann und Harald Welzer. Unter:
http://www.taz.de/1/archiv/archiv/?dig=2005/01/22/a0308 (Zugriff am 11.03.2010).
277
Partouche, Rebecca: Der nüchterne Blick der Enkel. Wie begegnen junge Autoren der
Kriegsgeneration? Ein Gespräch mit Tanja Dückers. In: Die Zeit. Nr. 19, 30.04.2003, S. 42.
58
wenn er die Deutschen, die mit der Gustloff untergegangen sind, eher als Opfer sieht.
Sein Blick ist der seiner Generation, denn er selbst war in den Krieg involviert. „Ich
dagegen, schreibt Dückers, habe die nötige historische Distanz und sehe die Fakten“278.
Den Unterschied in den Sichtweisen erklärt sie am Beispiel der Gustloff:
„Es wird of übersehen, dass dieses Schiff Tarnanstrich trug, dass es Flaks an Bord
hatte, dass über 1000 Marinesoldaten, Marineoffiziere an Bord waren, dass es
keineswegs ein reines Zivilistenschiff war“279.
Ihre Methode, die auf Recherchieren beruht, mache also ihr Buch historisch treffender.
An einer anderen Stelle stellt Dückers fest, dass sie mit den älteren Autoren wie Grass
überhaupt nicht in Konkurrenz treten muss, weil sie gewissermaßen eine andere
Geschichte erzählt. Der Unterschied liegt in der Perspektive – als eine aus Sicht der
Enkel schreibende Autorin gibt sich Dückers kein Recht darauf, sich Erfahrungen
literarisch anzueignen, die sie nicht hat280. Das bedeutet aber auch nicht, dass sie, ihrer
Meinung nach, kein Anrecht auf die Spurensuche hat. Erlebtes und Recherchiertes
müssen sich nicht ausschließen, sondern können parallel existieren und sich sogar
ergänzen. In dem Gespräch mit Johanna Metz bemerkt Dückers:
Jede Generation versucht, ein Ereignis zu ihrem zu erklären. […] Ich kann nicht
über Stalingrad schreiben, weil ich es nicht erlebt habe, und ich tue es auch nicht.
Was ich dokumentiere, sind die Reflexionen der Jüngeren über diese Zeit, ihre
Fragen, ihr Nachfragen, ihr Unwohlsein. […] Es geht um die Fragen, die Enkel
ihren Grosseltern stellen, über die Reaktionen darauf und den Schmerz, die Wut
oder die Scham, die diese Fragen auslösen281.
Für diese Einstellung und für das ganze Buch erfuhr Dückers einen großen Lob von
Christa Wolf. An Himmelskörper fiel der älteren Autorin besonders das Interesse der
278
Tanja Dückers im Gespräch. Haberl, Tobias: Meine Version ist die richtige, a.a.O.
Tanja Dückers im Gespräch. Partouche, Rebecca: Der nüchterne Blick der Enkel, a.a.O.
280
Vgl. Metz, Johanna: Das Anrecht auf die Spurensuche in der Vergangenheit. Ein Gespräch mit Tanja
Dückers über Erzähltraditionen und die Rolle der Literatur in der Gedenkkultur. In: Das Parlament. Nr.
49, 04.12.2006, unter: http://www.bundestag.de/dasparlament/2006/49/Panorama/002.html (Zugriff am
11.03.2010).
281
Ebd.
279
59
Jungen an der Groβeltern-Generation: „dass jetzt die Enkel anfangen zu fragen, das hat
mich gefreut“282.
In Bezug auf die Untersuchungen, die im Buch Opa war kein Nazi dargestellt wurden,
bemerkt Harald Welzer etwas Interessantes. Während in den realen Familiengesprächen
mit einer emotionalen Bindung der Enkel an die Großeltern und damit einem Bedürfnis,
von deren Verstrickung in das NS-System besser nichts zu erfahren, zu tun haben,
gewinnt die Enkelin in dem Roman von Dückers eine um so größere Distanz zu eigenen
Großeltern, je mehr sie von deren Geschichte weiß283. Darin sieht er einen
‚erstaunlichen Befund’ und konstatiert, dass von einer einzelnen literarischen Arbeit
solcher Art wohl kaum auf eine generationsspezifische Perspektive rückgeschlossen
werden kann284. Auf jeden Fall haben wir aber mit einer pluralistischen statt
dogmatischen Sichtweise – neben den zahlreichen Opfergeschichten wird in
Himmelskörper plötzlich die deutsche Täterschaft thematisiert. Michael Braun betont,
dass die Autorengenerationen sich nicht mehr einig darüber sind, was vergessen werden
kann und was erinnert werden muss285. Das soll aber nicht bedeuten, dass die
Enkelgeneration wegen der mangelnden Erfahrung nicht zu Wort kommen darf. Eben
deswegen sind, so Braun, neue Blicke in die alten Geschichten erforderlich, weil der
Abstand zur Zeitzeugengenerationen wächst und bald keine mehr da sein werden. „Die
deutsche Vergangenheit will von den jungen Autoren nicht mehr bewältigt, sie will
vielmehr
verstanden
und
eingeordnet
werden
in
den
Kontext
eines
zusammenwachsenden Europas“286 – schreib Braun in seinem Beitrag.
3.3 Zur Entstehungsgeschichte von Himmelskörper
Die Umstände dessen, wie sie überhaupt auf die Gustloff-Geschichte gestoßen ist,
erklärt Dückers folgendermaßen:
282
In meinem Buch geht's doch eigentlich sehr normal zu ... [...]. Christa Wolf und Tanja Dückers im
Gespräch. In: Brigitte, Nr. 21, 1.10.2003, S. 28-33, hier: S. 31.
283
Vgl. Welzer, Harald: Schön unscharf. Über die Konjunktur der Familien- und Generationenromane.
In: Mittelweg 36, 13. Jahrgang (2004), Nr. 1, S. 53-64, hier: S. 62.
284
Vgl. ebd. S. 63
285
Vgl. Braun, Michael: Wem gehört die Geschichte? Günter Grass, Tanja Dückers, Uwe Timm und der
Streit um die Erinnerung in der Gegenwartsliteratur. In: Das Parlament. Nr. 49 / 04.12.2006, unter:
http://www.bundestag.de/dasparlament/2006/49/Panorama/001.html (Zugriff am 04.06.2010).
.
286
Ebd.
60
Bei der Auflösung der Wohnung meiner Großeltern fand ich Dokumente, wonach
meine Tante und mein Onkel die Gustloff um ein Haar verpasst haben und mit dem
Minensuchboot geflohen sind. Ich habe mich immer gefragt, wie es ihnen gelang,
auf dieses Boot zu kommen und habe mir dazu etwas ausgedacht. Meine
Recherche ergab aber auch, dass Nazis Privilege bei der Flucht hatten287.
Die im Buch dargestellten Begebenheiten fiktiv sind, sie scheinen jedoch mindestens
autobiographisch inspiriert zu werden. Im Gespräch mit Johanna Metz stellt Dückers
selber fest:
Im Kern ist die Fluchtgeschichte in Himmelskörper autobiographisch288.
Obwohl im Roman dieselben Ereignisse thematisiert werden, wie in der Günter Grass’
Novelle Im Krebsgang, leugnet Dückers die Suggestion ab, sie ließe sich von Grass
inspirieren. Als Grass’ Novelle 2002 erschien, hatte Dückers „Dreiviertel“ 289 ihres
Romans schon geschrieben, und war „geschockt“290, dass zwei Leute bei unendlich viel
Stoff über Gustloff gleichzeitig schreiben. Wie sie selbst berichtet, hat sie „seit zwei,
drei Jahren“291 zu diesem Thema recherchiert, ist „mit der Gustloff eingeschlafen und
wieder aufgewacht“, hat sich „alle Quellen mühevoll aus dem Internet oder aus
Kleinstverlagen zusammengesucht“292. Die Situation, dass das Buch von Grass ein Jahr
früher erschien, somit das Interesse der Öffentlichkeit auf sich zog und Der Spiegel
anlässlich dieser Publikation die ganze Geschichte der Gustloff und deren Mythos für
Millionen Leute aufbereitet hat, fand sie „ärgerlich“293. Nach einer kurzen
„Schreibblockade“294, von vielen Leuten ermuntert, entschied jedoch Dückers, die
Geschichte zu Ende zu schreiben, weil sie bemerkt hat, dass Grass das Thema ganz
287
Tanja Dückers im Gespräch . Haberl, Tobias: Meine Version ist die richtige, a.a.O.
Tanja Dückers im Gespräch. Metz, Johanna: Das Anrecht auf die Spurensuche in der Vergangenheit,
a.a.O.
289
Tanja Dückers im Gespräch. Huber, Andrea: Deutsche Opfer. Verdrängte Schuld: Die Berlinerin
Tanja Dückers spricht über ihren Roman Himmelskörper. In: Berliner Morgenpost, 03.03.2003.
290
Tanja Dückers im Gespräch . Haberl, Tobias: Meine Version ist die richtige, a.a.O.
291
Zit. nach: Stüben, Jens: Erfragte Erinnerung – entsorgte Familiengeschichte. Tanja Dückers’
„Wilhelm-Gustloff“-Roman „Himmelskörper“. In: Beßlich, Barbara / Grätz, Katharina / Hildebrand, Olaf
(Hg.): Wende des Erinnerns?: Geschichtskonstruktionen in der deutschen Literatur nach 1989. Berlin
2006, S. 169-189 (hier S. 169).
292
Tanja Dückers im Gespräch . Haberl, Tobias: Meine Version ist die richtige, a.a.O.
293
Ebd.
294
Haberl, Tobias: Tanja Dückers – eine sinnliche Geschichtsschreiberin. Unter:
http://www.tanjadueckers.de (Zugriff am 14.05.2010)
288
61
anders behandelt als sie. Sie war schon „beruhigt“295, nahm aber das erste Kapitel, das
sich vor allem auf das Schiff und dessen Konstruktion konzentrierte, aus dem Buch296.
3.4 Zur Analyse des Textes
3.4.1 Zum Inhalt von Himmelskörper
Die Handlung des Romans geschieht, wie die Autorin selbst mitteilt297, im Jahre 2003.
Freia (eigentlich Eva Maria), eine junge Meteorologin und Wolkenforscherin (und
gleichzeitig auch die Ich-Erzählerin) aus (West-)Berlin befindet sich gerade auf dem
Weg zum Kölner Kongress, auf dem sie am nächsten Tag einen Vortrag über die
verschiedenen Wolken-Klassifikationenmodelle halten wird. Freia arbeitet seit einiger
Zeit an der Erstellung eines Wolkenatlasses. Erfolglos sucht sie den Himmel nach
Circus Perlucidus ab, einer einzigen Wolke, die sie bisher nur von Beschreibungen aus
anderen Wolkenatlanten kennt und deren Bild ihr noch für den Atlas fehlt. Sogar den
Namen ‚Wolke’ verdient Circus Perlucidus ihrer Meinung nach vielleicht nicht einmal.
Er ist eher ein Hauch, durchscheinend aber nicht durchsichtig298. Nach Köln fährt sie
mit einem Zug. Die Fotos, die sie immer dabei hat und die sie sich während der Fahrt
anschaut, rufen bei ihr verschiedene Erinnerungen hervor: an ihren Zwillingsbruder
Paul, ihre Mutter Renate, Großeltern Jo und Mäxchen, ihren Vater Peter und an
verschiedene Momente aus der Vergangenheit der Familie. (Freias Erinnerungen an die
Kindheit und Jugend werden in dem ganzen Buch mit den Ereignissen aus der
Gegenwart verflochten). Auf dem Bahnsteig in Hannover bemerkt sie plötzlich ihre
Mutter. Freia erinnert sich, dass Renate die Großmutter zu besuchen vorhatte, weil der
Zustand der älteren Frau sich verschlimmert hatte, seitdem der Großvater gestorben
war. Renate sieht aber ihre Tochter nicht und beide Frauen fahren in verschiedene
Richtungen ab.
Einige Zeit später trifft sich Freia mit ihrem Bruder Paul in seiner Wohnung und erzählt
ihm von diesem unerwarteten „Nicht-Treffen“299 in Hannover. Paul bemerkt, dass
Renate in letzter Zeit viel seine Schwester beschäftigt. Die Meteorologin vermutet, dass
295
Tanja Dückers im Gespräch . Haberl, Tobias: Meine Version ist die richtige, a.a.O.
Tanja Dückers im Gespräch . Hahn, Anne Kathrin: Nicht mal bereut, a.a.O.
297
Vgl. Tanja Dückers im Gespräch . Metz, Johanna: Das Anrecht auf die Spurensuche in der
Vergangenheit, a.a.O.
298
Vgl. Dückers, Tanja: Himmelskörper. Berlin 2005 (2. Aufl.), S. 12.
299
Ebd., S. 25.
296
62
die Ursache in ihrer Schwangerschaft liegt: die Tatsache, dass sie bald selbst Mutter
wird, lässt sie irgendwie an andere Frauen aus ihrer Familie zu denken. Freia kann keine
Ruhe finden, ihre Gedanken kreisen um die Vermutung, dass es in der Familie viel
Ungeklärtes gibt - „als hätte mit meiner Schwangerschaft eine Art Wettlauf mit der Zeit
begonnen, in der ich noch offene Fragen beantworten kann“300. An einem anderen Tag
ist Freia mit ihrem Partner Christan verabredet. Da er aber nicht kommt, entscheidet sie
sich, ihre Eltern zu besuchen. Der Vater ist nicht da, in dem Elternhaus wird Freia nur
von ihrer Mutter empfangen. Beide Frauen unterhalten sich in der Küche, indem sie
Essen vorbereiten. Renate erzählt ihrer Tochter von ihrer Jugend und von Rudolf – dem
ersten im ihrem Leben Jungen, den sie geküsst hat. Sie erwähnt auch, dass sie Rudolf
vor zwei Monaten auf der Beerdigung von Onkel Kazimierz in Warschau wieder
gesehen hat, wobei man einen Eindruck haben kann, dass Rudolf auf sie einen großen
Eindruck gemacht hat. Freia empfindet später dieses Gespräch als merkwürdig:
Je mehr Zeit verging, desto irrealer kam mir Renates und mein Abend vor; wenn
ich die Stimme meiner Mutter hörte, schien es mir unmöglich, dass sie mit mir über
Rudolf gesprochen hatte301.
Die Beziehung zwischen den beiden war bisher nicht besonders eng.
Inzwischen stirbt Freias und Pauls Großmutter. Bei der Auflösung der Wohnung der
Großeltern findet Freia viele Dokumente, die sie bisher nie gesehen hat, darunter
Fotografien, Briefe und Postkarten aus der NS-Zeit: verschiedene Postkarten vom
‚Führer’, mehrere in der Handschrift der Großmutter verfasste „Vorschriften für eine
Gratulation an Göring zur Geburt seines ersten und einzigen Kindes“302, „ein ovales
Katzenauge fürs Fahrrad mit einem eingravierten hakenkreuz“, ausgeschnittene Bilder
mit der NS-Fliegerin Hanna Reitsch, die während des Krieges an einem Militärprojekt
gearbeitet hatte, im dessen Rahmen freiwillige Piloten ihr Leben in den
Selbstmordangriffen nach dem Beispiel der Kamikaze-Angriffe japanischer Piloten
haben opfern sollen. Unter vielen von den Großeltern hinterlassenen Sachen findet Freia
schließlich auch das Buch Mein Kampf. Als Kinder assoziierten Freia und Paul den
Krieg vor allem mit dem Großvater und seinem amputierten Bein. Die Prothese
faszinierte die Geschwister deswegen, weil „man gegen dieses Bein treten konnte, ohne
300
Ebd., S. 25.
Ebd., S. 39.
302
Ebd., S. 57.
301
63
dass Großvater davon die geringste Notiz nahm“303. Auf die Fragen nach diesem Krieg
bekamen aber beide keine genauen Erklärungen, was ihrer Phantasie viel Spielraum für
Spekulationen ließ:
Paul und ich waren uns nicht ganz sicher, ob ‚Krieg’ eher einen Ort oder ein
Ereignis bezeichnete. Ganz sicher aber war Vollmond, als ‚Krieg’ passierte. In den
Märchen […] passierten die schrecklichen Dinge immer bei Vollmond304.
Das verschwundene Bein konnte in den Vorstellungen der Kinder genauso gut durch
einen „Silberlügenaal“ wie einen „Futterneidhai“ aus dem Bleichen See, einem Teich in
der Nähe ihres Hauses, geschnappt werden:
’Krieg’ schien jedenfalls ein schrecklicher Ort zu sein, eine Gefahrzone, in die aus
irgendeinen Grund nur Männer kamen. Es hieß noch, dass „Großvater hart
gekämpft und Großmutter lange auf ihn gewartet“ habe305.
Die Eltern halfen den Zwillingen natürlich nicht bei diesen naiven Erklärungsversuchen,
was mit ‚Krieg’ gemeint wird:
Wie Großvater lachten auch die anderen albern, wenn wir ihnen unsere neuesten
Theorien vorstellten306.
Konkrete Informationen zum Zweiten Weltkrieg erreichten die Zwillinge erst mit dem
Eintritt ins Gymnasium. Es handelte sich dabei vor allem um Fakten und Daten . In der
Familie wurden sie dagegen mit anderen, aus der Perspektive der einzelnen, leidenden
Personen erzählten Geschichten, konfrontiert: mit der Plünderung des Königsbergs von
Russen, der Verwundung des Großvaters in Russland, der Flucht der Familie aus
Westpreußen. Je älter Freia wurde, desto klarer wurde es jedoch für sie, dass die
Großeltern, besonders die Oma, nur diese Erinnerungen herbeiriefen, die die anderen
Menschen zum Mitleid bewegen konnten. Sie erzählte beispielsweise gern davon, dass
sie eine ganze Nacht und einen Morgen bei Minus zwanzig Grad im Schnee hatte stehen
303
Ebd., S. 77.
Ebd., S. 79.
305
Ebd., S. 78.
306
Ebd., S. 81.
304
64
müssen. Die Geschichte der Flucht kannte Freia auswendig, sie wusste zum Beispiel,
wo es die Kunstpausen geben wird oder wo sich der Großvater einschalten soll:
Die Stimme meiner Großmutter zitterte nicht oder nicht mehr bei diesen
Erinnerungen: zu oft hatte sie diese zurechtgelegten Sätze wiederholt. Wie eine
Lehrerin klang sie […] oder eine Reiseführerin, nicht wie meine Großmutter307.
Erst kurz vor ihrem Tod, als sie nicht mehr ganz bei Sinnen war, verriet die Großmutter
die genauen Umstände der Flucht aus Westpreußen. Jo und Renate hatten Gdingen mit
dem Minensuchboot ‚Theodor’ verlassen wollen. Als sie aber angekommen waren, war
es schon spät gewesen und das Schiff war schon belegt gewesen. Die Tatsache, dass sie
doch außer der Reihe an Bord genommen worden waren, verdankt Jo der damals
fünfjährigen Renate, die eine Nachbarin mit ihrem Sohn als diejenige angezeigt hatte,
die schon ganz lange „gar nicht mehr den Gruß gemacht“308 habe also nicht führertreu
gewesen sei. Die denunzierte Familie war dann auf der Gustloff untergegangen. Jo und
Renate hatten sich gerettet, oder wie Jo diese Situation kommentierte: „Renätchen hat
uns das Leben gerettet“ 309. Jetzt, wenn die Großeltern nicht mehr leben und wenn die
Wahrheit auf das Tageslicht gekommen ist, ist Freia im Stande, die Lücken in der
Geschichte der Familie, die sie seit Langem bemerkt hat, zu klären. Zusammen mit
Renate fährt sie nach Gdingen. Beide Frauen besichtigen den Hafen. Freia stellt ihrer
Mutter viele Fragen, aber Renate kann ihr nicht sagen, wie die anderen damals
Stalingrad kommentiert hatten, oder ob sie die Kriegsschiffe bewusst wahrgenommen
hatte. Die Mutter erinnert sich nur daran, dass sie „damals die Kriegsschiffe langweilig
fand, weil die alle nur grau waren“310 im Gegensatz zu den KdF-Schiffen, die sie
hübscher fand und dass sie mit ihrem Vater „Russe’ gespielt hat. Freia erfährt, dass der
Onkel Kazimierz die einzige Person außer der Eltern war, die genau wusste, wie und
warum Jo und Renate auf das Minensuchboot gekommen waren. Anvertraut hat ihm
Renate, weil sie mit eigenen Gedanken zu der Gustloff-Katastrophe nicht mehr
zurechtkommen konnte. Sie fühlte sich ihr ganzes Leben schuldig an dem Tod der Frau
und ihrem Sohn, obwohl ihre eigene Familie sie eher für eine Retterin hielt. In Gdynia
findet Freia auch endlich den seit Jahren gesuchten Circus Perlucidus.
307
Ebd., S. 100-101.
Ebd., S. 249.
309
Ebd., S. 250.
310
Ebd., S. 299.
308
65
Einige Zeit nach der Reise bringt Freia ihre Tochter zur Welt. Als Aino ein halbes Jahr
alt ist, erfährt sie, dass Renate Selbstmord begangen hat.
Zwei Jahre später beschließen die Zwillinge, ein Buch über diese Geschichte zu
verfassen – Himmelskörper.
3.4.2 Zum Textanfang
In Anlehnung an kognitive und rezeptionsorientierte Modelle lässt sich feststellen, dass
der Erzählanfang und -schluss zu diesen Textteilen gehören, die nach der Lektüre eines
Textes am stärksten im Bewusstsein des Lesers haften bleiben311. Dem Erzählanfang
wird bei der Rezeptionssteuerung und Informationsverarbeitung eine besondere Rolle
zugeschrieben: alle Informationen, die in einem Text an späteren Stellen vergeben
werden, werden immer im Licht des am Anfang des Textes Gesagten gedeutet. Deshalb
spielt der Erzählanfang bei der Interpretation der Texte eine Schlüsselrolle.
Carsten Gansel nennt vier Varianten für den Beginn/Anfang eines Textes312:
-
ab ovo – dieser Typ bietet eine Art Einstieg in die Handlung und dient der
Einstimmung auf die folgenden Ereignisse. Typisch ist der Erzählanfang ab ovo
für die Märchen (z.B. „Es war einmal…“).
-
in medias res – als Beginn wird ein bestimmter Zeitpunkt mitten in der
Geschichte gewählt. An dieser Stelle kennt also der Leser die Vorgeschichte
noch nicht. Alles, was für das Verständnis der Handlung von Bedeutung ist,
wird erst im weiteren Verlauf nachgeholt. Die Ereignisse werden in ihrer
Chronologie
mittels
der
Erzähltechniken
wie
Analepsen/aufbauende
Rückwendungen dargestellt. Erst also am Ende ist der Leser imstande, alle
Zusammenhänge zu begreifen.
-
in ultimas res – die Erzählung beginnt mit dem Ende der Geschichte oder kurz
vor diesem Ende. Die Zusammenhänge der jeweiligen Handlungsstränge können
311
Vgl. Krings, Constanze: Zur Analyse des Erzählanfangs und des Erzählschlusses. In: Wenzel, Peter
(Hg.): Einführung in die Erzähltextanalyse. Kategorien, Modelle, Probleme. Trier 2004, S. 163-179, hier:
S. 163.
312
Vgl. Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur. Ein Praxishandbuch für den Unterricht.
Berlin 1999, S. 74.
66
somit erst am Schluss verstanden werden. Bei diesem Typ des Textanfangs fällt
die erzählte Zeit mit der Erzählzeit zusammen.
-
invocatio – es handelt sich um eine Einleitung oder ein Vorwort, in dem das
Erzählen begründet oder legitimiert wird. Das kann im Form einer Widmung
oder einer Rahmenerzählung stattfinden, möglich ist aber auch die Benennung
der Herkunft oder Quelle der Geschichte.
Das erste Kapitel des Romans von Tanja Dückers beginnt folgendermaßen:
Ich hatte das Foto nicht dabei. Unruhig durchwühlte ich meine Reisetasche,
durchblätterte einen Notizblock, eine Zeitung, schlug meinen Pass auf, suchte
zwischen Bahn-Card und Bibliotheksausweis, zwischen Thermoskanne und
getrockneten Früchten das kleine Schwarzweiβbild, das ich gestern aus dem FotoSchuhkarton genommen und auf meinen Schreibtisch gelegt hatte. Ich biss mir vor
Wut auf die Lippen. Als ich den Kopf hob, begegnete sich dem Blick einer stark
geschminkten jungen Mädchens, der nicht Mitleid, sondern Verachtung
ausdrückte. Schließlich schlug ich den weißen Ordner mit vielen Klarsichtfolien
wieder auf, einen Ordner der mich seit Jahre weite Reisen unternehmen ließ313.
Eindeutig haben wir also in diesem Fall mit dem Erzählanfang in medias res zu tun. Als
Ausgangspunkt für die Darstellung der Geschichte wurde ein Zeitpunkt mitten in der
Geschichte gewählt. Man weiß nicht, wer erzählt, wo er sich befindet, was für ein Foto
diese Person sucht und weswegen dieses Foto im Moment so bedeutsam ist. Man weiß
sogar nicht, ob es sich um eine Frau oder einen Mann handelt, obwohl die Art der
Aussage vermuten lässt, dass wir in diesem Fall eher mit einer Frau zu tun haben. Da es
eine Einleitung fehlt, kann der Leser nur Vermutungen haben, was vorher passieren
musste. Aufgrund dieses Anfangs kann man nur mit relativ großer Sicherheit feststellen,
dass die Figur (wer auch immer) gerade auf einer Reise ist. Davon können die
Reisetasche der Ordner, der „seit Jahren weite Reisen unternehmen ließ“, sowie die
Thermoskanne, zeugen. Erst wenn die Geschichte auf weiteren Seiten fortgeführt wird,
werden die gesamten Zusammenhänge offen gelegt.
3.4.3 Erzählanalyse nach Stanzel
313
Dückers, Tanja: Himmelskörper,.a.a.O., S. 7.
67
3.4.3.1 Zwei Grundformen des Erzählens
Franz Stanzel unterscheidet in seinem Buch Typische Formen des Romans zwischen
zwei Grundformen des Erzählens – einer berichtenden Erzählung einerseits und einer
szenischen Darstellung andererseits314. Um den Unterschied zwischen beiden Formen
zu veranschaulichen und zu zeigen, inwieweit die Erzählweise die Rezeption der Werke
beeinflusst, benutzt Stanzel zwei Texte, die zwar einen ähnlichen Sachverhalt
behandeln aber ihn auf verschiedene Art und Weise vermitteln. Im Fall von
berichtender (oder panoramatischer) Darstellung werden Ereignisse aus einer zeitlicher
und räumlicher Ferne erzählt, so dass bei dem Leser eine Vorstellung entsteht, dass sie
in der Vergangenheit abgeschlossen sind. Der Erzähler scheint dabei, an den
Einzelheiten und Details nicht interessiert zu sein. Es geht in erster Linie um eine
dokumentarische, trockene Vermittlung von Informationen, die Begebenheiten werden
in knapper Zusammenhang präsentiert. Mit der Distanz des Erzählers vom Geschehen
wird auch ein engeres Engagement des Lesers mit dem Geschehen ausgeschlossen315.
Dieses erfolgt erst im Fall von szenischer (mimetischer) Erzählung. Im Unterschied zur
berichtenden Erzählung, die überwiegend im epischen Modus erfolgt, ist für die
szenische Darstellung der dramatische Modus charakteristisch. Der Erzähler wird hier
zu einem Augenzeuge der Ereignisse. Die szenische Art der Darstellung ermöglicht also
dem Leser, sich in die Gestalten zu versetzen und aus ihrer Perspektive das Geschehen
zu beobachten, wodurch sich die Erzähldistanz grundsätzlich verkürzt. Das epische
Präteritum gibt seine Vergangenheitsbedeutung auf, die einzelnen Begebenheiten
wirken demnach als wären sie gegenwärtig. Diesen Eindruck verstärken solche
Zeitadverbien wie beispielsweise „gerade“ und „jetzt“. Im Gegensatz zu der
berichtenden Erzählung wird in der szenischen Darstellung die genauere Schilderung
von Raum, Zeit und Personen bevorzugt. Im Fall von den von Stanzel analysierten
Texten bleibt die räumliche Kulisse die Gleiche, mit der Änderung der
Vermittlungsweise ändert sich aber der atmosphärische Raum – herausgestellt werden
Emotionen oder die Dynamik der Ereignisse. Zusammenfassend kann man sagen, dass
es ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Gehalt und der Darstellungsform besteht.
Der Gehalt der Erzählung wird damit zu einer Funktion der Erzählweise. Außerdem
beeinflusst die vorherrschende Form des Erzählens den Grad der Anschaulichkeit sowie
314
315
Vgl. ebd.
Vgl. ebd. S. 13.
68
der Aussagekraft. Mit der Änderung der Erzählform ändert sich also das
Wirkungspotenzial der Erzählung316.
Im Fall von Himmelskörper handelt es sich um die szenische Darstellung. Die
Erzählung erfolgt im dramatischen Modus. Da in der Rolle des Erzählers eine der
Figuren auftritt, die die Ereignisse mit eigenen Augen beobachtet und aus eigener
Perspektive schildert, wird die Erzähldistanz deutlich kürzer. Man bekommt den
Eindruck, dass sich das Erzählte gerade ereignet, auch im Fall von derjenigen Kapiteln,
die die Kindheit und Jugend von Freia behandeln317.
Mein Vater und ich liefen auf einem Pfad durch den dichten Wald; die Stämme der
Tannen schienen sich in nichts aufzulösen, je höher sie reichten – so neblig war es.
[…] Es war so warm heute.318
Ich wunderte mich schon über nichts mehr und ging in die Küche, um meinem
Vater mit der Salatsoße zu helfen.319
In diesen Passagen entsteht der Eindruck einer unmittelbaren Nähe zum erzählten
Geschehen. Der Erzähler ist in die von ihm geschilderte Ereignisse involviert. Da er
sein eigenes Leben erzählt, werden dem Leser seine inneren Zustände, Gefühle und
Gedanken bekannt.
3.4.3.2 Erzählsituationen
In dem Buch Typische Formen des Romans unterscheidet Stanzel zwischen drei Formen
von Erzählsituationen:
-
Die auktoriale Erzählsituation – charakteristisch für diese Erzählsituation ist „die
Anwesenheit eines persönlichen, sich in Einmengung und Kommentaren zum
Erzählten kundgebenden Erzählers“320. Der Erzähler ist allwissend, gehört der
erzählten Welt nicht an, berichtet über die Ereignisse aus einer distanzierten
Perspektive. Er kennt nicht nur die Vergangenheit und Zukunft, sondern hat
316
Vgl. Kayser, Wolfgang: Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft.
Tubingen/Basel 1992 (20. Aufl.).
317
Vgl. auch zeitdeckendes Erzählen
318
Dückers, Tanja: Himmelskörper, a.a.O.. S. 40.
319
Ebd., S. 122.
320
Stanzel, Franz: Typische Formen des Romans, a.a.O., S. 16.
69
auch die Möglichkeit, in Gedanken der Figuren zu blicken. Er sieht also und
weiß alles. Die Grundform des Erzählens, die dieser Erzählsituation entspricht,
ist die berichtende Erzählweise. Begrenzt ist der auktoriale Erzähler nur in
diesem Sinne, dass er die Bewusstseinszustände der Figuren ausschließlich von
außen wahrnehmen kann.
-
Die personale Erzählsituation – die Geschichte wird aus der Perspektive einer
Figur erzählt, die der erzählten Welt angehört. Berichtet wird dabei in der
3. Person Singular, es handelt sich also um einen Er-Erzähler. Da der Erzähler
nicht allwissend ist, wird hier auf die Einmischungen und Kommentare
verzichtet.
-
Die Ich-Erzählsituation – erzählt wird die Geschichte in der 1. Person. Der
Erzähler gehört der erzählten Welt an, „er selbst hat das Geschehen erlebt,
miterlebt oder beobachtet, oder unmittelbar von den eigentlichen Akteuren des
Geschehens in Erfahrung gebracht“321.
In Bezug auf Stanzels Nomenklatur lässt sich feststellen, dass sich Dückers im Fall von
Himmelskörper ausschließlich der Ich-Erzählsituation bedient. Schon der Textanfang
weist auf die Ich-Erzählsituation hin:
Ich hatte das Foto nicht dabei322.
In der Rolle des Erzählers tritt Freia auf, die einerseits selbst an den Ereignissen
beteiligt ist, andererseits aber auch die ihr erzählten Geschichten referiert. Sie gehört
ohne Zweifel zu der Welt der Figuren. Innerhalb der Ich-Erzählsituation kann man
weiterhin zwischen dem erzählenden und dem erlebten Ich unterscheiden. Das
erlebende Ich liegt in dem Text dann vor, wenn es sich um das frühere Selbst des IchErzählers handelt
323
. Mit dem Rückblick des erzählenden Ichs auf das erlebte Ich
haben wir in diejenigen Passagen zu tun, in denen Freia aus der Perspektive der
erwachsenen Frau von ihrer Kindheit und Jugend berichtet:
Ich blickte noch einmal auf das Bild von Peter mit den Kirschen über den Ohren
und musste wieder daran denken, wie mein Vater früher taubengraue Briefe an
321
Ebd., S, 16.
Dückers, Tanja: Himmelskörper, a.a.O., S. 7.
323
Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur, a.a.O., S. 30.
322
70
»Gott« geschrieben und ins Meer geworfen hatte. »Papa, was hast du denn Gott
geschrieben?« fragten Paul und ich. Peter antwortete nur: »Das bleibt mein
Geheimnis«324.
Was das erzählende und von dem erlebten Ich unterscheidet, ist nicht nur der zeitliche
Abstand (in diesem Fall etwa 25 Jahre) aber auch die größere Lebenserfahrung, dank
deren das erzählende Ich die vergangenen Ereignisse beurteilen und interpretieren kann.
So kann Freia als eine erwachsene Frau sagen:
Weder Paul, der aus dem Stegreif Geschichten erfinden konnte, noch ich, das
Mathe-As und Knobeltalent, und schon gar nicht meine Mutter, von der jeder
glaubte, die und ihre Frauenzeitschriften, ihren Kräutergarten und ihre
Königsberger Klopse in- und auswendig zu kennen, standen im Mittelpunkt
unserer Familie. Nein, es war immer Peter325.
Da der Ich-Erzähler als eine der Figuren in seinen Erfahrungen und Kenntnissen
begrenzt ist, kann er auf keinen Fall als allwissend betrachtet werden. Bewegen kann er
sich nur in den Grenzen von Raum und Zeit; von den Ereignissen, an denen er selbst
nicht teilgenommen hat, kann er nur dann Kenntnis haben, wenn ihm davon erzählt
wurde326. Die Unkenntnis des Ich-Erzählers über viele Aspekte des Familienlebens zeigt
sich in folgenden Textbeispielen:
Es gibt so viel Ungeklärtes in unserer Familie327.
Für einen Moment schoss mir ein furioser Hoffnungsschimmer durch den Kopf.
Vielleicht fuhr Renate ja gar nicht zu ihrer Mutter …? Vielleicht hatte sie es
deshalb versäumt, ihre Zugreise mit meiner abzustimmen. Diesen wilden Moment
lang, in dem ich auf meinen linken Daumenknöchel biss, bis er weiß wurde,
wünschte ich mir, dass sie eine geheimnisvolle Reise anträte, dass sie Rudolf
heimlich treffen, dass er sie hier mit einem von seiner Nervosität und seiner Hast
324
Dückers, Tanja: Himmelskörper, a.a.O., S. 9.
Ebd., S. 10.
326
Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur, a.a.O., S. 32.
327
Dückers, Tanja: Himmelskörper, a.a.O., S. 26.
325
71
schon halb zerfledderten, doch farbenprächtigen Blumenstrauß vom Bahnhof
abholen würde […]328.
Von dem Ich-Erzähler kann nur das dargestellt werden, was er selbst denkt, fühlt oder
sieht. Die Innenwelt der anderen Figuren sowie ihre Erfahrungen und Absichte bleiben
ihm solange unbekannt, bis sie sich selbst mit ihnen verraten. Über alles also, was den
Ich-Erzähler nicht unmittelbar betrifft, kann er sozusagen nur aus zweiter Hand
Kenntnis haben.
3.4.4 Erzählanalyse nach Matias Martinez und Michael Scheffel
3.3.4.1 Faktuales und fiktionales Erzählen
Im Vorwort des Buches weist die Autorin Tanja Dückers den Leser darauf hin, dass es
sich bei der geschilderten Geschichte um rein fiktive Ereignisse und Personen handelt.
Tanja Dückers betont:
Dies ist ein Roman. Namen, Gestalten und Begebenheiten sind Erzeugnisse der
Phantasie der Autorin. Historische Persönlichkeiten und Ereignisse sind ebenfalls
fiktiv verwendet. Die Handlung ist keine Darstellung tatsächlicher Vorgänge, und
es handelt sich nicht um Portraits realer Personen. Eventuelle Übereinstimmungen
oder Ähnlichkeiten zu Personen und Ereignissen sind rein zufällig329.
Die Autorin informiert den Leser an dieser Stelle darüber, dass obwohl im Buch auch
historische Ereignisse und Namen vorkommen, soll der Roman nicht als
Autobiographie einer real existierenden Person verstanden werden. Die dargestellte
Geschichte ist fiktiv und deshalb handelt es sich im Fall von Himmelskörper um eine
fiktionale Erzählung.
3.4.4.2 Zeit
328
329
Ebd., S. 19-20.
Dückers, Tanja: Himmelskörper, a.a.O., S. 4.
72
In Anlehnung an Günther Müllers Konzept der „zweierlei Zeit“ unterscheiden Martinez
und Scheffel zwischen erzählter Zeit und Erzählzeit330. Unter Erzählzeit verstehen sie
jene Zeit, die der Erzähler für das Erzähler der jeweiligen Geschichte benötigt. Im Fall
von einem Erzähltext, der keine konkreten Angaben über die Dauer des Erzählens
enthält, wird die Erzählzeit einfach nach dem Seitenumfang bemessen. Die erzählte Zeit
ist dagegen die Dauer der erzählten Geschichte331.
Im Fall von Himmelskörper entspricht die Erzählzeit einem Umfang von circa
dreihundert Druckseiten, während die in diesem Rahmen dargestellte Geschichte einen
Zeitraum von etwa 60 Jahren umfasst (von den Ereignissen während des Zweiten
Weltkrieges bis zu den gegenwärtigen Zeiten).
Martinez und Scheffel zählen in Anlehnung an Gerard Genette drei zeitliche Kategorien
auf. Nach der Position der beiden Literaturwissenschaftler lässt sich das Verhältnis
zwischen der Zeit der erzählten Geschichte und der Zeit der Erzählung im Sinne der
drei Fragen systematisieren:
1. In welcher Reihenfolge oder Ordnung wird das Geschehen in einer Erzählung
dargestellt332?
Bei der Erzählordnung handelt es sich um die Relation zwischen der Reihenfolge der
einzelnen Ereignisse in der Geschichte und der Reihenfolge, in der sie im Text
präsentiert werden. Die Geschichte kann chronologisch dargestellt werden – die
Chronologie der Geschichte stimmt dann mit der Chronologie der Erzählung. In einem
Text können aber auch Anachronien vorkommen, d h. Umstellungen der
chronologischen Ordnung der Ereignisfolge. Martinez und Scheffel sprechen von zwei
Formen der Anachronie. Im Fall von Analepse (Rückwendung) hat ein Ereignis zu
einem früheren Zeitpunkt stattgefunden als dem, den die Erzählung bereits erreicht hat –
es wird also nachträglich präsentiert (B A C)333. Die Anachronie in der Form einer
Prolepse (Vorausdeutung) wird ein Ereignis, das noch in der Zukunft liegt,
vorwegnehmend erzählt (A C B)334.
330
Vgl. Martinez, Matias / Scheffel, Michael: Einführung in die Erzahltheorie, a.a.O., S. 31.
Vgl. ebd., S. 31.
332
Vgl. ebd., S. 32.
333
Vgl. ebd., S 33.
334
Vgl. ebd.
331
73
Der Roman Himmelskörper setzt sich aus insgesamt 24 Kapiteln zusammen. Die
Geschichte wird anachronisch dargestellt. Im ersten Kapitel kennt der Leser die IchErzählerin Freia lernen. Sie ist gegen 30, arbeitet wissenschaftlich als eine
Wolkenforscherin und erwartet ein Kind. An dieser Stelle weiß man nicht viel von
ihrem Leben. Die Fotos von ihren Verwandten, die sie dabei hat, rufen bei ihr die
Erinnerungen hervor – so hat der Leser eine Möglichkeit, einige Episoden aus Freias
Kindheit kennen zu lernen und etwas von ihrer Familie zu erfahren. Die
Erzählgegenwart wird also in diesem Kapitel durch Rückblenden durchbrochen, denn
Freia erinnert sich an ihre Kindheit aus der Perspektive einer erwachsenen Person:
Ich blickte noch einmal auf das Bild von Peter […]. Nach dem Abendessen stand
er oft auf und verschwand. Erst im Morgengrauen kehrte er mit zerzausten Haaren
und Blättern an den Ärmeln seines wetterfesten Anoraks zurück. Manchmal
erzählte er uns, er habe im Wald mit Elfen gesprochen. Und dann malte Peter diese
Elfen für uns335.
Im zweiten Kapitel wird die Chronologie der Rahmenerzählung beibehalten. Freia trifft
sich mit ihrem Bruder Paul und erzählt ihm von ihrer Reise. Auch in diesem Kapitel
wird aber an manchen Stellen die Vergangenheit erwähnt:
Erinnerst du dich noch, wie wir früher überlegt haben, was in unseren Gesichtern
die Leute dazu bringt, zu wissen, wer von uns das Mädchen und wer der Junge ist?
Da waren wir vielleicht sieben336.
Die Chronologie des Erzählens wird deutlich erst im dritten Kapitel unterbrochen. Das
hier dargestellte Gespräch mit der Mutter musste noch vor Freias Reise aus dem ersten
Kapitel stattfinden, denn eben in diesem Moment hört Freia zum ersten Mal von Rudolf.
Seit diesem Kapitel verflicht sich die Gegenwart mit der Vergangenheit. Da alle
Ereignisse aus der Perspektive einer nach 2000 lebenden Frau erzählt werden, handelt
es sich im Fall von Himmelskörper um Rückwendungen. Es bleibt aber noch die Frage
offen, ob es aufbauende oder auflösende Rückwendungen sind. Zwischen beiden Typen
von Analepse unterscheidet Eberhart Lämmert in seinem Buch Bauformen337. Bei der
335
Dückers, Tanja: Himmelskörper, a.a.O., S. 9.
Ebd., S. 21-22.
337
Vgl. Martinez, Matias / Scheffel, Michael: Einführung in die Erzahltheorie, a.a.O., S. 36.
336
74
aufbauenden Rückwendung handelt es sich um einen Fall, in dem eine Art Exposition
nachgereicht werden muss, um die Hintergründe einer zunächst unvermittelt
präsentierten Situation zu verdeutlichen. Von einer aufbauenden Rückwendungen
spricht Lämmert im Fall von Texten, die in medias res beginnen. Bei der auflösenden
Rückwendung kann dagegen dann die Rede sein, wenn sie sich in der Regel am Ende
der Erzählung findet und das bis dahin lückenhaft erzählte Geschehen ergänzt. Im Fall
von Himmelskörper handelt es sich um aufbauende Rückwendungen. Die von Dückers
angenommene Strategie ist die folgende: zuerst wird ein Ereignis aus der Vergangenheit
beiläufig erwähnt, dann kommt ein oder mehrere Kapitel, in denen die Geschichte näher
dargestellt wird. So werden Informationen Seite für Seite nachgereicht. Dass die Mutter
eine sehr verschlossene Person ist, erfährt der Leser schon im ersten Kapitel. Das
Geheimnis ihres Lebens klärt sich aber erst seit dem achtzehnten auf. Auch über
Wieland wird schon im zweiten Kapitel gesprochen. Man muss aber als Leser bis zum
elften, dreizehnten und fünfzehnten Kapitel warten, um zu erfahren, wer Wieland war
und welche Rolle er in Freias Leben gespielt hat. Im Verlauf der Handlung werden
langsam alle suggerierten Geheimnisse und alle Andeutungen geklärt, sodass die
Geschichte der Familie am Ende des Buches völlig verständlich wird. Man kann also
sagen, dass obwohl die einzelnen Episoden keiner Chronologie folgen, sind sie
Elemente einer in sich geschlossenen Ganzheit. Der kausale Zusammenhang wird
dadurch ohne Zweifel beibehalten.
2. Welche Dauer beansprucht die Darstellung eines Geschehens oder einzelner
Geschehenselemente in einer Erzählung338?
Bei der Erzähldauer handelt es sich um „eine Relation zwischen der Zeit, die die
erzählten Ereignisse in Anspruch genommen haben sollen, und der für ihre Darstellung
erforderlichen Textmenge“339. Mehrere Jahrhunderte können in ein paar Sätzen erzählt
werden, ein Tag dagegen auf mehreren hundert Seiten. Martinez und Scheffel
unterscheiden in Anlehnung an Lämmert und Genette zwischen zeitdeckendem,
zeitraffendem (bzw. summarischen) und, zeitdehnendem Erzählen sowie zwischen
einem Zeitsprung (einer Ellipse) und einer Pause. Am Beispiel von Himmelskörper
338
Vgl. ebd., S. 32.
Marsden, Peter H.: Analyse der Zeit. In: Wenzel, Peter (Hg.): Einführung in die Erzähltextanalyse.
Kategorien, Modelle, Probleme, a.a.O., S. 89-100. hier: s. 92.
339
75
lassen sich die drei ersten Grundformen des narrativen Tempos analysieren: die Szene,
Dehnung und Raffung. Zeitdeckendes Erzählen kommt vor, wenn die Erzählzeit und
erzählte Zeit übereinstimmen. Eigentlich muss also in solchem Fall nicht mehr erzählt
sondern szenisch dargestellt werden. Ein Beispiel für zeitdeckendes Erzählen ist eine
Figurenrede in einer Dialogszene, die ohne Auslassungen oder Erzählereinschübe
wiedergegeben wird340. Von einer Raffung kann dann die Rede sein, wenn die
Erzählzeit kürzer als die erzählte Zeit ist. Schließlich liegt eine Dehnung dann vor,
wenn die für die Darstellung eines Ereignisses verwendete Erzählzeit – wie in einer
Zeitlupe – deutlich länger ist, als die Zeit, die das Ereignis selbst beansprucht“ 341. Wie
Martinez und Scheffel bemerken, halten sich die Erzählungen in der Regel „ebenso
wenig durchgängig an die chronologische Ordnung eines Geschehens wie an seine
zeitliche Dauer“342. Auch im Fall des Romans von Dückers variiert das Verhältnis der
Dauer von Erzählzeit und erzählter Zeit.
Es sind in Himmelskörper Textstellen zu finden, in denen szenisch dargestellt wird. In
der folgenden Szene befindet sich Freia mit ihrem Vater im Wald, denn sie will
unbedingt Geister beobachten. Das Fragment ist ziemlich lang, es veranschaulicht aber
deutlich, worauf das zeitdeckende Erzählen beruht:
»Du darfst nicht reden, Freia, du musst dich auf die Geistin konzentrieren. Wenn
du ihr nicht Beachtung schenkst, ist sie eingeschnappt und schwingt sich fort,
bevor wir sie überhaupt zu Gesicht bekommen haben.«
»Da hat sie ja was mit mir gemeinsam!«
»Freia, du wolltest doch heute unbedingt mitkommen, dann musst du jetzt auch ein
bisschen still sein und mitmachen …«
»Ja.«
»Siehst du, wie sie mit ihren dünnen Armen die Nebelschleier vor uns lüftet?«
»Ja.«
»Siehst du, dass sie ihre Arme biegen kann wie du deine Lakritzstangen, nur dass
sie weiß sind?«
»Ja.«
»Siehst du, wie sie sich jetzt zu Boden wirft, ihre Stirn einmal an den Stein vor uns
legt, und hörst du, wie sie dabei mit windiger Stimme in sich hineinmurmelt und
einen leisen Gesang anstimmt?«
340
Vgl. Martinez, Matias / Scheffel, Michael: Einführung in die Erzahltheoriea, a.a.O., S. 39.
Ebd., S. 43-44.
342
Ebd., S 39.
341
76
»Ja!«
»Und siehst du, wie sie sich jetzt auszieht, als wolle sie zu einem nächtlichen Bad
schreiten, siehst du, wie sie einen Schleier nach dem anderen, wie sie ihren Schal
und ihre Armreifen, ihr Kleid und ihren Schmuck in Richtung Wald wirft?«
»Ja!«
»Siehst du, wie der Nebel ihre Kleider vom Boden hebt?«
»Und siehst du, wie sie jetzt eine lockende Geste macht, ihre Hand ausstreckt und
mich anschaut, einen Zeigefinger mit einem Nagel, glänzend und lang wie die
Schneide eines Taschenmessers, nach mir ausstreckt und ihn wieder zu sich
heranholt?«
»Ja, Papa, und ich glaube, sie lacht dabei wie eine Eule.«
»Genau, verstehst du jetzt, weshalb ich nachts manchmal herkomme?«
»Ja!«
»Versprichst du mir, dass du das niemandem erzählst, auch nicht Mama?«
»Ja. Versprochen!«
»Schau mich an …«
Mein Vater fasste mir unters Kinn, drehte meinen Kopf zu sich und blickte mich
an. Sein Gesicht war sehr ernst, Wehmut oder Sehnsucht zeichnete sich wie so oft
darin ab, weshalb ich ihn sehr gern mochte, und drum sagte ich ja343.
Zuerst stimmen die Erzählzeit und erzählte Zeit überein. Der Erzähler hält sich mit
seinen Einschüben zurück, obwohl Freia als Ich-Erzähler eine Geschichte erzählt, die
sie als Kind selbst erlebt hat. Zu tun haben wir hier mit einer kommentarlosen
Wiedergabe eines Figurendialogs. Erst am Ende des Zitats wird die Szene durch einen
Erzählkommentar unterbrochen. An dieser Stelle stimmen die Erzählzeit und erzählte
Zeit nicht mehr zusammen. Wenn man sich diese Szene vorstellt, dann kann man
feststellen, dass es sich in diesem Fall mit großer Wahrscheinlichkeit um eine
zeitdehnende Erzählung handelt. Erreicht wird eine Dehnung in literarischen Texten
beispielsweise durch Einschübe, die innere Vorgänge der Figur darstellen – in diesem
Fall sind es die Gedanken, die im Kopf Freias in der beschriebenen Situation
erscheinen. Die Erzählung scheint hier also minimal länger als das Geschehen zu sein.
Ein noch besseres Beispiel für eine zeitdehnende Erzählung ist im 22. Kapitel zu finden.
Freia befindet sich mit ihrer Mutter in Gdingen. Beide Frauen machen einen
Spaziergang zum Hafen und unterhalten sich. Am Ende dieser Passage schaut Freia in
343
Dückers, Tanja: Himmelskörper, a.a.O., S. 45-46.
77
den Himmel und bemerkt den seit Jahren gesuchten Circus Perlucidus. Die Situation
könnte in der Wirklichkeit nur eine Weile dauern. In dem Buch wird sie aber zeitlich
gedehnt, denn Freia macht sich bei der Beobachtung viele Gedanken über das vor einem
Moment stattgefundene Gespräch mir Renate:
Ich starrte in den jetzt schieferfarbenen Himmel, die Farbe, die ich am meisten
hasste, und dachte nach über die Worte meiner Mutter. Mein so theatralischer
Onkel uns meine so spröde Mutter […].344
Freia stellt sich in ihren Gedanken beide Personen vor. Sie denkt an Situationen aus
ihrem Leben, an solche Einzelheiten wie „die überraschende Zartheit, Weichheit“ von
„ungewöhnlich kleinen, zierlichen Händen“ des Onkels. Das Gespräch mit der Mutter
wird nach einer Weile fortgesetzt. Die Beschreibung von Freias Gedanken musste also
diese Situation zeitlich dehnen.
Da entdeckte ich auf einmal etwas. Ich griff nach meinem Minifernglas und starrte
in den Himmel. Eine Wolke, wie aus Seide, aus unendlich fein verschütteter Milch,
aus Spucke, durchsichtig wie der so eigenartig fleischlose Körper von Quallen und
doch deutlich erkennbar ihre Ränder, dort oben, in ich schätzte 15 000 Höhe, leicht
bewegt.345
Im Roman von Dückers sind aber auch Stellen zu finden, an denen die Erzählung kürzer
ist als das Geschehen, das sie präsentiert. Ein Beispiel für eine zeitraffende Erzählung
ist das Textfragment, in dem die Oma sich mit Renate um die Namen ‚Gdingen’ und
‚Gotenhafen’ streitet:
»Also, hör mal, Kind, in meiner Zeit hieß das Gotenhafen, ich habe in Gotenhafen
gelebt, geheiratet, ein Kind bekommen, ich habe Gotenhafen verlassen müssen,
und wenn ich schon meine Heimat verlieren musste, darf ich nicht einmal mehr
Namen, Worte, Silben behalten? Muss ich denn alles aufgeben?«346
344
Ebd., S. 302.
Ebd., S. 303.
346
Ebd., S. 124.
345
78
Die von Jo beschriebenen Fakten aus ihrem Leben erforderten in der Wirklichkeit einen
Zeitaufwand von vielen Jahren, während sie im Text in einem Satz zusammengefasst
werden. Die Erzählzeit ist hier also deutlich und ohne Zweifel kürzer als die erzählte
Zeit. Ein anderes Beispiel für eine Raffung ist die Erzählung Mäxchens von einem
Herrn namens Friggs, den er früher kannte und der 1945 eine verlassene Wohnung in
Königsberg bezogen hatte. Herr Friggs hatte sich eine neue Prothese machen lassen und
nach sechs Monaten wollte er sie abholen:
Zweimal humpelte Friggs an der Orthopädie vorbei. Das Firmenschild war
entfernt, und in den Schaufenstern lagen nur Watte und Packpapier. Die Werkstatt
war geräumt. Friggs wollte sich schon enttäuscht auf den Heimweg machen, da lief
ihm eine Frau aus dem Haus in die Arme. Die sagte ihm, dass die Werkstatt in
irgendeine Schule verlegt worden sei. Und so kam es, dass unser Held Tag für Tag,
mit seinem kaputten Bein und schmerzverzerrtem Gesicht, die Schulen der Stadt
ablief. […] Nach vier Tagen entdeckte er tatsächlich eine Sporthalle […]. Er fand,
was er suchte […].347
Die von Mäxchen geschilderte Geschichte umfasste in der Wirklichkeit einen Zeitraum
von vielen Monaten. In dem Buch sind es ein paar Sätze. Auch in diesem Fall ist also
die Erzählzeit viel kürzer als die erzählte Zeit.
3. In welchen Wiederholungsbeziehungen stehen das Erzählte und das Erzählen,
d. h. mit welcher Frequenz wird ein sich wiederholendes oder nicht
wiederholendes Geschehen in einer Erzählung präsentiert?348
Bei der Kategorie der Frequenz wird danach gefragt, ob ein Ereignis wiederholt oder
einmal erzählt wird und wie oft es sich wiederholt (wenn überhaupt). Martinez und
Scheffel unterscheiden in Anlehnung an Genette zwischen singulativer, repetitiver und
iterativer Erzählung349. Von einer singulativen Erzählung kann dann die Rede sein,
wenn einmal erzählt wird, was sich einmal ereignet hat. Dieser Typ ist in Erzählungen
meistens der Regelfall. Im Fall von einer repetitiven Erzählung wird wiederholt erzählt,
347
Ebd., S. 101-102.
Martinez, Matias / Scheffel, Michael: Einführung in die Erzahltheorie, a.a.O., S. 32.
349
Vgl. ebd., S. 45-47.
348
79
was sich einmal ereignet hat. Die iterative Erzählung liegt schließlich dann vor, wenn
einmal erzählt wird, was sich wiederholt ereignet hat.
Im Roman von Dückers sind verschiedene Typen der Erzählung zu finden. Eine
iterative Erzählung kommt beispielsweise in diesen Textfragmenten vor, in denen Freia
davon erzählt, wie sie und Paul als Kinder in den Wald liefen:
Es war immer ein großartiger, feierlicher Moment […] Obwohl wir täglich in den
Wald liefen […].350
Manchmal lagen wir in der Sonne und wurden braun […]. Und manchmal
wurden wir plötzlich von warmem Sommerregen überrascht.351
Jedes Mal, wenn wir wieder am anderen Ufer ankamen, waren wir erleichtert […]
als wären wir die erfahrensten Naturbezwinger.352
Bereits die Adverbien wie „immer“, „täglich“, „manchmal“, „jedes Mal“ verweisen auf
Ereignisse, die sich wiederholt ereignen mussten.
Eine umgekehrte Situation, dass heißt solche, dass es wiederholt erzählt wird, was sich
einmal ereignet hat, ist vor allem dort anzutreffen, wo die Großeltern vom Zweiten
Weltkrieg erzählen. Das Motiv der Flucht aus Westpreußen kommt im Buch mehrmals
vor, weil es für die ganze Geschichte von besonderer Bedeutung ist. Mit jeder weiteren
Erzählung erfährt auch Freia etwas Neues von diesen Ereignissen, so dass diese
Geschichte am Ende völlig klar wird.
In meisten Fällen stellt aber der Roman den Regelfall dar. Es wird einmal erzählt, was
sich einmal ereignet hat.
3.4.4.3 Fokalisierung
Bei der Kategorie der Fokalisierung handelt es sich um den Standpunkt, von dem aus
das Erzählte vermittelt wird. Martinez und Scheffel unterscheiden zwischen drei Typen
der Fokalisierung353:
-
Nullfokalisierung – „Übersicht“ – der Erzähler weiß mehr, als irgendeine Figur;
350
Dückers, Tanja: Himmelskörper, a.a.O., S. 49-50.
Ebd., S. 51-52.
352
Ebd., S. 52.
353
Martinez, Matias / Scheffel, Michael: Einführung in die Erzahltheorie, a.a.O., S. 64.
351
80
-
Interne Fokalisierung – „Mitsicht“ – der Erzähler weiß genau das, was die Figur;
-
Externe Fokalisierung – „Auβensicht“ – der Erzähler sagt weniger, als die Figur
weiß.
Da im Fall von Himmelskörper in der Rolle des Erzählers eine der Figuren auftritt,
handelt es sich um die interne Fokalisierung, also um die Mitsicht. Erzähler und Träger
der Perspektive sind identisch. Der Blickwinkel, aus dem die Geschichte erzählt wird,
ist eindeutig auf die Wahrnehmung der erlebenden Figur (Freia) begrenzt, was bedeutet,
dass der Leser nur diese Informationen erhält, die dieser Figur zur Verfügung stehen.
Das folgende Textfragment veranschaulicht das:
Die Erwachsenen tuschelten oft, und ich bekam mit, dass es immer darum ging, ob
wir »zu jung dafür« seien. Als ich einmal die Badtür öffnete, standen sich meine
Mutter und meine Großmutter sehr nah gegenüber, mit in die Huften gestemmten
Händen. […] Gerade öffnete meine Mutter den Mund wie ein Fisch unter Wasser
und hauchte: »Von dem Schiff erzählst du ihnen nichts…«
Jos Gesicht fiel in sich zusammen, es war, als würde man in eine Torte scheiden,
sie sah überraschend weich und jung aus.
»Erinnerst du dich noch an Rudi?« fragte meine Mutter jetzt.
Und meine Großmutter legte meiner Mutter eine Hand auf die Schulter. So zärtlich
gingen die beiden sonst nie miteinander um. Und eben schienen sie doch noch böse
aufeinander zu sein. Ich verstand das alles nicht mehr. Wer sollte Rudi denn sein?
Meine Mutter lächelte, sie hörte nicht mehr auf zu lächeln, und ich bekam Angst
vor ihrem verzerrten Gesicht.354
Eindeutig weist die zitierte Passage darauf hin, dass der Erzähler nicht alles weiß. Freia
beobachtet ihre Mutter und Großmutter. Der Mangel an Informationen verursacht, dass
sie die Situation nicht versteht. Sie ist überrascht über die Tatsache, wie die beiden
Frauen miteinander umgehen, denn solch ein Verhalten hat sie vorher noch nie gesehen.
Sie versteht auch nicht, wovon Renate spricht. Da die Kenntnisse des Leser auf die
Perspektive der erzählenden Figur begrenzt sind, bleiben auch ihm die Einzelheiten
dieser Situation unbekannt.
3.4.4.4 Stimme
354
Dückers, Tanja: Himmelskörper, a.a.O., S. 85-86.
81
3.4.4.4.1 Zeitpunkt des Erzählens
Da Geschichten in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erzählt werden können,
unterscheiden Martinez und Scheffel in Anlehnung an Genette verschiedene Arten des
Verhältnisses zwischen dem Zeitpunkt des Erzählens und dem des Erzählten: früheres,
gleichzeitiges und späteres Erzählen355. Der erste Typ des Erzählens kommt eher selten
vor, in der Regel nur in Form von kurzen Binnenerzählungen. Es handelt sich um
Wunschphantasien oder Prophezeiungen. Bei dem gleichzeitigen Erzählen haben wir
mit einer zeitlichen Koinzidenz von Erzählen und Erzähltem. Im Fall von späterem
Erzählen erfolgt schließlich das Erzählen im epischen Präteritum. Es gibt also einen
zeitlichen Abstand zum Erzählten – der Akt des Erzählens ist den erzählten Ereignissen
zeitlich nachgeordnet. Dieser Typ des Erzählens stellt den Regelfall dar.
Die Geschichte von Freias Familie wird im epischen Präteritum erzählt:
Meine Mutter stand irritiert, fast ein wenig erschrocken, in der Tür. Aber dann bat
sie mich herein und schien sich auf einmal doch zu freuen. Wir gingen in die
Küche […]356.
Der zeitliche Abstand zum Hier und Jetzt ändert sich je nach dem Kapitel in
Abhängigkeit davon, welche Ereignisse aus der Vergangenheit gerade beschrieben
werden. Auf jeden Fall handelt es sich aber bei Dückers um späteres Erzählen.
3.4.4.4.2 Ort des Erzählens
Die Frage nach dem Ort des Erzählens hängt mit dem Problem zusammen, auf welcher
Ebene es erzählt wird. Es handelt sich dabei um die so genannten Binnenerzählungen
also Erzählungen in den Erzählungen. Auf der ersten Ebene erfolgt die Erzählung des
Rahmenerzählers
und
diese
Ebene
bezeichnen
Martinez
und
Scheffel
als
extradiegetisch. Die zweite Ebene ist die intradiegetische Ebene. Hier erfolgt die
Erzählung innerhalb der Rahmenerzählung. Möglich ist auch die dritte Ebene, die so
355
356
Vgl. Martinez, Matias / Scheffel, Michael: Einführung in die Erzahltheorie, a.a.O., S. 69.
Dückers, Tanja: Himmelskörper, a.a.O., S. 29.
82
genannte metadiegetische, die eine weitere Erzählung in der Erzählung in der
Rahmenerzählung darstellt.
Im Roman Himmelskörper erfolgt auf der ersten, extradiegetischen Ebene die
Erzählung des Rahmenerzählers, in dessen Rolle Freia auftritt. Da aber die Erzählungen
der anderen Figuren, beispielsweise der Großeltern, in wörtlicher Rede wiedergegeben
werden, soll im Roman, wenigstens in einigen Passagen, noch die zweite,
intradiegetische Ebene ausgesondert werden, denn „jedes Ereignis, von dem in einer
Erzählung erzählt wird, liegt auf der nächsthöheren diegetischen Ebene zu der, auf der
der hervorbringende narrative Akt dieser Erzählung angesiedelt ist“357. Der
Rahmenerzähler zitiert Geschichten, die ihm von anderen erzählt worden sind, und an
denen er selbst nicht teilgenommen hat. Von diesen Geschichten distanziert er sich,
wovon einzelne kritische Kommentare zeugen können (siehe: Erzählhaltung). Im Fall
von einem intradiegetischen Erzähler spricht man von einer intradiegetischen
Sprechsituation358. Sie ist Teil der erzählten Geschichte und benötigt intradiegetische
Hörer (Freias Familie) sowie raumzeitliche Umstände, unter denen erzählt wird
(Kamin-Abende). Nach der Position von Jens Stüben ist das wortwörtliche Wiedergabe
der Erzählungen der Kriegsgeneration von großer Bedeutung für die Rezeption des
Romans und wurde von der Autorin absichtlich eingeführt: Obwohl sie Freias
Großeltern grundsätzlich nicht freispricht (siehe: Die Generation der Zeitzeugen),
versucht sie auf diese Weise der Kriegsgeneration gerecht zu werden, indem sie die
Leiden der Zivilbevölkerung, auch unschuldigen Frauen und Kinder, nicht
ausblendet359.
3.4.4.4.3 Stellung des Erzählers zum Geschehen
In Bezug auf den Erzähler kann man schließlich danach fragen, in welchem Maße er an
dem erzählten Geschehen beteiligt ist. Martinez und Scheffel sprechen von zwei Arten
der Beziehung von Erzähler und Figuren360. Zum einen kann der Erzähler an der von
ihm erzählten Geschichte je nach Mittelbarkeit beteiligt sein als Beobachter, als
Nebenfigur oder als Hauptfigur. In solchen Fällen dominiert die erste Person, wobei es
357
Gérard Genette: Die Erzählung. 2. Auflage München 1998, s 163.
Vgl. Martinez, Matias / Scheffel, Michael: Einführung in die Erzahltheorie, a.a.O., s 84.
359
Stüben, Jens: Erfragte Erinnerung – entsorgte Familiengeschichte, a.a.O., S. 186.
360
Martinez, Matias / Scheffel, Michael: Einführung in die Erzahltheorie, a.a.O., S. 80.
358
83
sich aber um ein erzählendes oder ein erzähltes bzw. erlebendes Ich handeln kann. Zum
anderen ist es auch möglich, dass der Erzähler nicht zu den Figuren der erzählten
Geschichte gehört und es die dritte Person dominiert. In dem ersten Fall sprechen
Martinez und Scheffel von einem homodiegetischen Erzähler, im zweiten Fall dagegen
von einem heterodiegetischen Erzähler. Den Spezialfall, in dem ein homodiegetischer
Erzähler seine eigene Geschichte erzählt, bezeichnen Martinez und Scheffel als
autodiegetisch.
Im Fall von Himmelskörper handelt es sich um einen autodiegetischen Erzähler. Zwar
treten im Buch andere Figuren auf, die für den Verlauf der Geschichte von Bedeutung
sind und deren Vergangenheit teils auch rekonstruiert wird, der Fokus fällt aber auf die
Erfahrungen von Freia, die als künftige Mutter sich als Element der Familie neu zu
finden versucht:
[…] ich weiß auch nicht, woher meine Unruhe stammt … vielleicht ist es ein
unbewusster Drang, zu wissen, in was für einen Zusammenhang, in was für ein
Nest ich da mein Kind setze […] Plötzlich war ich ein Teil einer langen Kette,
einer Verbindung, eines Konstrukts, das mir eigentlich immer suspekt gewesen
war.361
Sie ist gleichzeitig ein erzählendes und erlebendes Ich. In zahlreichen Rückwendungen
rekonstruiert sie als autodiegetischer Erzähler verschiedene Ereignisse aus ihrer
Vergangenheit und verarbeitet die Geschichte der Familie, weil diese letztendlich auch
ihre eigene Identität bestimmt.
Da diese Unterscheidung von Martinez und Scheffel sich mit den verschiedenen
Erzählebenen kombinieren lässt, kann man nach der Position der beiden
Literaturwissenschaftler von vier Erzähltypen sprechen:
-
extradiegetisch-heterodiegetisch – Erzähler erster Stufe, der der erzählten
Geschichte nicht angehört.
-
extradiegetisch-homodiegetisch – Erzähler erster Stufe, der seine eigene
Geschichte erzählt.
-
intradiegetisch-heterodiegetisch – Erzähler zweiter Stufe, der in der erzählten
Geschichte nicht vorkommt.
361
Dückers, Tanja: Himmelskörper, a.a.O., S. 26.
84
-
intradiegetisch-homodiegetisch – Erzähler zweiter Stufe, der seine eigene
Geschichte erzählt.
Im Fall von Freia und ihrer Geschichte handelt es sich um einen Erzähler erster Stufe,
der sich auf seine eigene Geschichte konzentriert. Wenn man aber die Erzählungen der
Großeltern als eine Art der Binnenerzählungen betrachtet, kommt noch der Erzähler
zweiter Stufe, der seine eigene Geschichte erzählt, in Frage.
3.4.5 Erzählanalyse nach Jürgen H. Petersen
3.4.5.1 Erzählform
Nach der Position von Petersen lassen sich drei Erzählformen unterscheiden: Ich-Form,
Er-Form und Du-Form362. Bei dieser Kategorie handelt es sich also um die Frage, wer
als Erzähler die Geschichte erzählt. Im Fall von der Ich-Form berichtet der Erzähler von
sich selbst, er tritt also sowohl als erzählendes Medium als auch als handelnde Person
auf. Bei der Er-Form erzählt der Erzähler von Erlebnissen anderer Figuren. In der DuForm wird schließlich jemand (der Leser oder eine Figur) als Du angeredet.
Im Fall des Romans Himmelskörper wird die Geschichte in der 1. Person Singular
erzählt, das heißt in der Ich-Form, was schon am Beispiel der schon zitierten
Textfragmente verdeutlicht worden ist.
3.4.5.2 Erzählverhalten
Den Begriff Erzählverhalten benutzt Petersen anstelle der Kategorie der Erzählsituation
von Stanzel. Petersen wirft Stanzel vor, dass er die Erzählform und das Verhalten des
Erzählers innerhalb einer Erzählform nicht voneinander trennt, was eine detaillierte
Textanalyse unmöglich macht.363. Petersen definiert das Erzählverhalten als das
„Verhalten des Narrators zum Erzählten“ im Sinne einer Präsentation der Geschichte364
und unterscheidet zwischen dessen drei Formen: dem auktorialen, personalen und
neutralen Erzählverhalten. Bei dem auktorialen Erzählverhalten geht es um diejenigen
362
Vgl. Petersen, Jürgen H.: Textinterpretation. In: Gutzen, Dieter / Oellers, Norbert / Petersen,
Jürgen H.: Einführung in die neuere deutsche Literaturwissenschaft, a. a .O., S. 43-121 (hier S. 46).
363
Ebd., S. 49.
364
Zit nach: Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur, a.a.O., S. 35.
85
Passagen, „in denen sich der Erzähler selbst ins Spiel bringt und kommentierend,
reflektierend, urteilend eingreift“365. Im Fall vom personalen Erzählverhalten tritt der
Erzähler hinter die Figuren zurück und beobachtet die Welt mit ihren Augen. Das
neutrale Erzählverhalten steht schließlich für diejenige Erzählweise, in der die
Geschichte aus einer Distanz erzählt wird. Der Erzähler verhält sich in diesem Fall
möglichst objektiv, verzichtet auf Wertungen.
Bei Dückers tritt das personale Erzählverhalten auf. Der Erzähler wählt den
Blickwinkel einer der Figuren und beobachtet die Welt mit ihren Augen. Petersen
leugnet der These, dass personales Erzählverhalten beim Ich-Erzählen nicht vorkommen
könne, denn der Ich-Erzähler berichte sowieso von sich selbst und daher könne nicht
noch eigens hinter sich selbst zurücktreten, um seine eigene Optik zu wählen366.
Petersen betont vielmehr, dass es zwischen dem erzählenden und erlebenden Ich zu
unterscheiden ist und deshalb kann das erzählende Ich eine andere als seine
augenblickliche Perspektive wählen und zwar in dem Fall, wenn er aus der Optik des
erlebenden Ichs berichtet und dabei die Dinge so schildert, wie er sie damals
wahrgenommen hat aber wahrscheinlich nicht mehr wahrnimmt. Im Roman
Himmelskörper gibt es viele Fragmente, in denen der Erzähler die Perspektive des
erlebenden Ichs wählt. Es handelt sich vor allem um diese Passagen, in denen Freia in
ihren Erzählungen zu ihrer eigenen Kindheit und Jugend zurückkehrt. Wenn man aber
dazu noch berücksichtigt, dass Paul und Freia erst nach zwei Jahren nach den letzten
Ereignissen beschlossen haben, ein Buch darüber zu verfassen, kann die ganze
Geschichte betrachtet werden, als wäre sie aus der Sehweise eines erlebenden Ichs
erzählt. Daher sind in Freias Erzählung so viele Fragezeichen zu finden und deshalb
stellt sie sich so viele Fragen. Ihr Blickwinkel ist begrenzt, als eine der Figuren kann sie
nicht alles wissen. Das erzählende Ich kann mit der Freia aus dem letzten Kapitel
identifiziert werden, die nach einiger Zeit die Ereignisse aus ihrem Leben ordnen und
beschreiben will. In allen anderen Kapiteln wird die Optik des erlebenden Ichs gewählt,
also die Perspektive von Freia, wie sie damals war, mit dem Wissen, das sie damals
hatte.
3.4.5.3 Standort des Erzählers und die Erzählperspektive
365
366
Petersen, Jürgen H.: Textinterpretation, a. a .O., S. 49.
Ebd., S. 50.
86
Den Standort des Erzählers (den point of view) definiert Petersen als das räumliche
Verhältnis des Erzählers zu Figuren und Vorgängen367. Es handelt sich dabei um zwei
Möglichkeiten:
die
olympische
Position
und
ein
begrenzter
Blick.
Die
Erzählperspektive beantwortet die Frage, inwieweit der Erzähler in Gedanken und
Gefühlen der Figuren blicken kann. Petersen spricht von der Erzählperspektive der
Innensicht und Auβensicht.
Der Standort des Erzählers ist im Fall von Himmelskörper ohne Zweifel begrenzt. In der
Rolle des Erzählers tritt eine der Figuren auf, Ereignisse werden mit ihren Augen
gesehen und aus ihrer Perspektive beschrieben.
Dabei ist der Erzähler nicht im Stande, in Gedanken der anderen Figuren einzublicken.
Als Beweis dafür kann ein Textfragment dienen, in dem Freia ihre Mutter beobachtet:
Renate war während des Wortgefechts ans Fenster getreten und schaute unbeteiligt
in die Dunkelheit. Wie oft hatte ich mich in solchen Momenten gefragt, was sie da
draußen eigentlich sieht368.
Es handelt sich bei diesem Textfragment um die Auβensicht. Der Erzähler kann nicht in
Renates Gedanken und Gefühle hineinzublicken. Freia sieht die Mutter, die sich
regelmäßig auf bestimmte Weise verhält, hat aber keine Kenntnisse über ihre innere
Welt und ihre Motivation. Das betrifft auch andere Figuren. Nach einer Streit mit
Wieland bemerkt Freia:
[…] wenn wir uns trafen, wirkte Wieland abgelenkt und verschlossen. Aber da er
mir oft Plätzchen vom Bäcker mitbrachte oder selbstbespielte Kassetten, bekam ich
das Gefühl, er hätte mir gegenüber ein schlechtes Gewissen369.
Auch in diesem Fall kann man von der Auβensicht sprechen. Freia kann nur vermuten,
dass das Verhalten ihres Freundes durch Gewissensbisse verursacht wird. Alles, was sie
wahrnimmt, ist nur das Äußere der anderen Figuren. In die Gefühlswelt von Wieland
hat sie keinen Zugang.
367
Vgl. ebd., S. 51.
Dückers, Tanja: Himmelskörper, a.a.O., S. 54.
369
Ebd., S. 193.
368
87
3.4.5.4 Erzählhaltung
Während die Kategorie des Standortes des Erzählers sich auf die räumliche Verhältnisse
bezieht, wird mit der Erzählhaltung die innere wertende Einstellung des Erzählers dem
Erzählten gegenüber. Je nach der Passage kann sie als kritisch, neutral, bejahend etc.
bestimmt werden.
In meisten Fällen ist die Erzählhaltung in Himmelskörper neutral. Freia schildert
verschiedene Ereignisse aus ihrem Leben. Es gibt aber auch Fragmente, in denen sie das
Geschehene bewusst bewertet. Im zehnten Kapitel wird eine Geschichte erzählt, in der
Jo in den dreißiger Jahren, als sie einmal in einem Lebensmittelladen gewesen war,
einem Jungen mit Judenstern eine Banane geben wollte, aber Angst hatte und deshalb
tat sie das nicht. Freia kommentiert:
Das Absurde an der Bananengeschichte war, dass Jo ihr Abwägen, ihren Wunsch
zu helfen, ihre Unsicherheit und Angst jedes Mal derart dramatisch schilderte, dass
man am Ende fast den Eindruck bekommen konnte, Jo hätte ein KZ befreit.
Irgendwie gelang es ihr, das Unterlassen einer Handlung zur Heldentat zu
stilisieren370.
In diesem Fragment ist die Erzählhaltung kritisch. Freia bemerkt die Diskrepanz
zwischen dem, was Jo wirklich getan hat, und dem, wie sie selbst ihr eigenes Verhalten
wahrnimmt und schildert. Sofort reagiert sie auch auf die Worte ihres Großvaters, der
Kuckucksbienen (Schmarotzerarten) mit Juden vergleicht („Für mich sind die
Kuckucksbienen die Juden im Bienenvolk“). Freia berichtet:
Paul und ich warfen uns einen langen erstaunten Blick zu. So hatte Großvater noch
nie gesprochen, bei keinem der Kamin-Abende.371
Die zitierten Fragmente zeigen Distanz des Erzählers dem Erzählten gegenüber.
.
3.4.6 Figuren und Figurenkonstellationen
370
371
Ebd., S. 105.
Ebd., S. 187.
88
Literarische Figuren definiert Jürgen Link als „fiktive anthropomorphe Individuen“,
deren Gedanken, Reden und Handlungen in literarischen Texten eine Rolle spielen372.
Obwohl literarische Figuren aus Wörtern und Sätzen bestehen, also ihre materielle
Existenz auf Druckerschwärze beschränkt ist, kommt es im Prozess des Lesens oft zu
einer Identifikation des Rezipienten mit der Figur bzw. zu einer emotionalen Reaktion
auf ihr Handeln. Jörn Stückrath erklärt diese suggestive Wirkung fiktiver Figuren
einerseits dadurch, dass der Leser oft viel über ihr Innenleben weiß, andererseits aber
dadurch, dass das Universum, innerhalb dessen sich die Figuren bewegen, von ihnen als
real wahrgenommen wird, wodurch eine Illusion entsteht, dass es sich auch um reale
Personen handelt373. Bei der Figurenkonstellation wird dagegen nach der Rolle einer
Figur als Teil einer größeren Systems gefragt374.
In Tanja Dückers’ Roman Himmelskörper wird der Leser mit Figuren konfrontiert, die
drei Generationen einer und derselben Familie vertreten (Freias Tochter wird nicht
mitgezählt). Die Geschichte der Familie zeigt deutlich, wie sehr die Vergangenheit bis
in die Gegenwart hineinwirken kann, besonders wenn es sich um solche Ereignisse
handelt, wie die Erfahrungen aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges. Im folgenden
Unterkapitel wird in erster Linie danach gefragt, wie die einzelnen Generationen mit der
im Familiengedächtnis bewahrten Vergangenheit umgehen und auf welche Weise sie
ihre Identität aufbauen.
3.4.6.1 Generation der Zeitzeugen – Jo und Mäxchen
Unter den wichtigsten Figuren im Roman sind eben Jo und Mäxchen Vertreter
derjenigen Generation, die die Zeit des Krieges bewusst erlebt hat. Sie sind zuerst auch
die einzigen Familienmitglieder, die von den damaligen Ereignissen mehr oder weniger
gern erzählen. Mäxchens im Krieg verlorenes Bein wirkt wie ein „verkörperter Bezug
zur Vergangenheit“375 und ruft bei den Enkeln Fragen sowie Vermutungen hervor. Nach
372
Link, Jürgen: Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe: eine programmierte Einführung auf
strukturalistische Basis. München 1997, S. 232.
373
Stückrath, Jörn: Figur und Handlung. In: Brackert, Helmut/Stuckrath, Jörn (Hg.):
Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs. Hamburg 1996 (4. Aufl.), S. 40-54 (hier S. 41).
374
Bachorz, Stephanie: Zur Analyse der Figuren. In: Wenzel, Peter (Hg.): Einführung in die
Erzähltextanalyse. Kategorien, Modelle, Probleme. Trier 2004, S. 51-67 (hier S. 56).
375
Giesler, Birte: „Der Satz ‚ich erinnere mich nicht’ könnte zur Ausrede werden…“ Gender und
Gedächtnis in Tanja Dückers’ Generationenroman Himmelskörper. In: FGS – Freiburger
Geschlechterstudien, Jg. 12, Nr. 19 (2006): Erinnern und Geschlecht, Band I, S. 171- 201 (hier S. 175).
89
der Position von Birte Giesler verlor Mäxchen mit dem Bein auch seine soziale
Männlichkeit376. In dem Buch heißt es:
Als er unter Hitler in den Krieg zog, war er noch Maximilian. Später, als
beinamputierter Mann, der völlig auf die Pflege meiner Großmutter angewiesen
war, wurde er nach und nach erst Max, dann Mäxchen377.
Mäxchens kindlich klingelnder Vorname weist also auf seine Position in der Ehe hin,
die der eines Kindes entspricht:
»Mäxchen, iss noch ein Wurstbrot, du hast ja heute Abend kaum etwas gegessen!«
Unsere Großmutter beugte sich über den Esstisch […]. Sie schnitt eine Scheibe
Vollkornbrot energisch in acht kleine Häppchen. Unser Großvater saß mit einem
umgebundenen Lätzchen vor seinem Teller und sah ihr verdrießlich zu.378
Eben Mäxchen versucht aber als erster, die Neugier der Enkel auf den Krieg zu
befriedigen, was bei Jo Ärger hervorruft. Im Laufe der Zeit ändert sich aber das
Verhältnis der beider zur Vergangenheit. Mäxchen spricht nicht viel vom Krieg,
Jo hingegen, die uns, als wir klein waren, vor Großvater Erzählungen schützen
wollte, sprach später bei jeder sich bietenden Gelegenheit und schließlich, je älter
und dementer sie wurde, immerfort über den Krieg.379
Nach der Position von Michael Braun wird im Fall der beiden eine Opposition zwischen
„Geschichtsvergessenheit“ und „Geschichtsversessenheit“ deutlich: Als würde der
Großvater zu wenig und die Großmutter zu viel Geschichte brauchen380. Nicht aber das
ist von Bedeutung, wie viel von dem Krieg sie erzählen, sondern was sie erzählen. In
ihren Darstellungen erscheint der Krieg als eine Katastrophe, die „irgendwann“ zu
ihnen „herübergeweht“ geworden ist und das Leben der unschuldigen Menschen
zunichte gemacht hat. Sowie Mäxchen als auch Johanna zeigen sich selbst in erster
376
Vgl. ebd.
Dückers, Tanja: Himmelskörper, a.a.O., S. 48.
378
Ebd., s 49.
379
Ebd., S. 98.
380
Braun, Michael: Wem gehört die Geschichte? Günter Grass, Tanja Dückers, Uwe Timm und der Streit
um die Erinnerung in der Gegenwartsliteratur. In: Das Parlament. Nr. 49 / 04.12.2006, unter:
http://www.bundestag.de/dasparlament/2006/49/Panorama/001.html (Zugriff am 04.06.2010).
377
90
Linie als Opfer des Krieges. In den Erzählungen von Jo fällt der Fokus auf ihre Flucht
aus Gotenhafen im Januar 1945. Immer wieder wird die Sehnsucht nach der
zwangsweise verlassenen Heimat betont und das eigene Leiden exponiert. Auch
Mäxchen, der von technischen Besonderheiten des militärischen Ausrüstung der
deutschen Armee sachlich berichtet, zeigt sich bei personalen Erinnerungen an den
Krieg als tief verletzter Mensch:
Wenn er plötzlich über seine eigenen Erlebnisse sprach, dann nur äußerst
gefühlsbetont. Er fluchte uns schimpfte, er schüttelte den Kopf, bohrte seinen
Zeigefinger in die Luft, entwarf wirre Topographien im Wohnzimmer, trommelte
auf die Tischplatte. Manchmal standen ihm auch die Tränen in den Augen. Und
manchmal strich er über seine Prothese und sah Paul und mich, stellvertretend für
diejenigen, die ihn in den Krieg geschickt hatten, vorwurfsvoll und unendlich
traurig an.381
Beide neigen dabei zur Tendenz, die von Harald Welzer im Buch Opa war kein Nazi
beschrieben worden ist. Deutlich werden in den Erzählungen der Großeltern die
Deutschen und die Nazis als zwei verschiedene Gruppen dargestellt. Jo distanziert sich
beispielsweise eindeutig von der damaligen, gegen Juden gerichteten Politik:
Das war damals so eine Mode, aber ich hab das mit diesen Rassengesetzen nie
recht verstanden. […] Das hat für mich die Nazis endgültig diskreditiert.382
Sich selber schildert sie als eine Person, die mit Juden sogar Mitleid hatte, wovon die
schon erwähnte „Bananengeschichte“ zeugt. An einer anderen Stelle sagt sie mit voller
Überzeugung:
Freia, wir waren keine Nazis. Jede gewalttätige Ausschreitung haben wir
abgelehnt. Grob, furchtbar fanden wir das. Vulgär. […] Unser Umfeld war
treudeutsch, aber nicht nazideutsch. Das war ein großer Unterschied, müsst ihr
wissen.383
381
Dückers, Tanja: Himmelskörper, a.a.O., S. 97.
Ebd., S. 104.
383
Ebd., S. 126.
382
91
Interessant ist es, dass in ihrer Erzählungen dieselben Stereotype funktionieren, die von
Welzer aufgrund der Interviews mit Familien beschrieben worden sind. So werden
beispielsweise die Russen als die ‚Bösen’ mit Plünderungen, Vergewaltigungen und
Mord assoziiert:
Weiß du, wie der Russe in Ostpreußen gewütet hat? Leute in Kirchen gedrängt und
erschossen, Frauen vergewaltigt, Kinder, das waren doch alles Unschuldige! Also
der Russe hat heimtückisch Ostpreußen abgeriegelt […] und Millionen von
Zivilisten gezwungen, die Flucht übers Meer anzutreten.384
In Jos Erinnerungen werden die Russen als „Bestien“385 dargestellt, die „ihr
Königsberg“386 „in Schutt und Asche“387 gelegt haben. Sie ignoriert Renates
Bemerkungen, dass die Deutschen dieselbe Verbrechen an anderen Menschen begangen
haben wie die Russen und selbst die Verantwortung für die katastrophalen Folgen des
Krieges tragen. Sie versteht die unmenschlichen Russen immer in der Opposition zu den
unschuldigen Deutschen. Das Bild eines rücksichtslosen Russen, dessen Opfer die
deutsche Zivilbevölkerung war, ist hier charakteristisch. Nie wird auch von anderen
Nationen als Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft gesprochen, was den
antagonistischen Modus kennzeichnet.
Auch in Bezug auf die Polen bedienen sich die Großeltern der Stereotype, obwohl sie
selbst einen polnisch klingenden Familiennamen „Bonitzky“ tragen. Sie sprechen
beispielsweise von der „Polen-Wirtschaft“388. Konsequent wollen sie den von den Nazis
geschaffenen Ortsnamen „Gotenhafen“ nicht aufgeben, obwohl Gdynia als polnische
Stadt entstanden ist, und eben zuerst die polnische Bevölkerung von den Nazis aus ihr
vertrieben worden war. Wie Jens Stüben bemerkt, hatten sie deswegen überhaupt kein
Recht auf ihre Heimat, denn der „Aufstieg“ der Familie (Umzug nach Gotenhafen) ging
auf Kosten der Polen389.
Man könnte fragen, was verursacht hat, dass Jo und Mäxchen in ihren Erzählungen aus
der Kriegszeit vor allem die zum Mitleid bewegende Erinnerungen betont und ihre
eigene Verwicklung in die Nazi-Ideologie verschwiegen haben. Ewelina Kamińska
384
Ebd., S. 128.
Ebd., S. 106.
386
Ebd.
387
Ebd., S. 100.
388
Ebd., S. 155.
389
Stüben, Jens: Erfragte Erinnerung – entsorgte Familiengeschichte, a.a.O., S. 176.
385
92
zählt eine Reihe von Verdrängungsmechanismen auf, die ihres Erachtens in dem
Verhalten der beiden Personen zu beobachten sind: „es wird dem Verlorenen (Bein,
Jugend) nachgegangen; die zu bewältigende Schuldlast wird als Gefühlsstarre,
Derealisierung oder als Ungeschehenmachen ferngehalten; das frühere Verhalten wird
quasi rational erklärt oder mit eigener Unwissenheit gerechtfertigt“390. Noch kurz vor
dem Lebensende lassen sich die Großeltern in einem anderen Licht sehen. Als erster
macht das Mäxchen, der sich in seinen Reflexionen über Bienenzucht (ein Bienenhaus
hat er von einem Nachbarn nach dessen Tod übernommen) mit eigener Weltanschauung
verrät:
Der Mensch […] sollte sich ein Vorbild an den Bienen nehmen. Sie stechen jeden
fremden ab.391
Hierarchie und Ordnung seien die »zentralen Säulen«, auf denen der Bienenstaat
seinen Erfolg aufbaute. Nie würde eine Biene die ihr zugewiesene Aufgabe
ablehnen […], nie würden »Klassenschranken« durchbrochen werden.392
Innerhalb dieses „perfekten Systems“ gibt es Arbeiterinnen, die „ihren Teil zum
Gelingen des Ganzen [beitragen]“ und eine Königin, nach deren Tod alles „auseinander
bricht“ und Staat zerfällt. Mäxchens Bemerkung
Das Volk braucht einen Führer. Aber nur einen.393
Verursacht, dass die Konnotationen mit Hitlers nationalsozialistischem Staat noch
eindeutiger sind. In weiteren Textfragmenten vergleicht der todkranke Mäxchen die
Kuckucksbienen mit Juden, die sich
an den Grundlagen [bereichern], die andere Völker für sie geschaffen haben.
Nutznießerisch. Berechnend. Aber eine starke Bienenkönigin […] lässt die
Kuckucksbienen natürlich verjagen.
Kamińska, Ewelina: Die ‚nötige historische Distanz’ der Enkelgeneration. Tanja Dückers’ Roman
„Himmelskörper“ (2003). In: Gansel, Carsten / Zimniak, Paweł (Hg.): Das „Prinzip Erinnerung“ in der
deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989. Göttingen 2010, S. 149-160 (hier S. 153).
391
Dückers, Tanja: Himmelskörper, a.a.O., S. 183.
392
Ebd., S. 182.
393
Ebd., S. 183.
390
93
Auch die demente Jo lässt sich am Ende ihres Lebens als Parteimitglieder erkennen.
Erst der Tod der beiden bringt aber die ganze Wahrheit ans Tageslicht. Die von Freia
bei der Wohnungsauflösung entdeckten Gegenstände sind mehr als bloße Relikte der
Vergangenheit. Eindeutig weisen sie auf damalige Einstellungen und Werthaltungen der
Großeltern hin, auf ihre Faszination über Hitler und nationalsozialistische Ideologie.
Zusätzlich erfährt Freia von Renate, dass die Großeltern „zu Hause Strichlisten über die
Nachbarn geführt haben“394. Es entsteht eine Diskrepanz zwischen dem, wie sich Jo und
Mäxchen selber dargestellt haben und wer sie wirklich gewesen sind. Zum einen haben
sie die Vergangenheit bewusst verschwiegen, als ob sie sich von ihr trennen möchten.
Zum anderen haben sie aber die „Erinnerungsstücke“395 aus der eigener NaziVergangenheit
jahrelang
aufbewahrt,
also
für
aufbewahrenswert
gehalten,
beispielsweise das Buch Mein Kampf, nachdem sie es
noch Anfang ‚45 vielen anderen Büchern vorgezogen und auf die Flucht
mitgenommen [hatten]396
obwohl Jo berührt erzählt hat, dass sie bei dem Hausverlassen, fast alles habe dalassen
müssen. Anstelle der Opferrolle tritt in diesem Moment die Schuldfrage auf. Mit ihren
„Privilegien“ und ihrer Nazi-Verstrickung können Jo und Mäxchen nicht mehr als
passive Leidende wahrgenommen werden. Eindeutig richtet sich Dückers gegen den
„Mythos vom verleugneten Leiden unschuldiger deutscher Ostflüchtlinge“ 397. Am
Beispiel von Freias Großeltern zeigt sie, dass sich unter diesen Flüchtlingen und
Vertriebenen auch politisch agierende Parteimitglieder befunden haben, die Hitler mit
voller Überzeugung verehrt haben und deshalb moralische Verantwortung für die
Folgen des Krieges tragen. Bewusst spricht die Autorin die Bonitzkys am Ende des
Buches nicht frei: „das sind eben keine verkappten Widerstandskämpfer gewesen,
sondern die waren richtig dabei und haben es nicht mal bereut“398.
3.4.6.2 Generation der Kinder – Peter und Renate
394
Dückers, Tanja: Himmelskörper, a.a.O., S. 251.
Ebd., S. 57.
396
Ebd., S. 262.
397
Baier, Lothar: Über den Wolken. In der Luft. Tanja Dückers’ neuer Roman „Himmelskörper“. In:
Freitag. Die Ost-West-Wochenzeitung, Nr. 35, 22.03.2003, S. 14.
398
Tanja Dückers im Gespräch . Hahn, Anne Kathrin: Nicht mal bereut, a..a.O.
395
94
Freias Eltern sind Vertreter der Generation der ‚Achtundsechziger’. Sie bilden keine
besonders glückliche und gelungene Ehe. Der Vater trifft sich mit anderen Frauen und
erzählt den Kindern, dass es Elfen seien. Anders als in der Ehe der Großeltern,
dominiert in diesem Paar Peter und eben er hat den größeren Einfluss auf die kleinen
Paul und Freia, die von den von ihm erzählten Geschichten begeistert sind. Über ihre
Eltern äußert sich Freia in Oppositionen:
[Renate] glaubte immer, etwas nicht zu können399.
Paul und ich verstanden nicht, dass Peter irgend etwas nicht konnte400.
Peter stand im Mittelpunkt der Familie, Renate war dagegen „langweilig“, „still“, hatte
„ein enormes Talent im Nicht-Anwesend-Sein“, während der Vater „gar nicht anders
[konnte], als mit zerlesenen Zeitungen, zerknüllten Pfefferminzbonbontütchen und
natürlich einer zum Schneiden dicken Luft Spuren zu hinterlassen“401. Freia konstatiert:
Wie oft hatte ich am Abendbrottisch neben ihr [der Mutter] gesessen und nicht
gewusst, worüber ich mich mit ihr unterhalten sollte. Wie oft habe ich sie beim
Abwaschen allein gelassen, weil sie mich gelangweilt hatte und ich mir lieber von
Peter auf dem Sofa etwas über Waldgeister erzählen ließ.402
Die zitierten Beispiele zeigen deutlich, dass die Kinder mehr Respekt gegenüber dem
Vater als der Mutter hatten. Auch als erwachsene Person fühlt sich Freia in
Anwesenheit ihrer Mutter unsicher, distanziert. In Bezug auf das Thema ‚Nazi-Zeit’ und
‚Zweiter Weltkrieg’ verhalten sich die beiden Elternteile auch anders. Peter will über
den Krieg überhaupt nicht sprechen, weil weder er noch seine Familie einen Schaden in
damaliger Zeit erlitten hat. Aus dieser Grund wird er auch von Bonitzkys als „Günstling
des Schicksals oder auch einfach ein Weichei […] der über die wirklich wichtigen
Dinge im Leben besser zu schweigen hätte“403. Im Gegensatz zu ihm schaltet sich
Renate in Gespräche über den Krieg ein. Die in der Regel stille Frau weist das sachliche
Wissen über damalige Zeiten vor („Sie schien dennoch die einzige zu sein, die sich für
399
Dückers, Tanja: Himmelskörper, a.a.O., S. 10.
Ebd., S. 11.
401
Ebd., S. 15.
402
Ebd., S. 18-19.
403
Ebd., S. 96.
400
95
Publikationen über den Krieg interessierte“.404), kritisiert die Verbrechen der Nazis,
macht ihren eigenen Eltern Vorwürfe, tritt in Opposition zu ihnen („Sprich bitte nicht
immer von » Gotenhafen «, Jo. Das hieß früher und heißt jetzt wieder Gdingen, oder,
auf polnisch, Gdynia“.405), wird aber von beiden Bonitzkys jedes Mal als inkompetent
unterbrochen und ignoriert („[sie] meinten, dieses oder jenes Detail hätte sie aber nun
vollkommen falsch wiedergegeben“406), so dass sie letzten Endes auch immer
„resigniert“ verstummt und „Jo weiterreden [lässt]“407. Erst wenn Renates Rolle in der
Flucht aus Ostpreußen erklärt wird, beginnt Freia sowohl das Verhalten als auch das
Interesse ihrer Mutter an Publikationen über den Krieg und über die »Gustloff« zu
verstehen. Sie weiß so viel über dieses Schiff, weil sie später, durch starke
Gewissensbisse, den kleinen Rudi, dessen Mutter sie als fünfjähriges Kind denunziert
hat und der aus diesem Grund auf die »Gustloff« kam, unter den Überlebenden gesucht
hat.
Identisch wie Johanna pflegt Renate Erinnerungen an die Vergangenheit, was sich am
Beispiel ihrer „Sammelwut“408 beobachten lässt. Sie verwahrt alles, was sie mit anderen
Familienmitgliedern assoziiert: alte Kostüme der Kinder, Freias Zöpfe, Peters
Zigarettenstummel, Pauls Zeichnungen, sogar das künstliche Gebiss von Jo mit der
Begründung:
[…] das sind für mich Erinnerungen, Erinnerungen an ihr Lächeln, an früher, und
ich kann das nicht einfach wegwerfen.409
Am stärksten wirken aber die mit dem Bücherwissen ergänzte, fast das ganze Leben
lang unausgesprochene Erinnerungen an die Flucht. Renate ist nicht im Stande, sich
selbst als Heldin oder Lebensretterin wahrzunehmen, zu der sie von anderen, älteren
Familiemitgliedern stilisiert wird. Vielmehr sieht sie sich als Täterin oder „Komplizin
der Täter“410, die die anderen durch ihre Denunziation in den Tod geschickt hat und
dieses Schuldgefühl, das von ihren Eltern niemals empfunden wurde, kann sie oder
sogar will sie ihr Leben lang nicht überwinden:
404
Ebd., S. 98.
Ebd., S. 124.
406
Ebd., S., 98.
407
Ebd., S. 98.
408
Ebd., S. 73.
409
Ebd., S. 284.
410
Stüben, Jens: Erfragte Erinnerung – entsorgte Familiengeschichte, a.a.O., S. 177.
405
96
Manchmal frage ich mich nur, welche Lebensberechtigung ich eigentlich noch
habe, wenn schon jemand [Kazimierz], der nur Opfer war, sich später
umbringt …411
Sie lebt in einer permanenten Angst vor Schiffen:
Schon wenn ich nur das Wort »Schiff« denke, meine ich, dass der liebe Gott, wenn
ich es je wagen sollte, einen Fuß auf so ein Ding zu setzen, mich gleich bestrafen
würde!412
Nach der Position von Jens Stüben, leidet Renate „unter der Last der archivierten
Erinnerungen“413 von denen sie dominiert, sogar „erdrückt“414 wird. Die Reise nach
Gdingen soll therapeutisch wirken, die wirkliche Befreiung von dieser Erdrückung
findet Renate aber erst im Freitod: bevor sie sich umbringt, räumt sie Schränke aus,
wirft alle Erinnerungsstücke weg.
Dückers stellt eine These auf, dass eben die Generation in der Mitte, die 68erGeneration die Gefährdeteste sei, weil ihre Vertreter „eigentlich auch stark involviert
sind, aber weder so verdrängen können, noch so einen Abstand haben“415, wie die
Großeltern, die radikal verdrängen und „sich ihre immer gleichen rituellen Legenden
erzählen“ und die Kinder, die „einfach genug historische Distanz haben, um sich das
anzueignen, ohne daran zu zerbrechen“416. Kazimierz und Renate begehen Suizid, weil
sie als Vertreter der Mittelgeneration „zu nahe dran sind“ und sich mit ihrem
historischen Bewusstsein sowie mit eigenem Involviertsein nicht zurechtfinden können.
Sie als die Verstrickte417 und er als Mensch, der die Kindheit im zerbombten,
entvölkerten Warschau verbracht hatte. Renates Schuld- und Verantwortungsgefühl
sowie ihr Selbstmord schockieren besonders in der Gegenüberstellung zu ewigen
Klagen ihrer Eltern, die sich als ausschließlich Opfer des Krieges und nicht als Täter
411
Dückers, Tanja: Himmelskörper, a.a.O., S. 303.
Ebd., S. 300.
413
Stüben, Jens: Erfragte Erinnerung – entsorgte Familiengeschichte, a.a.O., S. 178-179.
414
Ebd. S. 179.
415
Tanja Dückers im Gespräch . Hahn, Anne Kathrin: Nicht mal bereut, a..a.O.
416
Ebd.
417
Vgl. Dückers, Tanja: Himmelskörper, a.a.O. S. 300.
412
97
wahrnehmen. Sie stirbt als eine Person, die man am wenigsten für schuldig hält.
„Unschuldig schuldig geworden“418 ist sie.
3.4.6.3 Generation der Enkel – Freia und Paul
Freia und ihr Zwillingsbruder Paul wuchsen in Westberlin auf. Da das Haus ihrer Eltern
am Stadtrand, mit Wald und einem Teich in der Nähe, gelegen war, lebten die Kinder
von Anfang an dicht an der Natur, was einerseits ihre Phantasie entwickelt, andererseits
aber auch ihre Zukunft beeinflusst hat („Wir legten uns hin, schauten zwischen den
gezackten Farnblättern in den Himmel. Dort, auf »unserer« Insel muss meine Liebe für
Wolken begonnen haben.“419). Im Buch wird grundsätzlich der Reifungsprozess von
Freia und Paul dargestellt – von der glücklichen, „idyllischen“420 Kindheit, durch die
typischen Probleme des Jugendalters (jugendliche Auflehnung, erste Liebe, Suche nach
eigener Identität), bis zum Erwachsenwerden. Obwohl beide Personen eine tiefe
Bindung aneinander haben, sind sie vom Charakter her zwei verschiedene Typen. Paul
ist ein Künstler, Freia dagegen eine Naturwissenschaftlerin. Die ergänzen sich,
funktionieren gut zusammen. Mit Absicht hat die Autorin beide Figuren so geschaffen:
Sie habe „den Zugang zur Geschichte in zwei Facetten spalten“ wollen, den rational
wissenschaftlichen und den irrational künstlerischen421.
Informationen über den Zweiten Weltkrieg beziehen Freia und Paul als Personen, die
diese Ereignisse selbst nicht erlebt haben, in erster Linie aus zwei Quellen: aus der
eigenen Familie und aus der Schule. Die erste Konfrontation mit Filmen, die das
Schrecken des Krieges dokumentierten („Leichen, ausgemergelt und nackt, […]
brennende Häuser, […] zitternde Menschen, […] Explosionen, […] Gaskammern […]“)
verdeutlicht die Diskrepanz zwischen dem, was in der Familie erzählt wurde und dem,
wie die Geschichte institutionell vermittelt wird:
Stüben, Jens: Erfragte Erinnerung – entsorgte Familiengeschichte, a.a.O., S. 177.
Dückers, Tanja: Himmelskörper, a.a.O. S. 51
420
Tanja Dückers im Gespräch. Partouche, Rebecca: Der nüchterne Blick der Enkel, a.a.O.
421
Tanja Dückers im Gespräch. Hahn, Anne Kathrin: Nicht mal bereut, a.a.O.
418
419
98
Die Bilder, die wir nach Großvaters seltsamem Monolog über »Russland« in dem
dunklen Gewölbe zu sehen bekamen, das sich Grundschule nannte, waren
unfassbar, sie schienen aus einer anderen Welt zu stammen422.
Es muss betont werden, dass Freia und Paul, anders als die Vertreter der ersten und
zweiten Generation, auf das Wissen über den Zweiten Weltkrieg grundsätzlich nicht
emotional reagieren – zwar kennen sie „das exakte Datum der Reichkristallnacht“,
halten aber sie selbst bloß für „ein schönes Wort“ („ich dachte dabei an Schneeblumen
am Fenster“). Die Informationen über Nationalsozialismus werden neben den anderen
„gepaukt“423, so dass alles fast verschmelzt:
Hitlers Aufstieg und Fall schienen uns so logisch und naturgegeben wie die Fälle
der lateinischen Substantive, die uns ebenso quälten wie die Sprünge seiner
Laufbahn.
Die Fülle all der Informationen hilft aber den Zwillingen nicht, den Krieg mit seinen
Ursachen,
Wirkungen
und
Nebenerscheinungen
zu
begreifen.
Verschiedene
Zusammenhänge bleiben für sie unverständlich:
Warum jemand, der arbeitslos und durch Landverlust »geknechtet« ist, plötzlich
Lust auf Massenerschießungen bekommt, anstatt mit seiner Geliebten in
meinetwegen etwas zerschlissener Kleidung spazieren zu gehen, erhellte sich Paul
und mir nicht […].424
Diese Situation vertieft zusätzlich die Tatsache, dass Freia und Paul im Familienkreis
anstatt ermuntert weiterzufragen, für „unmündig“425 erklärt und auch ignoriert werden,
als hätten sie kein Recht, Fragen zu stellen, nur weil sie den Krieg selbst nicht erlebt
haben. Sie begreifen die Zeit des Nationalsozialismus nicht, können aber gleichzeitig
niemanden befragen, oder „verantwortlich machen für die seltsamen, schrecklichen
Dinge, die damals geschehen waren“426.
422
Dückers, Tanja: Himmelskörper, a.a.O., S. 92.
Ebd., S. 95.
424
Ebd., S. 95.
425
Ebd.
426
Ebd., S. 96.
423
99
Wie im Fall von Untersuchungen, die im Buch Opa war kein Nazi beschrieben worden
sind, existieren auch im Geschichtsbewusstsein der Zwillinge zwei Dimensionen – die
erste kognitive, die mit Fakten über Verbrechen und Vernichtung bebildert ist, und die
zweite emotionale, zu der die persönlichen Erzählungen von Großeltern mit ihrem
Heldentum, ihrem Leiden und Verlust gehören. Da in der Familie andere Bilder von der
nationalsozialistischen Vergangenheit vermittelt werden, als in der Schule, werden die
Großeltern automatisch aus dem Verdächtigtenkreis ausgeschlossen. Deshalb fällt es
Freia so schwer, Jo und Mäxchen als eifrige Nationalsozialisten wahrzunehmen:
[…] nie wäre mir früher in den Sinn gekommen, Mäxchen und Jo als Nazis zu
bezeichnen. Mein Großvater mit seiner Prothese und seinem wunden Stumpf hatte
bei uns seit jeher uneingeschränkte Liebe und Zuneigung erhalten, und wenn Jo
von der »glücklichsten Zeit ihres Lebens« berichtete, wirkte sie mädchenhaft-naiv.
Oft Erzähltes wie »Die berühmte Bananengeschichte« ließen sie zwar nicht
heldenhaft, aber doch mitfühlend erscheinen. Und wenn Großvater erregt von
Messerschmitts, der Flakabwehr, der Hauptkampflinie und Ähnlichem sprach,
dachten Paul und ich: So sprechen alte Männer wohl vom Krieg427.
Die Entdeckung in der Bonitzkys Wohnung führt bei Freia zu einem inneren Konflikt:
Waren Jo und Mäxchen Opfer oder waren sie Täter. Waren sie liebende Großeltern, so
wie sie Freia ihr ganzes Lebens lang erfahren hat, oder waren sie Nazis, wie sich das
aus den Dokumenten ergibt:
Wie konnte ich die vielleicht gelegentlich etwas barsche Großmutter, die seit ich
denken konnte, alle Ferien mit uns verbracht hatte, mit der Frau in Verbindung
bringen, die Göring eine Gratulationskarte schrieb und die die Gesichter ihrer
Mitmenschen auf edle und unedle Züge untersucht hatte, auch wenn sie später
vorgab, dass diese Dinge die Nazis »diskreditiert« hätten?428
Wie es schon gesagt worden ist, bemerktm Harald Welzer einen bedeutsamen
Unterschied zwischen den realen Familiengesprächen und dem, wie sich Freia letzten
Endes verhält. Während die Enkel gewöhnlich dazu neigen, von der Verstrickung der
eigenen Großeltern in das NS-System nichts zu erfahren, gelingt es Freia, eine gewisse
427
428
Ebd., S. 263.
Ebd., S. 268.
100
Distanz zu ihrem Großvater und ihrer Großmutter zu gewinnen429. Im ersten Moment
erlebt Freia eine Krise. Ähnlich wie Renate, die ihre Lebensberechtigung bezweifelt,
fühlt sie sich schuldig:
In den nächsten Tagen fürchtete ich, mein Kind zu verlieren. Wenn ich nachts im
Bett lag und grübelte, legte ich eine Hand auf meinen Bauch, und er kam mir
fremder vor als je. Vielleicht schien es mir ungerecht, dass ich, nachdem ich von
all den Toten und dem perfiden Gluck meiner Familie gehört hatte, Leben gebären
würde.430
Dann aber versucht sie, mit der schwierigen Vergangenheit der eigenen Familie
zurechtzukommen. Freia geht den kontroversen Fundstücken auf den Grund, schlägt in
Geschichtsbüchern und Lexika nach, erzählt von ihnen ihrem Bruder und Paul
verwandelt diese Geschichten in Zeichnungen und Gemälde. Dann kann Freia die sie
belastenden Gegenstände erleichtert wegwerfen. Auf diese Weise geht sie mit der
fragwürdigen Vergangenheit um: Sie eignet sich diese intellektuell an, um sich dann
davon zu trennen431 und diesen Prozess bezeichnet sie als „Transformationsarbeit“432.
Es handelt sich dabei darum, den Dingen ihren Status zu nehmen, sie zu
entmaterialisieren und zu vernichten, weil sie als der „Müll“433 nicht dessen wert sind,
weiter aufbewahrt zu werden. Da aber die Vergangenheit, besonders von solchen
Ereignissen wie der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg, nicht vergessen
werden soll, entscheiden sich die Zwillinge, diese Geschichte im Wort festzuhalten, also
ein Buch darüber zu schreiben, aber „bloß kein Tagebuch, nicht so mit Datum und
Chronologiezwang, eher ein bisschen märchenhaft …“434. Auf diese Weise bleibt nach
der Position von Jens Stüben „die Essenz des Familiengedächtnisses“ bewahrt, ohne
dass man sich von ihr erdrückt und mit ihr unaufhörlich konfrontiert füllen muss435. Die
von Freia und Paul verfassten Himmelskörper überliefern als Erinnerungsbuch das
Geschehene, lassen sich aber dabei beliebig zuklappen und wieder öffnen436.
429
Welzer, Harald: Schön unscharf. Über die Konjunktur der Familien- und Generationenromane. In:
Mittelweg 36 (2004), H. 1 (Beilage: Literatur), S. 53-64 (hier S. 62).
430
Dückers, Tanja: Himmelskörper, a.a.O., S. 253-254.
431
Tanja Dückers im Gespräch. Hahn, Anne Kathrin: Nicht mal bereut, a..a.O.
432
Dückers, Tanja: Himmelskörper, a.a.O., S. 56.
433
Ebd., S. 272.
434
Ebd., S. 273.
435
Stüben, Jens: Erfragte Erinnerung – entsorgte Familiengeschichte, a.a.O., S. 180.
436
Ebd.
101
3.4.7 Raumdarstellung
Literarische Raumdarstellung wird im Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie als
ein „Oberbegriff für die Konzeption, Struktur und Präsentation der Gesamtheit von
Schauplätzen, Landschaft, Naturerscheinungen und Gegenständen“437 in Erzähltexten
definiert. Wichtig ist es aber zu betonen, dass der Raum nicht nur eine Hintergrundfolie
für die Figuren und für die Entwicklung der Handlung ist 438, sondern auch die
Stimmung und Atmosphäre in dem Text erzeugt. Nach der Position von Elisabeth
Ströker lassen sich drei Ausprägungen des Raumes unterscheiden439:
-
Gestimmter bzw. atmosphärischer Raum – es handelt sich um einen Raum, in
dem eine Atmosphäre, eine besondere Stimmung herrscht. Diese können dabei
durch verschiedene Faktoren beeinflusst werden – wie Assoziationen, die der
Raum auslöst, oder Situationen, in denen sich der Wahrnehmende befindet440.
Der Raum als gestimmter Raum existiert nur subjektiv.
-
Aktionsraum – ist ein Raum der Bewegung. Hier werden die Handlungen der
Figuren realisiert. Durch Handlung des Subjekts kann der Aktionsraum
verändert werden.
-
Anschauungsraum – in dieser Raumstruktur spielt das Sehen die entscheidende
Rolle. Von Bedeutung ist hier alles, was die Figur sieht. Der Anschauungsraum
‚zeigt sich’ dem Subjekt.
Birgit Haupt macht darauf aufmerksam, dass es sich bei gestimmtem Raum,
Aktionsraum und Anschauungsraum nicht um drei voneinander getrennte Räume
handelt. Die unterschiedlichen Wahrnehmungsformen kommen in der Praxis meistens
zusammen vor, weil Fühlen, Handeln und Sehen in der Regel gleichzeitig stattfindende
Vgl. Nünning, Ansgar (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen Grundbegriffe. Stuttgart 2001, S. 536.
438
Vgl. Haupt, Birgit: Zur Analyse des Raums. In: Wenzel, Peter (Hg.): Einführung in die
Erzähltextanalyse. Kategorien, Modelle, Probleme, a.a.O., S. 69-87.
439
Ebd.
440
Ebd., S. 70.
437
102
Prozesse sind441. Nach der Position von Carsten Gansel können Räume auch
vorkommen als442:
-
Geographisch-physikalische Schauplätze (wie Stadt oder Zimmer) zu einer
bestimmten Tageszeit (z.B. in der Nacht) oder bei einem bestimmten Wetter
(wie Sturm oder Kälte);
-
Bestimmte soziale Milieus (soziale Gruppen, Familie);
-
Bestimmte Gesellschaften oder Epochen mit entsprechenden Normen und
Werten (DDR, NS-Zeit)
-
Fremde unbekannte Orte, die erkundet werden müssen.
Gansel betont, dass atmosphärisch gestimmte Räume auch eine symbolische Bedeutung
erlangen können, wodurch sie zu Bedeutungsräumen werden. Das geschieht aber nur
dann, wenn „der dargestellte Raum von übergreifenden symbolischen Belang für die
Erzählung insgesamt ist“443.
3.4.7.1 Lotmans Raumsemantik
In seinem Buch Die Struktur literarischer Texte444 beschäftigte sich Jurij M. Lotman
mit dem Problem des künstlerischen Raumes. Den Begriff ‚Raum’ definierte er in
Anlehnung an A.D.
Aleksandrov als
„die Gesamtheit
homogener Objekte
(Erscheinungen, Zustände, Funktionen, Figuren, Werte von Variablen u. dgl.), zwischen
denen
Relationen
bestehen,
die
den
gewöhnlichen
Relationen
gleichen
(Ununterbrochenheit, Abstand u. dgl)“445. Lotman bemerkt in seinem Text, dass „für
den Menschen in der Mehrzahl der Fälle die Denotate verbaler Zeichen irgendwelche
räumlichen, sichtbaren Objekte sind“446, was zu einer für den Menschen spezifischen
Rezeption verbalisierter Modelle führt. Sogar die im höchsten Grade verallgemeinernde
Begriffe wie etwa ‚alles’ oder ‚Unbegrenztheit’ haben für die Mehrheit von uns einen
räumlichen Charakter. So werden Begriffe, die nicht räumlicher Natur sind, in
räumlichen Modellen dargestellt. Die Wirklichkeit wird mittels der „Sprache räumlicher
441
Ebd., S 71.
Vgl. Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur, a.a.O., S. 41.
443
Ebd.
444
Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte. München 1972.
445
Ebd. S. 312.
446
Ebd. S. 312
442
103
Relationen“447 gedeutet, was bedeutet, dass man den Begriffsoppositionen wie ‚hoch –
niedrig’ oder ‚nah – fern’ eine Bedeutung ‚wertvoll – wertlos’ und ‚eigen – fremd’
zuschreibt448. In seinem Buch schreibt Lotman:
Wir lösen abstrakte Probleme mit Hilfe räumlicher Vorstellungen, die wir in
Gedanken drehen und wenden können. Wir benutzen räumliche Gedächtnisstützen,
um uns eine Folge wichtiger Gedanken in Erinnerung zu rufen. In mündlicher und
schriftlicher Kommunikation verwenden wir räumliche Bilder und Metaphern. Wir
haben Tagträume und Phantasien über reale und imaginäre Orte449.
Nach der Position von Lotman werden alle kulturellen Modelle der menschlichen Welt
mit solchen räumlichen Charakteristiken ausgestattet, also topologisch strukturiert, „sei
es in Form der Gegenüberstellung ‚Himmel – Erde‘ oder ‚Erde – Unterwelt‘ […], sei es
in Form einer sozial-politischen Hierarchie mit der zentralen Opposition der ‚Oberen –
Niederen‘, sei es in Form einer ethischen Merkmalhaltigkeit in der Opposition ‚rechts –
links‘“450. Raummodelle, so Lotman, werden damit zu einem Organisationsprinzip für
den Aufbau eines ‚Weltbildes’, dass heißt eines ideologischen Modells, das für die
jeweilige Kultur charakteristisch ist451. In den literarischen Texten haben wir dagegen
mit der Semantisierung des Raumes zu tun. Die topologisch strukturierte Ordnung der
Welt macht in dem Modell Lotmans gerade die räumliche Ordnung zentral für die
Bedeutungskonstituierung von narrativen Texten452. Die Erwägungen Lotmans zum
Raum müssen an dieser Stelle um seine Konzeption der Sujets ergänzt werden. Als
‚Sujet’ bezeichnete Lotman, anders als Tomaševskij, die globale Struktur der Handlung.
Ein Sujet setzt sich im Sinne Lotmans aus drei Elementen zusammen, zu denen
gehören:
1. ein semantisches Feld [i.e. eine erzählte Welt], das in zwei komplementäre
Untermengen aufgeteilt ist; 2. eine Grenze zwischen diesen Untermengen, die unter
normalen Bedingungen impermeabel ist, im vorliegenden Fall jedoch (der
sujethaftige Text spricht immer von einem vorliegendem Fall) sich für den die
447
Ebd. 313
Vgl. ebd. S. 313
449
Ebd. S. 329.
450
Vgl. Martinez, Matias / Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, a.a.O., S. 143.
451
Vgl. Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte, a.a.O., S. 313.
452
Vgl. Martinez, Matias / Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, a.a.O. S. 143.
448
104
Handlung tragenden Helden als permeabel erweist; 3. der die Handlung tragende
Held453.
Ein Sujet entsteht, wenn die Figur die Grenze zwischen den komplementären
Teilräumen überschreitet. Der komplementäre Gegensatz der Teilraume entfaltet sich
dagegen auf drei Ebenen454. Die erste Ebene bildet der topologische Raum, der in der
erzählten Welt durch Oppositionen wie ‚innen vs. außen’ oder ‚hoch vs. tief’
differenziert wird. Auf der zweiten Ebene werden diese topologischen Oppositionen mit
ursprünglich nicht-topologischen semantischen Gegensatzpaaren verbunden, wobei
diese Gegensatzpaaren wertend sind, wie ‚natürlich vs. künstlich’ und ‚gut vs. böse’.
Auf der dritten Ebene wird die semantisch aufgeladene topologische Ordnung durch
topographische Ordnung der erzählten Welt konkretisiert, wie ‚Stadt vs. Wald’,
‚Himmel vs. Hölle’. Die Raumdarstellung wird somit zu einer „Sprache, die die
anderen, nichträumlichen Relationen des Textes ausdrückt“. Die räumliche Ordnung ist
in der erzählten Welt ein organisierendes Element, „um das herum auch die
nichträumlichen Charakteristika aufgebaut werden“. Als Beispiel solchen Prozesses
nennt Lotman den Raum in Göttlicher Komödie von Dante Alighieri. Strukturiert wird
hier der Raum topologisch durch das Gegensatzpaar ‚oben vs. unten’, semantisch durch
den Gegensatz von ‚gut vs. böse’, topographisch durch die Achse, die sich zwischen
den beiden am weitesten voneinander entfernten Punkten des Weltalls ausdehnt, das
heißt zwischen der Hölle im Mittelpunkt der Erde mit dem Sitz Luzifers und der
obersten Himmelssphäre mit dem Sitz Gottes455. In dem Werk unternimmt der IchErzähler eine Reise durch die drei Regionen, die normalerweise durch undurchlässige
Grenzen voneinander getrennt sind: Hölle, Läuterungsberg und Himmel. Die Grenze
wird „zu einem wichtigsten topologischen Merkmal des Raumes. […] Sie teilt den
Raum
in
zwei
disjunkte
Teilräume.
Ihre
wichtigste
Eigenschaft
ist
ihre
Unüberschreitbarkeit. […] Die Grenze, die den Raum teilt, muss unüberwindlich sein
und die innere Struktur der beiden Teile verschieden“456. Die Überschreitung von
solchen Grenzen ist für Lotman ein notwendiges Merkmal von sujethaltigen, also
narrativen Texten, die er von den sujetlosen Texten unterscheidet, das heißt solchen, die
einen deutlich klassifikatorischen Charakter haben, keine Grenzüberschreitung
453
Lotman, Jurij M.: Die Struktur des künstlerischen Textes. Frankfurt (M.) 1973, S. 360.
Vgl. Martinez, Matias / Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, a.a.O., S.140-141.
455
Vgl. Martinez, Matias / Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, a.a.O., S.143.
456
Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte, a.a.O., S. 327.
454
105
aufweisen und eine bestimmte Welt mit ihrer Organisation bestätigen. Als Beispiele von
sujetlosen Texten zählte Lotman Telefonbücher, sujetlose lyrische Gedichte oder
Kalender auf.
Eine Folge der Einteilung der Welt in zwei Teile ist auch die
Differenzierung der Figuren in bewegliche und unbewegliche457. Für die unbewegliche
Figuren ist die Grenzüberschreitung verboten. Sie gehören zu der Klassifikation und
bestätigen sie. Nur die beweglichen Figuren haben das Recht darauf, die Grenze zu
überschreiten. Wenn die dargestellte Welt zum Beispiel in Tote und Lebendige
eingeteilt ist, wobei die beiden Teile durch eine unüberschreitbare Grenze getrennt sind,
funktioniert ein sujethaltiger Texte auf diese Weise, dass er das Verbot für die meisten
Figuren beibehält, gleichzeitig aber eine Figur oder eine Gruppe von Figuren einführt,
die dem Verbot nicht unterliegen und die die gegebene Struktur überwinden458. „Ein
Sujet – schreibt Lotman – kann […] immer zu einer Grundepisode kontrahiert werden –
dem Überqueren der grundlegenden topologischen Grenze in seiner räumlichen
Struktur“459.
Die narrativen Texte differenzierte Lotman in 1) revolutionäre Texte, also solche, in
denen es zu einer Grenzüberscheitung tatsächlich kommt, und 2) resistutive, das heißt
Texte, in denen die Grenzüberschreitung entweder versucht wird aber dann scheitert
oder gelungen ist aber dann wieder rückgängig gemacht und aufgehoben wird.
Ort der Handlung in den literarischen Texten waren für Lotman mehr als bloße
Beschreibung der Landschaft oder des dekorativen Hintergrunds. Das räumliche
Kontinuum der Textes wird, so Lotman, zu einem gewissen Gesamt-Topos, der immer
mit einer bestimmten Gegenständlichkeit (einer Füllung) ausgestattet wird. Art dieser
Füllung zeigt verschiedene Tendenzen, je nach der Epoche, sie kann sich beispielsweise
der alltäglichen Umwelt der Leser annähern, oder sich ganz von der bekannten Realität
distanzieren460.
3.4.7.2 Raumdarstellung in Himmelskörper
457
Vgl. ebd., S. 338.
Vgl. Ebd. 338
459
Ebd., S. 357.
460
Ebd., S.. 329.
458
106
Im geographischen Sinne spannt sich der im Roman dargestellte Raum von Ost- und
Westpreußen (Königsberg, ‚Gotenhafen’) und sozialistischem Warschau, bis zu Berlin
und Gdingen in der Gegenwart.
Ein gutes Beispiel für einen dominant atmosphärischen Raum ist die Umgebung des
Familienhauses von Freia und Paul mit dem Wald und dem Bleichen See. Eine
besondere Rolle spielte dieser Ort vor allem in der Kindheit der Zwillinge. Schon das
Betreten dieses Raumes wird mit bestimmten Emotionen und Einstellungen begleitet,
was davon zeugt, dass der Wald nicht nur eine Hintergrundfolie der Handlung
ausmacht, sondern die Stimmung der Figuren aktiv prägt:
Es war immer ein großartiger, feierlicher Moment, die wenigen Meter Rasen zu
verlassen, die unser Haus vom Wald trennten, und plötzlich von der Dunkelheit
umgeben zu sein. Obwohl wir täglich in den Wald liefen, blieb der Moment des
Eintritts für uns etwas Besonderes. Vielleicht lag es daran, dass die Tannen sehr
dicht standen, ausnehmend viele Nadeln trugen, vielleicht war der Rasen besonders
ordentlich gemäht und kurz – jedenfalls hielt ich bei den ersten Schritten immer die
Luft an, um die finsteren Tannen mit dieser demütigen Geste gnädig zu stimmen.
Kaum war ich dann zwei, drei Meter im Dunkeln, durfte ich wieder atmen461.
Im gleichen Ton wird das Verlassen des Raumes markiert. Freia berichtet:
Nun kam ein anderer besonderer Moment: Der Austritt aus dem Waldreich und der
erste Schritt auf dem Rasen462.
Beide Fragmente zeigen deutlich, dass der Wald als atmosphärischer Raum eine
geschlossene Ganzheit bildet und zumindest aus der Perspektive der Kinder durch eine
scharfe Grenze von dem Rest der Welt getrennt wird. Der Raum wird also nicht als
getreues Abbild der Wirklichkeit verstanden, sondern als eine spezifische Form der
Weltauffassung der Figuren. Was innerhalb dieses Raumes passiert, wird im Text als
märchenhaft dargestellt – in diesem Sinne kann also der Raum als ‚Stimmungsträger’463
bezeichnet werden. Hier behauptet der Vater mit Elfen zu sprechen und den
461
Dückers, Tanja: Himmelskörper, a.a.O., S. 49-50.
Ebd., S. 52.
463
Zimniak, Paweł: Poetische , Logik ’ der Raumperformationen – Raum als Stimmungsträger.
(Manuskript).
462
107
Waldgeistern in „weiße[n], leichte[n] Kleider[n]“464 zu begleiten. Im Zentrum der
Geschehnisse befindet sich der Bleiche See („den wir so getauft hatten, weil Peter
einmal behauptet hatte, dort in der Nacht eine besonders bleiche Geistin beobachtet zu
haben“465) mit einer Insel in der Mitte. Wie der ganze Wald, wird auch der Teich von
beiden Kindern spezifisch wahrgenommen:
Nach ein paar Minuten kamen wir an den Bleichen See. […] Wir liebten diesen
See, vollkommen still war er, und wir begrüßten ihn immer auf die gleiche Weise:
Hand in Hand traten wir ans Ufer und beugten uns nach vorne466.
Es muss betont werden, dass der atmosphärische Raum nicht nur die Stimmung der
Figuren prägt, sondern auch ihre Wahrnehmung der Welt beeinflusst. Als Beleg dafür
können diejenigen Passagen dienen, in denen die Zwillinge das Phänomen des Krieges
zu verstehen versuchen, indem sie die für sie unklare Geschichte mit bekannten Bildern
füllen. Den ‚Krieg’ und den daraus resultierenden Verlust des Beines von dem
Großvater lokalisieren sie zuerst eben am Bleichen See:
Nachts hatte sich ein durch das Leuchten von Großvaters Taschenlampe gestört
fühlendes Grübelmonster, ein Silberlügenaal oder ein Futterneidhai aus dem
Bleichen See erhoben und einmal kräftig nach Großvaters Bein geschnappt. […]
Wir wollten auch wissen, ob Großvater wohl den Silberlügenaal, der sein Bein
erwischt hatte, anschließend mit einem Schwert geköpft hatte467.
Erst später, wenn sie begreifen, „dass es unendlich viel mehr Seen auf der Welt gibt als
den Bleichen See“468, aktualisieren die Zwillinge ihre Geschichte, indem sie zu
vermuten beginnen, dass „Großvater bei den Pfadfinderwanderungen durch ein anderes
Grübelmonster ein einem anderen See, fern unserem Haus, vielleicht sogar fern unserer
Stadt, um sein Bein gekommen war“469. Immerfort werden aber die Vorstellungen der
Zwillinge über den Krieg durch den bekannten Raum geprägt. Der Wald und der
Bleiche See sind ein Ausgangspunkt für ihre Weltauffassung.
464
Dückers, Tanja: Himmelskörper, a.a.O., S. 42.
Ebd., S. 50.
466
Ebd., S. 50.
467
Ebd., S. 79.
468
Ebd., S. 81.
469
Ebd., S. 81.
465
108
Im Laufe der Geschichte verändert sich aber die Stimmung dieses Raumes wesentlich.
Den Wandel in dessen Wahrnehmung zu unterschiedlichen Zeitpunkten kann man am
Beispiel von zwei Fragmenten beobachten. Zuerst erzählt Freia:
Paul und ich hatten keine Angst, uns im Wald zu verlaufen, obwohl das Märchen
von Hänsel und Gretel uns einmal eine ganze Nacht lang nicht hatte schlafen
lassen470.
Dann aber verändert sich Freias Raumempfinden:
Als ich klein war, hatte ich mich nie im Wald gefürchtet; höchstens vielleicht weit
hinter unseren Seen, aber nicht in dem Stück zwischen unserem und dem
Schluckauf-Teich. Ich konnte in den Wald eintauchen und mich mit größter
Selbstverständlichkeit und Leichtigkeit in ihm bewegen. Dann kam eine Zeit – ich
weiß nicht genau, wann sie anfing […] – als ich mich selber steif, ungelenk, wie
ein Fremdkörper im Wald fühlte. Mir fehlte die Ruhe, mich auf seine Ruhe
einzulassen, mich in den Farn zu legen und in den Himmel gucken zu können und
dabei die Zeit zu vergessen. Immer erwartete ich etwas oder jemanden, nie konnte
ich mehr einfach in der Sonne liegen, […] nie konnte ich diesen früheren
Glückszustand wiederherstellen471.
Solch eine Veränderung kann durch eine Reihe von Faktoren beeinflusst werden.
Einerseits erweitert sich mit dem Heranwachsen der Zwillinge ihr Erfahrungshorizont.
Die Welt wird plötzlich größer und ist nicht mehr auf den Stadtrand und den Wald
begrenzt. Das kann die Unsicherheit und Angst hervorrufen, der Wald ist kein Ort mehr,
in dem man sich geborgen fühlen kann – daher die Unruhe. Andererseits ändern sich
aber auch Freias Beziehungen zu anderen Figuren und diese Tatsache hat auch den
Einfluss auf ihre Wahrnehmung der Welt. Paul tritt in den Hintergrund, während
Wieland seinen Platz belegt und zu einer Person wird, ohne die die Welt als unkomplett
und bedrohlich erscheint:
470
471
Ebd., S. 52.
Ebd., S. 114-115.
109
Erst als Wieland und ich Hand in Hand durch den Wald gingen und die Zweige
unter unseren festen Schuhwerk knackten, fühlte ich mich wieder aufgehoben und
sicher im Reich des Dunklen472. […]
In diesem Sinne kann man Freias Worte interpretieren, wenn sie eingesteht, dass sie
jemanden erwartet. Zwei Seiten weiter bestätigt sie selbst:
Plötzlich war die Welt unvollkommen, wenn ich allein war, ohne Wieland473.
Wenn man diese Äußerungen summiert, dann stellt es sich fest, dass der Wald als
atmosphärischer Raum an Bedeutung verliert und seit diesem Zeitpunkt eher zu einer
Hintergrundfolie der Handlung wird. Zwar herrscht hier immer noch eine gewisse
Stimmung (Unsicherheit), man kann aber dem Eindruck nicht widerstehen, dass der
Schwerpunkt der Räumlichkeit von dem Wald auf Freias Beziehung mit Wieland
verschoben wird. Die Beziehung als eine Form eines bestimmten sozialen Milieus wird
damit zu einem Raum, der auch atmosphärisch beladen wird und ein Gefühl der
Sicherheit und Geborgenheit erzeugt.
Den Raum in Form von einem geographisch-physikalischen Schauplatz zu einer
bestimmten Tageszeit und bei einem bestimmten Wetter kann man gut am Beispiel
derjenigen Passagen analysieren, in denen die Großmutter die Geschichte von der
Flucht aus ‚Gotenhafen’ erzählt. Im ersten Fragment kommt es zur Vergegenwärtigung
von Vergangenem anlässlich des Geburtstags von Mäxchen. Zu einem unmittelbaren
Anstoß für Jos Erzählung wird die Äußerung des Vaters, der über die Temperatur
draußen („minus zwölf Grad“474) flucht. Jo reagiert sofort:
Minus zwölf Grad! Ihr seid doch vorhin bei unserm kleinen Abendspaziergang
nicht etwa erfroren, oder? Wenn ich daran denke, wie wir damals die ganze Nacht
und einen Morgen bei minus zwanzig Grad im Schnee draußen am Pier gestanden
haben! Tante Lena, Renätchen und ich. Und viele Leute – uns ging’s ja noch gut –
waren wochenlang im Winter auf den Trecks unterwegs!475
472
Ebd., S. 115.
Ebd., S. 117.
474
Ebd., S. 99.
475
Ebd., S. 99.
473
110
Der in dieser Erinnerung geschilderte Raum wird in erster Linie durch eine ungeheuere
Kälte gekennzeichnet. Es herrscht Winter, am Boden liegt Schnee. Kontrastiert wird
dieser Raum mit der Situation im Zimmer:
[Der Vater hatte] die Heizung hochgedreht und sich noch ein Glas Glühwein
eingeschenkt. Wir saßen um den Kamin, den meine Eltern an kalten
Winterabenden anzündeten. […]; wie hypnotisiert starrten wir in die Flammen476.
Nicht zufällig wird das „Flackern, Knacken und Knistern des Feuers“ mit dem frostigen
Winter zusammengestellt. Wir haben in diesen Passagen mit zwei verschiedenen
Räumen zu tun. Die in ihnen herrschenden Stimmungen werden durch solche
Oppositionen erzeugt wie Wärme - Kälte, Behaglichkeit – Spannung. Das im Kamin
prasselte Feuer steigert das Grauen der von Jo geschilderten Winternacht und -morgen.
An einer anderen Stelle greift Jo wieder an diese Geschichte und nochmalig kommt es
zur Gegenüberstellung von damals und jetzt im Kontext des Winters:
Diese milden Winter jetzt sind eine neue Erfindung vom Himmel… verdienen
eigentlich nicht mehr den Namen ‚Winter’477.
Ohne Zweifel dient dieser Vergleich der Betonung der Schwierigkeit von damaligen
Bedingungen. Die Atmosphäre der Kälte wird dadurch beibehalten. Jo setzt die
Geschichte fort:
Ihr könnt euch das Gedränge, die Aufregung am Hafen nicht vorstellen! Schiffe
überall, Flüchtlingstrecks, ein Chaos ohnegleichen. Überall standen, lagen und
saßen die Menschen bei minus zwanzig Grad! Am Kai, in den Schuppen,
Speichern, in den Lagerhallen, in Hauseingängen und auf den ganz vereisten
Strassen von Gotenhafen. […] Und es hörte gar nicht mehr auf zu schneien!478
Die Wetterbedingungen scheinen also diesmal nur beiläufig angegeben zu werden. In
den Vordergrund treten die im Hafen stattfindenden Ereignisse. Der Raum wird
wesentlich erweitert. Die Situation beschränkt sich nicht mehr nur auf das passive Im-
476
Ebd., S. 99.
Ebd., S. 137.
478
Ebd., S. 137.
477
111
Schnee-Stehen, sondern umfasst einen konkreten geographischen Ort. Die Dynamik der
Aussage („standen, lagen […] saßen“) und Mehrzahl der aufgezählten Teilorte
veranschaulichen die in diesem Raum herrschende Verwirrung. Die Atmosphäre des
Raumes wird vor allem durch solche Wörter wie ‚Gedränge’ und ‚Aufregung’
bestimmt. Mäxchens Bemerkungen „2000-Tonnen-Frachter, Küstenmotorschiffe,
Vorpostenboote,
Hafenschlepper
Hafenkommandanturen
für
waren
den
von
den
Flüchtlingstransport
Kriegsmarinenstellen
freigegeben
und
worden“479
verschieben den Schwerpunkt von dem schwierigen Schicksal der im Schnee wartenden
Menschen auf organisierte Operationen. Der Fokus fällt auf allgemeine Hektik
angesichts der aufkommenden Gefahr.
Mit demselben Ort aber anders geschildertem Raum wird der Leser noch einmal
konfrontiert, wenn Freia mit seiner Mutter nach Gdingen (Gdynia) fährt. Beide Frauen
machen einen Spaziergang zum Hafen. Freia berichtet:
Am Ende der Promenade befand sich unmittelbar vor dem Hafen ein Sandstrand,
wo trotz des einbrechenden Abends immer noch Kinder im Wasser
herumsprangen, Jugendliche sich lachend nasse Handtücher auf die Rucken
klatschen und Verfolgungsjagden veranstalteten, Mütter Kinder riefen, Väter
Kinder huckepack nahmen und mit ihnen jenseits der durch Bojen markierten
Grenze schwammen. Ein Eisverkäufer bahnte sich seinen Weg mit zwei großen
Kuhltaschen durch das Gewimmel brauner und blasser Gliedmaβen, bückte sich,
um Geld entgegenzunehmen und Eis am Stiel auszuteilen. […] es [war] jetzt
Hochsommer […] und wir [waren] auf Besuch auf einer Art polnischem
Mallorca480.
Im Vergleich zu den Erzählungen von Jo verändert sich die Atmosphäre des Raumes
wesentlich. Nichts scheint hier von den Ereignissen in der Vergangenheit zu zeugen. Es
herrscht die Atmosphäre des Vergnügens und der guten Unterhaltung. Die Leute spielen
sorglos mit ihren Kindern, das ‚Gewimmel’ von jetzt hat nichts mit dem ‚Gedränge’
von damals zu tun. Freia, die diesen Ort von erschütternden Erzählungen ihrer
Großmutter kennt, scheint enttäuscht zu sein oder mindestens diesen fröhlichen Ansicht
nicht zu akzeptieren:
479
480
Ebd., S. 137.
Ebd., S. 294-295.
112
Die Fotos, die Erzählungen waren meine Wirklichkeit gewesen, und ich wusste
nicht, wie ich sie auch nur im Entfernsten mit dieser gelosten Strandatmosphäre in
Übereinstimmung bringen sollte. Mir schien, jemand könnte gleich eine Leinwand
vor mir hochziehen, hinter der die >Gustloff< zum Vorschein kommen würde, das
Schiff von dicht gedrängten, in dicke Mäntel und Schals gehüllten Menschen
umgeben, am Horizont schwarzer, hochaufgetürmter Cumulonimbus481.
Sie wünscht sich etwas zu sehen, was nicht mehr existiert – die Ereignisse, die lange
vorbei sind. In diesem Sinne ist Gdingen 2003 kein Handlungsraum sondern ein
gestimmter Anschauungsraum, denn Freia ist nicht im Stande, die Gestalt dieses Raums
zu beeinflussen. Sie kann die Situation nur beobachten, auch wenn sie mit der
Wirklichkeit nicht zurechtkommen will. In dieser Passage wird die Ratlosigkeit der
Figur der vorübergehenden Zeit gegenüber geschildert. Freia möchte die vergangene,
von ihren Großeltern erzählten Ereignisse aus der Vergangenheit herbeirufen, aber sie
kann es nicht, denn die Vergangenheit gibt es gemäß der Definition nicht mehr. Die
Frau setzt ihren Bericht fort:
An den Buden entlang schlenderten wir zum Hafen. […] Im Hafen lagen riesige
Schiffe, größtenteils ziemlich rostig, Wasser aus Schiffsklappen hatte eine braune
Spur auf dem weißen Lack hinterlassen, die Farbe der Container auf den großen
Frachtern […] blätterte ab.482
Das Vergehen der Zeit wird durch die Betonung des Verfallensprozesses der Schiffe
verdeutlicht (Rost, abgeblätterte Farbe). Während Mäxchen von „2000-TonnenFrachter[n], Küstenmotorschiffe[n], Vorpostenboote[n], Hafenschlepper[n]“483, die als
Transportmittels für die Flüchtlinge haben dienen sollen, erzählt hat, sieht seine Enkelin
Schiffe, die auf keinen Fall für militärische Zwecke benutzt werden. Der Hafen steht
still, es geschieht nichts. Nichts zeugt auch davon, was hier vor 60 Jahren passiert ist.
Der Dynamik der Erzählungen der Großeltern wird die Passivität dessen
entgegengesetzt, was Freia vor den Augen hat. Auch weitere Bilder betonen den
Prozess des Zeitvergehens:
481
Ebd. S. 295-296.
Ebd., S. 296.
483
Ebd., S. 137.
482
113
Am Kai lag ein Militärschiff mit dem nüchternen Namen >H 34<, das sich von
nahem als Museumsschiff entpuppte.484
Das Militärschiff wird nicht mehr im Kampf benutzt, denn es gibt keinen Krieg mehr.
Als Museum kann es bestimmte Aspekte der Vergangenheit veranschaulichen, es gehört
aber der Gegenwart an. Freias Suchen nach der von den Eltern erzählten Wirklichkeit
verläuft also im Sande. Die Ereignisse aus dem Jahr 1945 sind zeitlich sowie räumlich
entfernt. In Gdingener Hafen herrscht keine Atmosphäre der Angst und der Unruhe
mehr.
Die Erzählung von Freia zeigt die Distanz, die die Generation der Enkel von dem
Zweiten Weltkrieg trennt. Auf die natürliche Weise kann diese Generation die
Vergangenheit nicht so wahrnehmen, wie Menschen, die in damalige Ereignisse
engagiert gewesen waren. Ihr Kontakt mit der Vergangenheit basiert auf Erzählungen
und den Erinnerungen von anderen einerseits und auf historischen Daten und Fakten
andererseits. Das Herbeirufen von Bildern, die der Frau von den Großeltern vermittelt
worden sind, veranschaulicht, inwieweit das Familiengedächtnis ihre Vorstellungen von
damaligen Ereignissen geprägt haben. Das gemeinsame Familiengedächtnis, an dem
Freia teilhat, kann aber die Tatsache nicht verändern, dass sie in einem anderen Raum
lebt als ihre Eltern und Großeltern.
Die oben genannten Beispiele zeigen deutlich, dass bei der Raumwahrnehmung sowie
der Raumerfahrung nicht nur das Statische sondern auch das Relationale und
Performative von Bedeutung ist485. In Anlehnung an Horst Wenzel erklärt Paweł
Zimniak dieses Phänomen dadurch, dass Räume in Abhängigkeit von dem Blickpunkt
des Beobachters jeweils anders wahrgenommen und interpretiert werden486. Jede
Wahrnehmung des Raumes wird durch die spezifische Einbindung des Wahrnehmenden
beeinflusst, die in Feststellungen, Überlegungen, Zweifeln oder Vorbehalten
ausgedrückt werden kann. In den literarischen Texten wie Himmelskörper von Tanja
Dückers sind Räume narrativ erzeugte Konstruktionen, die einerseits kulissenhaft eine
textkonstitutive Funktion erfüllen, andererseits aber „performativ über die SubjektObjekt-Beziehung“
konstituiert
werden487.
484
Im
Sinne
des
Relationalen
Ebd., S. 296.
Zimniak, Paweł: Poetische , Logik ’ der Raumperformationen – Raum als Stimmungsträger
(Manuskript).
486
Ebd.
487
Ebd.
485
114
und
Performativen muss dabei der Begriff ‚Raum’ im Zusammenhang mit dem
wahrnehmenden und empfindenden Subjekt, „das sich in deinen räumlichen
Zugehörigkeiten und als ‚Empfindungsmaterial’ erfassen lässt“, betrachtet werden488.
Literarische Texte sind deshalb für die Selbstbeobachtung von Erinnerungskulturen von
Bedeutung, weil sie in ihrer Funktion als spezifische Wahrnehmungsformen von Welt
und Reflexionsinstanzen ein semantisches und performatives Archiv darstellen489.
3.4.8 Zum Erzählschluss
Nach der Position von Constanze Krings erfüllt der Erzählschluss eine wichtige Rolle
bei der Rezeption eines Textes, worauf es schon bei der Analyse des Erzählanfangs
hingewiesen wurde. Am Erzählschluss wird das Gelesene unter Anpassung aller
früheren Informationen an das am Ende Präsentierte rekapituliert490, was die
ganzheitliche Interpretation eines Textes beeinflusst. Wie der Erzählanfang kann auch
das Textende verschiedene Formen annehmen. In Anlehnung an Carsten Gansel wird
zwischen folgenden Möglichkeiten unterschieden491:
-
offenes Ende – bei diesem Typ bleiben Konflikte nicht gelöst, möglich sind auch
mehrere alternative Schlüsse;
-
geschlossenes Ende – im Text wird eine konkrete Lösung dargestellt
(beispielsweise in Form von Erfüllung der Wunsche der Figur);
-
erwartetes Ende – das Ende des Textes ergibt sich aus den Handlungssträngen
als ihre logische Konsequenz. Bei manchen Texten wird am Ende die ‚epische
Gerechtigkeit’ hergestellt, es kommt also zur Bestätigung von allgemein
anerkannten Normen und Werte;
-
unerwartetes Ende – das Ende des Textes ist nicht logisch nachvollziehbar.
Der Roman Himmelskörper endet grundsätzlich auf erwartete Weise: Freia findet,
wonach sie gesucht hat. Einerseits sind das Antworten auf die Fragen, die ihre Familie
betreffen. Freia erfährt zuerst von Jo und dann auch von der Mutter so viel, dass sie
endlich im Stande ist, die verborgenen Geheimnisse aufzuklären und die Lücken in der
488
Ebd.
Ebd.
490
Krings, Constanze: Zur Analyse des Erzählanfangs und des Erzählschlusses, a.a.O., S. 163.
491
Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur, a.a.O., S. 64-66.
489
115
Geschichte der Familie zu ergänzen. Andererseits findet sie auch den Cirrus Perlucidus.
Nicht zufällig bemerkt Freia die seit Langem gesuchte Wolke in dem Moment, wenn
der Rest der Wahrheit über die Flucht aus Gdingen ans Tageslicht kommt – beide
Prozesse verflechten sich im Laufe der Handlung und sind miteinander eng verbunden.
In beiden Fällen wird das „Fremde“ und „Ungreifbare“492, womit sich noch niemand
beschäftigt hat, entdeckt und erfasst.
Das einzige unerwartete Element ist Renates Selbstmord. Freias Mutter kehrt nach
Gdingen zurück und wird mit dem Ort konfrontiert, an dem die Tragik ihres Lebens
ihren Anfang hatte. Hier offenbart sie der Tochter ihre Zweifel an eigener
„Lebensberechtigung“493. Als Leser erwartet man aber, dass die Reise nach Gdingen für
Renate wie eine Katharsis gewirkt hat, so dass sie endlich ihre innere Ruhe finden wird.
Renate scheitert aber am Ende des Buches. Der Tod dieser weichen, immer im
Hintergrund stehenden und leidenden Frau war aber nicht zufällig: „Weil der Leser
solch eine Figur am wenigsten für schuldig hält, da ist der Überraschungseffekt am
größten.“494.
3.5 Einordnung in die Gattungstypologie
Bei der Einordnung des Romans in die Gattungstypologie wird von dem Begriff des
Gedächtnisromans ausgegangen. Astrid Erll definiert Gedächtnisromane als „narrativfiktionale Texte […], die auf zeitgenössische Erinnerungskulturen und ihre
Herausforderungslagen in deutlicher Weise Bezug nehmen, Modelle für und von
Kollektivgedächtnis inszenieren und anhand einer ausgeprägten Rhetorik des
kollektiven Gedächtnisses perspektivieren, welche im Sinne eines Wirkungspotentials
eine Rezeptionshaltung nahe legt, bei der das Dargestellte vom Leser auf die
Wirklichkeit
der
Kollektivgedächtnisse
bezogen
wird“495.
Im
Fall
von
Gedächtnisromanen ist es wichtig, dass sie immer in Erinnerungskulturen entstehen, die
sich in bestimmten Problemkonstellationen befinden. Ohne Zweifel greift der Roman
Himmelskörper aktuelle Probleme des kollektiven Gedächtnisses der deutschen
Erinnerungskultur auf, ist somit erinnerungskulturell präfiguriert. Die zahlreichen
Kommentare, Vorwürfe sowie Interviews mit der Autorin beweisen auch, dass das Buch
492
Dückers, Tanja: Himmelskörper, a.a.O., S. 12.
Ebd., S. 303.
494
Tanja Dückers im Gespräch. Hahn, Anne Kathrin: Nicht mal bereut, a.a.O. Dazu vgl. Kapitel.
495
Erll, S. 181
493
116
von Dückers als Medium der kollektiven Gedächtnisbildung und -reflexion fungiert. Es
handelt sich dabei um den kommunikativen bzw. erfahrungshaftigen sowie den
antagonistischen Modus. Für die genauere Einordnung von Himmelskörper ist jedoch
die Einteilung, die von Birgit Neumann vorgeschlagen wurde, von größerer Bedeutung.
Im Rahmen der Gattung fictions of memory, zu der sie Texte zählt, „die wechselseitige
Durchdringung von Erinnerungen, Identitäten und Narrationen in ihrer individuellen
bzw. kollektiven Dimension vor Augen führen […] [und] Fragen nach dem spezifischen
Leistungspotential von Erinnerung in den Vordergrund rücken“496, unterscheidet
Neumann zwischen vier Typen:
dem autobiographischen Gedächtnisroman, dem
kommunalen Gedächtnisroman, dem autobiographischen Erinnerungsroman und dem
soziobiographischen Erinnerungsroman. Da aber die im Roman von Dückers
thematisierten Erinnerungen nicht kollektiver, sondern individueller Natur sind, bleibt
es nur zu unterscheiden, ob es sich im Fall von Himmelskörper um einen
autobiografischen
Gedächtnis-
oder
Erinnerungsroman
handelt.
Mit
dem
‚autobiographisch’ wird dabei die Ich-Form gemeint. Sowohl in autobiographischen
Gedächtnis- als auch Erinnerungsromanen stehen Erinnerungen im Vordergrund.
Während aber sich die Gedächtnisromane eher auf die Präsentation der Vergangenheit
konzentrieren, wobei ein Eindruck entsteht, dass es sich um abgeschlossene
Erfahrungen handelt, fällt der Fokus im Fall von Erinnerungsromanen auf den Prozess
des Erinnerns selbst. Hier kann die Erinnerung nicht als abgeschlossen betrachtet
werden. Dominant ist dabei die externe Fokalisierung. Das erzählende Ich ist im Hier
und Jetzt verortet, erinnert die vergangenen Erfahrungen aus der gegenwärtigen
Perspektive, deshalb erscheint ihm die Erinnerung als lückenhaft und unvollkommen.
Aus diesem Grund wird auch die Authentizität des Erinnerten in Frage gestellt. Bei den
Gedächtnisromanen wird dagegen im Laufe der Erzählung eine kohärente Geschichte
konstruiert. Es wird auch in diesen Romanen dominant intern fokalisiert, was die
Authentizität des Erzählten verstärkt. Die Identität des erzählenden Ichs wird
stabilisiert, denn „die Möglichkeit von subjektiv erlebter biographischer Kontinuität und
lebensweltlicher Kohärenz hängt daher in hohem Maße von der Konstruktion einer
gelungenen Geschichte ab“497. Aufgrund der aufgezählten Merkmale lassen sich die
Himmelskörper als ein Gedächtnisroman einordnen. Es wird aus der internen
Neumann, Birgit: Erinnerung – Identität – Narration: Gattungstypologie und Funktionen
kanadischer „Fictions of memory“. Berlin 2005, S. 1.
497
Ebd. S. 242.
496
117
Fokalisierung erzählt. Nicht der Vorgang des Erinnerns steht im Zentrum, sondern die
vergangenen Ereignisse, die von den Kinderjahren bis in die Gegenwart erzählt werden
und auf eindeutige Weise die aktuelle Lage und Identität der Erzählinstanz bestimmen.
Die Geschichte scheint damit abgeschlossen zu sein – im Laufe der Handlung werden
alle Fragen beantwortet und alle Lucken gefüllt. Im letzten Kapitel stellt es sich fest,
dass die Geschichte aus der Perspektive einer erwachsenen Frau dargestellt wird und
dass von ihr verfasste Buch Himmelskörper eine Art Bewältigung der kontroversen
Vergangenheit ihrer Familie ist. Die Geschichte wird damit erfolgreich zu Ende
gebracht.
Zusätzlich lässt sich das Buch folgendermaßen klassifizieren:
-
als Entwicklungsroman498 stellt es den Reifeprozess der Protagonistin dar - von
einem Kind bis zu einer erwachsenen, selbstbewussten Frau, die selbst Mutter
wird. In der Suche nach eigener Identität reflektiert die Hauptfigur sowohl die
Umwelt als auch sich selbst. Ihre Persönlichkeit entwickelt sich im Laufe der
Handlung;
-
als Generationen- bzw. Familienroman – beschrieben wird die Familie und die
Verhältnisse zwischen den Generationen. Nach der Position von Sigfrid Löffler
ist „diese Gattung […] derzeit das bevorzugte Format der Auseinandersetzung
mit der Schreckensgeschichte des 20. Jahrhunderts“, weil es „den Zweiten
Weltkrieg und seine Folgen“499 familiarisiert. Am Beispiel von Himmelskörper
lässt sich beobachten, auf welche Weise die älteren Generationen den Kindern
ihre Erfahrungen vermitteln und wie die Kinder mit der Vergangenheit
umgehen. Die Geheimnisse und gewisse Kommunikationsunfähigkeit führen
dabei zum Familienzerfall.
3.6 Fazit
In dem Roman Himmelskörper ist dargstellt worden, auf welche Weise die Geschichte
im Generationengedächtnis funktionieren kann. Bei der Analyse der Figuren hat sich
erwiesen, dass jede Generation ihre eigene Vergangenheit besitzt, dass dieselben
498
Interview
Löffler, Sigfrid: Die Familie. Ein Roman : geschrumpft und gestückelt, aber heilig. In: Literaturen
06/2005, S. 25.
499
118
Ereignisse von verschiedenen Generationen auf unterschiedliche Weise wahrgenommen
und erinnert werden können.
Die Analyse des Romans hat auch gezeigt, dass Tanja Dückers ihre Kompetenzen nicht
überschreitet, wenn sie über Ereignisse schreibt, die sie nicht erlebt hat. Ihre Perspektive
ist die der Enkel. Sie recherchiert, vergleicht die Fakten, stellt Fragen und versucht, die
Schlussfolgerungen zu ziehen. Zwar stellt sie die konkreten Personen unter Anklage
(liebende Großeltern der Hauptfigur) und betont ihre Täterrolle, lässt aber gleichzeitig
alle Figuren sprechen, wodurch die Leiden der Zivilbevölkerung infolge des Krieges
nicht ausgeblendet werden. Auf diese Weise gelingt es ihr, sich vom historischen
Relativismus, dessen Spuren im heutigen öffentlichen Diskurs leider zu finden sind,
fern zu halten. Sie versucht auch nicht, sich in die Position einer anderen Generation zu
versetzten. Selbst die von ihr verwendeten Erzähltechniken veranschaulichen, dass es
überhaupt nicht möglich ist, wodurch der Roman an Authentizität gewinnt.
Nichtsdestoweniger verbindet das ‚Prinzip Erinnerung’ auf bestimmte Weise alle drei
Generationen, was beweist, dass die NS-Zeit als Gegenstand der Erinnerung immer
noch Teil des kommunikativen, nicht nur des kulturellen, Gedächtnisses bleibt.
Tanja Dückers wird vorgeworfen, dass sie zu beliebig „große Geschichte mit kleinen
Geschichten“500 verbindet und zu viele Themen in ihrem Buch behandelt. Man soll aber
berücksichtigen, dass die Essenz des Lebens der dritten Generation auf keinen Fall der
Krieg ausmacht. Die Enkel haben eigene Probleme, auf die sie in erster Linie ihre
Aufmerksamkeit lenken. Deshalb bietet auch der Roman einen grundsätzlich
realitätsnahen Einblick in die Situation der dritten Generation. Im Vordergrund steht
Freia mit ihrem Leben, nicht die ‚Gustloff’-Katastrophe, auch wenn diese Katastrophe
bis in die Gegenwart hineinwirkt.
Am Beispiel des Romans kann man schließlich beobachten, auf welche Weise die
Literatur in einer Erinnerungskultur wirken kann. Nach der Position von Dückers kann
die Botschaft eines Romans „einen viel nachhaltigeren Eindruck beim Leser
hinterlassen als ein Sachbuch zu gleichen Thematik“501. Die Literatur transportiert die
Geschichte und trägt damit zur Entwicklung von Geschichtsbewusstsein bei, verleiht
500
Emmerich, Wolfgang: Dürfen die Deutschen ihre eigenen Opfer beklagen? Schiffsuntergänge 1945
bei Uwe Johnson, Walter Kempowski, Günter Grass, Tanja Dückers und Stefan Chwin. In: Böning,
Holger / Jäger, Hans Wolf / Kątny Andrzej / Szczodrowski Marian (Hg.): Danzig und der Ostseeraum.
Sprache, Literatur, Publizistik. Bremen 2005, S. 293-323 (hier S. 312).
501
Tanja Dückers im Gespräch. Metz, Johanna: Das Anrecht auf die Spurensuche in der Vergangenheit,
a.a.O.
119
„den kollektiven Erlebnissen ein individuelles Gesicht“502, was besonders jetzt von
Bedeutung ist, wenn der zeitliche Abstand zu damaligen Ereignissen immer größer wird
und die Zeitzeugengeneration langsam abstirbt. Der Roman Himmelskörper bezieht sich
eindeutig auf die außerliterarische, vorgängige, erinnerungskulturelle Wirklichkeit,
macht diese Wirklichkeit zum Element seiner narrativen Struktur, wodurch er als
Medium des kollektiven Gedächtnisses an der Reflexion über die Erinnerungskultur
beteiligt sein kann.
4 Zusammenfassung
In der vorliegenden Arbeit wollte ich am Beispiel des Romans Himmelskörper von
Tanja Dückers analysieren, auf welche Weise Erinnerungen an den deutschen
Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg im Rahmen des Familiengedächtnisses
funktionieren können. Die Untersuchungen zeigen, dass in der privaten Erinnerung ein
anderes Bild von der Vergangenheit gepflegt wird, als in der institutionalisierten Form.
Während auf der offiziellen Ebene die nationalsozialistischen Verbrechen ins Zentrum
gestellt werden, konzentrieren sich die privaten Familiengedächtnisse eher auf die
Perspektive der Opfer. Dieser Diskurs wird in erster Linie vom Leiden der eigenen
Familienangehörigen geprägt. Das widerspricht natürlich nicht der Überzeugung, dass
der Zweite Weltkrieg eine Katastrophe in der Menschheitsgeschichte war. Die Tendenz
lässt aber zumindest die eigenen Nächsten vor der Verantwortung für diese Katastrophe
schützen und sie entweder als Leidende oder als Mitglieder der Widerstandsbewegung
wahrnehmen. Tanja Dückers vertritt die junge Autorengeneration, die den Zweiten
Weltkrieg nicht erlebt hat. Aus diesem Grund wird auch bezweifelt, ob sie Recht darauf
habe, sich über die Ereignisse aus der Vergangenheit zu äußern, die sie selbst nicht
erlebt hat, wogegen sie auch kategorisch protestiert. Interessant ist bei Dückers die
Tatsache, dass sie in ihrem Buch, gegen Tendenz, die Grosseltern der Hauptfigur unter
Anklage stellt. Die dreißigjährige Freia gerät angesichts der Entdeckung, wer ihre Oma
und Opa in der Nazi-Zeit wirklich gewesen sind, in ein Dilemma: Wie kann man die
Erinnerung an die vertraute Personen aus der eigenen Familie mit dem Bewusstsein
ihrer kontroversen Vergangenheit vereinen. Mit ihrem Roman vertritt Dückers die
502
Steinbrink, Gesa: Wer suchet, der findet. Tanja Dückers beobachtet seltene Wolkenformation.
Literaturkritik.de, Nr. 6, Juni 2003, unter:
http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=6082&ausgabe=200306 (Zugriff am
10.05.2010).
120
Meinung, dass die Abrechnung mit der Nazi-Vergangenheit ein immer noch aktuelles
Thema ist.
Die Erinnerungsliteratur, zu der Dückers’ Roman gehört, ist eines der Medien des
kollektiven Gedächtnisses. Deswegen wurde in dem methodologischen Teil der Arbeit
danach gefragt, was unter dem Begriff des kollektiven Gedächtnisses überhaupt
verstanden wird, und auf welche Weise Gesellschaften die Vergangenheit erinnern.
Berücksichtigt wurden dabei die Gedächtniskonzepte von Maurice Halbwachs, Aby
Warburg und Pierre Nora. Dargestellt wurde anschließend der aktuelle Forschungsstand
mit den Theorien von Jan und Aleida Assmann, Harald Welzer, sowie dem
mehrdimensionalen Modell zur Beschreibung von kulturellen Erinnerungsprozessen,
das and der Justus–Liebig–Universität Gießen entwickelt wird. Da die Ebene der
Präsentation der Geschichte genau so wichtig ist, wie die Geschichte selbst, wurde
schließlich in diesem Teil die Literatur in narratologischer Perspektive aufgegriffen. Der
Fokus fiel dabei auf die Unterschiede zwischen dem faktualen sowie dem alltäglichen
und dem literarischen Erzählen.
Der analytischer Teil der Arbeit bezieht sich schon unmittelbar auf Tanja Dückers und
ihren Roman. In Bezug auf die Erzähltheorien von Franz K. Stanzel, Matias Martinez,
Michael Scheffel und Jürgen H. Petersen wurde die Erzählweise in Himmelskörper
analysiert. Dargestellt wurde auch Lotmans Theorie von der Bedeutung der
Räumlichkeit in den narrativen Texten. Die Analyse des Raumes, als eines der
Elemente, die die dargestellte Welt konstruieren, konzentrierte sich auf dessen
Präsentationsweise und Funktionalisierung. Betont wurde auch das Verhältnis zwischen
den Räumen und Figuren. Ein wichtiger Aspekt dieses Arbeitsteils ist die Analyse der
Figuren. Es wurde danach gefragt, auf welche Weise die drei Generationen einer und
derselben Familie am Familiengedächtnis teilnehmen und was den Inhalt dieses
Gedächtnisses ausmacht. Die Einordnung des Buches in die Gattungstypologie ist das
letzte Element des analytischen Teils der vorliegenden Arbeit.
5 Streszczenie
Głównym celem niniejszej pracy jest prześledzenie na przykładzie powieści Tanji
Dückers Himmelskörper, w jaki sposób w pamięci rodzinnej funkcjonować mogą
wspomnienia o wydarzeniach związanych z niemieckim narodowym socjalizmem i
drugą wojną światową. Jak pokazują badania, wspomnienia prywatne często zasadniczo
121
różnią się co do treści od historii przekazywanej w formie zinstytucjonalizowanej.
Podczas gdy w oficjalnym dyskursie mówi się o zbrodniach faszystowskich Niemiec,
pamięć rodzinna koncentruje się raczej na perspektywie ofiar, podkreślając cierpienia
doznane w wyniku wojny zarówno członków własnej rodziny jak i całego narodu
niemieckiego. Perspektywa ta nie wyklucza naturalnie świadomości, jak wielką
katastrofą w dziejach ludzkości była wojna, istnieje natomiast tendencja do oddzielania
Niemców, a w szczególności najbliższych, od sprawców. Autorka powieści
Himmelskörper, Tanja Dückers, należy do pokolenia młodych autorów, które drugiej
wojny światowej nie doświadczyło. Z tego też powodu poddawane jest w wątpliwość
jej prawo pisania o sprawach, które w żaden sposób nie były jej udziałem. Dückers
otwarcie buntuje się przeciwko odbieraniu jej możliwości wypowiadania się o
przeszłości, czego wyraz daje w swojej powieści. Wartym uwagi jest fakt, że wbrew
tendencji sadza ona na ławie oskarżonych dziadków głównej bohaterki. Freia, kobieta
trzydziestoletnia, staje przed dylematem, jak pogodzić pamięć o zaufanych osobach z
kręgu najbliższej rodziny z odkryciem ich nazistowskiej przeszłości. Dückers staje tym
samym na stanowisku, że rozrachunek z nazizmem nie jest sprawą zamkniętą, a
pozostaje ważnym, aczkolwiek trudnym problemem niemieckim.
Ponieważ literatura pamięci, w nurt której wpisuje się powieść Dückers, jest jednym z
medium pamięci zbiorowej, konieczne było przestudiowanie samego pojęcia pamięci
zbiorowej. W części teoretycznej pracy przywołane zostały koncepcje M. Halbwachsa,
A. Warburga i P. Nora. Przedstawiony został również współczesny stan badań nad
zjawiskiem pamięci zbiorowej z uwzględnieniem teorii Aleidy i Jana Assmannów, H.
Welzera oraz wielowymiarowego modelu do badań nad pamięcią zbiorową
stworzonego i rozwijanego na Uniwersytecie Justusa Liebiga w Gießen. Z uwagi na
fakt, iż sposób prezentacji opowiadanej historii jest równie ważny jak sama historia,
poruszony został w tej części pracy także temat literatury w pespektywie
narratologicznej. Skupiono się przy tym na wykazaniu różnic pomiędzy tekstem
faktualnym bądź sposobem opowiadania, jakim posługujemy się na co dzień, a fikcją
literacką.
Część analityczna odnosi się już bezpośrednio do Tanji Dückers i jej powieści. W
oparciu o teorie narratologiczne F. Stanzela, M. Martineza, M. Scheffela i J. Petersena
zanalizowano powieść Himmelskörper pod kątem sposobu narracji. Przywołano
również koncepcję J. Łotmana dotyczącą znaczenia przestrzenności w tekstach
literackich.
Przy
analizie
przestrzeni,
122
jako
elementu
konstruującego
świat
przedstawiony, zwrócono uwagę głównie na sposób jej prezentacji, funkcje, a także na
związek przestrzeni z postaciami, jako że historie przez nie opowiadane nigdy nie dzieją
się w próżni, a sposób modelowania przestrzeni zasadniczo wpływa na nastrój powieści
i tym samym na recepcję tekstu. Ważnym elementem tej części pracy jest analiza
bohaterów powieści ze szczególnym uwzględnieniem ich stosunku do przeszłości w
kontekście drugiej wojny światowej. Prześledzono, w jaki sposób kolejne pokolenia
jednej i tej samej rodziny uczestniczą w pamięci rodzinnej i co stanowi treść tej
pamięci. Usytuowanie powieści w typologii gatunkowej stanowi element ostatni tej
części pracy.
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Krieg
erinnern.
Unter:
http://www.bpb.de/themen/3946QF.html (Zugriff am 01.05.2010).
2) Benutzte Literatur zur Narratologie und zu narralotogischer Textanalyse
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GANSEL, CARSTEN: Moderne Kinder- und Jugendliteratur. Ein Praxishandbuch für den
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GENETTE, GÉRARD: Die Erzählung. 2. Auflage München 1998.
HAMBURGER, KÄTE: Die Logik der Dichtung. Stuttgart 1968.
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Erzähltextanalyse. Kategorien, Modelle, Probleme, a.a.O., S. 69-87.
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LINK,
JÜRGEN:
Literaturwissenschaftliche
Grundbegriffe:
eine
programmierte
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LOTMAN, JURIJ M.: Die Struktur literarischer Texte. München 1972.
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MARTINEZ, MATIAS / SCHEFFEL, MICHAEL: Einführung in die Erzahltheorie. 6. Aufl.,
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Petersen, Jürgen H.: Einführung in die neuere deutsche Literaturwissenschaft. Ein
Arbeitsbuch. Berlin 2006 (7. Aufl.).
SCHMID, WOLF: Elemente der Narratologie. Berlin 2005.
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ZIMNIAK, PAWEŁ: Poetische ,Logik’ der
Stimmungsträger. (Manuskript).
129
Raumperformationen –
Raum als
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