ZUR INSZENIERUNG DER ERINNERUNG IN TANJA DÜCKERS’ ROMAN „HIMMELSKÖRPER“ Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung ............................................................................................... 1 2 An die Vergangenheit erinnern – gedächtnistheoretische Konzepte 4 2.1 3 Zu Formen des Gedächtnisses ............................................................................ 4 2.1.1 Zur mémoire collective von Maurice Halbwachs ....................................... 4 2.1.2 Zum kommunikativen Gedächtnis nach Jan Assmann ............................... 8 2.1.3 Zu Gedächtnisformen nach Aleida Assmann ........................................... 11 2.1.3.1 Zum individuellen und Generationen-Gedächtnis............................. 12 2.1.3.2 Zum kollektiven und kulturellen Gedächtnis .................................... 14 2.2 Zum Gedächtnis der Generationen in der deutschen Bevölkerung .................. 18 2.3 Zum Familiengedächtnis im „memory talk“ .................................................... 22 Erinnerung und Gedächtnis in der Literatur - Zur Rhetorik der Erinnerung nach Astrid Erll .................................................................... 29 4 3.1 Erfahrungshaftiger und monumentaler Modus ................................................ 30 3.2 Antagonistischer Modus................................................................................... 33 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper“ ...................................................................................... 36 4.1 Zum Inhalt ........................................................................................................ 36 4.2 Zu Rhetorik der Erinnerung ............................................................................. 38 4.2.1 Romananfang und –ende als Erzählrahmen in die Erinnerungsreise ....... 38 4.2.1.1 Zum Textanfang ................................................................................ 38 4.2.1.2 Zum Textende .................................................................................... 42 4.2.2 Zum Zeitpunkt und Ort des Erzählens ...................................................... 45 4.2.3 Zur Zeitstruktur ......................................................................................... 50 4.2.3.1 Zur Ordnung ...................................................................................... 50 4.2.3.2 Zur Dauer........................................................................................... 57 4.2.3.3 Zur Frequenz ..................................................................................... 61 4.2.4 Zur erzählerischen Vermittlung ................................................................ 64 4.2.4.1 Zum Erzähler nach Franz Karl Stanzel ............................................. 64 4.2.4.2 Zum Erzähler nach Gérard Genette ................................................... 68 4.2.5 Zur Figurenanalyse ................................................................................... 75 4.2.5.1 Zu Figuren der Großelterngeneration ................................................ 77 4.2.5.2 Zu Figuren der Elterngeneration ....................................................... 82 4.2.5.3 Freia als Vertreterin der Enkelgeneration .......................................... 86 4.2.6 Zur Gattungstypologie .............................................................................. 93 5 Schlussbetrachtung ............................................................................. 97 6 Literaturverzeichnis ......................................................................... 100 6.1 Primärliteratur ................................................................................................ 100 6.2 Sekundärliteratur ............................................................................................ 100 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” 1 Einleitung Beim Erinnern handelt es sich um einen Prozess, in dem als Ergebnis Erinnerungen entstehen. Als Erinnerungen werden „die einzelnen und disparaten Akte der Rückholung oder Rekonstruktion individueller Erlebnisse und Erfahrungen bezeichnet.“1 Sie werden im Gedächtnis aufgehoben und gespeichert. Insofern handelt es sich beim Gedächtnis um eine an sich nicht beobachtbare, veränderliche Struktur, die dem Menschen „die Fähigkeit, Wahrnehmungen, Erfahrungen, Vorstellungen über die Gegenwart des unmittelbaren Erlebens festzuhalten, aufzubewahren und zu speichern und zugleich die Fähigkeit, das Aufbewahrte zu verwerten, zu reflektieren, zu rekonstruieren und zu verarbeiten“, gibt.2 Da das Erinnern eine Handlung ist, die in der Gegenwart erfolgt, ist es durch den Gegenwartsbezug gekennzeichnet. Dies bedeutet, dass die erinnerten Geschehnisse aus dem Blickwinkel der Gegenwart wahrgenommen und bewertet werden.3 In der deutschen Gegenwartsliteratur hat das Thema Erinnerung und Gedächtnis in den letzten Jahren stark an Bedeutung gewonnen, wobei im Zentrum die deutsche Vergangenheit zu Zeiten des Zweiten Weltkrieges steht. Auf die Frage nach den Ursachen dieses „Gedächtnis-Booms“4 findet sich die Antwort in dem Wechsel der deutschen Generationen. Je weniger Zeitgenossen des Nationalsozialismus, also Angehörigen der Erlebnisgeneration leben, desto stärker beschäftigt sich die Gesellschaft mit der Kriegsvergangenheit.5 Die nachkommenden Generationen, insbesondere die Angehörigen der Enkelgeneration versuchen die Geschichten ihrer Familien zu entdecken, um die eigene Identität zu finden. Das führt dazu, dass die bis vor kurzem noch tabuisierten Themen, wie Krieg, Holocaust, Schuldfrage, Flucht und Vertreibung, nicht nur öffentlich, sondern auch im familiären Kreis immer öfter Assmann, Aleida/ Frevert, Uwe: Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1999, S. 35. 1 2 Dieckmann, Bernhard/ Sting, Stephan/ Zirfas, Jörg: Gedächtnis und Bildung. Erinnerte Zusammenhänge. – In: Dieckmann, Bernhard/ Sting, Stephan/ Zirfas, Jörg: Gedächtnis und Bildung. Pädagogisch-anthropologische Zusammenhänge. Weinheim: Deutscher Studien Verlag 1998, S. 7-39, hier S. 7. 3 Vgl. Gansel, Carsten: Was uns im Gedächtnis bleibt. – In: Nordkurier, 17./18. Juni 2006, S. 3. 4 Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimar: Metzler 2005, S. 61. 5 Vgl. Kohlstruck, Michael: Zwischen Erinnerung und Geschichte: Der Nationalsozialismus und die jungen Deutschen. Berlin: Metropol 1997, S. 8. 1 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” diskutiert werden. Sie werden auch zu zentralen Themen in den literarischen Texten der Gegenwartsliteratur nach 1989. Das Ziel der vorliegenden Arbeit besteht darin, die Antwort auf die Frage zu finden, wie das Thema Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper“ inszeniert wird. Im Zentrum des zu untersuchenden Textes steht die Vergangenheit der Familie Bonitzky und Sandmann. Es werden die individuellen, die Kriegs- und Nachkriegszeit betreffenden Erinnerungen und Gedächtnisbestände von drei Generationen thematisiert. Die Aufarbeitung der vergangenen Geschehnisse dient der Entdeckung der Familiengeschichte, die in memory talk voll von Geheimnissen auftritt, und der Identitätssuche der Hauptfigur Freia Sandmann. Mit welchen Verfahren die Erinnerungen an das Vergangene im Roman „Himmelskörper“ inszeniert werden, wird in der vorliegenden Arbeit untersucht. Die Arbeit besteht aus drei Teilen. Im ersten Teil werden die Grundfragen der Gedächtnistheorien diskutiert. Es werden verschiedene Gedächtnisformen präsentiert und erklärt. Besondere Beachtung wird den Gedächtnissen der deutschen Generationen und die Familiengedächtnis, das durch memory talk entsteht, geschenkt. Im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit wird der Zusammenhang zwischen der Literatur und der Erinnerung sowie dem Gedächtnis dargestellt. Es werden die textuellen Verfahren thematisiert, die einen Text als Gedächtnismedium erscheinen lassen. Im dritten Teil der Arbeit erfolgt die Analyse der Rhetorik der Erinnerung am Beispiel von Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper“. Untersucht wird sowohl die Geschichts(histoire) als auch die Darstellungsebene (discours) des Erzählens6. Bei der Untersuchung der Geschichtsebene wird die Antwort auf die Frage „Was wird erzählt?“ gesucht. Es geht um die dargestellte Geschichte sowie die an der Handlung beteiligten Figuren. Bei der Analyse der Darstellungsebene beschäftigt man sich mit der Frage „Wie wird die Geschichte präsentiert?“7. Untersucht werden also die narrativen Verfahren, wie die Zeit- und Perspektivenstruktur, erzählerische Vermittlung, Erzählebene, und Fokalisierung. Schließlich wird der Zusammenhang zwischen 6 Vgl. Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur. Ein Praxisbuch für den Unterricht. Berlin: Cornelsen 1999, S. 23. 7 Vgl. ebd., S. 24f. 2 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” Erinnerung, Identität und Narration festgestellt, was zur Einordnung des Romans in die Gattungstypologie der Fictions of Memory beitragen wird. 3 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” 2 An die Vergangenheit erinnern – gedächtnistheoretische Konzepte 2.1 Zu Formen des Gedächtnisses Seit Jahrzehnten beschäftigen sich nicht nur Ägyptologen, Historiker, Medienwissenschaftler, Soziologen und Psychologen mit dem Phänomen der Erinnerung und des Gedächtnisses, sondern auch Literaturwissenschaftler. Es gibt viele Theorien auf diesem Bereich, die mehrere Gedächtnisformen unterteilen. Den deutschsprachigen Raum haben vor allem die von Maurice Halbwachs und von Jan und Aleida Assmann entwickelten und vorgestellten Theorien geprägt. 2.1.1 Zur mémoire collective von Maurice Halbwachs Die Gedächtnisforschung hat der französische Soziologe Maurice Halbwachs mit dem in den 20er Jahren entwickelten Begriff der „mémoire collective“ maßgeblich beeinflusst8. Die Beschäftigung mit dem kollektiven Gedächtnis findet ihren Ausdruck vor allem in seinen drei Schriften, welche sind: 1. „Les cadres sociaux de la mémoire“ („Das Gedächtnis und seine soziale Bedingungen“), die im Jahre 1925 veröffentlicht wurde; 2. „La mémoire collective“ („Das kollektive Gedächtnis“), an der Halbwachs über fünfzehn Jahre arbeitete und die erst im Jahre 1950 posthum erschien; 3. „La Topographie légendaire des Évangiles en Terre Sainte“ („Stätten der Verkündigung im Heiligen Land“), die 1941 veröffentlicht wurde.9 In den Büchern sind drei Untersuchungsbereiche zu unterscheiden, die in Halbwachs’ Studium drei verschiedene Richtungen der Forschung zur mémoire collective weisen. Die zentrale These, die sich durch seine Studien zum kollektiven Gedächtnis zieht, ist 8 Vgl. Neumann, Brigit: Literatur als Medium (der Inszenierung) kollektiver Erinnerungen und Identitäten. – In: Erll, Astrid/ Gymnich, Marion/ Nünning, Ansgar (Hg.): Literatur, Erinnerung, Identität. Theoriekonzepte und Fallstudien, WVT Wissenschaftlicher Verlag Trier, Trier 2003, S. 49-78, hier S.51. 9 Halbwachs versucht im ersten Buch nachzuweisen, dass die persönliche Erinnerung sozial bedingt und folglich ein kollektives Phänomen ist. Dabei bedient er sich (als Beispiel) u.a. dem GenerationenGedächtnis. Nach der offenen Kritik an seiner Theorie entscheidet sich der Soziologe, sein Konzept des kollektiven Gedächtnisses weiter zu erläutern, was seine Wiederspiegelung in der zweiten Schrift gefunden hat. Im dritten Werk werden die Formen und Funktionsweisen an einem Fallbeispiel aufgezeigt. – Vgl. Erll, Astrid: Gedächtnisromane. Literatur über den Ersten Weltkrieg als Medium englischer und deutscher Erinnerungskulturen in den 1920er Jahren. Trier: WVT 2003, S. 18f. 4 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” die von der sozialen Bedingtheit der Erinnerung und gilt als erster Untersuchungsbereich. Den zweiten bilden die Fragen nach Formen und Funktionen des Generationengedächtnisses und der dritte betrifft die Erweiterung des untersuchten Begriffs auf dem Gebiet kultureller Überlieferung und Traditionsbildung (was Jan und Aleida Assmann als „kulturelles Gedächtnis“ bezeichnen werden).10 Der Soziologe kommt Gedächtniskonzepten ab, in seinen die Untersuchungen die körperlichen von den (biologischen, herrschenden neuronalen, hirnpsysiologischen) Grundlagen als Basis für das Gedächtnis angeben. Er geht mithin davon aus, dass die Erinnerungen eines Individuums sozial bedingt sind. Ein Mensch kann ohne „cadres sociaux“ (soziale Bezugsrahmen) sein individuelles Gedächtnis nicht konstituieren und seine persönlichen Erinnerungen nicht erhalten. Halbwachs vermutet, dass ein Mensch, der in völliger Einsamkeit erwachsen wäre, kein Gedächtnis hätte, denn „das Gedächtnis wächst dem Menschen erst im Prozess seiner Sozialisation zu“11. Die erforderlichen sozialen Rahmen bilden die umgebenden Menschen, ohne die ein Mensch keinen Zugang zu den eindeutig kollektiven Phänomenen, wie z.B. Sprache oder Sitten, aber auch zu seinem eigenen Gedächtnis hat12. Ein Individuum erinnert sich nämlich nicht nur an Erfahrungen, die ihm bedeutsam sind, sondern auch daran, was er von anderen erfahren hat und was ihm die anderen erzählt haben 13. Dabei erfolgt der Erinnerungsprozess nur im Dialog mit Familienmitgliedern, Freunden, Bekannten oder auch Fremden. Solcher Erfahrungsaustausch in Rahmen sozialer Gruppen ist für Halbwachs von großer Bedeutung, weil: „durch Interaktion und Kommunikation mit unseren Mitmenschen Wissen über Daten und Fakten, kollektive Zeit- und Raumvorstellungen, Denk- und Erfahrungsströmungen vermittelt werden“14. Es entsteht eine kollektiv geteilte, symbolische und stabilitätsgewährende Ordnung, mit derer Hilfe die Ereignisse verortet, interpretiert und erinnert werden können. „Denn aus den ›sozialen Rahmen‹ im wörtlichen Sinne, unserem sozialen Umfeld, leiten sich ›sozialen Rahmen‹ im metaphorischen Sinne ab: Denkschemata, die unsere Wahrnehmung und Erinnerung in bestimmte 10 Vgl. Erll, Astrid: Gedächtnisromane, 2003, S. 19. 11 Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: C. H. Beck 2005, S. 35. 12 Vgl. Erll, Astrid: Gedächtnisromane, 2003, S. 19. 13 Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis, 2005, S. 36. 14 Erll, Astrid: Gedächtnisromane, 2003, S.19. 5 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” Bahnen lenken. Cadres sociaux bilden also den umfassenden, sich aus der materialen, mentalen und sozialen Dimension kultureller Formationen konstituierenden Horizont, in den unsere Wahrnehmung und Erinnerung eingebettet ist.“15 Die Wahrnehmung des Individuums ist also gruppenspezifisch und seine Erinnerungen sind von den sozialen Rahmen geprägt, die die Inhalte des kollektiven Gedächtnisses vermitteln. Innerhalb einer sozialen Gruppe kommt es zu Gesprächen, in denen Erinnerungen, Lebensgeschichten und Bräuche ausgetauscht werden. Dies ermöglicht die Vergegenwärtigung jener Aspekte der Vergangenheit, die die Gruppe hervortun. Es verhindert auch den unerwünschten Vergessenheitsprozess, der ohne Kommunikation und ohne in der Gegenwart existierenden Bezugsrahmen stattfindet. „Wenn ein Mensch – und eine Gesellschaft – nur das zu erinnern imstande ist, was als Vergangenheit innerhalb der Bezugsrahmen einer jeweiligen Gegenwart rekonstruierbar ist, dann wird genau das vergessen, was in einer solchen Gegenwart keine Bezugsrahmen hat. […] Das Gedächtnis lebt in der Kommunikation; bricht diese ab, bzw. verschwinden oder ändern sich die Bezugsrahmen der kommunizierten Wirklichkeit, ist das Vergessen die Folge. Man erinnert nur, was man kommuniziert und was man in den Bezugsrahmen des Kollektivgedächtnisses lokalisieren kann.“16 Die Erinnerung und Kommunikation in einer sozialen Gruppe sind folglich miteinander untrennbar verwoben, was mit der Tatsache verbunden ist, dass das kollektive und individuelle Gedächtnis in einer Beziehung der wechselseitigen Abhängigkeit stehen.17 Die Grenze zwischen ihnen ist permeabel. Das Gedächtnis eines Individuums ist bereits ein soziales Phänomen und „ein ‘Ausblickspunkt’ auf das kollektive Gedächtnis“.18 Das Kollektivgedächtnis erfüllt sich und offenbart sich in den individuellen Gedächtnissen, wobei die individuellen Erinnerungen sich durch Vertreten des Standpunktes der Gruppe auszeichnen. Jeder Mensch gehört aber nicht nur einer sozialen Gruppe an, sondern mehreren (z.B. der Familie, dem Bekanntenkreis, der Religionsgemeinschaft), die sich durch verschiedene Erfahrungen und Denksysteme auszeichnen. Erst „die 15 Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimar: Metzler 2005, S. 15. 16 Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis, 2005, S. 36f. Vgl. Neumann, Brigit: Literatur, Erinnerung, Identität. – In: Erll, Astrid/ Nünning Ansgar (Hrsg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Berlin: Walter der Gruyter 2005, S. 149-177, hier S. 160. 17 Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis, 2003. S. 36, Assmann zitiert hier aus dem Buch „Das kollektive Gedächtnis“ von Maurice Halbwachs, 1991, S. 31. 18 6 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” Kombination der Gruppenzugehörigkeiten und daraus resultierender Erinnerungsformen und –inhalte sind demnach das wirklich Individuelle, das die Gedächtnisse einzelner Menschen voneinander unterscheidet.“19 Alles andere als der genannte Zusammenschluss von gruppenspezifischen Inhalten und Denkschemata bleibt an der Grenze zwischen individuellem und kollektivem Gedächtnis. Halbwachs unterscheidet verschiedene Formen des kollektiven Gedächtnisses. Er gibt einige soziologische Fallbeispiele Religionsgemeinschaften, an: Berufsgruppen Gruppengedächtnisse und sozialen von Schichten, Familien, wobei das Familiengedächtnis als ein typisches Generationengedächtnis dargestellt wurde. An dieser Form sind alle den Horizont des Familienlebens teilenden Familienmitglieder beteiligt20. Die Familie zeichnet sich durch gemeinschaftliche Handlungen und geteilte Erfahrungen aus. Dazu kommt auch das gemeinsame Vergegenwärtigen der Vergangenheit, das ständig wiederholt wird. In familiären Gesprächen werden die Erinnerungen von älteren an die jeweiligen jüngeren Generationen weitergegeben. Mit anderen Worten: Es „findet ein Austausch lebendiger Erinnerung zwischen Zeitzeugen und Nachkommen statt. Das kollektive Generationengedächtnis reicht daher so weit, wie sich die ältesten Mitglieder der sozialen Gruppe zurückerinnern können.“21 Die alltägliche Kommunikation bildet also ein Medium für das Familiengedächtnis und im weiteren Sinne für das Generationengedächtnis, dessen Inhalte die individuellautobiographische Erinnerungen verkörpern. 22 Das Gedächtnis der Generationen soll man nach Halbwachs von der Geschichte trennen, deren Anliegen auch die Vergangenheit ist. Der Unterschied liegt daran, dass die Geschichte universal und ihr wesentliches Merkmal eine unparteiische Gleichordnung aller vergangenen Ereignisse ist. Dazu stehen Gegensätze und Brüche im Zentrum ihres Interesses. Das Generationengedächtnis (das kollektive Gedächtnis) besteht dagegen aus partikulären und selektiven Erinnerungen, denn „seine Träger sind zeitlich und räumlich begrenzte Gruppen, deren Erinnerung stark wertend und hierarchisierend ist. Eine zentrale Funktion des Vergangenheitsbezugs im Rahmen kollektiver Gedächtnisse 19 Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, 2005, S. 16. 20 Vgl. Erll, Astrid: Gedächtnisromane, 2003, S. 20. 21 Ebd. 22 Vgl. Ebd., S.21. 7 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” ist Identitätsbildung. Erinnert wird, was dem Selbstbild und den Interessen der Gruppe entspricht.“23 Das kollektive Gedächtnis orientiert sich an den gegenwärtigen Belangen der Gruppe, die sich und ihre Identität durch Erinnerungsakte erschafft. Durch gemeinsame Auslegung der Vergangenheit, die als Kollektivvergangenheit gelten kann, entsteht die kollektive Identität24. Nicht zu übersehen ist die Tatsache, dass das geteilte kollektive Gedächtnis „konstitutiv und untrennbar mit der Existenz der Gruppe verflochten“ ist.25Anders gesagt: es ist identitätskonkret, bezieht sich „ausschließlich auf den Standpunkt einer wirklichen und lebendigen Gruppe“. Dies bedeutet, dass ein Kollektivgedächtnis an seinen Trägern haftet und nicht an irgendeinen Menschen übertragen werden kann. Jeder Mensch zeigt seine Gruppenzugehörigkeit, indem er an einem kollektiven Gedächtnis teil hat.26 Mit seiner Forschung zur mémoire collective theorisierte Halbwachs das Gedächtnis als Kulturphänomen und hat „damit ‚Kultur‘ und ‚Identität‘ nicht mehr als Resultat biologischer Vererbbarkeit, sondern als Produkt aktiver Selbstauslegungen und Vergangenheitsaneignungen interpretiert“.27 Seine Begriffsverwendungen erschienen aber zu heterogen, sein Konzept nicht ausreichend differenziert. Seine Theorie wurde jedoch zur Basis für Entfaltung anderer Gedächtnistheorien (z.B. die von Jan und Aleida Assmann), die das Phänomen des Gedächtnisses vertiefend untersuchten. 2.1.2 Zum kommunikativen Gedächtnis nach Jan Assmann Im Zentrum der von Maurice Halbwachs entworfenen Theorie steht ein Phänomen der mémoire collective, das jedoch aus zwei verschiedenen, aber zugleich miteinander verbundenen Registern besteht. Es wird nämlich „zwischen einem kollektiven Gedächtnis, das auf Alltagskommunikation basiert, und einem kollektiven Gedächtnis, das sich auf symbolträchtige kulturelle Objektivationen stützt“28, unterschieden. Dies hat zur Trennung des Begriffs des „kollektiven Gedächtnisses“ beigetragen, was in der 23 Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, 2005, S. 17. 24 Vgl. Neumann, Brigit: Literatur, Erinnerung, Identität, 2005, S. 160f. 25 Ebd., S. 161. 26 Vgl. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis, 2003, S. 39. 27 Neumann, Brigit: Literatur, Erinnerung, Identität, 2005, S. 159f. 28 Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimar: Metzler 2005, S. 26. 8 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” Gedächtnistheorie von Jan Assmann Ausdruck gefunden hat. Der Theoretiker stellt nämlich zwei Gedächtnis-Rahmen gegenüber: das kommunikative und das kulturelle Gedächtnis. Die verglichenen Merkmale, die beide Gedächtnisse charakterisieren, wurden von Assmann überpointiert dargestellt, „um zu zeigen, dass sich Inhalte, Formen, Medien, Zeitstruktur und Träger dieser beiden Gedächtnis-Rahmen grundlegend unterscheiden.“29 Das erste Register, das kommunikative Gedächtnis definiert Assmann folgendermaßen: „Das kommunikative Gedächtnis umfaßt Erinnerungen, die sich auf die rezente Vergangenheit beziehen. Es sind dies[e – M.S.] Erinnerungen, die der Mensch mit seinen Zeitgenossen teilt.“30 Diese Gedächtnisform beinhaltet die Geschichtserfahrungen in Rahmen individuellen Biographien und basiert auf der Alltagkommunikation und –interaktion. Sie nimmt Bezug auf den mit der fortschreitenden Gegenwart wandernden Zeithorizont von 80100 Jahren, was 3-4 Generationen entspricht. Deswegen kann sie auch als „Kurzgedächtnis der Gesellschaft“ bezeichnet werden.31 Nach dieser Zeit wird sie als irrelevante Erfahrungen angesehen und trifft auf eine floating gap (Vergessensschwelle), die immer im gleichen zeitlichen Abstand mitwandert. Die gegenwärtigen Sinnbedürfnissen fallen hinter ihr zurück.32 Das kommunikative Gedächtnis stellt nach Assmann den Gegenstandsbereich der „Oral History“ dar: „Dieser Erfahrungshorizont bildet neuerdings den Gegenstand der ‘Oral History’, eines Zweiges der Geschichtsforschung, die […] ausschließlich auf Erinnerungen [beruht – M.S.], die in mündlichen Befragungen erhoben wurden. Das Geschichtsbild, das sich in diesen Erinnerungen und Erzählungen konstituieren, ist eine ‘Geschichte des Alltags‘[…].33“ Es ist durch Alltagsnähe gekennzeichnet und besteht nur aus biographischen Erinnerungen, nach denen konkret gefragt wird. Die Inhalte eines kommunikativen 29 Ebd., S. 27f. 30 Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis, 2003, S. 50. 31 Vgl. Welzer, Harald (Hg.): Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München: C. H. Beck 2002, S. 14. Vgl. Neumann Brigit: Literatur als Medium…, 2003, S. 58. Siehe dazu auch: Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis, 2003, S. 48ff. 32 33 Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis, 2003, S. 51. 9 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” Gedächtnisses sind folglich veränderlich und fragmentarisch. Sie erfahren keine feste Bedeutungszuschreibung.34 Von großer Bedeutung ist hier auch die Tatsache, dass die Träger dieser Gedächtnisform keine Spezialisten oder Experten der informellen Überlieferung sind. Es ist egal, wie viel man weiß und wieweit das Gedächtnis zurückreicht. (Alte Menschen reichen mit ihren Gedächtnissen weiter zurück als junge.) Wenn es um Erinnern und Deuten von der gemeinsamen Vergangenheit geht, besitzt jeder Mensch die gleiche Kompetenz, auch „wenn [sich – M.S.] Einzelne mehr und besser erinnern als andere“.35 Der typische Fall für das kommunikative Gedächtnis ist das von Halbwachs hervorgehobene Generationen-Gedächtnis. Es besteht aus Erinnerungen, die durch alltägliche Kommunikation und Interaktion geteilt werden und die von älteren an jüngere Generationen weitergegeben werden. Seine Träger sind vor allem durchschnittliche Menschen (meistens Familienmitglieder), von deren Lebensdauer die Existenz des Gedächtnisses abhängig ist: „Dieses Gedächtnis wächst der Gruppe historisch zu; es entsteht in der Zeit und vergeht mit ihr, genauer: mit seinen Trägern. Wenn die Träger, die es verkörpern, gestorben sind, weicht es einem neuen Gedächtnis.“36 Das Generationen-Gedächtnis umfasst also 3-4 Generationen. Nach ihren Inhalten wird meistens in Gesprächen gefragt, deswegen bilden sie den Gegenstand der „Oral History“. Alle Merkmale, die das kommunikative Gedächtnis charakterisieren, weist auch das Generationen-Gedächtnis auf, deswegen gilt es als ein gutes Beispiel für diese Gedächtnisform.37 Das zweite Register von Halbwachsschen kollektiven Gedächtnis verkörpert das kulturelle Gedächtnis. Im Gegensatz zum kommunikativen Gedächtnis handelt es sich hier um offiziell und medial gestiftete kollektive Erinnerungen, die sich auf die ferne, absolute, zum Mythos verdichtete Vergangenheit beziehen: 34 Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, 2005, S. 113. 35 Ebd., S. 53. 36 Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis, 2003, S. 50. 37 Vgl. ebd., S. 50f. 10 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” „Für das kulturelle Gedächtnis zählt nicht faktische, sondern nur erinnerte Geschichte. Man könnte auch sagen, daß im kulturellen Gedächtnis faktische Geschichte in erinnerte und damit in Mythos transformiert wird.“38 Dieses Gedächtnis ist an feste Objektivationen, an traditionelle symbolische Kodierung in z.B. Wort, Bild oder Tanz gebunden. Es steht in einem inneren Zusammenhang mit der Identität einer Gesellschaft oder auch einer Nation und kann auf eine große Zahl von Archiven, öffentlichen Ritualen und Gedächtnisorten zurückgreifen. 39 Von daher gehören, im Gegensatz zum kommunikativen Gedächtnis, die Träger des kulturellen Gedächtnisses nur zu ausgebildeten Spezialisten, wie Lehrer, Priester, Schamanen, Künstler, Schreiber, Gelehrten.40 Die zwei von Jan Assmann unterschiedenen Gedächtnisrahmen bestehen aus dem kommunikativen und kulturellen Gedächtnis. Beide sind oppositionell dargestellt, wobei das kommunikative Gedächtnis als Abgrenzungsfolie zum kulturellen Gedächtnis gestellt wird. Diese Phänomene wurden jedoch nicht so gelassen, wie sie Jan Assmann definierte. Sie unterlagen Forschungen von anderen Theoretikern, u.a. von Aleida Assmann, deren Untersuchungsergebnisse im weiteren Teil der Arbeit dargestellt werden. 2.1.3 Zu Gedächtnisformen nach Aleida Assmann Die Formen des Gedächtnisses wurden genauer von Aleida Assmann im Jahre 2002 untersucht. Die Anglistin, Ägyptologin und vor allem Literatur- und Kulturwissenschaftlerin hat zu diesem Thema einen Artikel geschrieben, in dem sie eine neue Aufteilung des Gedächtnisses vorschlägt. Assmann behauptet, dass die Gedächtnishorizonte ständig erweitert werden, indem sie „immer weitere Kreise ziehen: das Gedächtnis der Familie, der Nachbarschaft, der Generation, der Gesellschaft, der Nation, der Kultur“41. Es ist schwer die Grenzen zwischen den Kreisen festzustellen. So müssen auch andere Aspekte, wie Raum- und Zeitradius, Gruppengröße, 38 Ebd., S. 52. 39 Vgl. Eigler, Friederike: Gedächtnis und Geschichte in Generationenromanen seit der Wende. Berlin: Erich Schmidt 2005, S. 43. 40 Vgl. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis, 2003, S. 54. Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. – In: Erwägen Wissen Ethik (EWE) 13 (2002) Heft 2, S. 183-190., hier S.184. 41 11 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” Flüchtigkeit und Stabilität in Betracht gezogen werden, um ein anschauliches Bild des Gedächtnisbegriffes zu entwerfen. Bei den genannten Faktoren werden von Aleida Assmann vier Stufen unterschieden: das Gedächtnis des Individuums, der Generation, des Kollektivs und der Kultur.42 Im Folgenden werden diese Formen des Gedächtnisses diskutiert; wobei dem individuellen Gedächtnis, dem Generationengedächtnis so wie dem kollektiven Gedächtnis mehr Beachtung geschenkt wird, was mit dem Ziel der vorliegenden Arbeit verbunden ist. 2.1.3.1 Zum individuellen und Generationen-Gedächtnis Jeder Mensch verfügt über seine biographischen Erinnerungen, die er in einem sogenannten „Speicher“ behalten kann. Da die Erinnerungen einer Person anders sind als die der Anderen, ist der „Speicher“ durch Einzelartigkeit charakterisiert. Aleida Assmann nennt ihn individuelles Gedächtnis. Sie spricht auch von anderen Eigenschaften, die das Gedächtnis des Individuums kennzeichnen. Die Erinnerungen von Einzelnen sind vor allem subjektiv und unübertragbar. Dies bedeutet, dass ein Ereignis von verschiedenen Personen aus ganz anderen Perspektiven erinnert werden kann – je nachdem welche Gefühle hervorgerufen werden. Die Informationen über die Vergangenheit können nur mit Hilfe von Erzählungen vermittelt werden. Sie werden aber nie zu Erinnerungen einer anderen Person – was von Unübertragbarkeit zeugt. Die Erinnerungen können nicht isoliert, sondern nur in einem Netz mit Erinnerungen der anderen existieren. Sie wirken dann nicht nur glaubwürdiger, sondern auch verbindend und gemeinschaftsbildend. Weiter – so Aleida Assmann – sind sie „fragmentarisch, d.h. begrenzt und ungeformt. Was als Erinnerung aufblitzt, sind in der Regel ausgeschnittene, unverbundene Momente ohne Vorher und Nachher.“43 An Form und Struktur gewinnen sie erst in Erzählungen. Die individuellen Erinnerungen sind auch durch Flüchtigkeit und Labilität gekennzeichnet. Bei dieser Feststellung nimmt Aleida Assmann Bezug auf die Forschungsergebnissen der kognitiven Psychologen: 42 Vgl. ebd. 43 Ebd. S. 184. 12 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” „Ein […] Bild vom menschlichen Gedächtnisvermögen entwerfen heute die kognitiven Psychologen, die den trügerischen Charakter unserer Erinnerungen zum Gegenstand ihrer Forschungen gemacht haben. Sie haben gezeigt, daß Erinnerungen zum Flüchtigsten und Unzuverlässigsten gehören, das es gibt, indem sie die vielen möglichen Fehlleistungen, die beim Erinnern auftreten, empirisch 44 austesteten[…].” Die zwei Merkmale finden darin Bestätigung, dass die Erinnerungen sich mit der Zeit und mit der Person verändert und verdrängt werden oder ganz verloren gehen können. Das letzt Genannte gilt am Häufigsten bei Erinnerungen, die nicht hervorgerufen werden, deswegen ist das Erzählen über der Vergangenheit von großer Bedeutung.45 Dies gelingt oft bei familiären Gesprächen, wenn sich mehrere Generationen treffen, von dem Vergangenen erzählen und auch weitere Fragen stellen: „Durch Erzählen, Zuhören, Nachfragen und Weitererzählen dehnt sich der Radius der eigenen Erinnerungen aus. Kinder und Enkel nehmen einen Teil der Erinnerungen der älteren Familienmitglieder in ihren Erinnerungsschatz auf, in dem sich selbst Erlebtes und Gehörtes überkreuzen. Dieses Drei-Generationen-Gedächtnis ist ein existenzieller Horizont für persönliche Erinnerungen (…)“46 Assmann betont die zeitliche Begrenzung der Existenz vom individuellen Gedächtnis, die mit Hilfe von Generationengesprächen erweitert wird. Der Tod des Individuums ist meistens mit dem Tod der persönlichen Erinnerungen gleichgesetzt. Doch die von Familienmitgliedern erzählten Vergangenheitsgeschichten leben in den Köpfen der jüngeren Generationen, also der Kinder und Enkel, weiter. Die drei Generationen bilden somit eine Erinnerungs-, Erfahrungs- und Erzählgemeinschaft, deren Gedächtnis sich nach etwa 80-100 Jahren auflöst. Erst mit dem Tod der genannten drei Generationen kann man von dem richtigen Auflösen dieser Gedächtnisform sprechen.47 Die persönlichen Erinnerungen betreffen nicht nur das Individuum und den bereits erwähnten Familien- und Bekanntenkreis. Sie werden auch von unbekannten Menschen geteilt und bestätigt, denn sie greifen auf Ereignisse zurück, die auch von einer 44 Ebd. 45 Vgl. damit Halbwachstheorie zur mémoire collective, in der der Soziologe betont, dass auf keine Kommunikation und keine Erzählungen von der Vergangenheit der Vergessenheitsprozess erfolgt. 46 Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses, 2002, S. 185. Vgl. damit die Theorie von Jan Assmann, in der an dieser Stelle von einer getroffenen „floating gap“ gesprochen wird. 47 13 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” gewissen Gesellschaft gesehen oder miterlebt worden sind und an die sich immer noch erinnert wird. Diese Erinnerungen bilden also das Gedächtnis einer Gesellschaft, z.B. einer Gemeinde oder einer Stadt.48 Das hingegen wird vom Wechsel der Generationen bestimmt, die sich durch bestimmte Überzeugungen, Haltungen, Weltbilder, gesellschaftliche Maßstäbe und kulturelle Deutungsmuster charakterisieren. Dieser Generationenwechsel erfolgt je ca. alle 40 Jahre und „verschiebt das Erinnerungsprofil einer Gesellschaft“49. Die Weltauffassung einer Gesellschaft wird damit verändert: die Werte und Haltungen, die im Vordergrund standen, treten in den Hintergrund und werden von jenen ersetzt, die die nachfolgende Generation kennzeichnen. Das alles bedeutet, „dass das individuelle Gedächtnis nicht nur in einer zeitlichen Erstreckung, sondern auch in den Formen seiner Erfahrungsverarbeitung vom weiteren Horizont des Generationengedächtnisses bestimmt wird“.50 Das Gedächtnis der Generation prägt nicht nur die persönlichen Erinnerungen, sondern auch die Generationen-Identität. Und das, wie Assmann betont, ist nicht zu verändern: „Ob gewollt oder ungewollt, eingestanden oder verleugnet, die Prägung des Generationengedächtnisses und der Generationen-Identität bleibt für das Individuum unveränderlich und bindend[…]“51 Die Veränderungen, die mit dem Generationenwechsel verbunden sind, beeinflussen zwar die Persönlichkeit des Individuums, haben aber keinen Einfluss auf die Generationenzugehörigkeit. Die Gleichaltrigen bilden also eine Generation und deren Erinnerungen ein Generationengedächtnis – und dies ist konstant. So wie das individuelle Gedächtnis die einzelnen Personen unterscheidet, ist das Generationengedächtnis für eine Generation charakteristisch und grenzt sie von anderen, also von vorhergehenden und nachfolgenden Generationen ab.52 2.1.3.2 Zum kollektiven und kulturellen Gedächtnis Die zwei besprochenen Gedächtnisse unterscheiden sich wesentlich von der dritten Form des Gedächtnisses, welches Assmann als kollektives Gedächtnis bezeichnet. Es 48 Vgl. damit die Theorie von Maurice Halbwachs zum kollektiven Gedächtnis. 49 Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses, 2002, S. 185. 50 Ebd., S. 185. 51 Ebd. Vgl. Assmann, Aleida/ Frevert, Uwe: Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1999, S. 38. 52 14 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” betrifft Institutionen und Körperschaften wie z.B. Nationen, Staaten, Kirche oder Firmen, die über kein Gedächtnis verfügen, wie es im Falle des Individuums oder der Generation gilt, sondern sich mit Hilfe von Zeichen, Symbolen, Texten, Bildern, Riten, Orten und Monumenten ein Gedächtnis und zugleich eine Identität erschaffen.53 Wie Assmann betont: „Es ist ein ‘Gedächtnis des Willens’ und der kalkulierten Auswahl. “54 Es bedeutet, dass diese Gedächtnisform nicht auf unwillkürliche und spontane Momente beruht. Sie unterscheidet sich vom individuellen Gedächtnis dadurch, dass sie z.B. nicht bruchstückhaft, labil oder flüssig ist. Ihre Grundlagen bilden nämlich Erzählungen, die eine Struktur besitzen, sowie symbolische Zeichen, die „die Erinnerung fixieren, vereinheitlichen und über Generationen hinweg tradierbar machen.“55 Die symbolischen, materiellen Stützen dieser Gedächtnisform wie z.B. Monumente, Riten oder Denkmäler befestigen nämlich die Erinnerungen des Kollektivs und verpflichten die nachfolgenden Generationen auf die gemeinsame Erinnerung. Das hält auch das Gedächtnis des Kollektivs und der Generation auseinander. Des Weiteren gibt es für das individuelle und kollektive Gedächtnis gemeinsame Merkmale, welche sind: die perspektivische Organisation, keine Einstellung auf größtmögliche Vollständigkeit und das Phänomen des Vergessens - ein konstitutiver Teil der beiden Gedächtnisformen. Das letzte Genannte erfolgt aus einer strikten Erinnerungsauswahl, auf der sowohl das individuelle als auch kollektive Gedächtnis beruht.56 Als gutes Beispiel gelten hier die Konstruktionen eines nationalen Gedächtnisses, bei denen es „regelmäßig um solche Bezugspunkte in der Geschichte [geht – M.S.], die das positive Selbstbild stärken und im Einklang mit bestimmten Handlungszielen stehe. Was nicht in dieses heroische Bild paßt, wird dem Vergessen anheimgegeben. An Siege kann man sich offensichtlich leichter erinnern als an Niederlagen.“57 Wie Aleida Assmann betont, versucht eine Nation sich so ein Gedächtnis zu schaffen, in dem solche vergangenen Ereignisse aufbewahrt werden, die keinen negativen Einfluss auf die Bildung des nationalen Selbstbildes nehmen. Aus diesem Grunde teilt sie das 53 Vgl. Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses, 2002, S. 186. 54 Ebd. 55 Ebd., S. 186. 56 Vgl. ebd. 57 Ebd., S. 187. 15 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” kollektive Gedächtnis in vier verschiedene Typen. Dies sind das Opfer-, Täter-, Besiegten- und Siegergedächtnis. Sie unterscheiden sich wesentlich voneinander. Das Gedächtnis der Sieger steht dem der Besiegten gegenüber, eine gleiche Beziehung besteht auch zwischen dem Gedächtnis der Opfer und der Täter. Während die Besiegten und Sieger ihr Gedächtnis auf Kriegsereignisse beziehen, ist diese Bezugnahme im Fall des Opfer- und Tätergedächtnisses keine Voraussetzung.58 Je nachdem, ob eine Nation sich ein Opfergedächtnis erschafft oder nicht, werden ihre Niederschläge kommemoriert oder geraten in Vergessenheit. Dieser Gedächtnistyp ist nämlich durch traumatische Erfahrungen von Leid und Scham gekennzeichnet, die manchmal erst nach einem langen zeitlichen Abstand gesellschaftliche Anerkennung finden und dann zum Teil des kollektiven bzw. kulturellen Gedächtnisses werden.59 Ob dies überhaupt stattfindet, ist damit verbunden „ob es der geschädigten Gruppe gelingt, sich als politisches Kollektiv oder als Solidargemeinschaft zu organisieren und generationenübergreifende Formen der Kommemoration zu entwickeln.“60 Neben dem Opfergedächtnis steht das Gedächtnis der Besiegten, das den Beschluss „Das dürfen wir nie vergessen!“ als Grundlage hat61. Die Beiden unterscheiden sich dadurch, dass der zweite Gedächtnistyp Menschen betrifft, die an einem Krieg aktiv teilgenommen und ihn verloren haben, wobei die Opfer aus passiven und wehrlosen Objekten von Gewalt bestehen. Die Gewalt wird von solchen Menschen angewendet, die Täter genannt werden. Das Tätergedächtnis bildet also einen Gegensatz zum Opfergedächtnis. Passende Beispiele sind jedoch schwer zu finden, weil dieser Gedächtnistyp durch keine öffentliche Stütze gekennzeichnet ist und es schwierig ist, „der eigenen Schuld eingedenk zu sein“62, besonders, wenn es zugleich nicht um den vierten Gedächtnistyp, das Gedächtnis der Sieger geht. Das Siegergedächtnis stützt sich auf öffentliche Rituale und Symbole, wie z.B. Denkmäler, politische Feiertage und 58 Vgl. ebd. 59 Vgl. Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses, 2002, S. 187; Mit dem kulturellen Gedächtnis ist die von Aleida Assmann als vierte unterschiedene Gedächtnisform gemeint. 60 Ebd., S. 187. 61 Vgl. Assmann, Aleida/ Frevert, Uwe: Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit,1999, S. 46. 62 Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses, 2002, S. 188. 16 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” nationale Symbolik, die zur Vergoldung und Befestigung der bestehenden Machtverhältnisse dienen.63 Aleida Assmann betont, dass es zu einem Novum in der Geschichte gekommen ist. Die Erneuerung besteht darin, dass „sich Staaten und Gesellschaften beim Erinnern zusehen und die Maßstäbe ihres Erinnerns und Vergessens einer grundsätzlichen Revision unterziehen“. 64 Die Opfer und Täter sorgen nicht mehr um gemeinsames Vergessen, sondern streben nach gemeinsamem Erinnern an vergangene Ereignisse, was einer besseren, friedlichen Koexistenz zugrunde liegt. Dies fand im 19. und 20 Jahrhundert noch nicht statt, heutzutage steht es im Zusammenhang mit der aktuellen Verbindung der Nationen durch die technologische und vor allem ethnische Globalisierung. Diese Verbindung fordert eine friedliche Koexistenz der Nationen, deswegen ist beim Konstruieren des kollektiven Gedächtnisses die Rücksicht auf die Nachbarstaaten erforderlich. Wie beim kollektiven Gedächtnis besteht die Aufgabe der vierten Gedächtnisform: des kulturellen Gedächtnisses darin, „Erfahrungen und Wissen über die Generationenschwellen zu transportieren und damit ein soziales Langzeitgedächtnis auszubilden.“65 Diese Gedächtnisform lebt aber von externen Datenspeichern und Institutionen der Gedächtnispflege und Wissensvermittlung. Die Grundlage für das kulturelle Gedächtnis bildet ein komplexer Überlieferungsbestand heterogener symbolischer Formen, zu dem Artefakte (Texte, Bilder, Skulpturen), räumliche Kompositionen (Architektur, Landschaft) und zeitliche Ordnungen (Feste, Brauchtum, Rituale) gehören. Die genannten Bestände lassen sich niemals rigoros vereinheitlichen und politisch instrumentalisieren, sie müssen konserviert und gepflegt sein. Im historischen Wandel bedürfen sie auch der beständigen Anpassung und Erneuerung sowie der Deutung und Diskussion.66 Das kulturelle Gedächtnis besteht aus zwei Schichten: aus dem Speicher- und dem Funktionsgedächtnis. Die erste Schicht ist mit dem kulturellen Archiv gleichzusetzen, welches materielle Spuren der kulturellen Vergangenheit sichert. Die zweite Schicht 63 Vgl. Assmann, Aleida/ Frevert, Uwe: Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit, 1999, S.46. 64 Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses, 2002, S. 188. 65 Ebd., S. 189. 66 Vgl. ebd., S. 189; Siehe zu diesen Fragen vertiefend auch: Assmann, Aleida/ Frevert, Uwe: Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit, 1999, S. 49-52. 17 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” bildet ein Reservoir aus zeitübergreifenden Botschaften aus der Vergangenheit. Zu ihr gehören Artefakte, die durch gesellschaftliche Selektionsprozesse der Kanonisierung hindurchgegangen sind. Die Grenze zwischen Funktions- und Speichergedächtnis ist flüssig, denn „Aus dem vom Willen und Bewußtsein ausgeleuchteten Funktionsgedächtnis können Elemente, die an Interesse verlieren, ins Archiv zurückfallen und andere aus dem Speichergedächtnis ins aktive Funktionsgedächtnis (wieder zurück-) geholt werden“.67 Die dargestellten, von Aleida Assmann unterschiedene Gedächtnisformen bilden – wie schon erwähnt wurde – eine Erweiterung und vor allem Konkretisierung der bisher geltenden Gliederungen, die u.a. von Maurice Halbwachs und Jan Assmann entfaltet wurden. 2.2 Zum Gedächtnis der Generationen in der deutschen Bevölkerung Das Gedächtnis der Generationen ist ein Phänomen, mit dem sich die Gedächtnisforscher seit langer Zeit beschäftigten. Maurice Halbwachs und Jan Assmann haben ihm besondere Beachtung geschenkt, als sie es als ein Beispiel jeweils für das kollektive (Halbwachs) und kommunikative (Assmann) Gedächtnis dargestellt haben. Aleida Assmann betrachtet es sogar als eine eigene Form des Gedächtnisses. In jeder Theorie wird betont, dass sich die Gedächtnisse der einzelnen, nacheinander folgenden Generationen durch gewisse Merkmale, wie. z.B. Werte, Haltungen, Vergangenheitsbezüge voneinander unterscheiden. Dadurch konstituieren sie sich als „einzigartige Erfahrungs- und Erinnerungsgemeinschaften“68, die sich mit dem Tod der Generationsangehörigen auflösen. Um von einer Generation überhaupt sprechen zu können, muss ein Bezug zur vorhergenenden oder nachkommenden Generation (oder auch zu beiden) existieren. Verschiedene Nationen bestehen aus unterschiedlichen Generationen, die über andere Gedächtnisse verfügen. Für einen besonderen Fall stehen jedoch die 67 Ebd., S. 190; Siehe zu diesen Fragen vertiefend auch: Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimar: Metzler 2005; Erll, Astrid: Gedächtnisromane. Literatur über den Ersten Weltkrieg als Medium englischer und deutscher Erinnerungskulturen in den 1920er Jahren. Trier: WVT 2003. Bude, Heinz: Die Erinnerung der Generationen. – In: König, Helmut/ Kohlstruck, Michael/ Wöll Andreas (Hrsg.): Vergangenheitsbewältigung am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. Sonderheft 18/1998. Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1998, S. 69-85, hier S. 71. 68 18 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” Generationengedächtnisse, die in der deutschen Bevölkerung entstanden sind und deren Inhalte mit der Zeit des Nationalsozialismus mehr oder weniger in Verbindung stehen. Je nachdem, welche Verhältnisse zwischen den Generationenangehörigen und der Zeit des „Dritten Reich“ bestehen, wird die Vergangenheit anders erinnert und in den Gedächtnissen aufbewahrt. Es wird meistens von einer Unterteilung in „Drei Generationen“ gesprochen, wobei auch mehrere nicht ausgeschlossen sind. Als Erste Generation gelten die Träger der NS-Zeit, als Zweite ihre Kinder und als Dritte ihre Enkel. Nächste Generationen bilden die weiteren Nachkommen69. Diese Unterteilung ist oberflächlich, deswegen wird sie im Folgenden konkretisiert und die genannten Generationen werden genauer beleuchtet. Die „Erste Generation“ bilden die Deutschen, die vor 1930 geboren wurden70. Sie wird Erlebnisgeneration genannt. Sie steht nämlich in direkter Verbindung mit den Ereignissen, die im Dritten Reich sich zugetragen haben, weil ihre Angehörige NSTäter waren.71 Aus diesem Grund ist das Gedächtnis dieser Generation mit dem Tätergedächtnis gleichzusetzten und weist die für diesen Gedächtnistyp charakteristischen Merkmale auf. Auf sie wurde die Schuld-Frage72 begrenzt, denn: 69 Vgl. Kohlstruck, Michael: Zwischen Geschichte und Mythologisierung. Zum Strukturwandel der Vergangenheitsbewältigung. – In: König, Helmut/ Kohlstruck, Michael/ Wöll Andreas (Hrsg.): Vergangenheitsbewältigung am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. Sonderheft 18/1998. Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1998, S. 86-108, hier S. 90. 70 Die Jahrgänge sind nicht genau festzustellen. Man nimmt an, die Angehörigen sind diejenigen, die 1933 volljährig waren oder bis 1945 volljährig geworden sind. Zu dieser Generation soll aber auch die sogenannte Flackhelfer-Generation gehören, deren Angehörigen zwischen 1926 und 1929 geboren wurden. – Vgl. Schneider, Christian: Der Holocaust als Generationsobjekt. Generationsgeschichtliche Anmerkungen zu einer deutschen Identitätsproblematik. – In: Fröhlich, Margrit/ Lapid, Yariv/ Schneider, Christian (Hrsg.): Repräsentationen des Holocaust im Gedächtnis der Generationen. Zur Gegenwartsbedeutung des Holocaust in Israel und Deutschland. Frankfurt a.M.: Brandes & Apsel 2004, S. 234-252, hier. S. 235; Siehe dazu auch vertiefend: Kohlstruck, Michael: Zwischen Erinnerung und Geschichte: Der Nationalsozialismus und die jungen Deutschen. Berlin: Metropol 1997. 71 Vgl. Kohlstruck, Michael: Zwischen Geschichte und Mythologisierung, 1998, S. 92. Die Schuldfrage bezeichnet die Frage: „wem mit welchem Recht welche Schuld am NS und seinen Verbrechen zugeschrieben werden müßte und welche Konsequenzen dies haben sollte[? - M.S.]“. Sie beschäftigte sich mit dem Problem der historischen Schuld, die den Deutschen nach dem NS-Ende zugeschrieben wurde oder die sie sich selbst zugeschrieben haben. – Vgl. Kohlstruck, Michael: Zwischen Geschichte und Mythologisierung, 1998, S. 91; Siehe dazu ausführlich auch: Kohlstruck, Michael: Zwischen Erinnerung und Geschichte: Der Nationalsozialismus und die jungen Deutschen. Berlin: Metropol 1997. 72 19 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” „die zur Ersten Generation Gerechneten sind […] die einzigen, die individuell während der NS-Zeit schuldig geworden sein können. Nur sie können wirklich strafrechtlich, moralisch und politisch schuldig sein.“73 So wird die Schuld an NS-Verbrechen nach dem Ende des Nationalsozialismus der „Ersten Generation“ zugeschrieben. Diese Generation, obwohl sie sich schuldig fühlte, versuchte jedoch, sich eine ungebrochene Selbstdarstellung zu erschaffen. Das ist die Folge der Abwehrmechanismen, deren Ziel es ist, die Schulderfahrungen und die daraus gewonnenen Gefühle und Erinnerungen zu verdrängen bzw. auszublenden. Die genannten Mechanismen kommen zum Vorschein, wenn der Täter zugleich als ein Besiegter erscheint, was in diesem Fall zutrifft. Die Deutschen der Ersten Generation waren nämlich diejenigen, die die Verantwortung für den Völkermord und die Ruinierung des Landes trugen. Dabei haben sie den Krieg nicht nur angefangen, sondern auch verloren. Der Nationalsozialismus gehört zur Lebensgeschichte der Erlebnisgeneration, trotzdem entstehen Barrieren beim Reden über die Vergangenheit, über die Verantwortung und die Schuld. Das gilt besonders bei öffentlichen Thematisierungen und bei den von außen her erwarteten Selbstbeschuldigungen, ist aber auch im privaten Raum zu beobachten. Ein gutes Beispiel sind die aus dem Kriegsdienst und Kriegsgefangenschaft heimkehrenden Männer, die erwartet haben, dass man ihnen Respekt zollen wird. Aber niemand fragte nach deren Erlebnissen. Erst nach einer gewissen Zeit begannen sie Endlosgeschichten zu erzählen, mit denen sie ihren zur Ersten und Zweiten Generation gehörenden Familienmitgliedern ‚auf die Nerven gingen‘.74 Die „Zweite Generation“, die sogenannte Achtundsechziger-Generation75, umfasst Menschen, die im Krieg und Nachkriegszeit geboren wurden und die die Kinder der NS-Träger und –Täter, also der „Ersten Generation“ sind. Sie bildet somit die letzte Gemeinschaft, deren Erinnerungen an die NS-Zeit teils auf eigenen Erfahrungen und 73 Kohlstruck, Michael: Zwischen Erinnerung und Geschichte: Der Nationalsozialismus und die jungen Deutschen. Berlin: Metropol 1997, S. 76. 74 Vgl. Bude, Heinz: Die Erinnerung der Generationen, 1998, S. 75. 75 Der Begriff Achtundsechziger-Generation findet ihren Ursprung in der 68er-Bewegung, die verschiedene Studentenbewegungen zusammenfasst. Die Teilnehmer dieser Bewegungen haben sich später als „Zweite Generation“ selbst definiert. Siehe zu diesem Begriff ausführlich: Bude, Heinz: Die Erinnerung der Generationen. – In: König, Helmut/ Kohlstruck, Michael/ Wöll Andreas (Hrsg.): Vergangenheitsbewältigung am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. Sonderheft 18/1998. Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1998, S. 69-85; Weigel Sigrid: Die ‘Generation’ als symbolische Form. Zum genealogischen Diskurs im Gedächtnis nach 1945. – In: Figurationen. Gender, Literatur, Kultur 0 (1999), S.158-173. 20 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” teils auf den durch Medien oder von den Eltern vermittelten Ereignissen beruhen. Mit dem Nationalsozialismus verbinden nur die vor 1945 Geborenen direkte Erinnerungen, für die er ein Teil der Kindheit und Jugend ist. Diese Generation konnte keine bewusste Verbrechen begehen und somit keine an Individuen gebundene Schuld tragen 76. Trotz weniger Teilnahme am NS, „fühlten sich [jedoch viele – M.S.] genötigt, stellvertretend die ausgeschlagene Schuld und die mit ihr verknüpften Emotionen zu übernehmen. Zum Grundgefühl dieser Generation zählt eine tief sitzende Scham gegenüber den eigenen Eltern und der Wunsch, sich von diesem schuldbeladenen Ursprung abzukoppeln.“77 Das erwähnte Schuldgefühl der „Zweiten Generation“ ist mit der Tatsache verbunden, dass die Schuld an NS-Verbrechen nicht mit Fremden, sondern mit eigenen Eltern verbunden ist. Das erklärt, warum diese Generation außer der wegen seiner Herkunft zugeschriebenen kollektiven Schuldfrage, auch ihre eigene Schuld empfindet, obwohl sie im Grunde genommen nicht schuldig war.78 Zur „Dritten Generation“ gehören die Kinder der „Zweiten Generation“, also Enkel der „Ersten Generation“. Da ihre Eltern die Letzten sind, die den Nationalsozialismus persönlich erlebt haben, gilt die NS-Zeit für diese Generation nur als Geschichte. Ihre Erinnerungen an diese Zeit betreffen nur die von den Großeltern und Eltern erzählten Geschichten über den Krieg. Ihr Wissen beruht auf dem, was in der Schule eingetrichtert wurde, auf zeitgenössischen Dokumenten, auf späteren Berichten, Forschungen und anderen Medien. Diese Generation trägt individualbiographisch keine Schuld am Nationalsozialismus. Sie trägt aber die Kollektivzugehörigkeit zur deutschen Nation, deswegen ist sie von der sogenannten Schuldfrage weiterhin betroffen, die für alle Deutschen relevant ist. 79 Die „Vierte Generation“ hat meistens keinen direkten Zugang zu den Zeitzeugen und ist nur auf Medien und Erzählungen der Älteren angewiesen. Wie die „Dritte 76 Vgl. Kohlstruck, Michael: Zwischen Erinnerung und Geschichte, 1997, S. 82. 77 Schneider, Christian: Der Holocaust als Generationsobjekt. Generationsgeschichtliche Anmerkungen zu einer deutschen Identitätsproblematik. – In: Fröhlich, Margrit/ Lapid, Yariv/ Schneider, Christian (Hrsg.): Repräsentationen des Holocaust im Gedächtnis der Generationen. Zur Gegenwartsbedeutung des Holocaust in Israel und Deutschland. Frankfurt a.M.: Brandes & Apsel 2004, S. 234-252, hier S. 247. Zum Begriff der „Zweiten Generation“ siehe vertiefend auch: Schneider, Christian: Der Holocaust als Generationsobjekt. Generationsgeschichtliche Anmerkungen zu einer deutschen Identitätsproblematik. – In: Fröhlich, Margrit/ Lapid, Yariv/ Schneider, Christian (Hrsg.): Repräsentationen des Holocaust im Gedächtnis der Generationen. Zur Gegenwartsbedeutung des Holocaust in Israel und Deutschland. Frankfurt a.M.: Brandes & Apsel 2004, S. 234-252. 78 79 Vgl. Kohlstruck, Michael: Zwischen Erinnerung und Geschichte, 1997, S. 7. 21 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” Generation“ steht auch sie mit dem Nationalsozialismus in keinem individuellen Verhältnis, sie tragen jedoch die Schuld ihrer Vorfahren. Die Einteilung in „Drei bzw. Vier Generationen“, die auf Basis von Schulddiskursen entworfen wurde, gilt besonders für die Bevölkerung aus Westdeutschland. Zwar war die Schuld sowohl der BRD- als auch der DDR-Bewohner auf internationaler Ebene zugeschrieben, aber die Ostdeutschen wurden mit der Schuldfrage erst nach der Wende 1989 in öffentlichen Diskursen der DDR konfrontiert. Während die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und die Vergangenheitsbewältigung in Westdeutschland offiziell verlaufen sind, hat man sich damit in Ostdeutschland im privaten, familiären Raum beschäftigt. Aus diesem Grund wird für die DDR von Großeltern-, Eltern-, Enkel- und Urenkelgeneration gesprochen, die der für die BRD geltenden Ersten, Zweiten, Dritten und Vierten Generation entsprechen.80 2.3 Zum Familiengedächtnis im „memory talk“ Die Enkelgeneration (und die Urenkelgeneration, falls sie in der Familie vorkommt) hat an dem Zweiten Weltkrieg nicht teilgenommen. Ihr Wissen über diese Zeit gewinnt sie in der Schule, aus Büchern, Dokumenten und anderen Medien. Das Geschichtsbewusstsein der jüngeren Generation ist aber nicht nur auf Basis von den in Büchern stehenden Zahlen aufgebaut worden, die zum Beispiel die Jahre oder die Anzahl der Getöteten bezeichnen ausweisen. Als Wissensquelle gelten vor allem die Geschichten, die von den Familienmitgliedern erzählt werden, die die Kriegszeit erlebt haben, also von der Großeltern- und, falls die Eltern auch zu dieser Gruppe gehören, der Elterngeneration. Die trockenen Informationen über den Krieg wurden durch gefühlvolle Erzählungen der Älteren ergänzt. Ein Vergangenheitsbild setzt sich aber nicht nur aus Gesprächen zwischen Generationen zusammen, wichtig sind dabei auch z.B. Briefe, Fotos und persönliche Dokumente aus der Familiengeschichte, die als eine Art Album des Dritten Reiches gelten können81. Da die Vergangenheit in familiären Erzählungen durch emotionale Färbung gekennzeichnet ist, unterscheidet sie sich auch an dieser Stelle von den Vergangenheitsbildern und -vorstellungen, die in der Schule 80 Vgl. ebd., S. 10. 81 Vgl. Welzer, Harald/ Moller, Sabine/ Tschuggnall, Karoline: »Opa war kein Nazi«. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch 2003, S.10. 22 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” oder in den Medien vermittelt wurden und ein Teil des kulturellen Gedächtnisses bilden.82 Die Unterschiede sind zur Grundlage der Studie „Tradierung von Geschichtsbewusstsein“ geworden, die untersucht hat, wie die nationalsozialistische Vergangenheit im Bewußtsein und im Unbewußten der Deutschen fortwirkt“83. Dieses Projekt, in dem 40 Familien interviewt wurden, ist „der Frage nachgegangen, was »ganz normale« Deutsche aus der NS-Vergangenheit erinnern, wie sie darüber sprechen und was davon an die Kinder- und Enkelgenerationen weitergegeben wird.“84 Die Ergebnisse dieser Studie und die daraus gezogenen Schlussfolgerungen wurden von Harald Walzer vor allem im Buch „»Opa war kein Nazi«. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis“ beschrieben.85 Die Geschichten, die im Rahmen der Studie von den Familienmitgliedern erzählt bzw. zusammengefertigt wurden, werden nicht nur zu Themen der familiären Gespräche, die natürlich eine Kommunikation verlangen. Sie werden in Gedächtnissen der einzelnen Generationen aufbewahrt und an die nächsten übertragen. Man spricht hier vom entstehenden Familiengedächtnis, das sich vor allem auf Gesprächen konstituiert.86 Diese finden normalerweise nicht nur zu besonderen Anlässen, wie z.B. Feierabende statt, sondern auch in alltäglichen Situationen wie z.B. beim Fernsehen oder beim gemeinsamen Abendessen. Es wurde dabei keine Komplexität der Geschichten verlangt, wie Welzer betont: 82 Vgl. ebd., S.11. 83 Welzer, Harald: Das gemeinsame Verfertigen von Vergangenheit im Gespräch. In: Welzer, Harald (Hg.): Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung. Hamburg: Hamburger Edition 2001, S. 160-178, hier S. 160. 84 Ebd. 85 Siehe: Welzer, Harald/ Moller, Sabine/ Tschuggnall, Karoline: »Opa war kein Nazi«. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch 2003. Siehe zu diesem Thema vertiefend auch: Welzer, Harald: Das gemeinsame Verfertigen von Vergangenheit im Gespräch. In: Welzer, Harald (Hg.): Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung. Hamburg: Hamburger Edition 2001, S. 160-178. 86 Welzer geht den Theorien von Maurice Halbwachs und Jan Assmann nach, die das Familiengedächtnis als ein Typ des kollektives bzw. kommunikativen Gedächtnisses betrachten, und definiert den Begriff folgendermaßen: „»Familiengedächtnis« [stellt-M.S.] kein umgrenztes und rufbares Inventar von Geschichten [dar - M.S.], sondern [besteht - M.S.] in der kommunikativen Vergegenwärtigung von Episoden […], die in Beziehung zu den Familienmitgliedern stehen und über die sie gemeinsam sprechen“ - Welzer, Harald/ Moller, Sabine/ Tschuggnall, Karoline: »Opa war kein Nazi«. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch 2003, S. 18f. 23 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” „Das Familiengedächtnis basiert nicht auf der Einheitlichkeit des Inventars seiner Geschichten, sondern auf der Einheitlichkeit und Wiederholung der Praxis des Erinnerns sowie auf der Fiktion einer kanonisierten Familiengeschichte.“ 87 So wie bei kommunikativem Gedächtnis werden auch hier nur gewisse Stücke aus der ganzen Menge von Erinnerungen herausgenommen, um in bestimmter Situation erzählt zu werden. Da der Gegenstand des Erzählens nicht das Ganze, sondern einzelne Ereignisse aus der Geschichte sind, wird Spannung aufgebaut und natürlich das Interesse an weiteren Vergangenheitsdarstellungen geweckt. Es kommt also wieder zu familiären Gesprächen, in denen bestimmte Geschehnisse noch einmal thematisiert werden. Die Geschichten werden immer wieder erzählt und manchmal um einige Begebenheiten ergänzt oder mit zusätzlichen Gefühlen gefärbt. Hier ist auch ein wichtiges Phänomen hervorzuheben. Es kommt immer häufiger dazu, dass nicht die Angehörigen der Erlebnisgeneration das Erzählen von der Vergangenheit selbst beginnen, sondern dass es von den Nachwuchsgenerationen angesprochen und/oder verlangt wird. Die Kinder oder Enkel versuchen von ihren Großeltern und/oder von den Eltern etwas mehr von der Geschichte zu erfahren, als es in den meist ‚langweiligen‘ Büchern zu finden ist. Das Erzählen von den älteren Generationen ist durch Gefühle gekennzeichnet und auch deswegen für den Nachwuchs und andere Familienmitglieder interessanter. Das betrifft aber nicht nur die einmalig erzählten Geschichten, sondern vor allem die, die im familiären Kreis bekannt sind. Viele von solchen Geschichten haben sogar einen eigenen Namen, wie z.B. „die Sache mit dem Kind“ 88, was darauf hinweist, dass sie mehrmals in Gesprächen vorgekommen sind. Das Auftreten von schon früher behandelnden Themen bleibt nicht sinnlos, sondern dient einem bestimmten Zweck. Damit die Vergangenheitsabbilder im Familiengedächtnis existieren können, müssen sie - so wie es auch beim individuellen und kommunikativen Gedächtnis der Fall ist – immer wieder hervorgerufen, in Worte gefasst und nacherzählt werden. Walzer bezieht sich in diesem Rahmen auf eine Position von Angela Keppler, die betont, dass es: „wichtig ist, dass Geschichten in der Familie gerade deswegen erzählt werden, weil jeder sie schon kennt: denn der »Bezug auf vergangene Ereignisse (ist) nicht allein ein Akt ihrer gemeinsamen Vergegenwärtigung als etwas Vergangenes, sondern ein 87 Welzer, Harald: Das gemeinsame Verfertigen von Vergangenheit im Gespräch. In: Welzer, Harald (Hg.): Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung. Hamburg: Hamburger Edition 2001, S. 160-178, hier S. 164. 88 Siehe dazu: Welzer, Harald/ Moller, Sabine/ Tschuggnall, Karoline: »Opa war kein Nazi«, 2003, S.38. 24 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” Vorgang der Bestätigung einer Einstellung zu wichtigen Angelegenheiten des Lebens, die sich in der Familie über die Zeiten hinweg durchgehalten hat. Die rituelle Wiederholung […] benennt eine Kontinuität des Selbstverständnisses, die sie im selben Akt bezeugt.«89 Das Familiengedächtnis bildet also eine Art Bindung zwischen Familienmitgliedern. Es ist für das Gemeinsame verantwortlich, das als Grundlage für eine Familie gilt. Dies ist nämlich eine gemeinsame einheitliche Geschichte, die sich den jüngeren Generationen einprägt, weiteren nacherzählt wird und dadurch einer Familie eine Identität gibt. Bei diesen Feststellungen ist noch ein wichtiger Punkt zu beachten. Viel von dem Erzählten wurde subjektiv dargestellt. Dies bedeutet, dass die Vergangenheit abgemildert oder ganz verändert wurde. Die Geschichten werden nach bestimmten wiederkehrenden Mustern erzählt, die als „Tradierungstypen“ bezeichnet werden. Man unterscheidet fünf Tradierungstypen: Opferschaft, Rechtfertigung, Distanzierung, Faszination und Überwältigung. Jeder von ihnen enthält eine Moral, einen sogenannten „werthaltigen Endpunkt“, der die Geschichte sinnhaft macht90. Eine dominante Rolle bei den Erzählungen spielt die Darstellung des Erzählers oder/und der nächsten Familienmitglieder als Opfer, obwohl sie in Wirklichkeit sehr oft zu den NS-Verbrechern gezählt wurden. Meistens stellen sie sich dar als Vergewaltigungs- und Gewaltopfer von russischen Besatzungssoldaten, als Flüchtlinge, als Opfer des Krieges an der Heimatfront oder als Leidende wegen den sozialen Umständen oder der Kriegsgefangenschaft.91 Dies hat zum Ziel, Mitleid und Empathie bei den Zuhörern zu erwecken und somit den erzählenden Personen zu ermöglichen, über jeden Verdacht erhaben zu sein. Es gibt auch Fälle, in denen die Teile von Familien als „Nationalsozialisten“ oder „Nazis“ bezeichnet wurden. Wenn aber solche Bezeichnungen und Schuldvorwürfe die wichtigen Personen betroffen haben, tritt der Tradierungstyp „Rechtfertigung“ in den Vordergrund. Die Zeitzeugen bedienen sich dann bereits entwickelter Rechtfertigungsstrategien, bei denen bestimmte Sequenzen wiederholt werden, wie z.B. „Wir haben von den Lagern nichts gewusst“ oder „man war gezwungen, in die NDSAP einzutreten“ oder „für die Gestapo zu 89 Keppler, Angela: Tischgespräche. Über Formen Kommunikativer Vergemeinschaftung am Beispiel der Konversation in Familien. Frankfurt a.M. 1994, zitiert nach Welzer, Harald/ Moller, Sabine/ Tschuggnall, Karoline: »Opa war kein Nazi«. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch 2003, S. 19f. 90 Vgl. Welzer, Harald/ Moller, Sabine/ Tschuggnall, Karoline: »Opa war kein Nazi«, 2003, S. 81. 91 Vgl. ebd., S.86. 25 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” arbeiten“. Einige sagten auch, die haben mitgemacht, weil es alle taten. Häufig wurde auch die ökonomische Lage als Grund angegeben, dass man nicht anders handeln konnte.92 Die Vorwürfe, dass die Angehörigen der Großelterngeneration „Nationalsozialisten“ waren, haben die Verdächtigen und die nachfolgenden Generationen, falls ihnen die Geschichten schon bekannt waren, nicht nur gerechtfertigt, sondern auch zu Distanzierungen geführt, die aufgrund der in den Raum gestellten Vorwürfe und allgemeinen Bezichtigungen entstanden sind. Dieses Muster hat „sein stärkstes stilistisches Element in der Ironie, die von den Zeitzeugen offensiv eingesetzt wird, um deutlich zu machen, dass sie sich schon zeitgenössisch in kritischer Distanz zum Nationalsozialismus befunden haben.“93 Als Beispiele sind hier u.a. die Erzählungen von zwei Frauen zu erwähnen. Die Eine berichtete, dass ihr Mann zwar SA-Mitglied war, hätte aber „nichts von den Nazis gehalten“. Die Zweite dagegen betonte, dass ihr Onkel „kein Nazi“ war, obwohl der zur NSDAP gehörte und für die Gestapo arbeitete.94 In familiären Gesprächen sind ähnliche Unterscheidungen zwischen den „Deutschen“, die für die Erzählenden wichtige Personen waren, und den „Nazis“ zu treffen. Die „Deutschen“ werden als „Verführte, Missbrauchte, ihrer Jugend beraubte Gruppe“ betrachtet, die „Nazis“ hingegen stehen immer für „die Anderen“, für die Täter.95 Die Großeltern bzw. Eltern werden immer als diejenigen angesehen, die trotz der Mitgliedschaft an NS-Organisationen nichts mit dem Nationalsozialismus zu tun haben wollten. Für diesen Tradierungstyp ist auch eine lächerliche und unglaubwürdige Darstellung der politischen Eliten aller Länder und Epochen charakteristisch, wobei auf solche Art und Weise auch der Nationalsozialismus betrachtet wurde.96 Im Rahmen des Musters „Faszination“ wird die Zeit des Nationalsozialismus in einem vorteilhaften Licht dargestellt. Die Vergangenheit, die vor allem die Kindheit und die Jugend geprägt hat, wird als „schöne Zeit“ bezeichnet und mit den gegenwärtigen Jugendzeiten der jüngeren Generationen verglichen, wobei hervorgehoben wird, dass die Gegenwart im Vergleich zur „schönen Zeiten“ schlechter ausfällt, die bessere 92 Vgl. ebd., S. 155. 93 Ebd. S. 83. 94 Vgl. ebd., S. 153. 95 Ebd., S. 79. 96 Vgl. ebd., S. 83. 26 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” „»Leistungen« für das Gemeinschaftserleben der Jugendlichen [und – M.S.] für die Beseitigung der Arbeitslosigkeit vorzuweisen“ haben.97 Der fünfte Tradierungstyp „Überwältigung“ findet in Erzählungen selten statt. Die in Worte gefassten Erinnerungen betreffen Ereignisse und Erlebnisse, die die Zeitzeugen nachhaltig beeindruckt haben. Sie werden mit einer so großen Kraft zur Identifikation und Perspektivübernahme dargestellt, dass die Zuhörer „bemüht sind, den Erzählern deutlich zu machen, dass sie die Reise in die retrospektiven Vergegenwärtigungen des historischen Geschehens nach Kräften mitzumachen versuchen.“ 98 Die Erzählungen im Rahmen dieses Musters besitzen eine situative Überzeugungskraft und handeln sehr oft von Themen, die eher für das männliche Publikum interessant sind. Zu den behandelten Themen zählen Kriegs- und Kampfsituationen, die in allen Einzelheiten erzählt werden. Da von solchen Geschichten die Angehörigen der jüngeren Generationen meistens überwältigt werden, spielen sie in familiären Gesprächen keine zentrale Rolle.99 Infolge der Dialoge zwischen den Generationen erscheint die Großelterngeneration meistens als Opfer und die Leidenden schlechthin. In den nach den bestimmten Mustern erzählten Geschichten versucht die Erlebnisgenerationen sich „in einem Licht erscheinen zu lassen, dass sie auch nach Maßgabe heutiger Bewertungen und normativer Einschätzungen als jederzeit moralisch integre Persönlichkeiten zeigt.“100 Sie machen sich deswegen meistens zu Opfer des Nationalsozialismus und vor allem zu Opfer von russischen Besatzungssoldaten. Sie stellen sich häufig auch als „Helden des alltäglichen Widerstands“ dar, indem sie mit den Juden Geschäfte gemacht und/oder ihnen geholfen oder zumindest versucht haben, ihnen zu helfen. In Wirklichkeit haben sie von kleinen Taten und alltäglichen, unauffälligen und unspektakulären Widerständen gesprochen, aber infolge der Darstellungsweise ihrer Einzelgeschichten stilisierten sie sich zu Helden und ihre Klein-Taten wurden zu großen Heldentaten.101 So haben die mehrmals wiederholten Geschichten dazu getragen, dass in den Gedächtnissen der jungen Generationen Vorstellungen von „guten Großeltern bzw. Eltern“ einerseits und von „Nazis“ andererseits entstehen und überstehen. Dazu 97 Vgl. ebd. 98 Ebd., S. 84. 99 Vgl. ebd., S. 84f. 100 Ebd., S. 52. 101 Vgl. ebd., S. 54. 27 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” kommen auch Bilder von „bösen Russen“, mit denen Bedrohung, Schrecken, Vergewaltigung, Plünderung und Mord verbunden sind.102 Hervorzuheben ist an dieser Stelle die Tatsache, dass die entwickelte Vorstellung von den Familienmitgliedern, die der Großelterngeneration gehören, und die Familienzusammenhänge so stark in den Gedächtnissen der jüngeren Generationen verankert ist, dass sie sogar dann unveränderlich bleibt, wenn die „guten“ Großeltern, Eltern oder andere nächste Personen aus der Erlebnisgeneration sich als „reine Nazis“ oder „eifrige Nationalsozialisten“ erweisen. Welzer veranschaulicht das am Beispiel einer Familie, in der der Urgroß- bzw. Großvater als Held vorkam, da er einer Jüdin geholfen hatte. Dieses Bild wurde erst nach seinem Selbstmord in Frage gestellt, weil er eine selbst verfasste Chronik hinterließ. In ihr „entpuppt er sich zur Überraschung der Familie als immer noch überzeugter Nationalsozialist, der offenbar auch an Verbrechen beteiligt war.“ Das war eine große Diskrepanz für die Enkel und Urenkel – die Tochter, die davon wusste, war überhaupt nicht erschüttert. Die in der Chronik offenbarte Persönlichkeit stimmte nicht mit den Bildern, das die Enkelin und Urenkelin von dem Groß- bzw. Urgroßvater hatten, überein. Trotzdem entsteht bei der Enkelin nur eine Vermutung von der eventuellen Angehörigkeit des Großvaters zu Tätern. Die Vorstellungen der Urenkelin blieben jedoch unverändert.103 Zu ähnlichen Situationen ist es in vielen Familien gekommen, von deren Angehörigen immer noch zu hören ist: „Ich bin mir sicher, dass meine Großeltern keine Nazis waren“. Die familiären Gespräche zwischen Generationen werden nicht nur erforscht. Sie werden auch in literarischen Texten thematisiert, was im weiteren Teil der Arbeit an einem Beispiel dargestellt wird. 102 Vgl. ebd., S. 141. 103 Vgl. ebd., S. 70ff. 28 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” 3 Erinnerung und Gedächtnis in der Literatur - Zur Rhetorik der Erinnerung nach Astrid Erll Erinnerung und Gedächtnis spielen in der Literatur eine bedeutende Rolle, sowohl in dem thematischen als auch strukturellen Bereich. Sie werden mit verschiedenen literarischen Mitteln inszeniert, was schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts untersucht worden war.104 Hat man in einem literarischen Text mit einem Ich-Erzähler105 zu tun, so unterscheidet man zwischen erlebendem und erzählendem Ich. Da die zwei IchErzählerformen in der literaturwissenschaftlichen Erzähltheorie als „Formen der Inszenierung von Beobachtererinnerungen und Felderinnerungen verstanden werden“106, lässt sich feststellen, dass die Beschäftigung mit den Ich-Erzählformen zugleich eine Beschäftigung mit der literarischen Inszenierung von Erinnerung ist.107 Die Literatur kann als ein Medium sowohl des individuellen als auch des kollektiven und kulturellen Gedächtnisses betrachtet werden. Die „erzählerischen Mittel, mit denen die Illusion einer authentischen Erinnerung erzeugt wird“108, werden unter dem Begriff „Rhetorik der Erinnerung“ zusammengefügt. Wird der Bezug auf Romane genommen und darauf, dass die individuellen Erinnerungen Teile des kollektiven Gedächtnisses sind, so definiert Erll diesen Begriff folgendermaßen: 104 Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimar: Metzler 2005, S. 71. 105 Nach Franz Stanzel ist der Ich-Erzähler ein Erzähler, der in der Ich-Form von den Ereignissen erzählt, die er selbst erlebt hat oder von denen er gehört hat. Siehe dazu: v. Graevenitz, Gerhart: Erzähler. – In: Ludwig, Hans-Werner (Hrsg.): Arbeitsbuch Romananalyse. Tübingen: Narr 1998, S. 78-106; Strasen, Sven: Zur Analyse der Erzählsituation und der Fokalisierung. – In: Wenzel, Peter (Hg.): Einführung in die Erzählanalyse. Kategorien, Modelle, Probleme. Trier: WVT 2004, S. 111-140. Gérard Genette unterscheidet noch zwischen Ich-Erzähler, der an dem erzählten Ereignis beteiligt ist oder nur als Beobachter auftritt. Siehe dazu: Genette, Gérard: Die Erzählung. München: Wilhelm Fink 1998. 106 Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, 2005, S. 72. Als Felderinnerungen werden solche Erinnerungen bezeichnet, in denen die erinnernde Person die vergangenen Ereignisse mit eigenen Augen gesehen hat, so dass sie sich selbst nicht als Teil des gesehenen Bildes betrachtet. Bei Beobachtererinnerungen werden die Geschehnisse von einem distanzierten Beobachter gesehen, der selbst zum Erinnerungsbild gehört. In Untersuchungen zu diesem Thema wurde festgestellt, dass die Felderinnerungen öfter auftauchen, wenn die erinnernde Person sich auf Gefühlen konzentrieren. Richtet man sich mehr auf die objektiven Umstände, so kommen meistens Beobachtererinnerungen zum Vorschein. Je nach Grad der Gefühlbeteiligung kann es zum Wechsel zwischen beiden Erinnerungstypen kommen. – Vgl. Schacter, Daniel L.: Wie sind die Erinnerungen. Gedächtnis und Persönlichkeit. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2001, S. 45ff. 107 Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, 2005, S. 71f. 108 Vgl. ebd., S. 72. 29 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” „Die Gesamtheit der literarischen Verfahren, durch die der Gedächtnisroman auf verschiedenen textinternen Ebenen als Medium und Modell des kollektiven Gedächtnisses inszeniert wird, ist die ‘Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses’.“109 Die narrativen Techniken machen also einen literarischen Text zu einem Medium des Gedächtnisses. Aus der Rhetorik der Texte leitet sich gewissermaßen ab: „dass und wie die literarische Werke von der Leseschaft als Medien funktionalisiert werden […]. Die (bewusste und unbewusste) Aktualisierung eines literarischen Textes als Gedächtnismedium kann durch eine Strategie provoziert werden, die im Folgenden ›Rhetorik des kollektives Gedächtnisses‹ genannt werden soll.“110 Nach Astrid Erll gibt es fünf Modi der Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses, dessen Erzeugung durch verschiedene literarische Ausdrucksformen, wie z.B. Fokalisierung, Figurendarstellung und Zeitdarstellung erfolgt. Die genannten Modi sind: erfahrungshaftiger, monumentaler, historisierender, antagonistischer und reflexiver Modus. Im weiteren Teil der vorliegenden Arbeit werden diese genauer dargestellt. 3.1 Erfahrungshaftiger und monumentaler Modus Die Literatur ist ein Medium des kollektiven Gedächtnisses. Im Hinblick auf Jan Assmanns Gedächtnistheorie stellt man fest, dass literarische Texte Medien des kommunikativen und kulturellen Gedächtnisses sind. Die Affinität zu beiden Registern kollektiven Erinnerns resultiert daraus, dass die Literatur erfahrungshaftig und/oder monumental ist. In der Literatur hat man dann mit der Erfahrungshaftigkeit zu tun, wenn typische Inhalte von kommunikativen Alltags- und Gruppengedächtnissen, also lebensweltliche Details und spezifische Erfahrungen, inszeniert werden.111 Der monumentale Modus zeichnet sich hingegen durch solche Darstellungsweisen aus, die durch Medien und Praktiken des kulturellen Gedächtnisses, z.B. Rituale, Mythos oder die Vergangenheit, präsentieren. Es dominieren die Verfahren, die „den literarischen 109 Erll, Astrid: Gedächtnisromane. Literatur über den Ersten Weltkrieg als Medium englischer und deutscher Erinnerungskulturen in den 1920er Jahren. Trier: WVT 2003, S. 146. 110 Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, 2005, S. 168. 111 Vgl. ebd., S. 169. 30 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” Text als traditionshaltiges, geformtes und Sinn stiftendes Medium erscheinen lassen“.112 Die beiden Modi lassen sich durch verschiedene Darstellungsverfahren unterscheiden. Der erfahrungshaftige Modus steht dem kommunikativen Gedächtnis nahe. Werden die dargestellten Ereignisse und Personen in der außentextuellen Erinnerungskultur im Rahmen des kommunikativen Gedächtnisses mitgeteilt, so weist das auf die Erfahrungshaftigkeit des Textes hin. Diesen Modus zeichnen sprachliche Besonderheiten, wie z.B. gruppenspezifische und alltagsspezifische Ausdrücke aus. Die Intermedialität ist hier auch von großer Bedeutung, wobei es um die für das kommunikative Gedächtnis wichtigen Medien geht wie Fotos oder Tonbandaufnahmen.113 Die erzählerische Vermittlung ist auch nicht ohne Belang. Astrid Erll hebt hervor: „Durch Ich-Erzählungen bringt der literarische Text die typische Kommunikationssituation des kommunikatives Gedächtnisses zur Anschauung, bei der individuelle Erlebnisse und subjektive Wertungen durch Erzählen dem kollektiven Erfahrungsschatz hinzugefügt werden.“114 Ein homodiegetischer Erzähler, der oft in der Ich-Form erzählt, steht in enger Verbindung zum erfahrungshaftigen Modus, denn er ist ein Teil der erzählten Geschichten. Er ist entweder am Geschehen beteiligt oder ein Zeuge des Erzählten. Sein narratives Wissen beruht auf der Lebenserfahrung der Figur, die ihn verkörpert.115 Von der Erfahrungshaftigkeit des literarischen Textes zeugt auch die Art und Weise der Innenweltdarstellung. Durch die interne Fokalisierung werden Elemente dargestellt, die über Narrativisierung und Verbalisierung zu typischen Gegenständen kommunikativer Gedächtnisse werden. Man kann nämlich in das Innere der Figur blicken und somit ihre Erfahrungsspezifität und sinnliche Eindrücke und Emotionen sehen. Man weiß dadurch auch, wie die Person die Ereignisse, an denen sie beteiligt ist, wahrnimmt. Die interne Fokalisierung lässt auch traumatische Erlebnisse und fragmentierte Wahrnehmungen inszenieren, die in der kulturellen Praxis schwierig zu vermitteln sind. Dies erfolgt 112 Ebd., S. 175. 113 Vgl. ebd., S. 170f. 114 Ebd., S. 172. 115 Vgl. ebd. 31 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” durch narrative Verfahren wie z.B. die erlebte Rede, den Gedankenbericht oder den inneren Monolog.116 Entscheidend für den monumentalen Modus ist im großen Maße die Situation, in der die dargestellten Personen, Ereignisse und Dinge im Rahmen des kulturellen Gedächtnisses erinnert werden. Der Modus wird auch durch die paratextuelle Gestaltung dominant, d.h. wenn im Text Mottos wie beispielsweise Bibelsprüche auftauchen. Der Etablierung des Modus dient ebenfalls die Intertextualität, die bedeutet, dass im literarischen Werk der Hinblick auf kanonische oder klassische Texte genommen wird. Dies erfolgt durch Übernahme, beispielsweise aus der Bibel, von Zitaten, Symbolik, typischen Figuren, sprachlichen Besonderheiten, Plotstrukturen und Gattungsmustern (Tragödie, Epos). Mit der Inszenierung der „Sprache des Monuments“ durch formelhafte und archaisierende Wendungen und mit der Hinsicht auf Medien des kulturellen Gedächtnisses, wie Denkmäler und Archiven, ist auch der monumentale Modus verbunden.117 Dazu kommt auch die erzählerische Vermittlung, besonders die auktorialen Erzählinstanzen, die keine Figuren der Geschichte sind und einen Überblick sowohl über die handelnden Personen und ihre Motive als auch über Zeit und Raum haben. „Sie erscheinen genauso wenig involviert in die alltäglichen Geschäfte der dargestellten Lebenswelt wie die Träger des kulturellen Gedächtnisses.“118 Das ist der Grund, warum sie auf den monumentalen Modus hinweisen. Die beiden Modi der Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses schließen einander nicht aus, sondern werden als Formen des literarischen Vergangenheitsbezugs verstanden, die stets ineinander greifen. Mit Hilfe von narrativen Mitteln kann nämlich jedes lebensweltliche Detail als wichtiger Teil des kulturellen Gedächtnisses betrachtet werden und jede mythische Begebenheit lebensweltliche Bedeutungen aufweisen.119 Wie wichtig die Verbindungen zwischen erfahrungshaftigem und monumentalem Modus sind, betont Erll mit folgender Feststellung: „Das Oszillieren zwischen beiden Modi dient im literarischen Text […] der Überführung alltagsweltlicher Erinnerung in kulturelles Gedächtnis 116 Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, 2005, S. 173. 117 Vgl. ebd. S. 170f. Vgl. dazu auch: Erll, Astrid: Gedächtnisromane, 2003, S. 153. 118 Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, 2005, S. 172. 119 Vgl. ebd., S. 174. 32 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” ebenso wie der Anreicherung von Inhalten des kulturellen Gedächtnisses durch Erfahrungshaftigkeit.“120 3.2 Antagonistischer Modus Literarische Texte dienen nicht nur zur Inszenierung der erfahrungshaftigen und monumentalen Modi, sondern werden auch zu Medien der Aushandlung von Erinnerungskonkurrenzen. Dies kommt zu Stande, wenn es zur Inszenierung von anderen Selbstbildern und Werthierarchien, als die der dominierenden Erinnerungskultur, und somit zum Entwerfen der Gegen-Erinnerungen kommt.121 „Der antagonistische Modus basiert auf literarischen Strategien, die dominant darauf abzielen, bestehende Gedächtnisnarrative affirmativ zu verstärken oder subversiv zu dekonstruieren und durch andere zu ersetzen.“122 Im literarischen Werk, in dem der antagonistische Modus dominant ist, werden solche Gedächtnisse und ihre Identitätskonzepte, Werte, Normen und Gedächtnisbilder inszeniert, die in einer sozialen Gruppe unterrepräsentiert oder ausgeschlossen sind. Dieser Modus ist daher durch Steigerung der inhärenten Selektivität, Strukturgebundenheit und Perspektivität des Gedächtnismediums gekennzeichnet.123 Die Analyse der literarischen Konstitution antagonistischer Modi ist eng mit der Analyse der narrativen Konstruktion bzw. Inszenierung von Identität und Alterität verknüpft. Literarische Werke sind nämlich wichtige Instanzen, mit deren Hilfe die Identifizierungen und die von ihnen abhängigen Identitäten der Personen, die ein Kollektiv bilden, vorgenommen werden. Astrid Erll hebt im Hinblick auf Monika Fludernik hervor, dass: „im literarischen Text […] nicht nur Erinnerungskonkurrenzen auf nationaler Ebene antagonistisch verhandelt [werden – M.S.], sondern es werden auch die Vergangenheitsversionen verschiedener innergesellschaftlicher Gruppen einander gegenübergestellt: Aus der Vielfalt der Gedächtnisse von sozialen Klassen, Geschlechtern, Generationen oder religiösen Gemeinschaften ergeben sich die ›Fronten‹ antagonistischer Texte.“124 120 Ebd., S. 175. 121 Vgl. ebd., S. 178. 122 Erll, Astrid: Gedächtnisromane, 2003, S. 154. 123 Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, 2005, S. 178. 124 Ebd., S. 179. 33 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” Ein Anzeichen dafür, dass es im narrativen Werk um den antagonistischen Modus geht, ist die Selektionsstruktur des Textes. Sie erteilt die Auskunft darüber, welche sozialen Gruppen erwähnt, welche konkurrierenden Gedächtnisse literarisch gegenüber gestellt und welche Erinnerungen vergessen oder durch das Ausgewählte repräsentiert werden.125 Auch die narrative Konfiguration der ausgewählten Elemente bleibt bedeutungsvoll, besonders, wenn im Text häufige Kontrast- und Korrespondenzrelationen auftreten. Mit Hilfe der Figurenkonstellation kann verdeutlicht werden, „welchen Gruppen relevante und ›richtige‹ Erinnerungen zugesprochen werden und welchen nicht“126, was auf die antagonistische Gegenüberstellung der sozialen Gruppen und ihrer Erinnerungen hinweist. Zu den wichtigsten narrativen Verfahren, die ein antagonistisches Aushandeln verschiedener Gedächtnisversionen möglich machen, gehört die meistens relativ geschlossene Perspektivenstruktur Korrespondenzrelationen von literarischer Figuren- und Texte. Die Kontrast- Erzählerperspektiven können und die Identitätskonzepte inszenieren, hierarchisieren und gewichten.127 Betrachtet man dabei die Ebene der erzählerischen Vermittlung, so sind Wir-Erzählungen für den antagonistischen Modus besonders geeignet, in denen die „Stimme einer Gemeinschaft“ (communal voice) inszeniert wird oder eine Abfolge mehrerer Ich-Erzähler zu treffen ist. Communal voice wird als zentrales Mittel des Selbstautorisierung betrachtet und „im Rahmen einer Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses stellt sie zugleich […] eine literarische Strategie der Monopolisierung und Monophonisierung von Erinnerung dar. Sie ist ein hervorragendes Mittel der Artikulation von (Gegen-)Erinnerungen in von Konkurrenzen beherrschten Erinnerungskulturen.“128 Mit der „Stimme der Gemeinschaft“ finden also die konkurrierenden Gedächtnisse ihren Ausdruck. Bei der Aushandlung von Erinnerungskonkurrenz ist die Verwendung von impliziten Verfahren von großer Bedeutung. Die Techniken sind beispielsweise das Umschreiben 125 Vgl. Erll, Astrid: Gedächtnisromane, 2003, S. 155f. 126 Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, 2005, S. 180. 127 Vgl. ebd., S. 180. 128 Ebd., S. 181. 34 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” der bestehenden Vergangenheitsversionen und das Auslassen von Inhalten des kollektiven Gedächtnisses. Da sie schwer zu erkennen sind, sind bei der Analyse der Modi der Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses die Verknüpfungen von kulturhistorischem Wissen und narratologischen Kategorien notwendig.129 Die zentrale Funktion von literarischen Texten, in denen der antagonistische Modus vorherrschend ist, ist ihr Eingreifen in das gesellschaftliche Ringen um die Erinnerungshoheit, was der Stiftung oder Zerstörungen von Traditionen, Legitimierung bzw. Delegitimierung gesellschaftlicher Handlungen, Vermittlung und Dekonstruktion der Konzepte von Identität des Kollektivs und der Etablierung, Bestätigung und Desavouierung der Werthierarchien dient.130 Die Modi der Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses stehen miteinander oft in Verbindung. Die Kombination des antagonistischen und monumentalen Modus ergibt eine monumentalisierende (De-)Legitimierung, indem die anderen Gedächtnisnarrative durch das Leistungsvermögen des kulturellen Gedächtnisses legitimiert oder delegitimiert werden. Wird dagegen der antagonistische Modus mit einem erfahrungshaftigen Modus verknüpft, so hat man es mit einer erfahrungsgestützten Ermächtigung zu tun.131 Die Verbindungen, in denen verschiedene Modi stehen, bilden die Basis der Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses in literarischen Vergangenheitsnarrationen. Die monumentalisierten Vergangenheitsdarstellungen verlangen den erfahrungshaftigen Modus, um akzeptiert zu werden. Die in einem Werk inszenierten Antagonismen werden erst dann zuverlässig und wirksam, wenn der Text als Medium der Vermittlung von Vergangenheit wahrgenommen wird. Von daher hat der antagonistische Modus seine Grundlagen vor allem im erfahrungshaftigen und monumentalen Modus.132 129 Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, 2005, S. 181f. 130 Vgl. Erll, Astrid: Gedächtnisromane, 2003, S. 157. 131 Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, 2005, S. 182f. 132 Vgl. ebd., S. 189. 35 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” 4 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper“ 4.1 Zum Inhalt Die Handlung des Romans spielt im heutigen Berlin. Die zentrale Figur ist Eva Maria alias „Freia“ Sandmann, die etwa Mitte Dreißig ist. Der Roman ist aus ihrer Perspektive geschrieben, somit stellt sie die Ich-Erzählerin dar. Sie ist Meteorologin von Beruf auf dem Gebiet Wolkenforschung und arbeitet an der Erstellung eines Wolkenatlanten, zu der ihr nur das Bild von einer Wolke Cirrus Perlucidus fehlt. Aus diesem Grund sucht sie so oft wie nur möglich den Himmel ab, um die schwer zu findende Wolke zu entdecken. Zu Beginn des Romans befindet sich die Protagonistin, die ein Kind von dem vor Kurzem in ihr Leben getretenen Freund Christian erwartet, auf der Reise auf eine Konferenz und schaut sich Familienfotos an. Die Reise und das Durchschauen von Fotos, bei denen das Foto der Mutter zu fehlen scheint, sind ein Anzeichen dafür, dass der Leser mit einer Reise in die Familiengeschichte voller Geheimnissen konfrontiert wird. Die Reise wird von Freia unternommen, um ihre eigene Identität zu finden. Die Ich-Erzählerin erzählt in mehreren Rückblicken über die Geschichte ihrer Familie. Sie spricht über ihre Kindheit und Jugend, die sie mit ihrem Zwillingsbruder Paul und den Eltern Peter und Renate am Stadtrand von Westberlin (Berlin-Zehlendorf) verbracht hat. Einige der angesprochenen Themen aus dieser Lebenszeit sind: die Ausflüge von Freia und Paul in den Wald hinter dem Elternhaus, das Treffen des Vaters mit den „Waldgeistern“ und die geheim gehaltene Liebe zu Wieland, die sich später als unglücklich erwies, weil der Junge sich in Paul verliebte und mit ihm eine Beziehung einging. Das zentrale und zugleich tabuisierte Thema, das sich nicht nur durch die Kindheit und Jugend der Hauptfigur durchzieht, sondern Freia bis in die „Gegenwart“ folgt, betrifft die Vergangenheit der Mutter und der Großeltern Johanna und Maximilian, die Jo und zuerst Max und später Mäxchen genannt werden133. Thematisiert werden hier die Zeiten des Krieges, während dessen der Großvater sein Bein verloren hat und mit der 133 Vgl. Dückers, Tanja: Himmelskörper. Berlin: Aufbautaschenbuch Verlag 2003; 2. Auflage 2005, S. 48. (Bei Zitaten werden in Klammern die Seitenangaben gegeben.) 36 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” Großmutter und mit der damals fünfjährigen Renate aus dem preußischen Gotenhafen (heutigen polnischen Gdynia) fliehen musste. Die Flucht, die in allen Details erzählt wurde, fand im Jahre 1945 statt und gelang mit Hilfe eines Mienensuchboots „Theodor“. Freias Mutter musste dafür die Nachbarn denunzieren, da sie und ihre Eltern mit dem Schiff „Wilhelm Gustloff“ untergegangen wären. Aus diesem Grund wurde Renate von den Angehörigen der Erlebnisgeneration, die die Mitglieder der Familie waren, als Retterin betrachtet. Sie selbst empfindet aber ihr Leben lang Schuldgefühle. Um dies zu mildern, unternimmt sie mehrere heimliche Reisen nach Warschau zu Freias Onkel Kazimierz. Das Thema „Das Dritte Reich“ wurde im familiären Kreis sehr oft angesprochen, bleibt aber bis zum Tod der Großeltern offen. Erst dann kommen einige ungeklärte Sachen ans Tageslicht, wie z.B. dass Jo und Mäxchen, die sich in den erzählten Geschichten vorwiegend zu Opfer des Nationalsozialismus gemacht haben, sich letztendlich als „überzeugte Nationalsozialisten der ersten Stunde“ erwiesen haben. Nachdem Freias Onkel Kazimierz Selbstmord begangen hat und die Großeltern gestorben sind, machen Freia und ihre Mutter einen spontanen Ausflug nach Gdynia, um zu sehen, inwieweit sich die Stadt seit dem Krieg verändert hat. Dort besprechen die Beiden die familiären Geheimnisse. Als Freia einmal in den Himmel schaut, sieht sie die seit langer Zeit gesuchte Wolke, die sie fotografiert und somit die Erstellung des Wolkenatlanten abschließen kann. Wenig später nach ihrer Rückkehr nimmt sich Renate das Leben. Außer den genannten Geschichten findet man im Roman auch andere Erzählungen, die sich um die sich mehrmals ändernden Beziehungen zwischen den Zwillingen, um Renates heimliche Jugendliebe zu Rudolf und um die Erzählungen über die Verwandten mütterlicherseits drehen. In „Himmelskörper“ wird nicht nur das Leben einer Frau dargestellt, die zur Enkelgeneration gehört. Im Handlungszentrum steht das „Dritte Reich“ und die Frage nach seinen Auswirkungen auf Angehörigen von Drei Generationen, wobei die IchErzählerin sich auch um das Leben ihrer Tochter Aino Elise Sorgen macht. Geschildert wird hier auch die Auseinandersetzung mit der Schuldfrage, die die Familienmitglieder betrifft. Der Umgang mit den Themen „Krieg“, „Flucht“ und „Schuld“, ist für jede Figur unterschiedlich, was im Roman deutlich gezeigt wurde. 37 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” 4.2 Zu Rhetorik der Erinnerung 4.2.1 Romananfang und –ende als Erzählrahmen in die Erinnerungsreise Im Umgang mit literarischen Texten kann man den Textanfang, als auch das Textende außer Acht lassen. Schon am Textanfang werden die im weiteren Teil behandelten Themen angedeutet, am Erzählende hingegen findet eine Zusammenfassung statt, die an allen dargestellten Geschehnissen angepasst ist. Von der Wichtigkeit dieser Textteile deutet die Tatsache, dass sie nach der Lektüre im Gedächtnis des Lesers am stärksten haften bleiben.134 Diese zwei Aspekte spielen besonders bei einer Romananalyse eine große Rolle, was im folgenden Teil der Arbeit am Beispiel von „Himmelskörper“ dargestellt wird. 4.2.1.1 Zum Textanfang Nach Hans-Wilhelm Schwarze werden vier Typen des Textanfangs unterschieden: 1. Beginn ab ovo, in dem es um eine Art Einstieg in die eigentliche Geschichte geht; 2. Beginn in medias res, für den ein bestimmter Zeitpunkt mitten in der Geschichte gewählt wird; 3. Beginn in ultimas res, bei dem das Erzählen mit dem Ende der Geschichte anfängt, was für u.a. Krimis charakteristisch ist; 4. Vorwort als invocatio, in dem eine Hinführung auf die Geschichte unter einem besonderen Blickpunkt, eine Legitimierung für das Erzählen erfolgt.135 Jede Variante erfüllt eine andere Funktion. Was für eine Art des Anfangs gewählt wird, beeinflusst die Gestaltung des ganzen Textes. Der Roman „Himmelskörper“ beginnt mit der Beschreibung einer stressigen Situation in der sich der Ich-Erzähler befindet: Vgl. Krings, Constanze: Zur Analyse des Erzählanfangs und des Erzählschlusses. – In: Wenzel, Peter (Hg.): Einführung in die Erzählanalyse. Kategorien, Modelle, Probleme. Trier: WVT 2004, S. 163-179, hier S. 163. 134 Vgl. Schwarze, Hans-Wilhelm: Ereignisse, Zeit und Raum, Sprechsituationen in narrativen Texten. – In: Ludwig, Hans-Werner (Hrsg.): Arbeitsbuch Romananalyse. Tübingen: Narr 1998, S. 145-188, S. 160; Siehe dazu auch: Krings, Constanze: Zur Analyse des Erzählanfangs und des Erzählschlusses, 2004, S. 165ff.; Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur. Ein Praxisbuch für den Unterricht. Berlin: Cornelsen 1999, S. 74. 135 38 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” „Ich hatte das Foto nicht dabei. Unruhig durchwühlte ich meine Reisetasche, durchblätterte einen Notizblock, eine Zeitung, schlug meinen Paß, suchte zwischen Bahn-Card und Bibliotheksausweis, zwischen Thermoskanne und getrockneten Früchten das kleine Schwarzweißbild, das ich gestern aus dem Foto-Schuhkarton genommen und auf meinen Schreibtisch gelegt hatte. Ich biss mir vor Wut auf die Lippen. Als ich den Kopf hob, begegnete ich dem Blick eines stark geschminkten jungen Mädchens, der nicht Mitleid, sondern Verachtung ausdrückte. Schließlich schlug ich den weißen Ordner mit den vielen Klarsichtfolien wieder auf, einen Ordner, der mich seit Jahren weite Reisen unternehmen ließ.“ (S. 7) Der Leser wird mit einer Situation auseinandergesetzt, die einen ausgewählten Zeitpunkt mitten in der Geschichte darstellt. Klar ist nur, dass es sich um eine Person handelt, die sich mit einem Mädchen in einem Raum befindet und aufgeregt ihre Sachen nach einem Foto durchsucht, welches sie am vorigen Tag noch auf den Schreibtisch gelegt hatte. Es ist aber unklar, wer der Erzähler ist, wo er ist, was für ein Foto gesucht wird und warum es so wichtig ist, was die Neugier beim Leser hervorruft. Erst nach einigen Zeilen stellt sich heraus, dass die erzählende Person am nächsten Tag einen Vortrag im Bereich der Wolkenforschung auf einer Internationalen Meteorologischen Konferenz halten wird und selbst einen Wolkenatlas erstellen möchte: „»EINE BITTE UM WOLKENBILDER. – Die Internationale Meteorologische Konferenz hat beschlossen, bei ihrem nächsten Treffen, 1984 in Uppsala, einen farbigen Wolkenatlas zu veröffentlichen, um die typischen Wolkenformationen nach der Nomenklatur von Hildebrandsson und Abercromby darzustellen. […]« Mit dieser 1982 im American Meteorological Journal erschienenen Anzeige – nur ein typisches Beispiel von vielen ähnlichen aufrufen – wollte ich morgen meinen Vortrag beginnen. […] Ich selbst wollte einen historische Überblick über die verschiedenen Wolken-Klassifikationsmodelle geben, um anschließend ein leidenschaftliches Plädoyer für einen neuen, umfassenderen Wolkenatlas mit internationaler Beteiligung zu halten.“ (S.7f) Der Leser erfährt auch, dass der Erzähler sich im Zug befindet, was mit folgenden Worten bestätigt wurde: „Ein kleines Kind neben mir weinte im Rhythmus des schaukelnden Zuges vor sich hin.“ (S. 8). Im weiteren Textteil wird auch klar, dass es sich bei der erzählenden Person um eine schwangere Frau handelt, die nach Köln zu einer Konferenz fährt und dass das gesuchte Foto ihre Mutter darstellt. Es ist leicht zu erkennen, dass es in diesem Roman um den Beginn in medias res geht. Es gibt keine Vorgeschichte und keine Begründung für die Geschichte. Der Text 39 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” beginnt auch nicht mit dem Ende der Geschichte, sondern versetzt den Leser mitten in das Geschehen hinein. Diese Art des Anfangs ist auch dadurch gekennzeichnet, dass sich die ungeklärten Fragen und Zusammenhänge erst im weiteren Verlauf der Geschichte aufklären, was in diesem Roman der Fall ist.136 Der Beginn steht also in enger Verbindung mit allen Geschehnissen, die im Roman vorkommen. Die gleich zu Beginn erwähnten Fotos stehen für materialisierte Erinnerungen, denn sie sind Abbilder des Vergangenen. Die Fotografien werden nämlich als zentrales Erinnerungsmedium gehalten, das die Authentizität suggeriert.137 Und so erinnert sich die Ich-Erzählerin beim Durchsehen von Familienfotos an die auf den einzelnen Bildern festgehaltene Person. Jeder Rückblick in die Vergangenheit ist mit Geschichten verbunden, die Geheimnisse enthalten wie z.B. das häufig auftretende nächtliche Verschwinden von Peter, was natürlich die Neugier beim Leser weckt. Freia nimmt auf jede Reise Fotos mit Familienmitgliedern mit, wobei die Zahl der Bilder gering ist: „Ein Foto jeder Person. Das genügte.“ (S. 9) Interessant ist aber, dass sie jahrelang nur die Fotos von Peter, Paul, Jo und Mäxchen besaß. Erst ihr Freund Christian, von dem sie ein Kind erwartet, machte sie darauf aufmerksam, dass sie kein Foto von Renate hat. (S. 13) Dass ausgezeichnet die Mutter fehlte, ist kein Zufall und findet eine Begründung: „Manchmal, wenn meine Mutter regungslos im Wohnzimmer vor ihren Strohblumen stand, übersah ich sie schlicht. Sie stand da vor der Fensterbank, und wenn sie nach zehn Minuten ein Wort sagte, ich lag längst mit einem Buch auf der Couch, fuhr ich zusammen. Meine Mutter hatte ein enormes Talent im Nicht-anwesend-Sein entwickelt.“ (S. 15) Das fehlende Foto, das der Ich-Erzähler lange Zeit nicht gemerkt hat, ist mit Renates durch Abwesenheit gekennzeichneten Lebensstil verbunden, der genauer von Freia beschrieben wurde: „Doch meistens fand ich meine Mutter langweilig. Still, wie sie war, gab es keine Reibung, kaum Kontakt“ (S. 15). Renate war eine Person, die zwar existierte, aber auch ganz schnell vergessen oder nicht beachtet werden konnte. Das erklärt zwar den Grund, warum der Ich-Erzähler lange Zeit kein Foto von ihr hatte ohne es zu bemerken, und warum sie Schwierigkeiten mit dem Abfinden des auftauchenden 136 Vgl. Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur. Ein Praxisbuch für den Unterricht. Berlin: Cornelsen 1999, S. 74 137 Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimar: Metzler 2005, S. 127. 40 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” Schwarzweißbildes hat. Zum Vorschein kommt aber die Frage nach den Ursachen der die Mutter kennzeichnenden Verhaltensweise. Trotz der Anzahl der mitgetragenen Fotos, scheinen sie von großer Bedeutung für den Erzähler zu sein. Dies ist daran zu erkennen, dass er „unruhig“ nach dem fehlenden Foto sucht. Diese Vergangenheitsabbilder rufen nicht nur seine individuellen Erinnerungen an die dargestellten Personen und an die mit ihnen verbundenen Erlebnisse, sondern auch die damit verbundenen Emotionen hervor, was auf das Vorhandensein des erfahrungshaftigen Modus hindeutet. Nicht ohne Grund befindet sich die Ich-Erzählerin auf dem Weg zu einer Konferenz. Sie schaut sehr oft in den Himmel, um eine Wolke zu suchen, die ihr zur Erstellung eines vollständigen Wolkenatlanten nötig ist: „Ich lehnte den Kopf ans Fenster und schaute in den Himmel, suche ihn unwillkürlich nach Cirrus Perlucidus ab, dem durchsichtigen Cirrus, der einzigen Cirrus-Formation, die ich bisher nur von Beschreibungen aus verschiedenen Wolkenatlanten kannte und die ich seit Jahren überall auf der Welt suchte.“(S. 11f) Die Suche nach etwas, was schwer zu finden ist, steht im Zusammenhang mit dem Inhalt des Romans. Das Motiv einer Reise, auf der die Familienfotos angeschaut werden, deutet auf eine Entdeckungsreise in die Vergangenheit der eigenen Familie und auf die Suche nach eigener Identität der Protagonistin hin138. Damit hat auch ihre Schwangerschaft viel zu tun. Denn erst als sie schwanger wurde, begann sie sich als eine Frau zu betrachten. Die Schwangerschaft hatte bei ihr auch das Gefühl geweckt, dass sie sich mit Renate und Jo verbunden zu fühlen begann. Sie will die zwischen den beiden Frauen und zwischen den Familienmitgliedern bestehenden Verhältnisse verstehen, was auch ein Grund für die Reise in die Vergangenheit ist. Diese Reise wird aber von Geheimnissen und ungeklärten Situationen überfüllt, worauf u.a. das Fehlen und späteres Erscheinen von Renates Fotos hinweist. Die Handlung, die nach dem Anfang in medias res folgt, verläuft nicht chronologisch, sondern mit mehreren Rückwendungen, in denen man als Leser Zusatzinfos aufgetischt bekommt. Erst am Ende des Textes kann der Leser die chronologische Ereignisabfolge Vgl. Giesler, Birte: Krieg und Nationalsozialismus als Familientabu in Tanja Dückers’ Generationenroman Himmelskörper. – In: Vogel, Marianne/ Koch, Lars (Hrsg.): Imaginäre Welten im Widerstreit. Krieg und Geschichte in der deutschsprachigen Literatur seit 1900. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007, S. 286-303, hier S. 287. 138 41 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” zusammenstellen und die schon am Anfang unklaren und im Verlauf des Erzählens erschienenen Zusammenhänge nachvollziehen.139 Dies ist sowie die bereits beschriebenen Merkmale auch für den Anfang in medias res charakteristisch.140 Man kommt also zum Schluss, dass der Beginn des Romans, für den nicht nur der erste Absatz, sondern auch das erste Kapitel gelten kann, unzweifelhaft in medias res ist. 4.2.1.2 Zum Textende Nicht nur der Erzählanfang sondern auch der Schluss ist bei einer Romananalyse von großer Bedeutung. Er ist eine der Stellen, die der Leser nach der Lektüre in seinem Gedächtnis behalten wird, deswegen ist es wichtig, wie ein Text endet. Es werden auch vier Typen von Textenden unterschieden, die durch verschiedene Merkmale gekennzeichnet werden: 1. Das geschlossene Ende, in dem die Geschichte mit „Happy End“, Heirat, Tod oder mit beiden von den letztgenannten Varianten endet.141 2. Das offene Ende, das mit einem nicht eindeutigen, sondern rätselhaften, mehrdeutigen Schluss oder mit mehreren alternativen Schlüssen verbunden ist. Die Konflikte werden nicht aufgelöst oder es findet ein Rückbezug auf den Beginn statt, was bedeutet, dass alles von Anfang an beginnt. Es kann auch eine Hoffnung für einen Neuanfang sein. Bei dieser Schlussvariante bleiben wichtige Fragen ohne eindeutige Antworten und der Leser hat den Eindruck, dass die Geschichte keinen Schluss hat.142 3. Das erwartete Ende, in dem die Konflikte aufgelöst werden, es zur Gerechtigkeit kommt oder das Erzählte zusammengefasst und erklärt wird. Dazu gehört auch das Nachwort bzw. Epilog, in dem das Erzählte zu einem außerhalb liegenden Sachverhalt in Beziehung gesetzt wird.143 139 Siehe zum Thema der Ereignisfolge in „Himmelskörper“ das Kapitel „Zur Ordnung“. 140 Vgl. Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur, 1999, S. 74. Vgl. Schwarze, Hans-Wilhelm: Ereignisse, Zeit und Raum, Sprechsituationen in narrativen Texten. – In: Ludwig, Hans-Werner (Hrsg.): Arbeitsbuch Romananalyse. Tübingen: Narr 1998, S. 145-188, hier S. 160. 141 142 Vgl. Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur, 1999, S. 64. 143 Vgl. Schwarze, Hans-Wilhelm: Ereignisse, Zeit und Raum, Sprechsituationen in narrativen Texten, 1998, S. 161. 42 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” 4. Das unerwartete bzw. überraschende Ende, das durch einen Eingriff einer „fremden Macht“, einen abrupten Abbruch des Erzählten oder einen nicht nachvollziehbaren, unlogischen Schluss gekennzeichnet ist.144 Am Romanschluss in „Himmelskörper“ passiert nichts Unerwartetes und es gibt kein Resümee und kein Nachwort, deswegen sind sowohl die Varianten des erwarteten als auch unerwarteten Endes ausgeschlossen. Im Verlauf des Romans werden die Zusammenhänge erklärt. Der Leser findet Antworten auf viele wichtige Fragen, die beim Lesen nicht nur am Anfang, sondern auch in weiteren Textteilen entstanden sind. Insofern könnte man von einem geschlossenen Ende sprechen. Es gibt aber ein Merkmal, das auch diese Variante in Frage stellt. Als Ende des Romans gilt das letzte Kapitel, welches mit dem Namen „Himmelskörper“ versehen wurde. Hier kommt es zu Gesprächen zwischen Freia und ihrem Bruder Paul, deren Thema vor allem die Familie war: „Drei Tage lang sprachen wir auf Spaziergängen in der Stadt, in zahllosen verrauchten Cafés oder nachts bei einem Glas Wein im Wohnzimmer über alles mögliche, vor allem über unsere Familie.“(S. 315) Alles, was zur Vergangenheit gehört und mit Freias Familie verbunden ist, scheint in den Gedanken der Zwillinge immer noch lebendig zu sein, was in Pauls Aussage folgenden Ausdruck gefunden hat: „»Ich bin so weit fortgegangen von zu Hause, und Renate lebt nicht mehr. Und trotzdem: An all das, was passiert ist, denke ich täglich – eine Endlosschleife in meinem Kopf. Alles, was ich male, steht unter diesem Bann oder Fluch. […] Wir sind glücklich, aber trotzdem spüre ich den Sog der Vergangenheit einfach immer… […] Freia, immerfort, jeden Tag, wie – du wirst den Begriff besser kennen als ich – so eine Art ›kosmische Hintergrundstrahlung‹. Etwas, das immer da ist.«“(S. 316f) Da die Vergangenheit, die voll von Geheimnissen, Lügen und ungeklärten Situationen war, eine deutliche Spur im Gedächtnis und in den Gedanken von Freia und Paul hinterlassen haben, hat Paul einen Weg gefunden, um das Vergangene wieder ans Licht zu bringen und um erneute Ruhe in ihr Leben einkehren zu lassen: „[…] aber worauf ich nicht warten will, ist, daß dieses Rauschen, diese seltsame Hintergrundstrahlung in meinem Kopf einmal von selbst 144 Vgl. Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur, 1999, S. 66. 43 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” aufhört. Vermutlich erst, wenn ich sterbe…! Ich muss etwas dagegen tun, Freia. Ich möchte hier in Frieden leben […], und deshalb müssen wir dieses Buch schreiben.“ (S. 318) Es wird deutlich gezeigt, dass die vergangenen Ereignisse immer noch in Pauls Kopf lebendig sind und ihm das Leben erschweren. Er bezeichnet das ständige, ihn an die Familiengeschichte erinnernde Gefühl als „komische Hintergrundstrahlung“. Dieser Begriff ist für die Zwillinge verständlich und gehört zu ihrer gemeinsamen Sprache, die mit der Gefühldarstellung davon zeugt, dass hier der erfahrungshaftige Modus dominiert. Das Schreiben des Buches scheint für Paul die einzige Möglichkeit zu sein, sich vom „Sog der Vergangenheit“ zu lösen. Und das, wie Paul betont, „wird […] eine Gemeinschaftsarbeit“(S. 318), was bedeutet, dass an ihrer Erstellung sowohl Paul als auch Freia arbeiten werden. Ihr Inhalt soll die Geschichte von ihrer Familie sein. Der Titel „Himmelskörper“, den Paul bestimmt hat, deutet darauf hin, dass es um Dückers’ Roman geht, der in der vorliegenden Arbeit einer Analyse unterzogen wurde. Mit der Entscheidung, ein Buch zu schreiben, in dem die noch mal unternommene Entdeckung der eigenen Geschichte erfolgt, wird ein deutlicher Bezug auf den Beginn des Romans genommen. Es entsteht der Eindruck, dass alles vom Anfang beginnt, was nicht für das geschlossene, sondern für das offene Ende typisch ist. Für diesen Typ des Textendes ist auch charakteristisch, dass einige Fragen ohne Antwort bleiben. So ist es auch in diesem Fall. Paul spricht von dem Frieden, den er mit dem Schreiben des Buches erzwingen will. Das Buch ist zwar entstanden, aber die Frage danach, ob er und Freia Ruhe gefunden haben, bleibt offen. Das alles deutet darauf hin, dass es in dem Roman um ein offenes Ende geht. Im Dückers’ Roman stehen der Beginn und der Schluss in einem engen Zusammenhang. Der Anfang des Buches ist eine Andeutung auf eine Reise in die Vergangenheit der Familie von Freia, welche vom Suchen und Finden der Wahrheit und der eigenen Identität bestimmt ist. Das Ende gibt die zusätzliche Ursache an, warum diese Reise stattfindet und warum sie erzählt werden muss: um den Frieden mit der Vergangenheit zu schließen. Insofern kann man sagen, dass die beiden Textteile einen Rahmen für den Roman bilden. 44 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” 4.2.2 Zum Zeitpunkt und Ort des Erzählens In einer Rahmenanalyse ist, außer der Untersuchung vom Textanfang und –ende, die Berücksichtigung des Zeitpunkts und des Ortes des Erzählens wichtig. Die beiden Aspekte geben Aufschluss darüber, wann und auf welcher Ebene erzählt wird. Zu Grunde der Untersuchung des Zeitpunktes des Erzählens liegt der zeitliche Abstand zwischen dem Erzählen und dem Erzählten.145 Es wird zwischen folgenden Typen des Zeitpunktes des Erzählens differenziert: späterer, gleichzeitiger und früherer und eingeschobener Zeitpunkt.146 Im Falle eines früheren Erzählens handelt es sich um eine prophetische Geschichte, wie die Vorhersage. Es wird hier davon erzählt, was noch nicht stattgefunden hat und erst in der Zukunft passieren wird. Die Erzählung wird vorwiegend in Futur vermittelt, kann aber auch im Präsens vorgetragen werden.147 In einem gleichzeitigen Erzählen wird von einer nahezu vollständigen zeitlichen Koinzidenz von dem Erzählten und dem Erzählen gesprochen. Es wird im Präsens erzählt.148 Im späteren Erzählen, das in literarischen Werken am Häufigsten anzutreffen ist, wird von vergangenen Ereignissen gesprochen. Dieser Typ ist durch ein Merkmal leicht zu erkennen, nämlich durch die Verwendung des Präteritums. Diese grammatische Zeitform reicht nämlich allein, um festzustellen, dass es um späteres Erzählen geht, auch wenn der Abstand zwischen dem Zeitpunkt des Erzählten und dem des Erzählens nicht genau bestimmt ist. Das Präteritum kann nach Käte Hamburg im Falle einer scheinbaren Zeitlosigkeit, die eine vollkommene Unbestimmtheit des zeitlichen Abstands zwischen dem Moment der Narration und dem der Geschichte bezeichnet, seine grammatische Funktion verlieren. Man spricht dann von einer „fiktiven Unter dem Begriff „das Erzählte“ bzw. „die Erzählung“ versteht man den Text der Geschichte, also den mündlichen oder schriftlichen Diskurs, der von einer Geschichte erzählt. Unter „dem Erzählen“ wird die Art, verstanden, die den genannten Diskurs entstehen lässt. – Vgl. Martinez, Matias/ Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München: C. H. Beck 2007, S. 30. 145 146 Vgl. Genette, Gérard: Die Erzählung. München: Wilhelm Fink 1998, S. 154f. 147 Vgl. Martinez, Matias/ Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München: C. H. Beck 2007, S. 69f. 148 Vgl. ebd., S. 70. 45 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” Gegenwärtigkeit“149. Es kommt in fiktionalen Texten, in denen der spätere Zeitpunkt dominiert, dazu, dass der Zeitabstand zwischen dem Zeitpunkt des Erzählten und des Erzählten zuerst groß ist und sich mit der Handlung so verringert, dass er am Ende der Geschichte sogar in der Erzählgegenwart angelangt sein kann.150 Die dargestellten Zeitpunkte stehen in einem literarischen Text nicht immer getrennt: „In der Form des in die Zeit des Erzählten eingeschobenen Erzählens können sich die genannten Typen schließlich mehr oder weniger mischen und die Zeitverhältnisse im Einzelfall so weit komplizieren, daß auch die Zeitabstände zwischen Erzählen und Erzähltem letztlich nicht mehr bestimmbar sind.“151 Beim eingeschobenen Erzählen geht es um eine Narration mit mehreren Erzählerinstanzen. Vielmehr können sich die Narration und die Geschichte derart ineinander schlingen, dass die letztere auf die erste reagiert. Von daher gilt dieser Typ des Zeitpunkts als der komplexeste.152 Der zweite zu beachtende Aspekt bei einer Textanalyse, der der Ort des Erzählens ist, gibt die Antwort auf die Frage nach der Ebene, auf der erzählt wird. Bei den Unterschieden zwischen Erzählebenen bedient sich Genette folgender Definition: „Jedes Ereignis, von dem in einer Erzählung erzählt wird, liegt auf der nächsthöheren diegetischen Ebene zu der, auf der der hervorbringende narrative Akt dieser Erzählung angesiedelt ist.“153 Der Literaturtheoretiker unterscheidet folglich drei Erzählebenen, wobei auch mehrere nicht ausgeschlossen werden. Die erste Ebene nennt er extradiegetisch. Sie steht für die Ebene, auf der die Basiserzählung bzw. Rahmenerzählung154 vermittelt wird. Kommt es aber dazu, dass eine Geschichte im Rahmen der Basiserzählung erzählt wird, so befindet sie sich auf der zweiten Ebene, die Genette als intradiegetisch bzw. diegetisch nennt. In diesem Falle geht es um Fluderniks Binnenerzählung.155 Handelt es sich um eine Geschichte, die eine Erzählung in der Erzählung der Erzählung ist, so wird sie auf 149 Vgl. ebd., S. 71f. 150 Vgl. ebd., S. 73. 151 Ebd., S. 69. 152 Vgl. Genette, Gérard: Die Erzählung. 1998, S. 155. 153 Ebd. S. 163. 154 Vgl. Fludernik, Monika: Einführung in die Erzähltheorie. Darmstadt: WBG 2006, S. 39. 155 Vgl. ebd. 46 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” der dritten, als metadiegetisch bezeichneten Ebene vermittelt.156 Die weiteren Erzählebenen, auf denen Geschichten im Rahmen anderer Geschichten erzählt werden, werden metametadiegetisch, metametametadiegetisch etc. genannt. Es ist leicht zu beobachten, dass in „Himmelskörper“ der am Häufigsten vorkommende Typ des Zeitpunktes des Erzählens vorkommt, nämlich das spätere Erzählen. Der Roman wird im Präteritum und an einigen Textstellen, die aus einzelnen Sätzen bzw. Satzteile bestehen, im Plusquamperfekt geschrieben, was von dem genannten Typ zeugt. Dass es um diese grammatischen Zeitformen geht, beweisen u.a. folgende Beispiele: „Ich hatte das Foto nicht dabei“ (S. 7), „Jo hielt ein Brotmesser militärisch in unsere Richtung, lachte aber laut, rauh und warm.“ (S. 53), „Mein Großvater hatte aufgehört zu röcheln, er pulte sich mit beiden Zeigefingern Wurstreste aus den Backenzähnen.“ (S. 90), „Ich war sehr aufgeregt, denn dieser Wieland war der erste Junge, mit dem ich mich verabredet hatte.“ (S. 109), „Mäxchen lachte erleichtert und genehmigte sich einen großen Schluck Wein.“ (S. 147), „Ich nahm Jo das Buch aus der Hand und reichte ihr eine Schale Kompott“ (S. 244), „Die Fotos, die Erzählungen waren meine Wirklichkeit gewesen, und ich wußte nicht, wie ich sie auch nur im entferntesten mit dieser gelösten Strandatmosphäre in Übereinstimmung bringen sollte.“ (S. 295). Die Vergangenheitsdarstellungen betreffen verschiedene Zeitpunkte der Geschichte. Je nachdem, im welchen zeitlichen Abstand zu dem Moment der Narration sie sich befinden, werden im Roman drei Vergangenheitsebenen unterschieden. Die erste Vergangenheitsebene umfasst die Ereignisse, die die Basiserzählung bilden und die auf der Ebene der Basiserzählung liegen. Dazu gehören also Freias individuelle Erinnerungen, in denen sie vor allem als Hauptfigur vorkommt. Hier kommt Freia als schwangere Figur vor, die etwa Mitte Dreißig ist. Sie erinnert sich z.B. an die Zugfahrt nach Köln auf dem Weg zu einer Konferenz, an die Wohnungsauflösung der Der Terminus „metadiegetisch“ wird als missverständlich betrachtet, was von Mieke Bal kritisiert wurde. Nach Bal gelten alle weiteren eingebetteten Ebenen als „hypodiegetisch“. (Vgl. Mahne, Nicole: Transmediale Erzähltheorie. Eine Einführung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, S. 29) Genette erklärt den Gebrauch dieses Begriffes folgendermaßen: „Das Präfix ‘meta-’ funktioniert hier gerade umgekehrt wie im logisch-linguistischen Gebrauch, wo eine Metasprache eine Sprache ist, in der man über eine (andere) Sprache spricht, während in meinem Vokabular eine Metaerzählung eine Erzählung ist, die in einer (anderen) Erzählung erzählt wird.“ Dem von Bal entfalteten Begriff „hypodiegetisch“ schlägt er vor , von einer hiperdiegetischen Ebene zu sprechen. Er bleibt jedoch bei dem Terminus „metadiegetisch“, der für ihn bessere Bezeichnung für die nächste Ebene einer Erzählung .ist. – Vgl. Genette, Gérard: Die Erzählung. München: Wilhelm Fink 1998, S. 253f. 156 47 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” Großeltern, die nach deren Tod stattfand, an die Reise nach Gdynia mit der Mutter, wo sie die seit langem gesuchte Wolke fotografiert, an die Nachricht über Renates Tod und an die Tochter Aino, die der Vierten Generation angehört. Auf dieser Vergangenheitsebene werden die Erfahrungen von Freia dargestellt, die für sie bedeutend waren. Dies zeugt davon, dass auf dieser Ebene der erfahrungshaftige Modus vorherrscht. Freias Erinnerungen betreffen auch den Aufenthalt bei Paul in Paris, währenddessen die beiden beschlossen haben, ein Buch über die Familiengeschichte zu schreiben. Diese Reise ist ein Anzeichen für den Moment der Narration. Sie findet nämlich „zwei Jahre später, nach dem Hausverkauf […], nach Pauls und meinem Streit über die künstlerische Verwendung meiner vermaledeiten Zöpfe“ statt. (S. 315) Dank dieser Angaben weiß man, dass das Erzählen bestimmt nach zwei Jahren erfolgt. Der genaue Zeitabstand zwischen dem Erzählten und dem Erzählen bleibt jedoch unbestimmt. Die Ereignisse, an denen Freia sich im Rahmen der Basiserzählung erinnert, gehören also zu der ersten Vergangenheitsebene und werden auf der extradiegetischen Erzählebene vermittelt. Die zweite Vergangenheitsebene bilden die Geschehnisse, die in der Kindheit und Jugend von Freia passierten. Ähnlich wie die Ereignisse der ersten Vergangenheitsebene werden sie in Form von Freias individuellen Erinnerungen dargestellt. Zu dieser Ebene gehören die mit Peter gemeinsame Beobachtung von „Waldgeistern“, die Geschichten über Freias und Pauls Ausflüge in den Wald hinter dem Elternhaus sowie unzählige Familientreffen, bei denen das zuerst tabuisierte Thema des Krieges besprochen wurde, betreffen. Es wird auch an die Liebe zu Wieland und an die Reise nach Warschau, die Freia gemeinsam mit ihm unternommen hat, an Freias Schul- und Studienzeit, wie auch an den Tod von Mäxchen und Jo erinnert. Da die Ereignisse wieder Freias eigene Erfahrungen darstellen, die stark emotionsgeladen sind, wie z.B. ihre erste Liebe, dominiert auf dieser Vergangenheitsebene der erfahrungshaftige Modus. Während des Aufenthalts in Warschau kommt auch der monumentale Modus kurz zum Vorschein, denn hier ist die Rede von kulturellen Plätzen und Denkmäler Polens, wie der Kulturpalast oder das Ghettodenkmal. Diese haben Freias Nachdenken über den Krieg ausgelöst haben. Die zweite Ebene der Vergangenheit hat zu Beginn des Romans auf einen großen zeitlichen Abstand zwischen dem Zeitpunkt des Erzählten und des Erzählens verwiesen. Es wird nämlich an die Zeit erinnert, in der Freia als Kind auftritt. Mit der Entwicklung 48 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” der Handlung verringert sich der Zeitabstand und schließlich ist er in der ersten Vergangenheitsebene angelangt. Dies kommt nach dem Tod der Großeltern bei der Wohnungsauflösung zu Stande. Die Erzählungen über die Ereignisse, die zu dieser Vergangenheitsebene gehören, werden als Binnengeschichten betrachtet, was bedeutet, dass sie auf der intradiegetischen Ebene erzählt werden. Die dritte Vergangenheitsebene umfasst die Ereignisse, die die Kriegszeit und besonders die Flucht aus Gdynia, das noch im Jahre 1945 unter der deutschen Regentschaft Gotenhafen genannt wurde, betreffen und an die sich die Angehörigen der ersten und zweiten Generation erinnern. Im Unterschied zur ersten und zweiten Vergangenheitsebene bleibt der zeitliche Abstand zwischen dem Erzählten und Erzählen für diese Vergangenheitsebene im Verlauf der Geschichte unverändert. Die Erinnerungen an die erwähnte Zeit bilden nicht nur Teile der individuellen Gedächtnisse von Freias Mutter und deren Großeltern, sondern auch einen Teil des Generationenbzw. Familiengedächtnisses. Wichtig ist an dieser Stelle zu erwähnen, dass es um zwei Vergangenheitsversionen geht, die in den Gegen-Erinnerungen von Renate und ihren Eltern dargestellt werden. Dies bedeutet, dass auf dieser Vergangenheitsebene der antagonistische Modus dominiert. Es kommt auch der erfahrungshaftige Modus vor, denn die Gegen-Erinnerungen bauen auf den Erfahrungen der Ersten und Zweiten Generation auf. Über die Ereignisse wird meistens auf der intradiegetischen Ebene erzählt, weil sie größtenteils in den Familiengesprächen in einzelnen Äußerungen thematisiert wurden. Dies ist auch der Fall, wenn im Erzählen auf der extradiegetischen Ebene von den Geschehnissen der dritten Vergangenheitsebene gesprochen wird. Des Weiteren treten die Erzählungen über die Kriegszeit im Rahmen der intradiegetischen Ebene als einzelne Geschichten auf. Diese werden dann auf der metadiegetischen Ebene (nach Genette) bzw. hypodiegetischen Ebene (nach Bal) erzählt.157 Im Roman sind die Erzählebenen nachvollziehbar mit Blick auf bestimmte Vergangenheitsebenen, die mit Hilfe von Ereignissen vermittelt werden. Der Zeitpunkt, in dem die Geschichte erzählt wird, bleibt jedoch unbestimmt. Die zeitlichen Abstände die ihn und die Zeitpunkte der einzelnen Vergangenheitsebenen trennen, bleiben aus diesem Grunde auch unbekannt. Da die erste Vergangenheitsebene dem Zeitpunkt des Siehe zum Thema Erzählebene in „Himmelskörper“ die Beispiele im Kapitel „Zum Erzähler nach Gérard Genette“. 157 49 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” Erzählens am nächsten liegt, kann sie als „fiktionale Gegenwärtigkeit“ gelten. Von daher wird diese Vergangenheitsebene in weiteren Teilen der vorliegenden Arbeit „Erzählgegenwart“, bzw. „Gegenwartsebene“ genannt. In Folge dessen werden die als zweite und dritte beschriebene Vergangenheitsebene entsprechend „erste“ und „zweite Vergangenheitsebene“ bezeichnet. 4.2.3 Zur Zeitstruktur Bei einer Romananalyse, in deren Zentrum die Untersuchung der Inszenierung der Erinnerung steht, ist einer der wichtigsten Punkte die Analyse der Zeitstruktur. Von großer Bedeutung ist hier die Unterscheidung zwischen der „Erzählzeit“ und der „erzählten Zeit“, die von dem „Erzählen“ und dem „Erzählten“ geprägt ist158. Martinez und Scheffel geben folgende Definitionen für die beiden Begriffe an: „UnterErzählzeit hat man sich die Zeit vorzustellen, die ein Erzähler für das Erzählen seiner Geschichte benötigt und die sich im Fall eines Erzähltextes, der keine konkreten Angaben über die Dauer des Erzählens enthält, einfach nach dem Seitenumfang der Erzählung bemißt. Die erzählte Zeit meint dem gegenüber die Dauer der erzählten Geschichte.“159 Wie die Definitionen beweisen, ist es bei einer Textanalyse wichtig, zwischen der Erzählzeit und der erzählten Zeit zu unterscheiden, denn sie tragen andere Bedeutungen mit sich. Im folgenden Teil der vorliegenden Arbeit werden die Verhältnisse zwischen dem Erzählen und dem Erzählten in „Himmelskörper“ untersucht. Es werden Antworten auf die Fragen nach der Reihenfolge bzw. Ordnung sowie nach der Dauer und Frequenz der im Roman dargestellten Ereignisse gegeben. 4.2.3.1 Zur Ordnung Bei der Untersuchung der Ordnung in literarischen Texten sucht man die Antwort auf die Frage: „In welcher Reihenfolge werden die Ereignisse dargestellt?“ Werden die Geschehnisse in solcher Abfolge dargestellt, die der Abfolge der Ereignisse in der Zeit der Realität entspricht, so stellt man fest, dass es um chronologisches Erzählen geht. Kommt es aber dazu, dass die Erzählung in anderer Reihenfolge erzählt wird, so spricht 158 Vgl. Martinez, Matias/ Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, 2007, S. 31. 159 Ebd., S. 31. 50 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” man von einer Anachronie. Die Umstellung der Ordnung kann mit Hilfe von zwei Formen vonstatten gehen. Dies sind eine Rückwendung und eine Vorausdeutung– so Lämmert, bzw. eine Analepse und eine Prolepse – so Genette160. In Form von Analepse bzw. Rückwendung wird ein Ereignis dargestellt, das früher als der gerade im Verlauf des Erzählprozesses erreichte Zeitpunkt des Erzählens in der Basiserzählung stattfand. Im Fall der Prolepse bzw. Vorausdeutung kommt es zum Erzählen über ein Ereignis, das in Bezug auf den gegenwärtig vorhandenen Zeitpunkt der Basiserzählung in der Zukunft vorkommt.161 Die beiden Anachronieformen lassen sich durch zwei Merkmale charakterisieren, nämlich durch die Reichweite und den Umfang. Unter der Reichweite wird „der zeitliche Abstand zwischen der Zeit, auf die sich der Einschub bezieht, und dem gegenwärtigen Augenblick der Geschichte“ verstanden.162 Der Umfang, der von Schwarze zeitliche Ausdehnung genannt wird163, bezeichnet hingegen die Dauer der Geschichte, die im Rahmen des eingeschobenen Textes dargestellt wird.164 Lämmert unterscheidet zwei Typen von Rückwendung: aufbauende und auflösende. Die aufbauende Rückwendung wird folgendermaßen definiert: „In Gestalt eines mehr oder minder langen, unmittelbar auf die Eingangsszene folgenden Einschubs wird hier eine Art Exposition nachgereicht, mit deren Hilfe die Hintergründe einer zunächst unvermittelt präsentierten Situation entwickelt werden.“165 Sie tritt häufig in literarischen Texten auf, wenn diese in medias res beginnen. Diesem Typ gegenüber steht die auflösende Rückwendung, die am Ende der erzählten Geschichte vorkommt und für Kriminalromane und Detektivgeschichten besonders 160 Genette unterscheidet noch zwischen kompletten und partiellen Anachronieformen. Siehe dazu ausführlich: Genette, Gérard: Die Erzählung. München: Wilhelm Fink 1998. 161 Vgl. Martinez, Matias/ Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, 2007, S. 32f. Genette führt weitere Unterscheidung der Anachronie, nämlich in die externe und interne Anachronie .Vom ersten Typ spricht man, wenn die Analepse bzw. Prolepse entweder vor dem Anfang oder nach dem Ende der erzählten Ereignisse liegt. Der zweite Typ kommt bei Anachronien vor, die innerhalb des Erzählten Ereignisse beinhalten. – Siehe dazu ausführlich: Genette, Gérard: Die Erzählung. München: Wilhelm Fink 1998. 162 Martinez, Matias/ Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, 2007, S. 35. Vgl. Schwarze, Hans-Wilhelm: Ereignisse, Zeit und Raum, Sprechsituationen in narrativen Texten. – In: Ludwig, Hans-Werner (Hrsg.): Arbeitsbuch Romananalyse. Tübingen: Narr 1998, S. 145-188, hier S. 163. 163 164 Vgl. Martinez, Matias/ Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, 2007, S. 35. 165 Ebd., S. 36. 51 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” geeignet ist. Sie dient der Ergänzung des lückenhaft erzählten Geschehen und der Aufklärung des Unverständlichen bzw. des Missverstandenen.166 Es werden auch zwei Typen von Vorausdeutungen bei Lämmert unterschieden: die zukunftsgewisse und die zukunftsungewisse Vorausdeutung. Beim ersten Typ erzählt der Erzähler aus einem großen Zeitabstand heraus und macht den Leser zum „Mitwisser der Zukunft“.167 Zum zweiten Typ gehören „Prophezeiungen, scheinbar zukunftsweisende Träume und alle möglichen Arten von Wünschen oder Ängsten, die sich auf die Zukunft beziehen“168, also alle von der Zukunft handelnden Geschichten, die nicht glaubwürdig klingen. Schon zu Beginn des Romans „Himmelskörper“ kommen einige Begebenheiten vor, deren Ursachen geklärt werden sollten, wie z.B. das Fehlen von Renates Foto. Dies erfolgt mit Hilfe vieler aufbauenden Rückwendungen, die im Roman häufig auftreten. Ihre Reichweite und ihre Umfänge sind aber von Analepse zu Analepse verschieden. Es kommt nämlich zu Rückwendungen, die sowohl die Ereignisse der ersten und zweiten Vergangenheitsebene als auch die vor einem Tag passierten Geschehnisse, die zur Erzählgegenwart gehören, betreffen. Der Umfang der Vergangenheitsdarstellungen ist auch unterschiedlich. Es können die Vorkommnisse des heutigen Abends oder sogar die vor Jahren sein. Außer vielen Analepsen hat man auch mit Prolepsen zu tun, die aber seltener vorkommen. Im Roman „Himmelskörper“ werden die einzelnen Kapitel zu Rückwendungen oder Vorausdeutungen, innerhalb deren es zu meist kurzen Analepsen und Prolepsen kommt. Bereits in dem ersten und zweiten Kapitel, die zur Erzählgegenwart gehören, werden einige Begebenheiten aus der Vergangenheit dargestellt. Beispielsweise sieht Freia aus dem Zug heraus ihre Mutter. Sie erinnert sich dann an das am Vormittag geführte Gespräch mit Renate: „Auf einmal zuckte ich zusammen. Da draußen lief meine Mutter! […]Siedend wurde mir der Zusammenhang bewußt: Noch am Vormittag hatte ich mit ihr telefoniert, dann hatte sie auflegen wollen, weil sie den Zug zu meiner Großmutter, deren Zustand sich verschlimmert hatte, seit mein Großvater gestorben war, erreichen mußte. Ich hatte nebenbei 166 Vgl. ebd., S. 36. 167 Vgl. ebd., S. 37. 168 Ebd. 52 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” erwähnt, daß ich zu einem Kongreß fahren würde. Daß mein Zug nach Köln über Hannover fuhr und wir tatsächlich vorhatten, denselben Zug zu nehmen, war mit entgangen“ (S. 18) Eine Analepse, die mit den Worten „Noch am Vormittag hatte ich […]“ beginnt, betrifft die vor Kurzem stattgefundenen Ereignisse und umfasst ein kurzes Gespräch per Telefon, wovon die Feststellung zeugt, dass Freia „nebenbei erwähnt“ hat. Als Beispiel gelten auch die vergangenen Ereignisse, die Freia folgendermaßen beschreibt: „»Deine BDM-Glatze«, murmelte er [Paul – M.S.], und spielte auf eine Geschichte an, die er »Verschwundene Zöpfe« getauft hatte, und ich mußte grinsen: Ich trug schon seit vielen Jahren Glatze, zum nie verschmerzten Verdruß meiner Großmutter, die mir früher gern die Zöpfe geflochten und uns Fotos aus »der glücklichsten Zeit ihres Lebens « gezeigt hatte […]. Aber ich hatte mir eines Nachts einfach die Haare geschoren und meine langen Zäpfe ordentlich auf den Schreibtisch gelegt.“ (S. 27) Die Rückwendung reicht bis an die Kindheit von Freia und umfasst „viele Jahre“, in denen Jo Freias Zöpfe geflochten und den Enkeln Fotos gezeigt hat, und in denen Freia sich eine Glatze geschoren hat. Was genau die Geschichte von „Verschwundenen Zöpfen“ beinhaltet, erfährt der Leser erst im siebten Kapitel, das nach dem Namen der Geschichte genannt wurde und selbst eine aufbauende Analepse bildet. Das dritte Kapitel ist eine Analepse, die die Vergangenheit kurz vor Freias Reise zu der Konferenz betrifft. Es ist eine aufbauende Rückwendung, weil sowohl der Titel als auch die im Kapitel erzählte Geschichte von Rudolf bereits am Anfang des Romans erwähnt wurden: „Für einen Moment schoß mir die »blaue Stunde« und mein seltsames Gespräch vor einer Weile mit Renate durch den Kopf. Dann vergaß ich alles wieder.“ (S. 17), „Vielleicht fuhr Renate ja gar nicht zu ihrer Mutter…? […] Diesen wilden Moment lang […] wünschte ich mir, daß sie eine geheimnisvolle Reise anträte, daß sie Rudolf heimlich treffen […] würde […].“ (S. 19) Es wird nicht erklärt, was mit der „blauen Stunde“ und dem „seltsamen Gespräch“ gemeint ist. Man weiß auch nicht, wer Rudolf ist. Die Antworten werden erst im Kapitel namens „Blaue Stunde“ geliefert. Es wird das Gespräch zwischen Freia und ihrer Mutter thematisiert, in dem Renate über einen Jungen Rudolf berichtet, der sie in der Jugendzeit geküsst hat und den sie nach Jahren als „älteren Mann“ (S. 37) gesehen hat. In diesem Kapitel treten gleich drei Analepsen auf. Die Erste betrifft Freias Besuch bei der Mutter, der kurz vor ihrer Reise nach Köln stattfindet. Die Zweite umfasst die Ereignisse aus Renates Jugend, also von dem Zeitpunkt, „als Renate in die Untersekunda ging“ (S. 31) und 53 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” ihrem fünfzehnten Lebensjahr. Die dritte Rückwendung, die die Beerdigung von Onkel Kurt und das Treffen mit Rudolf thematisiert, bezieht sich hingegen auf den Zeitraum, der zwischen der ersten und zweiten Analepse liegt. Der beim Sprechen über die Vergangenheit gemeinsame verbrachte Abend erscheint Freia „unglaublich“ (S. 38) bzw. „irreal“ (S. 39). In den zwei nächsten Kapiteln, deren Titel „Waldgeister“ und „Die Insel“ sind, treten die Formen der Analepsen in Erscheinung. Diese Rückwendungen stellen die Ereignisse der ersten Vergangenheitsebene, also die Kindheit von Freia und Paul dar. Die Rückwendungen haben den Umfang von entsprechend einer Nacht und einem Abend, wobei am Anfang des fünften Kapitels eine kurze Analepse vorkommt, die von dem Zustand des aus dem Krieg zurückkommenden Großvaters handelt. Des Weiteren wird die Zeitspanne beschreiben, in der Max zu Mäxchen und Johanna zu Jo „mutierten“ (S.48). Das sechste Kapitel ist das Einzige, in dem eine zukunftsgewisse Prolepse auftritt, innerhalb dieser sind auch einige Analepsen zu finden sind. Das Kapitel thematisiert die „Transformationsarbeit“ (S.56), die nach dem Tod der beiden Großeltern aber vor der Geburt von Freias Tochter stattfindet, worauf folgende Worte hinweisen: „Paul und ich hatten viel herausgefunden über unsere Mutter und ihre Eltern in den letzten Wochen vor und während der Wohnungsauflösung […]. Die Geburt von Christians und meiner Tochter stand bevor, und Paul und ich knieten vor Bergen von Dingen, die wir nie gesehen hatten, die nie erwähnt worden waren, die uns als einzige Spur geblieben waren, denn Jo und Mäxchen waren nicht mehr da.“ (S. 55f) Die „Transformationsarbeit“ bedeutet die Beschäftigung der Zwillinge mit den Sachen, die Jo und Max gehörten und durch die die Großeltern in einem anderen, für Freia und Paul unbekannten Licht erschienen. Die erwähnte Arbeit sah folgendermaßen aus: „Zu Hause hatte ich in Geschichtsbüchern oder Lexika nachgeschlagen, um dem einen oder anderen Fundstück auf den Grund zu gehen, und nun erzählte ich Paul etwas darüber. Hatte er seine Zeichnung oder sein Gemälde beendet, warf ich die entsprechende Gegenstände weg, oft mit einem Gefühl von Befreiung. Solange Paul aber noch nicht fertig war, beschäftigten diese Fundstücke mich so, daß ich mich nicht von ihnen trennen konnte.“ (S. 56) Eines der gefundenen Fotos stellte die NS-Fliegerin Hanna Reitsch dar, was auf den hier auftretenden monumentalen Modus hinweist, denn „die Frau Flugkapitän“ (S. 57) war eine der bedeutendsten deutschen Fliegerinnen im 20. Jahrhundert. 54 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” Die in diesem Kapitel vorkommende Prolepse umfasst Ereignisse, die nicht länger als einen Tag dauern, worauf der erste Kapitelsatz: „Ich stand am Fenster und starrte in die Dämmerung.“ (S. 55) und der Teil der abschließenden Sätze: „die Abendsonne leuchtete rot auf den breiten […] Flügeln […]“ (S. 60) hindeuten. Es geht um eine zukunftsgewisse Prolepse, denn sie handelt von Geschehnissen, die später als der aktuelle Zeitpunkt der Geschichte vorkommen und die erst im 19. und 20. Kapitel genauer besprochen werden. Die nächsten Kapitel, die von sieben bis fünfzehn nummeriert wurden, stehen für die Rückwendungen, in denen Freias Erinnerungen an die Kindheit und Jugend dargestellt werden. Sie werden in einer chronologischen Reihenfolge erzählt. Die Themen, die in den Kapiteln berührt werden, sind: die Geschichte von „Verschwundenen Zöpfen“, die zwischen den Zwillingen bestehenden Ähnlichkeiten, die Schulzeit und damalige Beschäftigung mit dem Thema des „Nationalsozialismus“, die Liebe zu Wieland und die gemeinsame Reise nach Warschau nach dem Tod von Kazimierz, die Arbeit von Mäxchen beim Bienenhaus, der achtzehnte Geburtstag von Freia und Paul, das Ende von Freias Beziehung zu Wieland, sowie viele familiäre Gespräche, in denen die Flucht und die Kriegszeit diskutiert wurden. Die Analepsen betreffen also Ereignisse vor allem der ersten, aber auch der zweiten Vergangenheitsebene. Ihre Umfänge sind von Geschichte zu Geschichte unterschiedlich und betragen ein paar Jahre – wie bei der Beschreibung der Schulzeit, einige Tage – wie bei der Reise nach Warschau oder auch einzelne Nachmittage bzw. Abende, an denen das Thema des Krieges und der Flucht besprochen wurde. Innerhalb der Kapitel kommt es auch zu kurzen Rückwendungen. Beispielsweise wird im Kapitel „Die Zwillinge“, das von den Ähnlichkeiten zwischen Freia und Paul handelt, von der frühen Kindheit der Zwillinge erzählt: „Als Paul und ich sehr klein gewesen waren, hatten wir oft zusammen Vater-Mutter-Kind gespielt.“ (S. 74).Während der Reise nach Warschau berichtet Freia, dass sie sich in den letzten Wochen viel an Onkel Kazimierz und an die mit ihm verbrachten Momente erinnert hat: „In den letzten Wochen hatte ich unterschiedliche Bilder von Kazimierz in meinem Kopf abgerufen“ (S. 154) „Ich erinnerte mich an Onkel Kazimierz, wie er mit uns im ŁazienkiPark spazierenging und im Amphitheater die Komödie simultan ins Deutsche übersetze, damit wir mitlachen konnten. […] 55 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” Und ich erinnerte mich, wie er uns im Park-Café Cola bestellte und uns beim ersten Schluck genau beobachtete.“ (S. 155) Die Analepsen, die innerhalb anderer Rückwendungen auftraten, umfassten einzelne Ereignisse, deren zeitliche Ausdehnungen nicht groß waren. Im Unterschied zu den sechs Kapiteln liegt die Reichweite der Rückwendung des sechzehnten Kapitels, der den Titel „Bernsteinketten“ trägt, nahe der Basiserzählung, denn Jo wird als kranke Person dargestellt sowie Mäxchen, der unter Prostatakrebs leidet und aus diesem Grunde im Krankenhaus ist. Folgende Worte beweisen dies: „Jos Krebserkrankung war trotz der Operation vor ein paar Jahren innerhalb kurzer Zeit wieder ausgebrochen.“ (S. 206), „Vor sechs Wochen war sie in ihrer Küche gestürzt und hatte einen Oberschenkelhalsbruch erlitten.“ (S. 208f), „Mein Großvater hatte zu diesem Zeitpunkt schon wegen seines Prostata-Krebses im Krankenhaus gelegen.“ (S. 208) Die Erwähnung von Jos Sturz ist schon an sich eine Analepse, die von einem Ereignis handelt, das vor sechs Wochen stattfand. Im nächsten Kapitel, in dem eine Rückwendung erscheint, kommt die Handlung zum Zeitpunkt zurück, an dem das fünfzehnte Kapitel endet: „Wieland hatte am Morgen, nachdem ich ihn mit meinem Bruder auf der Lichtung gesehen hatte, einen Zettel unter den Salamander-Stein gelegt, aber ich hatte mich nicht gleich gemeldet.“ (S. 221) Das Kapitel handelt von der Jugend und Studienzeit von Freia, umfasst also mehrere Jahre. Es wird davon berichtet, wie Freia und Paul nach langer Zeit, in der sie nicht miteinander gesprochen haben, wieder Zeit gemeinsam mit Wieland verbringen, der den Eltern als Pauls Freund vorgestellt wurde. Es wird auch Freias Studienzeit thematisiert, in der sie viele Liebhaber hatte, um Wieland zu vergessen. Die nächsten Kapitel bis zu dem letzten gehören zur Basiserzählung, das heißt sie beziehen sich auf die Ereignisse der Gegenwartsebene. Sie werden in einer chronologischen Reihenfolge erzählt. In ihnen kommen aber auch viele Rückwendungen vor, die unterschiedliche Reichweiten und zeitlichen Ausdehnungen aufweisen sowie eine zukunftsgewisse Vorausdeutung, die im Kapitel „Nachtkammern“ zu finden ist. Das Kapitel betrifft die bereits im sechsten Kapitel angedeutete „Transformationsarbeit“. Die Prolepse betrifft den zukünftigen Streit mit Peter, der Freias Zöpfe in einer Collage verarbeiten wollte, worauf Freias folgendermaßen reagiert: „[…]aber daß nun schon wieder jemand meine Zöpfe aufbewahren wollte, ging mir entschieden zu weit.“ (S. 274) Der Streit findet nach einem Jahr statt, nachdem 56 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” Freia das Schreiben eines Buches vorgeschlagen hat. Die Reichweite wird mit folgenden Worten ausgedrückt: „Später, nach jenem Winter, der uns alle überraschte, […]nach dem kürzesten Tag des Jahres, als das Eis des Winters schon längst in einen Sommer geflossen und in einem neuen Winter gefroren war, würden Paul und ich uns über seinen Arbeiten vollständig zerstreiten.“ (S. 273f) Die Prolepse beinhaltet eine kurze Zeitspanne, in der es zum Streit zwischen den Zwillingen gekommen ist. In „Himmelskörper“ werden die Ereignisse nicht chronologisch dargestellt. Es kommen viele aufbauenden Rückwendungen vor, deren Aufgaben darauf basieren, die Hintergründe der Basiserzählung darzustellen. Sowohl die Reichweiten als auch die Umfänge von Analepsen unterscheiden sich voneinander. Es treten auch einige zukunftsgewisse Vorausdeutungen, die die erzählte Geschichte spannender machen, auf. 4.2.3.2 Zur Dauer In der Zeitstruktur eines literarischen Textes lässt sich neben der Ordnung auch die zeitliche Dauer untersuchen, „welche […] die Darstellung eines Geschehens oder einzelner Geschehenselemente in einer Erzählung [beansprucht – M.S.].“169. Je nachdem, in welchem Verhältnis die Erzählzeit und die erzählte Zeit zueinander stehen, werden von Gérard Genette und Eberhardt Lämmert fünf Grundformen unterschieden: 1. Szene, die Lämmert als zeitdeckendes Erzählen bezeichnet. Sie kommt bei zeitlichen Übereinstimmungen von der Erzählzeit und der erzählten Zeit vor. Dies erfolgt mit der wörtlichen Wiedergabe der Figurenrede, die in einem Dialog dargestellt wird, ohne Auslassungen oder Erzähleinschübe, wobei die Sprechgeschwindigkeit der Sprecher und die entstehenden Pausen berücksichtigt werden.170 2. Dehnung, die Lämmert zeitdehnendes Erzählen nennt. Es wird von dieser Form gesprochen, wenn die Erzählzeit, die für die Darstellung eines Ereignisses verwendet wird, deutlich länger ist als die wirkliche Dauer des Geschehens. In 169 Martinez, Matias/ Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, 2007, S. 32. 170 Vgl. ebd., S. 39. 57 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” literarischen Texten wird das z.B. durch den Wechsel zwischen der äußeren Welt und der Innenwelt dargestellt.171 3. Raffung, die Lämmert als zeitraffendes bzw. summarisches Erzählen bezeichnet. Diese Form kommt vor, wenn es eine Zusammenfassung von Stunden, Monaten oder Jahren in einem Satz erfolgt. Typische Beispiele sind: „Nach zwei Tagen…“, „Nach einiger Zeit…“, „Nach einiger Jahren…“. 172 4. Ellipse, die Lämmert Zeitsprung nennt. Sie wird auch als Aussparung bezeichnet, denn es werden bei dieser Geschwindigkeitsform bestimmte zeitliche Abschnitte, die dem Erzähler als nicht erzählenswert erscheinen, aus der Geschichte ausgelassen.173 5. Pause, bei der das Erzähltempo mit Hilfe von z.B. längeren, nicht aus der Perspektive einer handelnden Figur erfolgenden Kommentaren oder Reflexionen des Erzählers verringert wird.174 Da im ganzen Roman „Himmelskörper“ aus der Perspektive von Freia erzählt wird und es somit zu Darstellungen ihrerseits kommt, sind in dem Text keine Pausen zu finden. Die anderen vier Formen der zeitlichen Dauer, die Szene, Dehnung Raffung und Ellipse, treten auf. Allerdings ist es aber schwer festzustellen, welche Form die vorherrschende ist. Als Beispiel für eine Szene ist das Gespräch zwischen Peter und Freia, das gleich nach der Bekanntmachung der Eltern mit Pauls Freund stattfand. „Schließlich redete mein Vater weiter: »Keine Enkel … keine … naja, da müssen wir uns, glaube ich, noch daran gewöhnen … also, das ist natürlich so als Vater … naja.« Er brach ab und zerstach sein Kuchenstück. […] 171 Vgl. ebd., S. 43f. 172 Vgl. ebd., S. 42. Vgl. Marsden, Peter H.: Zur Analyse der Zeit. – In: Wenzel, Peter (Hg.): Einführung in die Erzählanalyse. Kategorien, Modelle, Probleme. Trier: WVT 2004, S. 89-110, hier S. 100. Genette unterscheidet auch zwischen einer bestimmten und expliziten Ellipse, die die entstehende Zeitspanne mit Worten wie z.B. „viele Jahre später“ benennt, einer unbestimmten und impliziten Ellipse, bei der die Kennzeichnung einer Aussparung nicht stattfindet und der Leser das Vorhandensein des Zeitsprungs selbst erschließen kann sowie bei einer hypothetischen Ellipse, die erst durch Analepsen erkannt werden könne. – Siehe dazu ausführlich: Genette, Gérard: Die Erzählung. München: Wilhelm Fink 1998, S. 76-78. 173 174 Vgl. Martinez, Matias/ Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, 2007, S. 44. Siehe dazu vertiefend auch: Genette, Gérard: Die Erzählung. München: Wilhelm Fink 1998, S. 71-76. 58 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” Plötzlich fuhr mein Vater zu mir herum. Er musterte mich einen Moment – ebenso abweisend wie seinen Sohn. »Sag mal, nicht, daß du mir auch noch auf dumme Ideen kommst!« Ich schwieg. »Hast du jemals einen Freund gehabt?« »Seit wann interessierst du dich dafür, was wir…« »Ja oder nein?« »Ja – ich bin auch nicht mehr Jungfrau, falls es dich interessiert.«“ (S. 234f) Es wird ein Dialog dargeboten, in dem die Sprechart berücksichtigt wurde. Die Auslassungspunkte in Peters Aussage stehen für Pausen, die er beim Sprechen gemacht hat. Freias Schweigen kommt auch in einem entsprechenden Satz zum Ausdruck. Die Kommentare des Erzählers sind begrenzt und stören den Redefluss nicht. Die Erzählzeit stimmt mir der erzählten Zeit überein. Von daher kann man feststellen, dass es sich in diesem Beispiel um ein zeitdeckendes Erzählen handelt. Solche Darstellungsweisen von Gesprächen kommen im Roman „Himmelskörper“ häufig vor. Es kommt oft zum Wechsel zwischen der äußeren Welt und der Innenwelt, wobei jeweils die Gedanken von Freia dargestellt werden. So ist die für die Darstellung des Ereignisses verwendete Zeit deutlich länger als die wirkliche Dauer der Geschichte. Ein Beispiel für solche Erzählung ist die Geschichte, die der ersten Vergangenheitsebene angehört. Freia geht im Winter auf den gefrorenen See, um Schlittschuh zu laufen. „Es war ein kalter, aber ein offenbar nicht ganz so kalter Februarabend, wie ich angenommen hatte[…]. Ich kreiste alleine auf dem See. Dabei beobachtete ich abwechselnd das Eis und den Himmel. Wie liebte ich diese unendlich fernen, zerfransten Cirruswolken, die mir aus 10000 Meter Höhe einen kalten Gruß sandten. Mir war unverständlich, was meine Klassenkameraden im [Café – M.S.] »Zungenkuß«, einer engen, verrauchten, stickigen Höhle suchten … Selbst wenn ich mich ins Café begeben hätte, wäre ich genauso allein gewesen wie jetzt. […] Bei der Hofpause hatte ich einmal das Wort »zurückgeblieben« in bezug auf mich aufgeschnappt. Doch Paul hatte demonstrativ seinen Arm gelegt um mich und gemeint, wir sollten weggehen von all diesen Gänsen. Und wieder einmal schwänzten wir die Schule, um auf einer Wiese zu liegen und uns die zahllosen Formen der Wolken anzuschauen. Nun lief ich also meine Bahnen unter diesem klaren Himmel.“ (S. 107f) Es werden hier Freias Gefühle und Gedanken vermittelt, die ihre Liebe zu Wolken und ihre Relationen zu Klassenkameraden betreffen. Dann stellt der Erzähler seine individuellen Erinnerungen an ein Ereignis aus der Schulzeit dar, und kehrt zur 59 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” Erzählung vom Schlittschuhlaufen zurück. Es wird deutlich, dass es sich in diesem Fall um ein zeitdehnendes Erzählen handelt. Die Ellipse, die zu den drei in „Himmelskörper“ dominierenden Dauerformen gehört, tritt am häufigsten im siebzehnten Kapitel auf, das mit „Wasserpfeife“ betitelt wurde. Die in diesem Kapitel dargestellte Geschichte betrifft die Zeit, nach der Freia ihren Bruder und Wieland zusammen im Wald sitzend gesehen hat. „Der Winter brachte eine neue, umfassende Einsamkeit über mich. […] Als ich Silvester mit meinen Eltern bei einem Kollegen von Peter auf der Dachterrasse stand, dachte ich nicht an die Zukunft […]“ (S. 225) „Irgendwann im Februar jedoch stiefelte ich kurz entschlossen in Pauls Atelier […]“ (S. 226) „Im März bekam ich einen langen Brief von Wieland.“ (S. 229) „Im April sah ich Wieland wieder. […] Zwei Tage später kochten wir zu dritt.“ (S. 230f) „Im Mai beschloß ich, mir mit dem Abi doch etwas Mühe zu geben […].“ (S. 232) „Ich erinnere mich genau an jenen Sonntagnachmittag[…]. Es war ein strahlender Frühsommertag […].“ (S.233) In den genannten Beispielen treten bestimmte und explizite Ellipsen auf, durch die angegeben wird, wie groß die Zeitspanne zwischen den Ereignissen ist, wobei keine genauen Datenangaben erfolgen. Der erste Zeitsprung umfasst über zwei Monate (von Silvester bis Februar). Die nächsten Ellipsen betreffen jeweils einen Monat: von Februar bis Mai, wobei bei der Beschreibung von April ein zwei Tage umfassender Zeitsprung aufritt. Die in der letzten Ellipse ausgelassene Zeitspanne ist nicht genau bestimmbar, denn es erfolgt keine genaue Zeitangabe. Der Leser weiß in diesem Fall nur, dass nach den im Mai passierten Geschehnissen von einem „Frühsommertag“ gesprochen wird. Nicht nur in diesem Kapitel verwendet der Erzähler Aussparungen. Sie kommen an mehreren Textstellen im Roman vor. In „Himmelskörper“ sind auch Beispiele für das summarische Erzählen zu finden: „Renate hatte drei lange Wochen Angst.“ (S. 35) „In den letzten Wochen hatte ich unterschiedliche Bilder von Kazimierz in meinem Kopf.“ (S.154) „Abendelang hatten Renate und ich neben Jo gesessen, hatten sie mit Kompott gefüttert und ihr Fotos von vielen Reisen gezeigt, die sie in ihrem Leben unternommen hatte.“ (S. 208) „Die nächsten Wochen Erinnerung.“ (S. 223) waren fürchterlich lang in meiner 60 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” Die Raffung wird in diesen Beispielen durch die Worte „drei lange Wochen“, „in den letzten Wochen“, „abendelang“ und „die nächsten Wochen“ ausgedrückt. Im Roman „Himmelskörper“ werden die Geschichten mit Hilfe von Szenen, Dehnungen, Ellipsen und Raffungen erzählt, wobei das zeitraffende Erzählen nicht so oft wie die drei anderen Formen der zeitlichen Dauer vorkommt. Die dominante Form der zeitlichen Dauer ist nicht festzustellen. 4.2.3.3 Zur Frequenz Die dritte von Genette unterschiedene Kategorie der Zeitstruktur ist die Frequenz, mit der die sich wiederholenden oder nicht wiederholenden Geschehnisse in der Erzählung vermittelt werden. Es werden vier folgende Kategorien von der Frequenz bzw. Häufigkeit unterschieden: 1. Singulative Erzählung, in der einmal erzählt wird, was einmal passiert ist 2. Repetitive Erzählung, in der n-mal erzählt wird, was einmal geschah. 3. Multi-singulative Erzählung, in der n-mal erzählt wird, was sich n-mal ereignet hat. 4. Iterative Erzählung, in der einmal erzählt wird, was n-mal passiert ist.175 Im Roman „Himmelskörper“ treten meistens singulative Erzählungen auf. Dies betrifft vor allem die Mehrheit der Ereignisse der Gegenwarts- und der ersten Vergangenheitsebene. Einmal dargestellt sind solche Ereignisse, die einmal passiert sind, wie beispielsweise die Geschichten von den „Waldgeistern“, die Freia und Peter beobachtet haben, von den Erlebnissen, die Freia und Wieland verbunden haben, von den Reisen nach Warschau und Gdynia sowie Freias Aufenthalt bei Paul in Paris. Neben den singulativen Erzählungen kommen auch iterative vor. Beispielsweise erzählt Freia eine Geschichten, die sie so viele Male unverändert gehört hat, dass sie sich gut an u.a. jedes Wort und jede Sprechpause erinnern kann: „Die Geschichte ihrer [der Großmutter – M.S.] Flucht kannte ich schon auswendig. Wie einen Weg, den man sehr oft abgeschritten ist, kannte ich fast jede Redewendung, jede sprachliche Ausschmückung. […] ich [wusste – M.S.] genau, welche Höhepunkte, Kunstpausen oder retardierenden Momente Jos Fluchtgeschichte kennzeichneten. Und 175 Vgl. Marsden, Peter H.: Zur Analyse der Zeit, 2004, S. 102f. Siehe dazu ausführlich: Gérard: Die Erzählung. 1998, S. 81-91; Martinez, Matias/ Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, 2007, S.46-48. 61 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” immer wieder gab es an den gleichen Stellen dieselben Streitigkeiten mit meiner Mutter, und immer wieder verstummte meine Mutter irgendwann resigniert und ließ Jo weiterreden.“ (S. 98) Von der Flucht wurde mehrmals erzählt, worauf nicht nur die Worte „immer wieder“ hindeuten, sondern auch die Tatsache, dass Freia diese Geschichte auswendig kennt. Die Erinnerungen der Großmutter sind so oft in Gesprächen vorgekommen, dass sie Teil des individuellen Gedächtnisses Freias und somit auch des kommunikativen bzw. Familiengedächtnisses geworden sind. Ein weiteres Beispiel für die iterative Erzählung stellt folgende Textstelle vor: „Die Stimme meiner Großmutter zitterte nicht oder zitterte nicht mehr bei diesen Erinnerungen; zu oft hatte sie diese zurechtgelegte Sätze wiederholt“ (S. 100) Diese Textpassage bezieht sich auf Jos Aussage über Königsberg und den russischen Angriff auf diese Stadt und deutet darauf hin, dass die Großmutter davon häufig erzählt hat. Andere Beispiele für iterative Erzählungen treten meistens in Form von Raffungen auf.176 Es kommen auch oft repetitive Erzählungen vor. Sie betreffen meistens die in Gesprächen vermittelten Erinnerungen der Angehörigen der Zweiten und Dritten Generation an die Kriegszeit. Beispielsweise spricht Jo oft darüber, wie sie ihr Haus in Königsberg verlassen und nach Gdynia ziehen musste. Sie hat das nur einmal erlebt, trotzdem kommt es in ihren Aussagen oft zu Schilderungen dieses Ereignisses, das im Familiengedächtnis aufbewahrt sein sollte. Mehrmals wird auch in den Gesprächen zwischen den Generationen zur Betonung der Kälte, die in Gotenhafen während der Flucht herrschte, aufgegriffen. Dies veranschaulichen folgende Aussagen, die entweder Jo oder Renate angehören: „Wenn ich [die Großmutter – M.S.] daran denke, wie wir damals eine ganze Nacht und einen Morgen bei minus zwanzig Grad im Schnee draußen am Pier gestanden haben!“ (S. 99) „Überall standen, lagen und saßen die Menschen bei minus zwanzig Grad!“ (S. 137) (– Jos Aussage) „[…] wir warteten schon … bei minus zwanzig Grad … seit … ich [Jo – M.S.] glaube anderthalb Tagen.“ (S. 247) 176 Siehe die Beispiele im Kapitel „Zur Dauer“. 62 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” „»Freia, als ich das letztemal hier war, herrschten zwanzig Grad minus …«, sagte sie [Renate – M.S.] dann leise.“ (S. 295) Die Hervorhebung der herrschenden Kälte ist mit der in den Gesprächen wiederholten Darstellung der sich nur einmal ereigneten Flucht verbunden, was von einer repetitiven Erzählung zeugt. Diese repetitive Frequenzform betrifft auch Freias Erinnerungen an die Ereignisse der Gegenwarts- und der ersten Vergangenheitsebene. Es wird z.B. von der einmal stattgefundenen Wohnungsauflösung der Großeltern nicht einmal erzählt. Mehrmals kommen auch Freias individuelle Erinnerungen an die Zeit vor, in der sie Zöpfe getragen und diese später abgeschnitten hat. Beschäftigt man sich mit der Häufigkeit, mit der die im Roman „Himmelskörper“ dargestellten Geschichten erzählt werden, so stellt man fest, dass im Text alle Kategorien der Frequenz auftreten. Je nachdem, auf welcher Vergangenheitsebene erzählt wird, ändert sich die Dominanz der Häufigkeitskategorien, wobei die iterativen Erzählungen nicht dominant sind. Gehören die Ereignisse der Gegenwarts- oder der ersten Vergangenheitsebene, so herrschen die singulativen Erzählungen vor. Geht es aber um die Geschichten, die die zweite Vergangenheitsebene betreffen, so dominieren die repetitiven Erzählungen. Im Roman „Himmelskörper“ sind die Ereignisse nicht chronologisch dargestellt. Es kommt zu vielen Analepsen, in denen die Geschehnisse der ersten und zweiten Vergangenheitsebene dargestellt werden und einigen zukunftsgewissen Prolepsen, die von den Ereignissen der Gegenwartsebene handeln. Bei der Schilderung der Geschichten bedient sich der Erzähler verschiedener Darstellungsformen, bei denen zeitdeckendes und -dehnendes Erzählen und Ellipsen dominieren. Von den stattgefundenen Ereignissen wird einmal oder mehrmals erzählt. Es kommen singulative, repetitive und iterative Erzählungen vor, wobei im Roman die ersten zwei Frequenzkategorien vorherrschen. Genauso, wie man die Geschichten erzählen kann, kann man sich auch an die vergangenen Ereignisse singulativ, repetitiv oder iterativ erinnern. Dabei kann es zur Darstellung aller Geschehnissen kommen oder es werden einige Zeitspannen ausgelassen werden. Da die Erinnerungen Kommunikation verlangen, um sich im 63 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” Gedächtnis zu erhalten und zum Teil eines kommunikatives, bzw. kollektives Gedächtnisses zu werden, und die Erzählungen auf dem Wissen basieren, das im Gedächtnis aufbewahrt werden, ist das Erinnern und Erzählen eng miteinander verbunden. Dies hat im Roman „Himmelskörper“ seinen Ausdruck gefunden. 4.2.4 Zur erzählerischen Vermittlung Die Geschichte wird in literarischen Texten von einem Erzähler vermittelt, der eine vom Autor geschaffene Instanz darstellt. Die Erzählerinstanz ist nur in faktualen Texten177 z.B. einer Autobiographie mit dem Autor des Textes gleichzusetzen. In fiktionalen Texten wird sie hingegen als ein Teil der Fiktion betrachtet178. In beiden Textsorten erfüllt die Erzählerinstanz bestimmte Funktionen. Sie führt in die Geschichte ein, charakterisiert die Figuren und schildert ihre Handlungen. Sie macht auch Angaben zu Raum und Zeit des Geschehens.179 Dies kann auf verschiedene Art und Weise passieren, von daher werden auch unterschiedliche Modelle für die Typologie des Erzählers entfaltet. Im folgenden Teil der Arbeit wird die Erzählerinstanz des Romans „Himmelskörper“ einer Analyse unterzogen, die nach Modellen von Franz Karl Stanzel und Gérard Genette in angegebener Reihenfolge erfolgt. 4.2.4.1 Zum Erzähler nach Franz Karl Stanzel Franz Karl Stanzel unterscheidet drei Erzähler bzw. drei sogenannten Erzählsituationen, welche sind: 1. die auktoriale Erzählsituation, in der es um einen allwissenden Erzähler geht, der sich durch eine Distanz zum Erzählten auszeichnet, über die Innen- und Außensicht 177 Es werden zwei Textsorten unterschieden: faktuale und fiktionale Texte, deren Definitionen geben Martinez und Scheffel vor: „Faktuale Texte sind Teil einer realen Kommunikation, in der das reale Schreiben eines realen Autors einen Text produziert, der aus Sätzen besteht, die von einem realen Leser gelesen und als tatsächliche Behauptungen des Autors verstanden werden. Fiktionale Texte sind ebenfalls Teil einer realen Kommunikationssituation, in der ein realer Autor Sätze produziert, die von einem realen Leser gelesen werden. Fiktionale Texte sind jedoch komplexer als faktuale, weil sie außer der realen auch noch einer zweiten, imaginären Kommunikationssituation angehören.“ – Martinez, Matias/ Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, 2007, S. 37. 178 Vgl. Mahne, Nicole: Transmediale Erzähltheorie. Eine Einführung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, S. 25. Zu Begriffen faktuales und fiktionales Erzählen siehe ausführlich: Martinez, Matias/ Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München: C. H. Beck 2007. 179 Vgl. Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur, 1999, S.27. 64 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” verfügt, von den Handlungen und Gedanken der Personen berichtet und sie bewertet;180 2. die Ich-Erzählsituation, in der der Erzähler zur Welt der Figuren gehört und nur darüber erzählen kann, was er selbst erlebt oder von Anderen gehört hat. Er kann das Wissen über die Vergangenheit besitzen, über die Zukunft kann er aber mit keiner Sicherheit sprechen.181 3. die personale Erzählsituation, bei der der Erzähler anonym und neutral bleibt und das Geschehen aus der Sicht einer an der Geschichte beteiligten Person erzählt, wobei er auf Kommentare und Einmischung in das Erzählte verzichtet.182 In „Himmelskörper“ nimmt der Erzähler an der Handlung teil und erzählt in der „IchForm“, was schon zu Beginn des Romans deutlich gezeigt wird und in seinem Verlauf immer wieder vorkommt: „Ich war sehr aufgeregt, denn dieser Wieland war der erste Junge, mit dem ich mich verabredet hatte.“ (S. 109) „Als ich den Kölner Bahnsteig erreicht hatte, sah ich nur die Schwarzgekleideten unter den an mir Vorbeihastenden, sah nur die tote Taube vor der Imbißbude mit dem prosaischen Namen »Ham Ham«, […].“ (S. 310) Auf diese Form deuten auch bestimmte von der Erzählerinstanz verwendete Wendungen, die die Zugehörigkeit zu der erzählenden Person ausdrücken, wie z.B. „meine Mutter“, „meine Großmutter“, „mein Großvater“, „meine Hände“, „meine Zöpfe“. Das veranschaulichen folgende Beispiele aus dem Roman „Himmelskörper“: „Ich erschrak immer wieder, wie meine beiden Zöpfe da losgelöst von meinem Kopf an der Wand hingen. Und meine Mutter öffnete mein totes Haar und flocht es wieder und wieder.“ (S. 67) „Meine Großmutter tätschelte meinem Großvater das Bein, das er sofort wegnahm, wobei er kurz das Gesicht verzog wegen der wunden Haut am Strumpf.“ (S. 123) Vgl. v. Graevenitz, Gerhart: Erzähler. – In: Ludwig, Hans-Werner (Hrsg.): Arbeitsbuch Romananalyse. Tübingen: Narr 1998, S. 78-106, hier S. 92f. 180 181 Vgl. Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur, 1999, S.30ff: 182 Vgl. ebd., S. Siehe zum Thema Erzählsituationen nach Franz K. Stanzel vertiefend: v. Graevenitz, Gerhart: Erzähler. – In: Ludwig, Hans-Werner (Hrsg.): Arbeitsbuch Romananalyse. Tübingen: Narr 1998, S. 78-106; Strasen, Sven: Zur Analyse der Erzählsituation und der Fokalisierung. – In: Wenzel, Peter (Hg.): Einführung in die Erzählanalyse. Kategorien, Modelle, Probleme. Trier: WVT 2004, S. 111-140. 65 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” „Jo saß mit geradem Rücken auf ihrem Sofa, eine Teetasse in der Hand. Sie hob die kleine, mit bunten Vögeln bemalte Tasse nur leicht an, stülpte die Lippen vor und schlürfte ihren Tee. […] Meine Mutter und ich hockten auf kleinen Sesseln […] und hörten Jo zu.“ (S. 206) „Paul legte seine Hand kurz auf meine. Ich zuckte die Schultern. […] Im grüblerischen Gesicht meines Bruders spiegelten sich meine eigenen Gefühle.“ (S. 240) Die genannten Textstellen zeugen auch davon, dass der Erzähler Freia selbst verkörpert, die die Hauptfigur des Romans ist. Wichtig dabei ist, dass der Erzähler nur das mitteilt, was zu Freias individuellen Erinnerungen und was zum Familien- bzw. GenerationenGedächtnis, also zum kommunikativen Gedächtnis gehörende Informationen, zählt. Es wird davon berichtet, woran die Hauptfigur selbst teilgenommen oder was sie von anderen Protagonisten gehört hat, was von Erfahrungshaftigkeit zeugt. Die Erzählerinstanz spricht z.B. über ihre individuellen Erinnerungen an die unglückliche Liebe zu Wieland, der sie für ihren Zwillingsbruder verlassen hat. Darüber spricht sie aber erst, als sie die Beiden im Wald sieht. Da sie danach den Kontakt mit Paul vermeidet, ist sie auch nicht weiter in der Lage über die Entwicklung der Beziehung zwischen ihrem Bruder und Wieland Auskunft zu geben. Wenn sie nach den Erinnerungen aus dem Familiengedächtnis greift, erzählt sie nur davon, was sie von den Großeltern und der Mutter über die Geschichte der eigenen Familie in den Gesprächen gehört hat. Der Erzähler stellt also die Gedanken und Gefühle dar, die nur ihm gehören. Was die Anderen fühlen und denken, weiß er nicht. Nur das, was in den Gesprächen Ausdruck fand und was zu Freias Erlebnissen gehörte, kommt im Text vor. Die besprochenen Merkmale, die der Erzähler in „Himmelskörper“ charakterisieren, weisen darauf hin, dass es sich in diesem Roman um die Ich-Erzählsituation handelt. Es existiert jedoch eine Textstelle, die die Feststellung, dass es im ganzen Text um die erwähnte Erzählsituation geht, in Frage stellt. Das dritte Kapitel, das den Titel „Blaue Stunde“ trägt, enthält einen Textabschnitt (S. 30-35), in dem schwer zu bestimmen ist, aus wessen Perspektive erzählt wird. Die in dieser Passage erzählte Geschichte betrifft Freias Mutter, die statt eines Abiturs eine Ausbildung als Orthopädieassistentin bei ihrer Tante Lena absolvierte. Eines Tages ließ sich die fünfzehnjährige Renate von einem gleichaltrigen Jungen namens Rudolf küssen, der bei ihrem Onkel Kurt in der Baumschule arbeitete. Aus diesem Grund bekam sie später große Angst, schwanger zu sein, was offensichtlich nicht der Fall war. 66 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” In der Darstellungsweise, die in diesem Textteil zutrifft, sind keine deutlichen Anzeichen dafür gegeben, dass der Rest des Romans aus der Sicht des vorhandenen IchErzählers erzählt wird. Wenn es um die Person Renate geht, dann wird sie mit dem Vornamen genannt und nicht als „meine Mutter“ bezeichnet. Jo und Mäxchen sind auch nicht mehr als Freias Großeltern dargestellt, sondern als Renates Mutter und Vater, was auch Onkel Kurt und Tante Lena betrifft und an mehreren Textstellen aufgezeigt wird, z.B.: „So pendelte Renate zwischen der stilistischen Wohnung ihrer Eltern – die mit viel zu vielen Möbeln und Erinnerungen vollgestopft war, in der ihr Vater in seinen aufgepolsterten Stuhl, sein rechtes Bein hochgelagert, Patienten legte und ihre Mutter stundenlang nähte, ohne ein Wort zu sprechen – und dem Gelände ihres schon in frühen Jahren glatzköpfigen Onkels und ihrer praktisch-fürsorglichen Tante mit den kräftigen, orthopädische Griffe gewohnten Händen.“ (S. 31) „Johanna, ihre Mutter, gab Renates Vater einen flachen Klaps auf den Hinterkopf […].“ (S. 33) Nicht nur die Benennung der Familienmitglieder stellt das Vorhandensein der IchErzählsituation in Frage. Der Erzähler scheint Renates Gedanken zu kennen, was im folgenden Textabschnitt bewiesen wird: „Nachts zu Hause allein in ihrem Bett, dachte Renate nach über das, was ihre Mutter einmal vage […] gemurmelt hatte […]. Renate, verwirrt von all den Gerüchen und Geschmäckern an ihrem Körper, bekam auf einmal große Angst“ (S. 34) Es ist deutlich zu bemerken, dass nicht nur ihre Gedanken, sondern auch ihre Gefühle der Erzählerinstanz bekannt sind. Die Erzählweise lässt keine Neutralität der Geschehensbeschreibung erkennen, z.B. „Er lächelte verlegen“ (S. 34), „Dann, endlich, als sie ihre Tage bekam, legte sich die Furcht, schwanger zu sein“ (S. 35), was bei neutraler Darstellung beispielsweise so ausgedrückt werden könnte: „Er lächelte.“, „Dann, als sie ihre Tage bekam, legte sich die Furcht, schwanger zu sein“. Insofern kann man behaupten, dass es sich hier um keine personale, sondern auktoriale Erzählsituation“ handelt. Wenn man aber diese Passage genauer untersucht, kommt man zum Schluss, dass dieser Erzählertyp ausgeschlossen werden muss. Erstens ist der Erzähler nicht allwissend und sein Wissen über die Figuren ist begrenzt, wovon einige Vermutungen zeugen: „Vielleicht fuhren die Männer ja mit den Mädchen in ein Land jenseits der Baumgrenze“, „Vielleicht hatte Renate damals gespürt, daß die Reihenfolge verkehrt war […].“ (S. 32) Zweitens wird die Tochter von Lena und Kurt, 67 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” die Renates Cousine war, als „Tante Marion“(S. 31) bezeichnet. Dies deutet darauf hin, dass hier von Freias Tante, also von der Tante des im Roman vorhandenen IchErzählers geht. Drittens wird im diesem Abschnitt nicht von „russischen Soldaten“, sondern von „dem Russen“ gesprochen: „Tante Lena, die zusammen mit Jo und der kleinen Renate vor »dem Russe« geflohen war […].“(S. 31). Dieser gruppenspezifische Ausdruck weist auf die Gespräche in Freias Familie hin, in denen von „den Russen“ gesprochen wird. Er wird im Familiengedächtnis behalten, herausgeholt und für die Bezeichnung der russischen Soldaten benutzt. Da in der Textpassage die Rede von Renates Erlebnissen ist, herrscht in dem Textabschnitt der erfahrungshaftige Modus vor. Die Dominanz der Erfahrungshaftigkeit, die den auktorialen Erzähler ausschließt, wird durch den Ausdruck „die Russen“ bewiesen. Viertens soll auch der vorherstehende Text berücksichtigt werden: „Während wir Zitronen zum Nachtisch aßen […] erzählte Renate auf einmal von einem sommersprossigen Jungen namens Rudolf, der bei Onkel Kurt in der Baumschule gearbeitet hatte. […] einmal, als sie sich auf der Couch ausruhte, hatte er plötzlich vor ihr gekniet und sie geküßt…“ (S. 30) Es ist wie eine Einleitung in die nachfolgende Geschichte, die die Erinnerung aus Renates individuellem Gedächtnis betrifft, die plötzlich hervorgehoben wurden und die Renate im Gespräch ihrer Tochter vermittelte, was für das kommunikative Gedächtnis charakteristisch ist. Sie wurden dadurch Teil des Familiengedächtnisses, aus dem Freia sie herausgenommen und nacherzählt hat. Es kommen in der untersuchten Passage viele Anzeichen vor, dass es nicht nur aus der Perspektive des Ich-Erzählers erzählt wird. Die genauere Analyse, die die vier genannten Punkte darstellen, gilt als Beweis dafür, dass es in diesem Textabschnitt doch um die Ich-Erzählersituation geht. Man kommt also zum Schluss, dass es sich im ganzen Roman „Himmelskörper“ um den Ich-Erzähler handelt. 4.2.4.2 Zum Erzähler nach Gérard Genette Das von Franz Stanzel vorgestellte Modell der Erzählsituationen wurde einer Kritik unterzogen. Die von ihm eingeführten Begriffe wurden als nicht ausreichend differenziert betrachtet. Sie werden u.a. von Gérard Genette weiter untersucht und entfaltet. 68 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” Genette hat einige Begriffe von Stanzels Theorie inhaltlich unverändert übernommen. Dies betrifft die Unterscheidung zwischen dem Erzählen in der 1. und in der 3.Person. Er stellte Stanzel gegenüber fest, „dass diejenigen Erzähler, die nicht Teil der erzählten Welt sind, also klassische Er-Erzähler im Sinne Stanzels, häufig auch in der 1. Person sprechen […].“183 Genette stellte also ein neues Modell vor, in dem er von der „Stimme“ spricht, was Stanzels Kategorie der „Person“ entspricht.184 Je nachdem in welcher Beziehung der Erzähler und die Figuren stehen, werden nach Genette zwei Erzählertypen unterschieden: homodiegetischer Erzähler, der als eine Figur an der Erzählung teilnimmt und heterodiegetischer Erzähler, der nicht zu den in der erzählten Geschichte beteiligten Figuren gehört. 185 Auch die Frage, nach der Perspektive, aus der erzählt wird, hat Genette genauer differenziert. Was Stanzel als „Außen-„ und „Innen-Perspektive“ bezeichnet hat186, steht bei Genette unter dem Begriff „Fokalisierung“. Es geht hier um die Antwort auf die Frage, wie viel weiß der Erzähler bezüglich der Figur. Es werden drei Typen der Fokalisierung unterschieden: Null-, interne und externe Fokalisierung, die auch auktoriale, aktoriale und neutrale Fokalisierung genannt werden. In der Erzählung mit Nullfokalisierung spricht man von einer Übersicht, d.h. der Erzähler weiß bzw. sagt mehr als irgendeine Figur weiß. Bei der internen Fokalisierung weiß der Erzähler nicht mehr, als die Figur selbst weiß, von daher wird bei diesem Fokalisierungstyp von der Mitsicht gesprochen. In der Erzählung mit externer Fokalisierung spricht man von der Außensicht, d.h. man erfährt vom Erzähler weniger, als die Figur weiß. Es werden beispielsweise nicht die Gedanken oder Gefühle einer Figur dargestellt.187 Vergleicht man die Modelle von Stanzel und Genette, so stellt man fest, dass dem auktorialen Erzähler (nach Stanzel) die unfokalisierte heterodiegetische Narration (nach Strasen, Sven: Zur Analyse der Erzählsituation und der Fokalisierung. – In: Wenzel, Peter (Hg.): Einführung in die Erzählanalyse. Kategorien, Modelle, Probleme. Trier: WVT 2004, S. 111-140, hier S. 120. 183 184 Vgl. Genette, Gérard: Die Erzählung. München: Wilhelm Fink 1998, S. 245. 185 Vgl. Martinez, Matias/ Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München: C.H. Beck 2007, S. 80. Siehe dazu vertiefend: Genette, Gérard: Die Erzählung. München: Wilhelm Fink 1998. 186 Bei der Innerperspektive wird von der Perspektive einer Figur erzählt, bei der Außenperspektive erfolgt das Erzählen von einem Blickpunkt, der außerhalb der erzählten Geschichte und Romanfiguren liegt. – Vgl. Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur, 1999, S. 32f. 187 Vgl. Martinez, Matias/ Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, 2007, S. 64. Siehe auch: Genette, Gérard: Die Erzählung. 1998, S. 135f. 69 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” Genette), dem personalen Erzähler hingegen die heterodiegetische Narration mit interner Fokalisierung und dem Ich-Erzähler der homodiegetische Erzähler gegenüber steht.188 Bei der Untersuchung der Erzählerinstanz hat Genette auch einen zusätzlichen Aspekt in Betracht gezogen, nämlich die Erzählebenen.189 Setzt man die zwei ersten Erzählebenen und die Stellung des Erzählers zum Geschehen zusammen, so unterscheidet man vier Erzähltypen: 1. extradiegetisch-heterodiegetisch – der Erzähler, der eine der ersten Erzählebene mitgeteilte Geschichte erzählt, aber nicht zu ihren Figuren gehört; 2. extradiegetisch- homodiegetisch – der Erzähler, der die eigene Geschichte auf der ersten Erzählebene erzählt; 3. intradiegetisch-heterodiegetisch – der Erzähler, der eine auf der zweiten Erzählebene mitgeteilte Geschichte erzählt, aber nicht zu den Figuren gehört; 4. intradiegetisch-homodiegetisch – der Erzähler, der die eigene Geschichte der zweiten Erzählebene erzählt.190 Diese Einteilung lässt sich noch an dem Grad der Beteiligung am Geschehen ergänzen. Die Möglichkeiten stellte Susan Sniader Lanser dar und dies sind: 1. Unbeteiligter Erzähler, 2. Unbeteiligter Beobachter, 3. Beteiligter Beobachter, 4. Nebenfigur, 5. Eine der Hauptfiguren, 6. Die Hauptfigur. Die erste Möglichkeit besteht nur bei dem heterodiegetischen Erzähler, die anderen stehen für Varianten des homodiegetischen Erzählers, wobei der Erzähler, der zugleich die Hauptfigur ist, autodiegetischer Erzähler genannt wird.191 In „Himmelskörper“ werden die Erzählungen vom Ich-Erzähler vermittelt, was bei der Analyse nach Stanzels Modell bewiesen wurde. Da nur die Erinnerungen aus individuellem und Familiengedächtnis thematisiert werden, die Freias Wissen nicht überschreiten, handelt es sich im ganzen Roman um die interne Fokalisierung. Der Erzählertyp wechselt aber je nachdem, um welche Erzählebene es sich handelt, 188 Vgl. Genette, Gérard: Die Erzählung. 1998, S. 269. 189 Siehe zu diesem Thema ausführlich das Kapitel „Zum Zeitpunkt und Ort des Erzählens“. 190 Vgl. Martinez, Matias/ Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, 2007, S. 81. 191 Vgl. ebd., S. 82. 70 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” irrelevant ob Freia eine Geschichte aus dem Leben der Familienmitglieder, an der sie nicht teilgenommen hat oder die eigene Geschichte erzählt. In der Hauptgeschichte, die auf der Gegenwartsebene verläuft, kommt Freia als Hauptfigur vor. Von daher wird hier von einem extradiegetisch-autodiegetischen Erzähler gesprochen. Die Geschichten, die die erste bzw. zweite Vergangenheitsebene betreffen und an denen Freia beteiligt ist, werden vom intradiegetischenautodiegetischen Erzähler erzählt. Der Übergang zwischen beiden Erzählebenen veranschaulicht die Situation gleich am Anfang des Romans, in der die Hauptfigur sich in einem Zug nach Köln befindet und die Familienfotos anschaut, die ihre Erinnerungen hervorrufen: „Ich blickte noch einmal auf das Bild von Peter mit den Kirschen über den Ohren und mußte wieder daran denken, wie mein Vater frühe taubengraue Briefe an »Gott« geschrieben und ins Meer geworfen hatte. »Papa, was hast du denn Gott geschrieben?« fragten Paul und ich. Peter antwortete nur: »Das bleibt mein Geheimnis.«“ (S. 9) Das Anschauen von Peters Foto verläuft noch auf der extradiegetischen Ebene, die aus dem individuellen Gedächtnis hervorgerufenen Erinnerungen hingegen auf der intradiegetischen Ebene, die mit den Worten „ wie mein Vater…“ beginnen und mit dem Absatzende, d.h. mit den Satz „Sie [die Mutter – M.S.] glaubte immer, etwas nicht zu können.“ (S. 10) endet. An beiden Geschichten nimmt Freia teil, was im ersten Fall die Worte „Ich blickte“ und im zweiten Fall „fragten Paul und ich“ beweisen. Von daher verkörpert sie auf der ersten Stufe die autodiegetische Erzählinstanz, weil sie die Hauptfigur ist, und auf der zweiten Ebene den homodiegetischen Erzähler, weil in der Erinnerung Peter die Hauptfigur und sie eine Nebenfigur darstellt. Schon im nächsten Absatz kommt es wieder zu Übergängen zwischen den Erzählebenen. Der Anfang „Der Regen wurde stärker, und bald waren Häuschen. die Felder und die Traktoren nur noch rote, gelbe und grüne Flecken, begleitet von einem beständigen Prasseln und Trommeln.“ (S. 10) wird wieder vom extradiegetischenhomodiegetischen, als Beobachter vorkommenden Erzähler mitgeteilt, weil dies wieder von Freia erzählt wird, die sich im Zug befindet und den Regen beobachtet, während sie sich an Peter erinnert. In den nächsten Sätzen werden diese Erinnerungen an den Vater folgendermaßen ausgedruckt: „Pe-ter. Pe-ter. Pe-ter. Pe-ter, der Kopfschmerzen hat, den eine Wespe gestochen hat, der am Strand auf eine Qualle getreten ist. Der am ersten 71 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” Urlaubstag in Dänemark alle mit seiner schlechten Laune quälte, weil er keinen Zigarettenautomaten neben der Blockhütte fand. Der seine lustigen Geschichten schreib, bis man vor Müdigkeit, und weil auch Lachen auf die Dauer anstrengend ist, nicht mehr konnte.“ (S. 10) In dieser Passage kommt wieder der intradiegetisch-homodiegetische Erzähler zu Wort. Der Erzähler spricht wieder über die vergangenen Ereignisse, die in seinem individuellen Gedächtnis behalten werden. Da es um seine eigenen Erinnerungen geht, ist Freia eine der Figuren, die „vor der Müdigkeit […] nicht mehr konnte“. Sie selbst ist aber keine Hauptfigur, deswegen gilt sie nicht als autodiegetischer, sondern homodiegetischer Erzähler. Ähnliche Übergänge kommen in dem Roman öfters vor. Es sind auch solche Textstellen zu finden, in denen nicht nur der Übergang zwischen den Erzählebenen, sondern auch zwischen den Arten der Beziehungen von Erzähler und Figur stattfindet. Dies wird z.B. in der Passage deutlich, in der über Renates individuelle Erinnerungen an den ersten Kuss erzählt wird und die bei der Analyse nach Stanzels Modell genauer untersucht wurde. Bevor es aber zu dieser Erzählung über das Vergangene kommt, wird vom extradiegetisch-autodiegetischen Erzähler mitgeteilt, wie es zu Renates Erzählen gekommen ist: „Es war fünf nach sechs, und bei Christian machte niemand auf. Das irritierte mich […]. Ich verordnete mir, bis halb sieben zu warten. Da Christian nicht kam […] überlegte ich, was ich tun sollte. Plötzlich kam mir die Idee, bei meinen Eltern vorbeizuschauen.[…] Meine Mutter stand irritiert, fast ein wenig erschrocken, in der Tür.“ (S. 29) Freia war also mit Christian verabredet und da er aber nicht kam, entschied sie sich dafür, ihre Eltern zu besuchen, wobei zu Hause nur die Mutter war. Freia tritt als die Hauptfigur, soweit die Figur der Mutter nicht vorkommt, auf und das Erwähnen Freias Freundes weist darauf hin, dass es um die Gegenwartsebene, also um die Hauptgeschichte geht. Deswegen ist sie als extradiegetisch-autodiegetisch bezeichnet. Als Renate in Erscheinung tritt, sind sie und Freia Hauptfiguren, deswegen ist der Erzähler nicht mehr autodiegetisch, sondern homodiegetisch. Beim Nachtischessen begann die Mutter plötzlich von ihrem vergangenen Erlebnis zu sprechen: „Während wir Zitronen zum Nachtisch aßen […] erzählte Renate auf einmal von einem sommersprossigen Jungen namens Rudolf, […] einmal, als sie sich auf der Couch ausruhte, hatte er plötzlich vor ihr gekniet und sie geküßt…“ (S. 30) 72 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” Der Erzähler beginnt mit den Worten „einmal, als sie sich auf der Couch ausruhte“ über die Vergangenheit zu sprechen, an der er nicht teilnimmt, weil die erzählte Geschichte von den individuellen Erinnerungen an die Jugend einer anderen Person handelt. Ab dieser Stelle ist der Erzähler intradiegetisch-heterodiegetisch. Mit dem Ende der Geschichte geht er zurück in den extradiegetisch-homodiegetischen über, was die folgende Textstelle beweist: „Dann, endlich als sie ihre Tage bekam, legte sich die Furcht, schwanger zu sein. Ich wischte mit einem Lappen den Schaum und einige Krümel aus dem Ausguß und gab Renate den letzten Teller zum Abtrocknen. […]Sie [die Mutter – M.S.] hängte das Tuch an seinen Haken und nahm sich einen Lakritzbonbon aus dem umgedrehten Deckel […].“ (S. 35) Das Erzählen verläuft wieder auf der Gegenwartsebene und der Erzähler spricht wieder in der Ich-Form. Er ist aber eine der Hauptfiguren, denn die Mutter kommt als die zweite Hauptfigur in dieser Geschichte vor. Im Roman treten nicht nur einzelne Übergänge zwischen dem extra- und intradiegetischer und dem homo- und heterodiegetischen Erzähler auf. Es kommt auch zu mehreren Wandlungen zwischen den Erzähltypen innerhalb einer Textpassage, wobei auch auf metadiegetischer bzw. hypodiegetischer Ebene erzählt wird. Folgendes Beispiel macht solche Situation anschaulich. Es wird von der Kindheit von Freia und Paul gesprochen, als sie den Großvater zum Sprechen über den Krieg beinahe gezwungen haben. „[…] ich [hatte – M.S.] auf meine Weise nachgebohrt. Ich nahm Großvaters große schwere Hand in meine und rief: »Gefangen! Die laß ich erst wieder frei, wenn du uns erzählst, wo dein Bein ist!«“ (S. 86). Mäxchen hat die Geschichte, in der er als Soldat im Krieg diente, fragmentarisch und nicht zusammenhängend erzählt, was die Worte „Stockend suchte er nach einleitenden Worten, seine Erzählung war nicht zusammenhängend, er unterbrach sich selbst mit seinem Husten.“ (S. 86) beweisen. Die Erinnerungen des Großvaters werden aus seinem individuellen bzw. kommunikativen Gedächtnis hervorgehoben, denn erstens, betreffen sie seine eigenen Erlebnisse und zweitens, werden sie bruchstückhaft erzählt, was die individuellen Erinnerungen charakterisiert. Bis an dieser Stelle spricht der intradiegetischhomodiegetische Erzähler. Ab dem nächsten Satz: „Er was Soldat, erfuhren wir, »für Hitler« zog er in den Krieg, nach Rußland, am Anfang.“ (S. 87f) kommt es zu ständigen 73 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” Wechseln der Vergangenheitsebenen und somit zu Übergängen zwischen den Erzähltypen innerhalb einzelner Sätze. Die Satzglieder „Er war Soldat“, „»für Hitler« zog er in den Krieg, nach Rußland“ werden von dem metadiegetisch-heterodiegetischen Erzähler vermittelt. Bei Worten „erfuhren wir“, „»lief alles wie am Schnürchen«, murmelte er“ kommt wieder Freia als intradiegetisch-homodiegetischer Erzähler vor. Solche Mischung beobachtet man auch im weiteren Teil des Erzählens vom Kriegsgeschehen. Nächste Textzeilen beinhalten einen deutlichen Übergang vom intradiegetischhomodiegetischen auf den metadiegetisch-heterodiegetischen Erzähler. Nach dem Gespräch, in dem der Angehörige der Großelterngeneration der Enkelgeneration über den Krieg erzählte, gingen Freia und Paul als Hauptfiguren in ihr Kinderzimmer und auf dem Bett liegend sprachen sie miteinander darüber, was sie vom Mäxchen erfahren haben. „Paul und ich schlichen uns ins Kinderzimmer. Wir legten uns zusammen auf die obere Etage unseres Stapelbetts […]. Wir sprachen leise miteinander. Man hatte auf Großvater geschossen. Armes Mäxchen. Er ging mutig nach »Rußland«, blieb sogar einen ganzen Winter, anstatt zu Hause Weihnachten zu feiern, er harrte aus, damit alles wieder »wie am Schnürchen« lief, und als Dank dafür schoß man auf ihn. Der Russe mußte ein besonders fieses Monster sein. Die Welt jenseits des Bleichen Sees schien voller Ungerechtigkeiten.“ (S. 87) Der Erzähler erzählt, was in den Gedächtnissen von Freia und Paul von der Geschichte geblieben ist. Er kommt auf die von Mäxchen dargestellten Ereignisse zurück, an denen der Erzähler selbst unbeteiligt bleibt. Das ist Beweis dafür, dass es um den metadiegetisch-heterodiegetischen Erzähler geht. Bemerkenswert ist die Tatsache, wie die Kinder Großvaters Erzählung wahrgenommen und nacherzählt haben, also wie die Geschichte im Generationen- bzw. Familiengedächtnis behalten wurde. Es tauchen nämlich einige Merkmale auf, die für diesen Gedächtnistyp, der sich im memory talk entfaltet, charakteristisch sind. Erstens wird das Sprechen über die Vergangenheit von der Enkelgeneration verlangt. Zweitens kommt der Großvater in den Gedächtnissen der Zwillinge als „Armes Mäxchen“ vor, der für seine guten Taten unter Beschuss genommen wurde. Dabei erscheint der Russe, der geschossen hat, für die Kinder, die keine Ahnung vom Krieg hatten, als „fieses Monster“ also etwas Negatives. Es wird also das Bild vom „guten Großvater“ und „bösen Russen“ in die Gedächtnisse der Enkel und somit ins Familiengedächtnis eingeprägt. 74 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” Wie es an angegebenen Beispielen gezeigt wurde, verlaufen die in „Himmelskörper“ dargestellten Geschichten auf extra-, intra- und meta- bzw. hypodiegetischer Ebene und werden sowohl vom hetero- als auch vom homodiegetischen Erzähler vermittelt. Es kommt zu Mischungen innerhalb einzelner Sätze und zu deutlichen Übergängen zwischen den Erzähltypen. 4.2.5 Zur Figurenanalyse Bei der Frage nach der Inszenierung der Erinnerung im Roman „Himmelskörper“ erscheint die Analyse der handelnden Figuren wichtig zu sein. Je nachdem, wie die Konzeption und Charakteristik einzelner Figuren ist, werden von ihnen die vergangenen Ereignisse verschieden erinnert. Edward Morgan Forster unterschied zwischen zwei Figurenkonzeptionen: flachen und runden Figuren. Die flachen Figuren verändern sich im Verlauf der Erzählung nicht. Da ihre Konzeption auf einer einzigen Eigenschaft oder Idee basiert, überraschen sie mit ihrer Handlung den Leser nicht. Die runden Figuren verändern sich hingegen im Verlauf der Geschichte. Sie überraschen oft den Leser, weil sie aufgrund mehrerer Ideen oder Eigenschaften konzipiert sind.192 Die im Forsters Modell dargestellten Vorstellungen von flachen und runden Figuren wurden von Manfred Pfister übernommen und detaillierter systematisiert193. Pfister hat ein Modell von einer Figurenkonzeption und –charakteristik vorgestellt, das sich folgendermaßen beschreiben lässt. 1. Die Figuren können statisch, wenn sie innerhalb des Textes gleich bleiben, oder dynamisch sein, wenn sie sich im Verlauf der Erzählung entwickeln, wobei die Entwicklung kontinuierlich oder diskontinuierlich sein kann.194 2. Die Figuren können als eindimensional, wenn sie durch wenige Merkmale gekennzeichnet werden, oder mehrdimensional bezeichnet werden, wenn sie „durch eine Reihe von Merkmalen gekennzeichnet [sind – M.S.], wobei es um Herkunft, Vgl. Bachorz, Stephanie: Zur Analyse der Figuren. – In: Wenzel, Peter (Hg.): Einführung in die Erzählanalyse. Kategorien, Modelle, Probleme. Trier: WVT 2004, S. 51-67, hier S. 57f. 192 193 Vgl. Ludwig, Hans-Werner: Figur und Handlung. In: Ludwig, Hans-Werner (Hrsg.): Arbeitsbuch Romananalyse. Tübingen: Narr 1998, S. 106 – 144, hier S. 142. 194 Vgl. ebd., S. 143; Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur. Ein Praxisbuch für den Unterricht. Berlin: Cornelsen 1999, S. 38. 75 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” Werdegang, psychologische Dispositionen, weltanschauliche Positionen gehen kann. Im Fortlauf der Handlung werden immer neue Seiten der Figur offenbar.“195 3. Die Figuren sind geschlossen, falls sie für den Leser vollständig definiert erscheinen, oder offen, wenn sie für den Rezipienten rätselhaft bleiben.196 4. Die Figuren können als Personifikation, Typ oder Individuum bezeichnet werden. Werden sie durch eine extrem geringe Anzahl an Informationen charakterisiert und verkörpern somit eine Eigenschaft oder einen abstrakten Begriff, so stehen sie für eine Personifikation. Sind sie dagegen durch eine Menge von soziologischen und/oder psychologischen Eigenschaften gekennzeichnet, wobei eine Reduktion auf typische Merkmale erfolgt (z.B. ein autoritärer Vater), so werden diese Figuren als Figurentyp bezeichnet. Beim Individuum handelt es sich hingegen um „das Einmalige und Unwiederholbare einer Figur. Damit muss die Figur mehrdimensional angelegt sein und durch eine Vielzahl von Details gekennzeichnet werden: Sprache, Herkunft, Aussehen, Charakter.“197 5. Die Figuren sind psychologisch, wenn sie psychologisch in einem plausiblen Rahmen der subjektiven Figurenperspektive verbleiben, oder transpsychologisch, wenn die diese Rahmen überschreiten.198 Die Figuren unterscheiden sich nicht nur durch innere und äußere Merkmale, sondern auch durch ihre Gefühle und Gedanken sowie ihre Beziehungen zu anderen Figuren.199 Ihre Charakteristik kann auf zwei verschiedene Weisen erfolgen: figural oder auktorial. Bei einer figuralen Charakteristik wird die Figur aus einer Figurenperspektive, also von einer anderen Figur beschrieben. Bei einer auktorialen Charakteristik wird der Figur aus der Erzählerperspektive, d.h. über den Erzähler bestimmt.200 Im Roman „Himmelskörper“ ist der Erzähler durch eine der handelnden Figuren verkörpert. Von daher werden alle Figuren figural charakterisiert. Die Figurenkonzeption ist von Figur zu Figur unterschiedlich und hängt im großen Maße 195 Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur, 1999, S. 38. 196 Vgl. Ludwig, Hans-Werner: Figur und Handlung, 1998, S. 143. 197 Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur, 1999, S. 38. 198 Vgl. Ludwig, Hans-Werner: Figur und Handlung, 1998, S. 143. 199 Vgl. Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur, 1999, S. 37. 200 Vgl. ebd., S. 39. 76 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” von den Erlebnissen und von der Art und Weise ab, auf der sich die Figuren an das Vergangene erinnern. Dies wird im folgenden Teil der vorliegenden Arbeit genauer untersucht und dargestellt. 4.2.5.1 Zu Figuren der Großelterngeneration Im Roman „Himmelskörper“ gehören zur Großelterngeneration Johanna und Maximilian Bonitzky, die Jo und Mäxchen genannt werden. Die Großmutter ist die Person in der Familie, die die Vormacht über allen Familienmitgliedern, auch über Peter hat. (S. 53, 215) Sie stammt aus Königsberg, was sie in familiären Gesprächen betont: „Denn wie ihr wißt […] eigentlich komme ich aus Königsberg.“ (S. 99) Die Heimatstadt von Mäxchen bleibt unbekannt. Die Beiden erscheinen als Angehörige der Erlebnisgeneration, indem sie an dem Krieg aktiv Teilgenommen haben. Wie Jo selbst sagt, sie seien in der Partei gewesen. (S. 219) Mäxchen kämpfte dazu an der Ostfront und, als er achtundzwanzig Jahre alt war, verlor er im Krieg ein Bein. (S. 97) Die Mitgliedschaft bestätigt nicht nur der Inhalt der nach Jos Tod bei der Wohnungsauflösung gefundenen Kisten aber auch die Tatsache, dass die Großeltern zu Hause Strichlisten über die Nachbarn hatten und sogar ihre Tochter zur Bespitzelung der Spielkameraden angehalten haben. (S. 251) Dazu kommt auch die Feststellung vom Erzähler, der sagt: „Bevor die Pfadfinder 1933 verboten wurden, war er [der Großvater – M.S.] ein begeistertes Mitglied gewesen.“ (S. 97) Selbst Renate sagt im Gespräch mit Freia, dass die Großeltern „als Nazis der ersten Stunde seit langem sehr privilegiert waren“ (S. 300) Jo und Mäxchen waren also „gar keine unpolitischen Mitläufer des NS-Regimes, sondern 200%ige Nazis, die auch entsprechende Privilegien genossen und zudem die Nachbarn bespitzelten.“201 Wegen seiner NSDAP-Mitgliedschaft und seiner Tätigkeiten gehören sie den Tätern an, die sich zugleich als Besiegte erwiesen, weil sie als Deutsche den Krieg verloren haben. Von daher zeigen Jos und Mäxchens Erinnerungen die für die Täter- und Besiegtengedächtnis charakteristischen Merkmale auf und ihre Art und Weise, auf die die Großeltern über die Vergangenen Ereignisse erzählen, sind sie von Abwehrmechanismen gekennzeichnet. 201 Emmerich, Wolfgang: Dürfen die Deutschen ihre eigenen Opfer beklagen? Schiffsuntergänge 1945 bei Uwe Johnson, Walter Kempowski, Günter Grass, Tanja Dückers und Stefan Chwin. – In: Böning, Holger/ Jäger, Hans Wolf/ Kątny, Andrzej/ Szczodrowski, Marian: Danzig und der Ostseeraum. Sprache, Literatur, Publizistik. Bremen: edition lumière 2005, S. 293-323, hier S. 311. 77 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” Die Großeltern unterscheiden sich in ihrer Erzählweise. Wie Mäxchen über den Krieg erzählt, wird von Freia folgendermaßen dargestellt: „Aber mein Großvater sprach nicht oft vom Krieg. Noch als wir älter geworden waren, bedrängten wir ihn geradezu mit Fragen, doch meistens berichtete er nur von diesem und jenem U-Boot, dieser und jener Flakabwehr, vertiefte sich in technische Details. Wenn er plötzlich über seine eigenen Erlebnisse sprach. dann nur äußerst gefühlsbetont. Er fluchte und schimpfte, er schüttelte den Kopf, bohrte seinen Zeigefinger in die Luft, entwarf wirre Topographien im Wohnzimmer, trommelte auf die Tischplatte. Manchmal standen ihm auch die Tränen in den Augen. Und manchmal strich er über seine Prothese und sah Paul und mich, stellvertretend für diejenigen, die ihn in den Krieg geschickt hatten, vorwurfsvoll und unendlich traurig an.“ (S. 97) Freias Großvater spricht selten vom Krieg. Bei familiären Gesprächen erzählt er aber ohne dazu gezwungen zu sein, wobei er sich auf die militärischen Details konzentriert, was er für sein Revier hält (S. 130), und immer an gleichen Stellen redet. Seine Äußerungen, die von eigenen Erlebnissen handeln und somit seine individuellen Erinnerungen betreffen, sind gefühlsbetont. Die Erzählweise seiner Ehefrau ist hingegen ganz anders. Als Freia und Paul noch Kinder waren, wollte Jo sie vor den Kriegserzählungen schützen, u.a. deswegen, weil sie meinte, die Enkel wären zu jung und würden nichts davon verstehen. (S. 85, 98) Wurden die Zwillinge älter, so begann die Großmutter vom Krieg „bei jeder sich bietenden Gelegenheit“ zu erzählen. (S. 98) Dabei unterscheiden sich ihre Erzählungen von den der Großmutter dadurch, dass sie oft keine Gefühle dabei zeigt: „Die Stimme meiner Großmutter zitterte nicht oder nicht mehr bei diesen Erzählungen; zu oft hatte sie diese zurechtgelegten Sätze wiederholt. Wie eine Lehrerin klang sie, wenn sie so sprach, oder eine Reiseführerin, nicht wie meine Großmutter.“ (S. 100) Zwar vermitteln die Großeltern ihre individuellen Erinnerungen auf andere Art und Weise, in ihren Erzählungen versuchen die Beiden jedoch, sich eine ungebrochene Selbstdarstellung zu erschaffen. Dabei bedienen sie sich einiger Abwehrmechanismen, was besonders in Jos Äußerungen deutlich zu sehen ist. Obwohl die Großeltern NS-Verbrecher waren, versuchen sie sich zu Opfer des NaziRegimes zu stilisieren. Selbst die Tatsache, dass Mäxchen sein Bein im Krieg verloren hat, macht ihn zum Kriegsopfer, was er auch in seinen Erzählungen Ausdruck gefunden hat. Er wurde nämlich von den kleinen Enkelkindern als „armes Mäxchen“ bezeichnet, 78 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” auf den die „bösen Russen“ für seine guten Taten geschossen haben. (S. 87) Er selbst wurde von Johanna wie ein Kind (S. 123), sogar als ein Wackelkind behandelt: „Jo rieb Mäxchen täglich morgens und abends die vernarbte Haut mit Ringelblütencreme ein. Großvater lag dann mit gespreizten, sehr dünnen weißen Beinen auf dem Rücken im Bett – ein bißchen wie ein Baby, das gewickelt wird.“ (S. 77) Auch Renate macht ihn einigermaßen zum Opfer, indem sie feststellt: „Er hat genug gelitten.“ (S. 188). Nicht nur Mäxchen wird als Kriegsopfer dargestellt. Die Großmutter machte sich auch zur leidenden Person, da sie ihre Lieblingsstadt Königsberg verlassen musste, was für sie „besonders furchtbar“ und „das Schlimmste“ in ihrem ganzen Leben war. (S. 245f) Dann musste sie mit ihrer Schwester Lena und Tochter aus damaligem Gotenhafen auf dem „Theodor“ fliehen, wobei sie bei minus 20 Grad am Pier stehen mussten. Die Geschichten von Mäxchen als Opfer des Krieges und von Jo, Lena und Renate als Flüchtlinge hatten als Ziel, bei den Enkeln Mitleid und Empathie hervorzurufen. Und dies ist für die Angehörigen der Großelterngeneration typisch, die Tätergesellschaft angehört haben. Die Erzählungen von Großeltern sind oft mit der Distanzierung gekennzeichnet, was Freia selbst betont: „Ich dachte an all die distanzierten und ironischen Bemerkungen meiner Großeltern in den vergangenen Jahrzehnten über die Nazi-Zeit und über Hitler selber.“ (S. 262) Beispielsweise sagt die Großmutter, dass die Nazis von ihr „endgültig diskreditiert“ worden sind, weil sie Juden–Kinder, die ihr „egal“ waren, umgebracht haben. (S. 104) Sie gibt sich und Mäxchen auch für keine ‚Nazis‘ aus, nachdem sie von Freia nach Bedeutung der „guten Verbindungen zur Partei“ gefragt wird: „Freia wir waren keine Nazis. Jede gewalttätige Ausschreitung haben wir abgelehnt. Grob, furchtbar fanden wir das. Vulgär. Diese Horden, die da herumzogen. Widerlich. Dieser Krach. Unser Umfeld war treudeutsch, aber nicht nazideutsch. Das war ein großer Unterschied[…].“ (S. 126) Die Feststellung, dass die Großeltern keine Nationalsozialisten waren, ist für die Erlebnisgeneration charakteristisch und wird in mehreren familiären Gesprächen betont. Dazu werden auch einige Geschichten mehrmals erzählt, die sogar ihren eigenen Namen haben und in denen die Großeltern als „gute Deutsche“ vorkommen, die einen kleinen Widerstand zu leisten versuchten. Als Beispiel gilt die Darstellung einer Geschichte, die von Paul „Die berühmte Bananengeschichte“ genannt wird. 79 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” „»Die berühmte Bananengeschichte« lässt sich in wenigen Zeilen zusammenfassen: Jo war Ende der dreißiger Jahre in einem Lebensmittelladen gewesen, als sie bemerkte, daß neben ihr ein kleiner Junge mit Judenstern stand. Er war schlecht gekleidet und sah kränklich aus. Jo hatte Mitleid mit dem Jungen und überlegte nun, ob sie es wagen könnte, dem Juden eine Banane zu schenken, aber dann hatte sie zu große Angst, dabei vom Verkäufer beobachtet zu werden, und daher tat sie es nicht.“ (S. 104) Wie Jo die Geschichte dargestellte, wird von Freia folgendermaßen beschrieben: „Das Absurde an der Bananengeschichte war, daß Jo ihr Abwägen, ihren Wunsch zu helfen, ihre Unsicherheit und Angst jedesmal derart dramatisch schilderte, daß man am Ende fast den Eindruck bekommen konnte, Jo hätte ein KZ befreit. Irgendwie gelang es ihr, das Unterlassen einer Handlung zur Heldentat zu stilisieren.“ (S. 104) Das die Großmutter diesen kleinen Taten nach einer Heldentat gestaltet und sich fast zur Heldin stilisiert hat, ist für die Großelterngeneration charakteristisch. In Erzählungen dieser Generation kommen auch oft zur Darstellung von ‚bösen Russen‘, was auch in diesem Fall stattfindet, was folgendes Beispiel aus dem Roman „Himmelskörper“ veranschaulicht: „»[…] Weiß du, wie der Russe in Ostpreußen gewütet hat? Leute in Kirchen gedrängt und erschossen, Frauen vergewaltigt, Kinder, das waren doch alles Unschuldige! Also der Russe hat heimtückisch Ostpreußen abgeriegelt … « »Um die 4. Armee und die 3. Panzerarmee einzuschließen!« wart Mäxchen erregt ein. »… und Millionen von Zivilisten gezwungen, die Flucht übers Meer anzutreten. So war das.«“ (S. 128) Zu solchen Vorstellungen, die die russischen Soldaten im schlechten Licht darstellten, kam es oft in den Gesprächen zwischen Generationen in Freias Familie. Die Angehörigen der Großelterngeneration, die zugleich Täter waren, wollen nicht als solche erscheinen, sondern im Familiengedächtnis eine Vorstellung von guten Großeltern entwickeln. Im Falle der Figuren in „Himmelskörper“ ist es Jo und Mäxchen gelungen, ein Vorstellungsbild von ‚guten Großeltern‘ und ‚bösen Russen‘ in Freias und Pauls Gedächtnissen zu entwerfen und, sogar wenn die Zwillinge die Wahrheit über die Vergangenheit entdecken, zu erhalten. 80 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” Wie sich in der Fortsetzung der Geschichte erweist, bleiben Jo und Mäxchen ihren politischen Idealen treu.202 Mäxchen gibt Faszination an der Zeit der Nationalsozialismus aus, indem er kurz vor seinem Tod die Bienen den Menschen als Vorbild stellt und die Errungenschaften der Deutschen in der NS-Zeit angibt: „Das Volk braucht einen Führer. Aber nur einen.[…] »Der Mensch!«, fuhr er leise weiter fort, »sollte sich ein Vorbild an den Bienen nehmen. Damals waren wir fast soweit. Wir waren, kann man ohne Übertreibung sagen, die fortschrittlichste Gesellschaft der Welt. Nobelpreisträger. […] fünfmal Chemie von 1931 bis 1944.[…]«“ (S. 183f) Der Großvater erscheint auch judenfeindlich, indem er die sogenannten Kuckucksbienen mit dem Judenvolk vergleicht: „»Das ist eine Kuckucksbiene. Es sind Schmarotzerarten. Leben solitär, bauen keine Stöcke, sammeln keine Nahrungsvorräte, und Brutpflege betreiben sie auch nicht. « Der Tonfall meines Großvaters klang vorwurfsvoll. Er sah der einzelnen Biene mit gerunzelter Stirn nach. […] »[…] Für mich sind die Kuckucksbienen die Juden im Bienenvolk. Sie bereichern sich an den Grundlasen, die andere Völker für sie geschaffen haben. Nutznießerisch. Berechnend.[…]«“ (S. 187) Mäxchen hat seine politische Überzeugung nach dem Krieg nicht verändert. Er glaubt immer noch, dass ein Volk nur einen Führer braucht, womit eine Anspielung an Hitlers Person zu sehen ist, und bleibt ein Judenfeind. Auch Jo verändert ihre Weltanschauung nicht. Sie „spricht von ‚wertvollen Familien‘ und gebraucht ausschließlich die Bezeichnung ‚Gotenhafen‘, als hätte das Großdeutsche Reich weiterhin bestanden, als wäre Gotenhafen heutzutage ein Stützpunkt der Kriegsmarine gewesen.“203 Freias Großeltern bleiben innerlich die ganze Zeit Nationalsozialisten, was davon zeugt, dass sie die statischen Figuren im Roman „Himmelskörper“ verkörpern. Da sie aber von einer Menge der Merkmale gekennzeichnet sind und ihre neue Seiten im Laufe der Geschichte offenbar werden, wobei sie für den Leser nicht rätselhaft bleiben, werden sie als mehrdimensional und offen bezeichnet. Sie versuchen sich in memory talk zu Vgl. Jaroszewski, Marek: Das leuchtende Schiff. Der Untergang der „Wilhelm Gustloff“ bei Günter Grass und Tanja Dückers. – In: Böning, Holger/ Jäger, Hans Wolf/ Kątny, Andrzej/ Szczodrowski, Marian: Danzig und der Ostseeraum. Sprache, Literatur, Publizistik. Bremen: edition lumière 2005, S. 277-291, hier S. 282. 202 203 Ebd. 81 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” Kriegsopfern und leidenden Personen zu stilisieren und somit im kollektiven, also Familien- bzw. Generationengedächtnis eine Vorstellung von „guten Großeltern“ zu entwickeln und zu bewahren. Sie unterscheiden sich in Charakter und Verhaltensweise und referieren dabei viele für die Erlebnisgeneration, für Täter und Besiegte charakteristische Eigenschaften und Ideen. Von daher kann man sie als Individuen bezeichnen. Die Großeltern sind die Figuren im Roman „Himmelskörper“, deren fragmentarische und – solange Jo ihre Selbstkontrolle nicht verliert - bewusst selektierte Erinnerungen durch Kommunikation an die weiteren Generationen weitergegeben und somit sie Teile des Familien- bzw. Generationen-Gedächtnisses werden. Die Darstellung ihrer eigenen Erlebnisse zeigt auf die Dominanz des monumentalen Modus, wobei im Bezug auf Renates Erinnerungen kommt auch der antagonistische Modus zum Vorschein.204 Die Art und Weise, auf die Jo und Mäxchen die Vergangenheit darstellen, weist viele Merkmale auf, die für ein Täter- und zugleich Besiegtengedächtnis charakteristisch sind. 4.2.5.2 Zu Figuren der Elterngeneration Zur Elterngeneration gehören Freias Vater Peter und ihre Mutter Renate Sandmann. Die Beiden sind durch verschiedene Verhaltensweisen, Erfahrungen und Erlebnisse gekennzeichnet, was mit ihrer Herkunft und ihren Verhältnissen zum Krieg verbunden ist. Peter, der Orthopäde vom Beruf ist, ist eine Person, die im Zentrum der Familie steht, was von seiner Tochter folgendermaßen betont wird: „Weder Paul, der aus dem Stegreif Geschichten erfinden konnte, noch ich, das Mathe-As und Knobeltalent, und schon gar nicht meine Mutter, von der jeder glaubte, sie und ihre Frauenzeitschriften, ihren Kräutergarten und ihre Königsberger Klopse in- und auswendig zu kennen, standen im Mittelpunkt unserer Familie. Nein, es war immer Peter.“ (S. 10) Der Vater war ein energischer Mensch, der jede vom Leben gebotene Herausforderung nahm. Er war für Freia und Paul, als sie Kinder waren, ein Vorbild. (S. 70) Er erzählt seinen Kindern von nächtlichen Begegnungen „Waldgeistern“ bzw. Elfen, in 204 Siehe dazu das Kapitel „Zu Figuren der Elterngeneration“. 82 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” Wirklichkeit trifft er sich jedoch mit seinem Geliebten und fühlt dabei keine Schuldgefühle Renate gegenüber. Dabei interessiert er sich wenig für die Probleme seiner Kinder. Sinken die Schul- bzw. Studienleistungen, so fragt Peter nach den Gründen nicht, sondern erhöht sofort das Taschengeld von Freia (S. 232) und Paul (S. 242). Peter erscheint im Roman „Himmelskörper“ als die einzige Figur, die über den Krieg nicht spricht bzw. nicht sprechen darf und die vom Krieg nichts hören will. Den Grund dafür gibt Freia an, indem sie sagt: „Mein Vater schnitt das Thema »Nazi-Zeit« und »Zweiter Weltkrieg« nie an. Nicht weil er traumatische Erfahrungen gemacht hätte, über die er nicht sprechen wollte oder konnte, sondern, im Gegenteil, weil er keine traumatische Erlebnisse aufzuweisen hatte. Alles in allem war er unbeschadet durch den Krieg gekommen.“ (S. 96) Wie der Erzähler betont, musste kein Mitglied der Familien von Peter in den Krieg. Von daher wurde ihm Redeverbot zum Kriegsthema erteilt. (S. 96f) Die Figur Peters ist statisch und geschlossen, denn er verändert sich im Verlauf der Erzählung nicht und erscheint für den Leser vollständig definiert. Er ist durch wenige soziologische als auch psychische Merkmale gekennzeichnet, was davon zeugt, dass seine Figur eindimensional ist und als Typ gelten kann. Im Gegenteil zu Peter steht seine Frau Renate, die in der Kindheit „Natilein“ bzw. „Nati“ (S. 106, 132, 249) und später manchmal „Renätchen“ (S. 105, 250) von ihrer Mutter genannt wurde. Sie ist – wie der Erzähler betont – keine typische Mutter, die laut und herrisch sein soll: „Aber Renate war anders: Leise war sie, oft flüsterte sie ohne Grund. Sie war sehr schlank und hübsch mit ihrem feingeschnittenen slawischen Gesicht, den blonden langen Haaren und den blauen Augen, doch sie schminkte sich nie, zog sich möglichst unauffällig an, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. […] Statt uns Kindern im Haushalt ein paar Pflichten zu übertragen, erledigte sie das meiste stillschweigend.“ (S. 14) Nicht nur unauffällige Kleidung, sondern auch ihr „Talent im Nicht-anwesendSein“ (S. 15) führen dazu, dass Freia sie sogar als „Hausgeist“ (S. 283) bezeichnet. Dazu kommt auch die Tatsache, dass Renate viel zur gleichen Tageszeit macht: „Sie stand jeden Tag zu einer bestimmten Uhrzeit auf, ging immer nach dem Frühstück zum Briefkasten, zum Gymnastikkurs, zum Markt.“ (S. 284) Freias Mutter bedient sich, im 83 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” Gegensatz zu ihren Eltern, des Städtenamens „Gdynia“ bzw. „Gdingen“ (S.124). Die spricht auch immer von „Warszawa“ (S. 302) und hat einwandfrei Polnisch beherrscht. Renate ist im ersten Kriegsjahr geboren (S. 26), was sie zur Angehörigen der Elterngeneration und teilweise der Erlebnisgeneration macht. Da sie den Krieg als Kind erlebt hat, basiert ihr Wissen über diese Zeit weniger auf ihren individuellen Erinnerungen und im größeren Maße auf eigenen Recherchen, worauf der Erzähler den Leser aufmerksam macht: „Meine Mutter hatte versucht, den Makel, ein unmündiges Kind zu Kriegszeiten gewesen zu sein, später mit viel Lektüre auszugleichen – auf ihrem Nachttisch türmten sich Erinnerungen von Flüchtlingen und Sachbücher[…]“ (S. 130) „Sie [Renate – M.S.] schien […] die einzige zu sein, die sich für Publikationen über den Krieg interessierte, insbesondere für den Rußlandfeldzug und für die Flucht aus Ost- und Westpreußen.“ (S. 98) Von daher werden ihre Äußerungen bezüglich des Krieges mit Fakten, Zahlen und sogar militärischen Details überfüllt. Freias Mutter spricht von sich über den Krieg nicht. Falls sie es aber tut, wird ihre Erzählweise von ihren Eltern kritisiert: „Wenn Renate jedoch in diesen »Erzählt doch mal vom Krieg«Diskussionen das Wort ergriff und zum Beispiel berichtete, wie ein NSDAP-Kreisleiter einem Mann den Zutritt zu einem Sonderzug verwehrte, wurde sie meist sofort von Jo oder Mäxchen unterbrochen, die meinten, dieses oder jenes Detail hätte sie aber nun vollkommen falsch wiedergeben. Nun manchmal setzte sie sich durch und behielt das letzte Wort.“ (S. 98) Renates Aussagen über den Krieg wurden von den Angehörigen der Großelterngeneration als unzuverlässig dargestellt, indem Jo und Mäxchen betonen, dass sie alles als Kind erlebt hat. (S. 128) So kommt Freia zum Schluss, dass ihre Großeltern in Gesprächen über die Vergangenheit „eine gemeinsame Front gegen Renate“ bilden. (S. 125) Es lässt sich also feststellen, dass es zwischen Renate und ihren Eltern zu Konkurrenzerinnerungen kommt, was von der Dominanz des antagonistischen Modus zeugt. Renates Erlebnisse, die die Kriegszeit betreffen, sind mit der Parteimitgliedschaft und den Überzeugungen ihrer Eltern verbunden. Renate war nämlich in ihrer Kindheit von Jo und Mäxchen stark beeinflusst. Sie hatte ihre Spielkameraden bespitzelt und trat „als 84 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” Fünfjährige selbst als Vertreterin der Überzeugung ihrer Eltern auf […]“205, indem sie die Nachbarn denunzierte, die am Pier auch auf die „Theodor“ wollten. Wie sie das gemacht hat, wird von Jo folgendermaßen dargestellt: „»Da rief Natilein plötzlich … vorher war sie den ganzen Tag still vor Angst gewesen … also plötzlich rief die Kleine richtig laut: ›Die ham gar nicht mehr den Gruß gemacht. Schon ganz lange nicht mehr.‹ Und Nati streckte ihren dünnen kleinen Arm sehr gerade nach vorn… das weiß ich noch… der Schiffsmann […]der winkte mir und Renate dann zu…«“ (S. 249f) Durch diese Tat werden Jo, Renate und Lena auf die „Theodor“ genommen und die denunzierten Nachbarn: die Frau Hunstein mit ihrem Sohn Rudi, der am selben Tag wie Renate geboren ist, mussten auf die „Wilhelm Gustloff“, auf der sie ihren Tod fanden. Renate wird in der Familie, sowohl von ihren Eltern als auch von ihrem Onkel und ihrer Tante als „Lebensretterin“ betrachtet. (S. 250, 300) Sie selbst „wurde sich der Folgen ihrer Aussage erst später bewusst, als sie sich mit der ‚Gustloff’-Katastrophe zu beschäftigen begann“206 und aus diesem Grunde fängt an, Schuldgefühle zu empfinden. Um diese zu mildern, unternimmt sie mehrere Reisen zu ihrem Cousin Kazimierz, mit dem sie sich innerlich verbunden fühlt und der die einzige Person war, der Renate vertrauen konnte. (S. 300) Während sie bei ihm zu Besuch war, haben die Beiden vor allem viel geredet und dabei „viele Wässerchen zusammen getrunken“ (S. 301) Freia vermutet sogar, dass Renate in den wenigen Nächten, die sie mit Gesprächen mit Kazi – wie sie ihn nannte – verbrachte, mehr sprach als zu Hause in Monaten. (S. 156) Außer den Reisen zum Cousin schreibt Freias Mutter auch Briefe an ihn. Alles findet statt, solange er lebt. Als er sich das Leben nimmt, stellt sich Renate Fragen nach ihrer Berechtigung zum Leben. (S. 303) Kazimierz war nämlich nur ein Opfer des Krieges, indem er im zerbombten Warschau ohne Eltern aufgewachsen ist. Renate fühlt sich hingegen allen Taten, die sie als Kind begangen hat, vor allem des Todes von Frau Hunstein und Rudi schuldig. „Der Untergang der ‚Gustloff‘ hat sie [Renate – M.S.] ihr Leben lang nicht losgelassen. Sie kann ihren Schuldkomplex nicht überwinden, die Scham dafür, dass ihre Eltern ihre Verbindung mit den Tätern nicht wahrhaben wollen, Giesler, Birte: Krieg und Nationalsozialismus als Familientabu in Tanja Dückers’ Generationenroman Himmelskörper. – In: Vogel, Marianne/ Koch, Lars (Hrsg.): Imaginäre Welten im Widerstreit. Krieg und Geschichte in der deutschsprachigen Literatur seit 1900. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007, S. 286-303, hier S. 290. 205 206 Jaroszewski, Marek: Das leuchtende Schiff, 2005, S. 279. 85 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” das Bewusstsein, dass sie selbst unberechtigterweise dem Tod entkommen konnte, während andere nicht leben durften, die schuldlos waren.“207 Freias Mutter kann ihre Schuldgefühle nicht bezwingen. Schließlich nimmt sie sich das Leben. Renate bleibt im Verlauf der Handlung dieselbe. Als Vertreterin der Elterngeneration ist sie stets mit Schuldgefühlen belastet und kann sie nicht überwinden. Von daher ist sie eine statische Figur. Da sie still aber auch „unberechenbar“(S. 284) ist, was der Erzähler betont, wird sie als mehrdimensional bezeichnet. Sie bleibt dem Leser nicht rätselhaft, denn er weiß wie sie ist, und erfährt, dass ihre Verhaltensweisen aus den Kindheitserlebbnissen resultieren. Von daher ist sie eine geschlossene Figur. Sie ist als eine meist stille Person dargestellt, die eine „perfekte Doppelgängerin“(S. 18) ist und alles sammelt, was ihre individuellen Erinnerungen hervorrufen können. (S. 73ff, 273, 284) Dies sind die Merkmale, die darauf hinweisen, dass sie ein Individuum ist. Die Inhalte ihrer Aussagen über die Vergangenheit basieren teils auf ihren individuellen Erinnerungen, teils auf dem Wissen, das sie durch Recherche erworben hat. Die weisen also nicht auf den erfahrungshaftigen, sondern auf den monumentalen Modus hin. Dabei stehen sie den Erinnerungen der Großeltern gegenüber und werden stets von Jo und Mäxchen kritisiert, deswegen kann man von der Dominanz des antagonistischen Modus sprechen. 4.2.5.3 Freia als Vertreterin der Enkelgeneration Im Roman „Himmelskörper“ werden Freia und ihr Zwillingsbruder Paul als Vertreter der Enkelgeneration dargestellt. Sie erscheinen im Text als Kinder, später als etwa 20jährige und als Freia ihr Kind bekommt – als 30-jährige.208 Da Freia, eigentlich Eva Maria Sandmann, die Hauptfigur des Romans und zugleich die Ich-Erzählerin ist, wird sich die Analyse der Angehörigen der Enkelgeneration auf ihre Figur konzentrieren. In der Kindheit verwiesen Freia und Paul viele Ähnlichkeiten und ergänzten sich einander: Stüben, Jens: Erfragte Erinnerung – entsorgte Familiengeschichte. Tanja Dückers’ „WilhelmGustloff“-Roman „Himmelskörper“. – In: Beßlich, Barbara/ Grätz, Katharina/ Hildebrand, Olaf (Hg.): Wende des Erinnerns? Geschichtskonstruktionen in der deutschen Literatur nach 1989. Berlin: Erich Schmidt 2006, S. 169–189, hier S. 185. 207 208 Vgl. Partouche, Rebecca: Der nüchterne Blick der Enkel. Wie begegnen junge Autoren der Kriegsgeneration? Ein Gespräch mit Tanja Dückers. – In: Die Zeit, Nr. 19, 30. April 2003, S. 42. 86 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” „Ein Junge und ein Mädchen, die, gleich groß, im Kapuzenanorak nicht voneinander zu unterscheiden waren […]. Der eine konnte schon gut schreiben, die andere war gut im Kopfrechnen, der eine konnte sich Geschichten ausdenken. die andere die Namen der Sternbilder aufsagen, der eine […] aß gerne die obere Hälfte vom Brötchen und unreife Bananen, die andere die untere Hälfte und halb matschige Bananen[…].“ (S. 68) Freia erinnert sich in ihrer Erzählung daran, dass sie und ihr Bruder, als sie Kinder waren, nicht begreifen konnten, welche Unterschiede zwischen ihnen, also zwischen einem Mädchen und einem Jungen, bestehen. Sie konnten auch nicht verstehen, wie die Leute sie unterschieden haben: „Daß wir ein Junge und ein Mädchen waren und dies ein »großer Unterschied« wäre, kam Paul und mir damals nicht in den Sinn.“ (S. 69) „Wir sahen einander so ähnlich und waren doch ein Junge und ein Mädchen – was auch immer das genau bedeutete. Es gab den Unterschied, daß Paul weiter pinkeln konnte als ich, aber wieso behaupteten die Erwachsenen, schon beim Anblick unserer Gesichter zu wissen, wer das Mädchen und wer der Junge sei? Was machte den Unterschied aus?“ (S. 80) Freia nimmt sich als ein Mädchen nicht wahr. Sie machte mit Paul alles zusammen und will auch so wie er aussehen. Z.B. schneidet sie aus diesem Grunde ihre Zöpfe, als Peter Pauls Haare geschoren hat. Selbst, als sie „Blutflecken in [ihrer – M.S.] Unterhosen“ fand (S. 71) und von Renate Kochen lernen soll, fühlt sie sich keine Frau zu sein. Sie ist aber deprimiert und findet das ungerecht, weil sie sich „mit dieser blutigen, schmerzhaften Angelegenheit jeden Monat herumplagen sollte, Paul aber an diesen Tagen wie immer zum Fußballspielen gehen konnte.“ (S. 71) Die Verhältnisse zwischen den Beiden verändern sich diametral durch ihre Beziehungen mit Wieland. Als Freia mit dem Jungen eine Beziehung eingeht, verlieren ihre Kontakte mit dem Bruder an Bedeutung, da Wieland ihr die wichtigste Person auf der Welt zu sein scheint: „Paul gegenüber hatte ich jedoch ein sehr schlechtes Gewissen. Plötzlich gab es jemanden, der mir wichtiger schien als jeder andere Mensch. Je mehr ich von Wieland erzählte, desto neugieriger wurde Paul auf ihn, aber ich genoß es schon bald zu sehr, einen Bestandteil meines Lebens nicht mit meiner Familie teilen zu müssen – selbst nicht mit meinem allgegenwärtigen Zwillingsbruder.“ (S. 116) Als Wieland Pauls Geliebte geworden ist, bricht Freia Beziehungen zu ihrem Bruder ab (S. 224), der auf einmal versucht, ganz anders als Freia auszusehen. (S. 226f) Nach einiger Zeit beginnen jedoch die Zwillinge miteinander zu reden. Die Unterschiede 87 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” zwischen ihnen werden aber immer größer, besonders wenn es um die Sexualität der Beiden geht. Durch die Beziehung mit Wieland erfolgt nämlich die endgültige Bestätigung der Heterosexualität der Zwillingsschwester und der Homosexualität des Zwillingsbruders.209 Freia interessiert sich schon seit der Kindheit für die Familiengeschichte, jedoch die Motive ihres Interesses an die Vergangenheit verändern sich mit ihrem Leben. Als Kind ist sie, so wie ihr Bruder, neugierig, warum ihr Großvater statt eines Beins eine Prothese hat. Die Zwillinge stellen also Fragen, auf die sie keine eindeutigen Antworten bekamen. Freia erinnert sich daran folgendermaßen: „Auf unsere neugierigen Fragen, warum Großvater denn so ein Schrumpelbein habe, bekamen wir immer die gleiche Antwort, nämlich daß Großvater »im Krieg« gewesen sei. Was das bedeuten sollte, wurde uns nicht klar. »Krieg« schien jedenfalls ein schrecklicher Ort zu sein, eine Gefahrenzone, in die aus irgendeinem Grund nur Männer kamen. Es hieß noch, daß »Großvater hart gekämpft und Großmutter lange auf ihn gewartet« habe.“ (S. 78) Das ständig erwähnte Wort „Krieg“ war für Freia und Paul unverständlich und die Beiden waren „nicht ganz sicher, ob »Krieg« eher ein Ort oder ein Ereignis bezeichnete“ (S. 79). In dieser Zeit ihres Lebens versuchten sie also von den Großeltern zu erfahren, was ist der „Krieg“, was ist damals passiert und welche Bedeutung er im Bezug auf Mäxchens fehlendes Bein trägt. In der Schulzeit gewannen die Zwillinge im Gymnasium und in der Oberschule das Wissen über den Krieg, wobei das Thema nicht explizit besprochen wurde, sondern nur „Daten und Fakten gepaukt [wurden – M.S.].“ (S.95) Somit wurden Freia und Paul mit Ereignissen konfrontiert, die in keinem Zusammenhang zu den in den familiären Gesprächen besprochenen vergangenen Ereignissen stehen. Von daher bedrängten sie die Großeltern und die Mutter mit Fragen nach dem Krieg, was für die Angehörigen der Enkelgeneration typisch ist. Als die Hauptfigur des Romans „Himmelskörper“ schwanger wurde, beginnt eine neue Phase in ihrem Leben. Die Schwangerschaft löst nämlich Freias individuelle Erinnerungen an die 209 Vgl. Jaroszewski, Marek: Das leuchtende Schiff, 2005, S. 280. 88 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” eigene Geschichte und ihre Versuche, die Geschichte ihrer Familie zu rekonstruieren, aus.210 Dies beschreibt Freia im Gespräch mit Paul folgendermaßen: „[…] »seitdem ich also weiß, daß ich selbst Mutter werde, muß ich sehr oft an Renate und auch an Jo denken. Es gibt so viel Ungeklärtes in unserer Familie, das mir plötzlich keine Ruhe mehr läßt. Als hätte mit meiner Schwangerschaft eine Art Wettlauf mit der Zeit begonnen, in der ich noch offene Fragen beantworten kann … ich weiß auch nicht genau, woher meine Unruhe stammt … vielleicht ist es ein unbewußter Drang, zu wissen, in was für einen Zusammenhang, in was für ein Nest ich da mein Kind setze…«“ (S. 26) Freia ist bewusst, dass es in ihrer Familie viele Geheimnisse gibt, was sie durch die Schwangerschaft ständig beschäftigt. Sie fühlt sich unvermittelt ein „Teil einer langen Kette, einer Verbindung, eines Konstrukts, das [ihr – M.S-] eigentlich immer suspekt gewesen war“ (S. 26) und ist sich dessen bewusst, dass alles, was mit der Vergangenheit der Familie verbunden ist, auf die Angehörige der Vierten Generation, also auf ihre Tochter übertragen wird. Freia scheint dabei zu wissen, dass sie, wegen den Krankheiten der Großeltern, nicht viel Zeit hat, um die familiären Geheimnisse zu enthüllen. Denn mit dem Tod der Großelterngeneration würden Jo und Mäxchen ihre individuellen Erinnerungen und somit die Wahrheit über die Vergangenheit mit ins Grab nehmen. Sie fragt also die noch lebendige Großmutter nach den vergangenen Ereignissen, die in ihrem Gedächtnis aufbewahrt wurden. Freia versucht vor dem bevorstehenden Tod Jos die in Gesprächen fehlenden Informationen einzuholen. „Seit neuestem versuchte ich, in ihre Erinnerungen »einzusteigen«. Ich wollte, daß Jo sich erinnerte – an diese Zeit, von der so oft in unserer Familie erzählt worden war und in der es dennoch so viele Leerstellen gab. Ich wollte, daß sie sich erinnerte. So gut wie möglich. Solange sie noch da war.“ (S. 212) Um Jos Erinnerungen hervorzurufen, bedient sich Freia verschiedener Mittel. Sie bringt Jo Fotoalben, Postkarten, Kleidungsstücken und andere Gegenstände, die für Freias Großmutter wichtig zu sein scheinen. (S. 208f) Sie legt auch Platten mit klassischer Musik mit der Hoffnung auf, „sie würden bei Jo manche Erinnerungen wach werden lassen“(S. 210) In Gesprächen mit der Großmutter versuchte sie sogar Lena zu spielen, Vgl. Giesler, Birte: „Der Satz ‘ich erinnere mich nicht’ könnte zur Ausrede werden…“. Gender und Gedächtnis in Tanja Dückers’ Generationenroman Himmelskörper. - In: Erinnern und Geschlecht. Bd. I. Freiburg i. Br.: jos fritz Verlag 2006, S. 171-201, hier S. 178. 210 89 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” infolge dessen beginnt Jo sich an die Flucht so erinnern, als ob sie wieder am Pier in Gdingen wäre. Es treten also bei der Großmutter die Felderinnerungen auf. Die Versuche geben Freia Antworten auf viele Fragen. Sie bekommt zu wissen u.a., dass ihre Familie auf den Bord aufgenommen wurde, weil Renate die Nachbarn denunzierte und den Hitlergruß gemacht hat. Dazu erfährt die Hauptfigur des Romans „Himmelskörper“ zum ersten Mal von Jo, dass die Mutter und die Großeltern in der Partei waren. (S. 219) Als Freia dies hört, fragt sie sich: „was sie [Jo – M.S.] noch alles wußte, was ich nicht wußte.“ (S. 219) Sie fängt an, zu zweifeln, dass die Großmutter sich nicht mehr an die wichtigen vergangenen Ereignisse erinnern kann. Wie sie selbst im Roman schreibt: „Der Satz »ich erinnere mich nicht« könnte zur Ausrede werden… .“ (S. 219) Nach dem Tod der Großmutter finden Freia und ihr Bruder in Jos Wohnung viele Gegenstände, wie Briefe, Postkarten vom „Führer“, Fotos und Bücher (S. 55, 262ff.), die aus der NS-Zeit stammen und die Parteiangehörigkeit der Großelterngeneration endgültig bestätigen. Während Freias und Renates Aufenthalts in Gdingen erfährt die Tochter, wie die Flucht genau aussah und dass Jo und Mäxchen „Nazis der ersten Stunde“ waren. (S. 300) Aber trotz den materiellen Beweisen und Jos mündlicher Offenbarung kann Freia sich, wie eine typische Angehörige der Enkelgeneration, ihre Großeltern als Nationalsozialisten nicht vorstellen: „Mir fiel plötzlich auf, wie viele kleine grenzwertige Äußerungen ich doch von ihnen [den Großeltern – M.S.] kannte, doch nie hatte ich diese bisher zu einem stimmigen Gesamtbild zusammengefügt, nie wäre mir früher in den Sinn gekommen, Mäxchen und Jo als Nazis zu bezeichnen.“ (S. 263) Im Gedächtnis bewahrt Freia das Bild von den Großeltern als „gute Großeltern“, obwohl Freia die Familiengeschichte ohne bedeutende Lücken kennt und sich dessen bewusst ist, dass die Großmutter, der Großvater und die Mutter NSTäter waren. Freia, Meteorologin von Beruf auf dem Gebiet Wolkenforschung, ist ständig auf der Suche nach „Cirrus Perlucidus“, einer Wolke, die „in 13000 Meter Höhe, nichts mehr als ein Hauch“ ist. (S. 12) Wie der Erzähler betont: „[…] niemand interessierte sich für diese Wolke, die vielleicht nicht einmal den Namen »Wolke« verdiente, so wenig war von ihr zu sehen[…].“ (S. 12) Freia sucht diese Wolke schon seit langer Zeit überall auf der Welt (S. 12), um sie zu fotografieren und damit einen vollständigen Wolkenatlas zu erstellen. Der Wolkenatlas sollte nämlich aus Wolkenbilder bestehen, die in 90 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” systematisch geordnet werden sollen. Dies steht für Freias Forschungen, die nicht nur auf dem Gebiet der Meteorologie, sondern auch die Familiengeschichte betreffen. D.h., dass die Angehörige der Enkelgeneration ihr Wissen von den Ereignissen in Gdingen im Jahre 1945 auch in Ordnung bringen will.211 Es ist also kein Zufall, dass sie die gesuchte Wolke am Pier in Gdingen sieht. An diesem Ort fand die Bordaufnahme auf die „Theodor“ statt und hier erfährt Freia durch Renates Erzählen den letzten Rest der Familiengeheimnissen.212 So könnte man sagen, dass Wolken „als Bild für die den Roman durchziehende Frage nach dem ‚real‘ Gegebenen [fungieren – M.S.]“213, wobei das „real Gegebene“ sich auf die wahren, in der Vergangenheit stattgefundenen Ereignisse bezieht. Die Hauptfigur des Romans „Himmelskörper“ sucht durch das Erzählen und Erinnern ihre eigene Identität. Sie stellt sich nämlich die Frage „Wie sieht die wahre Herkunft ihrer Familie, die sie mit der Geburt ihres Kindes fortsetzen wird?“ Mit dieser Frage ist die Suche nach der Identität also nach der Antwort auf die Frage „Wer bin Ich?“ verbunden.214 Freia versucht eine Antwort darauf zu finden, indem sie sich an ihr Leben erinnert und über die Vergangenheit von ihr und von den Familienmitgliedern ein Buch schreiben will. Die Protagonistin ist eine Figur, die nicht nur die Identität sucht, die sich auf die Familiengeschichte stützt. Sie sucht auch nach ihrer Geschlechtsidentität.215 Freia hat sich nämlich in der Kindheit nicht als ein Mädchen betrachtet und wollte sich nicht so sehen. In der Jugend erfährt sie am eigenen Leibe, dass sie heterosexuell ist. Die Gedanken, dass sie eine Frau ist, und die Betrachtung des Ichs als solche haben erst mit ihrer Schwangerschaft begonnen. Durch viele Gespräche, die zuerst im familiären 211 Vgl. Stüben, Jens: Erfragte Erinnerung – entsorgte Familiengeschichte, 2006, S. 178. 212 Vgl. ebd., 182. 213 Giesler, Birte: „Der Satz ‘ich erinnere mich nicht’ könnte zur Ausrede werden…“, 2006, hier S. 177. Vgl. Breger, Claudia: Identität. – In: von Braun, Christina/ Stephan, Inge (Hrsg.): Gender & Wissen. Ein Handbuch der Gender-Theorien. Köln: Böhlau Verlag 2005, S. 47-65, hier S. 47. Siehe zum Thema Erinnerung und Identität ausführlich: Neumann, Birgit: Erinnerung, Identität, Narration. Gattungstypologie und Funktionen kanadischer Fictions of Memory. Berlin: Walter de Gruyter 2005; Neumann, Brigit: Literatur, Erinnerung, Identität. – In: Erll, Astrid/ Nünning Ansgar (Hrsg.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Berlin: Walter der Gruyter 2005, S. 149-177; Gymnich, Marion: Individuelle Identität und Erinnerung aus Sicht von Identitätstheorie und Gedächtnisforschung sowie als Gegenstand literarischer Inszenierung. – In: Erll, Astrid/ Gymnich, Marion/ Nünning, Ansgar (Hg.): Literatur, Erinnerung, Identität. Theoriekonzepte und Fallstudien. Trier: WVT 2003, S. 29-48. 214 Siehe zu Thema Geschlechtsidentität: Breger, Claudia: Identität. – In: von Braun, Christina/ Stephan, Inge (Hrsg.): Gender & Wissen. Ein Handbuch der Gender-Theorien. Köln: Böhlau Verlag 2005, S. 47-65. 215 91 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” Kreis und die später zwischen Freia und ihrer Großmutter bzw. Mutter geführt werden, wurde Freia die Antwort auf die Frage nach der Familiengeschichte geliefert. Durch das Erinnern an das Vergangene, was in Form vom Schreiben eines Buches erfolgt, findet Freia ihre Identität. Ihre Geschlechtsidentität kommt zum Ausdruck, indem sie beginnt, sich als eine Frau zu fühlen. Dazu erfährt sie, dass sie nicht Angehörige der Generation ist, deren Familienmitglieder passiv am Krieg teilgenommen haben, sondern der Enkelgeneration, deren Vorfahren Nationalsozialisten waren. Die Antwort auf die Frage nach der Herkunft und nach dem Geschlechtsgefühl ist also zugleicht die Antwort auf von Freia gestellte Frage „Wer bin Ich?“. Die Hauptfigur des Romans „Himmelskörper“ ist keine statische Figur. Der Leser sieht ihre Entwicklung, die im Freias Leben stattfindet und im Verlauf des Textes dargestellt wird. Dies wird auch von Freia bestätigt, indem sie als schwangere Erwachsene sagt: „Ich bekam jetzt ein Kind wie so viele andere Frauen. Ich würde die Geschichte fortschreiben. Ich würde mit Haut und Haaren an einem neuen Krieg, vielleicht als besorgte Mutter, beteiligt sein, ich war nicht mehr die Sackgasse der Geschichte, das Mädchen vom Stadtrand, das nicht dazugehörte, das nicht in den »Zungenkuß« ging, sondern in den Zoo, und das über alles aus der Entfernung nachdenken konnte.“(S. 254) Wie Freia selbst sagt, ist sie nicht mehr die Person, die sie in der Kindheit war. Sie ist zu einer Frau geworden und denkt mehr als früher über ihre Gefühle und darüber nach, was sie weiß. Dabei kann der Leser noch die wissenschaftliche Entwicklung der Protagonistin verfolgen. Von daher kann man sagen, dass Freia eine dynamische Figur ist. Sie bleibt jedoch bis zum Ende des Romans rätselhaft, denn es bleibt offen, ob sie nach dem Schreiben des Buches Ruhe gefunden hat und wie ihr Leben danach aussieht. Dies lässt feststellen, dass Freia eine offene Figur ist. Sie wird als mehrdimensional bezeichnet, indem sie durch viele Merkmale gekennzeichnet ist und im Verlauf der Handlung immer neue Seiten der Hauptfigur offenbart werden. Für ihr Aussehen ist eine Glatze charakteristisch. Sie ist eine Frau, aber sieht sich als solche nicht. Sie will die Geschichte ihrer Familie entdecken, weil sie dadurch die Antwort auf die Frage nach ihrer, lange Zeit unsicher bleibenden Herkunft und somit nach ihrer eigenen Identität sucht. Dazu verfügt sie über polnische Sprachkenntnisse. Das alles führt dazu, dass Freia ein Individuum ist. Freia ist eine typische Angehörige der Enkelgeneration, deren Wissen über den Krieg und die Familiengeschichte einigermaßen auf den in der Schule erlernten Kenntnissen 92 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” basiert und im größeren Maße auf den familiären Gesprächen basiert. Sie interessiert sich für die Geschichte der Familie und aus diesem Grunde fragt sie die Familienmitglieder nach ihren Erinnerungen. Das, was sie erfährt, wird zu Teilen des kommunikativen und Familien- bzw. Generationen-Gedächtnisses. Trotz den vollständigen Kenntnissen über die Vergangenheit von Jo, Mäxchen und Renate, werden in Freias individuellem Gedächtnis Bilder von „guten Großeltern“ und „bösen Russen“ aufbewahrt. Sie selbst kann sich die ganze Zeit von den vergangenen Ereignissen nicht loslassen. Von daher entscheidet sie sich gemeinsam mit ihrem Bruder ein Buch zu schreiben, in dem Freia über ihre Erinnerungen erzählen, ihr Selbst finden und ihre Identität bilden kann.216 4.2.6 Zur Gattungstypologie Mit der Gattungstypologie der Romane, in denen die Rhetorik der Erinnerung im Zentrum steht, ist der von Brigit Neumann eingeführte Begriff der Fictions of Memory eng verbunden. Neumann definiert den Terminus als „übergreifende[n – M.S.] Gattungsbegriff zur Bezeichnung von Romanen eingeführt, die die konstitutive Interdependenz von Erinnerung und Identität ausloten.“217 Betont wird hier, dass die Identitätsbildung mit den Gedächtnisbeständen und den Erinnerungsakten zusammenhängt, wobei die beiden Termini von Neumann folgendermaßen definiert werden: „Während der Terminus Gedächtnis auf die Gesamtheit gespeicherter Erfahrungen verweist und ihm damit eine gewisse Stasis zu Eigen ist, bezeichnet der Begriff der Erinnerung den konkreten Akt der Vergegenwärtigung und dynamischen Elaboration spezifischer Gedächtnisbestände. Das Gedächtnis bildet einen in der Gegenwart abgeschlossenen Fundus vergangener Erfahrungen und damit eine stabile Grundlage für das Erleben persönlicher Identität im Wandel der Zeit.“218 Die im Gedächtnis behaltenen vergangenen Erfahrungen werden also im Erinnerungsprozess lebendig gemacht und somit trage sie zur Identitätsbildung bei. 216 Vgl. ebd., S. 189. 217 Neumann, Brigit: Fictions of Memory: Erinnerung und Identität in englischsprachigen Gegenwartsromanen. – In: Literatur in Wissenschaft und Unterricht. Heft 4/2004, S. 333-360, hier S. 336. 218 Ebd., S. 334. 93 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” In den Fictions of Memory wird der Zusammenhang zwischen Erinnerung und Identität durch verschiedene Verfahren erkundigt, die über die Gattungstypologie der Fictions of Memory entscheiden. Ausschlaggebend ist die Zeitstruktur eines literarischen Textes, weil eine Grundlage für die Inszenierung der Erinnerungen die Analepsen bzw. Rückwendungen sind.219 Von Bedeutung sind auch die erzählerische Vermittlung, Innenweltdarstellung und Perspektivenstruktur, die zusammen mit der Zeitdarstellung die grundlegenden Konstituenten der Rhetorik der Erinnerung und Identität bilden.220 Die Darstellung von Gedächtnis wird durch die Vergangenheitsorientierung und die Dominanz der intradiegetischen Erzählebene gekennzeichnet. Die Inszenierung der Erinnerung erfolgt hingegen meistens auf der extradiegetischen Ebene und ist gegenwartsorientiert. Aufgrund der genannten Merkmalen werden von Neumann zwei Gruppen der Fictions of Memory unterschieden: der Gedächtnis- und der Erinnerungsroman. Je nachdem, wer als erinnernde Subjekt vorkommt, werden die genannten Gruppen jeweils in zwei Arten differenziert. Werden die vergangenen Ereignisse von einem personal voice dargestellt, so unterscheidet man zwischen dem autobiographischen Gedächtnisroman und dem autobiographischen Erinnerungsroman. Kommt aber die communal voice in Erscheinung, so werden die Fictions of Memory in kommunale Gedächtnisromane und soziobiographische Erinnerungsromane unterteilt. Im Roman „Himmelskörper“ wird vom Ich-Erzähler erzählt, der nicht für eine Gesellschaft steht, so werden im vorliegenden Kapitel der autobiographische Gedächtnis- und Erinnerungsroman genauer untersucht. Die autobiographischen Gedächtnisromane sind durch die Vergangenheitsorientierung gekennzeichnet, die im Zentrum dieser Romanform steht. Die subjektiven vergangenen Erfahrungen eines erinnerten bzw. erinnernden Ichs werden aus der gegenwärtigen Perspektive eines erzählenden Ichs reaktualisiert.221 Die zurückliegenden Erlebnisse eines autodiegetischen Erzählers werden in einen grundsätzlich abgeschlossenen Erlebniszusammenhang überführt. Die erzählte Geschichte zeichnet sich durch 219 Vgl. ebd., S. 338. 220 Vgl. ebd., S. 341. 221 Neumann, Birgit: Erinnerung, Identität, Narration. Gattungstypologie und Funktionen kanadischer Fictions of Memory. Berlin: Walter de Gruyter 2005, S. 213. 94 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” anachronologische Darstellung der Ereignisse aus, wobei die Vergangenheit mit Hilfe von mehreren Rückwendungen dargestellt wird, die in einer relativ chronologischen Folge auseinander hervorgehen. Das Erzählen ist durch eine retrospektive Teleologie gekennzeichnet. Dies bedeutet, dass das Vergangene vor dem Hintergrund eines Endes, das bereits bekannt ist, konfiguriert und narrativiert wird222, was auf die Geschlossenheit der vergangenen Erfahrung der fiktionalen Erzählerinstanz hindeutet. Die Authentizität der Erinnerungen wird dabei durch die dominante interne Fokalisierung der Vergangenen, eine genaue Beschreibung der vergangenen Zeiten und Orten und durch „zahlreiche intertextuelle und intermediale Referenzen auf persönliche Gedächtnismedien wie Briefe, Photographien oder Tagebüchereinträge“ bestätigt.223 Die im autobiographischen Gedächtnisroman präsentierten Ereignisse, bei deren Darstellung das Erzählen auf der intradiegetischen Ebene dominiert, „liefern dem erzählenden Ich ‚Antworten‘ auf die Frage nach dem Gewordensein seiner Identität“224 Im Gegensatz zum Gedächtnisroman steht im Zentrum des autobiographischen Erinnerungsroman „die Offenheit eines hochgradig dynamischen, situativ gerahmten Erinnerungsprozesses“.225 Dies bedeutet, dass den zentralen Gegenstand dieser Romanform nicht das „Was“, sondern das „Wie“ des Erinnerns bildet. Die Darstellung der Ereignisse charakterisiert die anachronische Zeitstruktur, wobei die unterschiedlichen Zeitebenen unverbunden nebeneinander stehen.226 Das Erzählen von der Vergangenheit zeichnet sich durch die Gegenwartsorientierung, die externe Fokalisierung des Vergangenen und die Dominanz der extradiegetischen Erzählebene aus. Die Identitätsbildung erfolgt bei dieser Romanform „erst im narrativen Modus, im Prozess des Erzählens“227, was bedeutet, dass der Versuch einer Stabilisation der Vergangenheit und der Persönlichkeit des erinnernden Ichs durch das Erzählen erfolgt. Die Erinnerungserzählungen liefern aber keine endgültigen Antworten auf die Frage nach dem Gewordensein der individuellen Identität.228 222 Vgl. Neumann, Birgit: Erinnerung, Identität, Narration, 2005, S. 214. 223 Vgl. ebd., S. 215f. 224 Neumann, Brigit: Fictions of Memory, 2004, S. 343. 225 Ebd., S. 345. 226 Vgl. ebd., S. 346. 227 Neumann, Birgit: Erinnerung, Identität, Narration, 2005, S. 218. 228 Vgl. Neumann, Brigit: Fictions of Memory, 2004, S. 356. 95 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” Im Roman „Himmelskörper“ wird die ganze Geschichte von einem Ich-Erzähler dargestellt, aus dessen Perspektive erzählt wird und der sich eines personal voice bedient. Die Darstellung der zurückliegenden Erfahrungen der autodiegetischen bzw. homodiegetischen Erzählerinstanz erfolgt durch die anachronologische Zeitstruktur. Die Basiserzählung wird auf der extradiegetischen Erzählebene vermittelt. Da es aber im Roman zu vielen Rückwendungen kommt, die die Ereignisse der ersten und zweiten Vergangenheitsebene betreffen, dominiert in „Himmelskörper“ die intradiegetische Ebene. Im Zentrum des Romans stehen nicht die Erinnerungsprozesse, sondern die erinnerten Inhalte. Die Authentizität der Erinnerungen wird nicht nur von den im Roman vorkommenden Fotos, Postkarten und andere Andenken an die NS-Zeit, sondern vor allem von dem Vorhandensein eines Kalenders bestätigt, den Freia „genau geführt“(S. 273) hat. Das Schreiben des Buches, das Freia und Paul unternehmen wollen, zeugt davon, dass die erzählte Geschichte durch eine Geschlossenheit der vergangenen Erfahrungen gekennzeichnet ist. Im Verlauf der Geschichte wird auch die Frage nach die Herausbildung der Identität des erzählenden Ichs beantwortet. Somit lässt sich feststellen, dass im Falle von dem Roman „Himmelskörper“ sich um den autobiographischen Gedächtnisroman handelt. 96 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” 5 Schlussbetrachtung Die vorliegende Arbeit stellt eine Auseinandersetzung mit der Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers‘ Roman „Himmelskörper“ dar. Die im ersten und zweiten Teil der Arbeit präsentierten gedächtnistheoretischen Konzepte und Zusammenhänge, die zwischen der Literatur und der Erinnerung bestehen, gelten als Grundlage für die im dritten Teil der Arbeit folgende Analyse des Romans „Himmelskörper“. In dem zuletzt genannten Teil wurden das „Was“ und das „Wie“ des literarischen Textes untersucht, also die Verfahren, mit denen die Erinnerung im Gedächtnisroman „Himmelskörper“ inszeniert wird. In Dückers‘ Roman wird der Leser mit einer Reise in die Vergangenheit konfrontiert, die aus der Perspektive der Hauptfigur dargestellt wird. Das Ziel der Vergangenheitsreise ist der Versuch der Ich-Erzählerin, die Geschichte der Familie neu zu entdecken, um damit die eigene Identität zu finden und die Ruhe ins Leben einkehren zu lassen. Dies kommt in Form von einem von Freia und Paul geschriebenen Buch zum Ausdruck, das zugleich den der Analyse unterliegenden Roman bezeichnet. In dem Text werden die individuellen Erinnerungen der Hauptfigur sowie die Inhalte des Familien- bzw. Generationengedächtnisses dargestellt, das als kommunikatives und kollektives Gedächtnis betrachtet wird. Die genannte Darstellung erfolgt mit Hilfe von verschiedenen literarischen Verfahren. Schon am Anfang des Romans „Himmelskörper“, der als in medias res bezeichnet wird, wird der Leser mit Freias Erinnerungen an Familienmitglieder konfrontiert. Das offene Ende des Textes weist auf das Schreiben des Buches hin, was den Roman als autobiographisch kennzeichnet und was zugleich feststellen lässt, dass es um das spätere Erzählen geht. Der Beginn und das Ende von „Himmelskörper“ bilden gemeinsam den Erzählrahmen für die von Freia unternommene Vergangenheitsreise, die im Roman beschrieben wurde. Das Erzählen erfolgt dabei nicht chronologisch, sondern mit zahlreichen aufbauenden Rückwendungen, deren Reichweite und Umfänge unterschiedlich sind, und einigen zukunftsgewissen Vorausdeutungen, die davon zeugen, dass die Geschichte zu einem späteren Zeitpunkt erzählt wurde. Die vorkommenden Analepsen betreffen Freias individuelle Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend, deren meistens ganze Kapitel gewidmet werden. Die individuellen Erinnerungen der Großeltern und der Mutter, die in familiären Gesprächen über die Kriegszeit besprochen 97 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” wurden, sind somit zu Teilen des Familien- bzw. Generationengedächtnisses geworden und stellen die Teile der einzelnen Kapitel dar. So wie die bestimmten Erinnerungen hervorgerufen werden können, so werden auch die Geschichten in Dückers’ Roman geschildert. Beim Erzählen über die Vergangenheit kommen nämlich in „Himmelskörper“ singulative, repetitive und iterative Erzählungen vor, in denen der Ich-Erzähler sich Szenen, Dehnungen, Zeitsprünge und Raffungen bedient. Die in „Himmelskörper“ dargestellten Geschichten werden auf verschiedenen Ebenen vermittelt. Handelt es sich um die Basiserzählung, die die Ereignisse der Gegenwartsebene betrifft, so wird auf der extradiegetischen Ebene von einem autodiegetischen oder homodiegetischen Erzähler erzählt, je nachdem, ob Freia in ihnen als Hauptfigur oder nur eine der Haupt- bzw. Nebenfiguren auftritt. Werden hingegen die Geschehnisse der ersten und zweiten Vergangenheitsebene präsentiert, so erfolgt das Erzählen auf intra- oder metadiegetischer Ebene. In diesen Erzählungen handelt es sich um die vergangenen Ereignisse, an denen Freia beteiligt oder nicht beteiligt war, d.h. es werden hier Freias individuelle Erinnerungen oder Erinnerungen von den Mitgliedern Freias Familie dargestellt. Insofern geht es bei diesen Geschichten um einen homo- bzw. autodiegetischen oder heterodiegetischen Erzähler. Da die Ereignisse aus der Perspektive der Hauptfigur des Romans „Himmelskörper“ präsentiert werden, handelt es sich im Text um die interne Fokalisierung. Mit der Analyse der im Roman „Himmelskörper“ wichtigsten Figuren wird gezeigt, wie die Vergangenheit in den Gedächtnissen der Großeltern-, Eltern- und Enkelgeneration aufbewahrt wird und wie sich die Angehörigen der einzelnen Generationen an die vergangenen Ereignisse erinnern. Die in Erzählungen der Großeltern thematisierten Erinnerungen weisen viele Abwehrmechanismen, wie z.B. Stilisierung zu Opfer der NS-Regimes oder Distanzierungen, was für das Täter- und zugleich Besiegtengedächtnis typisch sind, auf. Bei den von Renate erzählten Geschichten ist die Dominanz von antagonistischem Modus zu beobachten, indem ihre Äußerungen über die Vergangenheit von Jo und Mäxchen als unzuverlässig bezeichnet werden, dadurch gelten ihre Erinnerungen als Gegen-Erinnerungen zu den der Großeltern. Die Erinnerungen der Enkelgeneration werden durch Freias individuelle Erinnerungen repräsentiert, in denen der erfahrungshaftiger Modus dominiert. Die Hauptfigur ist dabei durch Merkmale charakterisiert, die durch Welzers Studium zur memory talk als typisch für die Enkelgeneration bezeichnet wurden. Freia ist nämlich die Person in der 98 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” Familie, die nach die Familiengeschichte fragt und die nicht an die Schuld der Großeltern glauben kann, obwohl sie Beweise für die Parteimitgliedschaft der Familienmitglieder, wie Fotos oder Postkarten aus der NS-Zeit, hat. Durch ihre Figur wird auch der Zusammenhang zwischen dem Erinnern, also dem Versuch, die Familiengeschichte in Ordnung zu bringen, und der Identitätsbildung dargestellt. In der vorliegenden Arbeit wurde der Roman „Himmelskörper“ der Analyse unterzogen. Die Ergebnisse haben eine klare Antwort auf die Frage nach den literarischen Verfahren gegeben, mit denen die Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman, der zum autobiographischen Gedächtnisroman gehört, inszeniert wird. 99 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper” 6 Literaturverzeichnis 6.1 Primärliteratur Dückers, Tanja: Himmelskörper. Berlin: Aufbautaschenbuch Verlag 2003; 2. Auflage 2005. 6.2 Sekundärliteratur Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. – In: Erwägen Wissen Ethik (EWE) 13 (2002) Heft 2, S. 183-190. Assmann, Aleida/ Frevert, Uwe: Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945. Stuttgart: Deutsche VerlagsAnstalt 1999. 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