4 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers` Roman

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ZUR INSZENIERUNG DER ERINNERUNG IN TANJA
DÜCKERS’ ROMAN „HIMMELSKÖRPER“
Inhaltsverzeichnis
1
Einleitung ............................................................................................... 1
2
An die Vergangenheit erinnern – gedächtnistheoretische Konzepte
4
2.1
3
Zu Formen des Gedächtnisses ............................................................................ 4
2.1.1
Zur mémoire collective von Maurice Halbwachs ....................................... 4
2.1.2
Zum kommunikativen Gedächtnis nach Jan Assmann ............................... 8
2.1.3
Zu Gedächtnisformen nach Aleida Assmann ........................................... 11
2.1.3.1
Zum individuellen und Generationen-Gedächtnis............................. 12
2.1.3.2
Zum kollektiven und kulturellen Gedächtnis .................................... 14
2.2
Zum Gedächtnis der Generationen in der deutschen Bevölkerung .................. 18
2.3
Zum Familiengedächtnis im „memory talk“ .................................................... 22
Erinnerung und Gedächtnis in der Literatur - Zur Rhetorik der
Erinnerung nach Astrid Erll .................................................................... 29
4
3.1
Erfahrungshaftiger und monumentaler Modus ................................................ 30
3.2
Antagonistischer Modus................................................................................... 33
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman
„Himmelskörper“ ...................................................................................... 36
4.1
Zum Inhalt ........................................................................................................ 36
4.2
Zu Rhetorik der Erinnerung ............................................................................. 38
4.2.1
Romananfang und –ende als Erzählrahmen in die Erinnerungsreise ....... 38
4.2.1.1
Zum Textanfang ................................................................................ 38
4.2.1.2
Zum Textende .................................................................................... 42
4.2.2
Zum Zeitpunkt und Ort des Erzählens ...................................................... 45
4.2.3
Zur Zeitstruktur ......................................................................................... 50
4.2.3.1
Zur Ordnung ...................................................................................... 50
4.2.3.2
Zur Dauer........................................................................................... 57
4.2.3.3
Zur Frequenz ..................................................................................... 61
4.2.4
Zur erzählerischen Vermittlung ................................................................ 64
4.2.4.1
Zum Erzähler nach Franz Karl Stanzel ............................................. 64
4.2.4.2
Zum Erzähler nach Gérard Genette ................................................... 68
4.2.5
Zur Figurenanalyse ................................................................................... 75
4.2.5.1
Zu Figuren der Großelterngeneration ................................................ 77
4.2.5.2
Zu Figuren der Elterngeneration ....................................................... 82
4.2.5.3
Freia als Vertreterin der Enkelgeneration .......................................... 86
4.2.6
Zur Gattungstypologie .............................................................................. 93
5
Schlussbetrachtung ............................................................................. 97
6
Literaturverzeichnis ......................................................................... 100
6.1
Primärliteratur ................................................................................................ 100
6.2
Sekundärliteratur ............................................................................................ 100
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
1 Einleitung
Beim Erinnern handelt es sich um einen Prozess, in dem als Ergebnis Erinnerungen
entstehen. Als Erinnerungen werden „die einzelnen und disparaten Akte der
Rückholung
oder
Rekonstruktion
individueller
Erlebnisse
und
Erfahrungen
bezeichnet.“1 Sie werden im Gedächtnis aufgehoben und gespeichert. Insofern handelt
es sich beim Gedächtnis um eine an sich nicht beobachtbare, veränderliche Struktur, die
dem Menschen „die Fähigkeit, Wahrnehmungen, Erfahrungen, Vorstellungen über die
Gegenwart des unmittelbaren Erlebens festzuhalten, aufzubewahren und zu speichern
und zugleich die Fähigkeit, das Aufbewahrte zu verwerten, zu reflektieren, zu
rekonstruieren und zu verarbeiten“, gibt.2 Da das Erinnern eine Handlung ist, die in der
Gegenwart erfolgt, ist es durch den Gegenwartsbezug gekennzeichnet. Dies bedeutet,
dass die erinnerten Geschehnisse aus dem Blickwinkel der Gegenwart wahrgenommen
und bewertet werden.3
In der deutschen Gegenwartsliteratur hat das Thema Erinnerung und Gedächtnis in den
letzten Jahren stark an Bedeutung gewonnen, wobei im Zentrum die deutsche
Vergangenheit zu Zeiten des Zweiten Weltkrieges steht. Auf die Frage nach den
Ursachen dieses „Gedächtnis-Booms“4 findet sich die Antwort in dem Wechsel der
deutschen Generationen. Je weniger Zeitgenossen des Nationalsozialismus, also
Angehörigen der Erlebnisgeneration leben, desto stärker beschäftigt sich die
Gesellschaft mit der Kriegsvergangenheit.5 Die nachkommenden Generationen,
insbesondere die Angehörigen der Enkelgeneration versuchen die Geschichten ihrer
Familien zu entdecken, um die eigene Identität zu finden. Das führt dazu, dass die bis
vor kurzem noch tabuisierten Themen, wie Krieg, Holocaust, Schuldfrage, Flucht und
Vertreibung, nicht nur öffentlich, sondern auch im familiären Kreis immer öfter
Assmann, Aleida/ Frevert, Uwe: Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit
deutschen Vergangenheiten nach 1945. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1999, S. 35.
1
2
Dieckmann, Bernhard/ Sting, Stephan/ Zirfas, Jörg: Gedächtnis und Bildung. Erinnerte
Zusammenhänge. – In: Dieckmann, Bernhard/ Sting, Stephan/ Zirfas, Jörg: Gedächtnis und Bildung.
Pädagogisch-anthropologische Zusammenhänge. Weinheim: Deutscher Studien Verlag 1998, S. 7-39,
hier S. 7.
3
Vgl. Gansel, Carsten: Was uns im Gedächtnis bleibt. – In: Nordkurier, 17./18. Juni 2006, S. 3.
4
Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimar: Metzler 2005, S. 61.
5
Vgl. Kohlstruck, Michael: Zwischen Erinnerung und Geschichte: Der Nationalsozialismus und die
jungen Deutschen. Berlin: Metropol 1997, S. 8.
1
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
diskutiert werden. Sie werden auch zu zentralen Themen in den literarischen Texten der
Gegenwartsliteratur nach 1989.
Das Ziel der vorliegenden Arbeit besteht darin, die Antwort auf die Frage zu finden, wie
das Thema Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper“ inszeniert wird. Im
Zentrum des zu untersuchenden Textes steht die Vergangenheit der Familie Bonitzky
und Sandmann. Es werden die individuellen, die Kriegs- und Nachkriegszeit
betreffenden Erinnerungen und Gedächtnisbestände von drei Generationen thematisiert.
Die Aufarbeitung der vergangenen Geschehnisse dient der Entdeckung der
Familiengeschichte, die in memory talk voll von Geheimnissen auftritt, und der
Identitätssuche der Hauptfigur Freia Sandmann. Mit welchen Verfahren die
Erinnerungen an das Vergangene im Roman „Himmelskörper“ inszeniert werden, wird
in der vorliegenden Arbeit untersucht.
Die Arbeit besteht aus drei Teilen. Im ersten Teil werden die Grundfragen der
Gedächtnistheorien diskutiert. Es werden verschiedene Gedächtnisformen präsentiert
und erklärt. Besondere Beachtung wird den Gedächtnissen der deutschen Generationen
und die Familiengedächtnis, das durch memory talk entsteht, geschenkt.
Im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit wird der Zusammenhang zwischen der
Literatur und der Erinnerung sowie dem Gedächtnis dargestellt. Es werden die
textuellen Verfahren thematisiert, die einen Text als Gedächtnismedium erscheinen
lassen.
Im dritten Teil der Arbeit erfolgt die Analyse der Rhetorik der Erinnerung am Beispiel
von Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper“. Untersucht wird sowohl die Geschichts(histoire) als auch die Darstellungsebene (discours) des Erzählens6. Bei der
Untersuchung der Geschichtsebene wird die Antwort auf die Frage „Was wird erzählt?“
gesucht. Es geht um die dargestellte Geschichte sowie die an der Handlung beteiligten
Figuren. Bei der Analyse der Darstellungsebene beschäftigt man sich mit der Frage
„Wie wird die Geschichte präsentiert?“7. Untersucht werden also die narrativen
Verfahren, wie die Zeit- und Perspektivenstruktur, erzählerische Vermittlung,
Erzählebene, und Fokalisierung. Schließlich wird der Zusammenhang zwischen
6
Vgl. Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur. Ein Praxisbuch für den Unterricht. Berlin:
Cornelsen 1999, S. 23.
7
Vgl. ebd., S. 24f.
2
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
Erinnerung, Identität und Narration festgestellt, was zur Einordnung des Romans in die
Gattungstypologie der Fictions of Memory beitragen wird.
3
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
2 An die Vergangenheit erinnern – gedächtnistheoretische
Konzepte
2.1 Zu Formen des Gedächtnisses
Seit
Jahrzehnten
beschäftigen
sich
nicht
nur
Ägyptologen,
Historiker,
Medienwissenschaftler, Soziologen und Psychologen mit dem Phänomen der
Erinnerung und des Gedächtnisses, sondern auch Literaturwissenschaftler. Es gibt viele
Theorien auf diesem Bereich, die mehrere Gedächtnisformen unterteilen. Den
deutschsprachigen Raum haben vor allem die von Maurice Halbwachs und von Jan und
Aleida Assmann entwickelten und vorgestellten Theorien geprägt.
2.1.1 Zur mémoire collective von Maurice Halbwachs
Die Gedächtnisforschung hat der französische Soziologe Maurice Halbwachs mit dem
in den 20er Jahren entwickelten Begriff der „mémoire collective“ maßgeblich
beeinflusst8. Die Beschäftigung mit dem kollektiven Gedächtnis findet ihren Ausdruck
vor allem in seinen drei Schriften, welche sind:
1. „Les cadres sociaux de la mémoire“ („Das Gedächtnis und seine soziale
Bedingungen“), die im Jahre 1925 veröffentlicht wurde;
2. „La mémoire collective“ („Das kollektive Gedächtnis“), an der Halbwachs über
fünfzehn Jahre arbeitete und die erst im Jahre 1950 posthum erschien;
3. „La Topographie légendaire des Évangiles en Terre Sainte“ („Stätten der
Verkündigung im Heiligen Land“), die 1941 veröffentlicht wurde.9
In den Büchern sind drei Untersuchungsbereiche zu unterscheiden, die in Halbwachs’
Studium drei verschiedene Richtungen der Forschung zur mémoire collective weisen.
Die zentrale These, die sich durch seine Studien zum kollektiven Gedächtnis zieht, ist
8
Vgl. Neumann, Brigit: Literatur als Medium (der Inszenierung) kollektiver Erinnerungen und
Identitäten. – In: Erll, Astrid/ Gymnich, Marion/ Nünning, Ansgar (Hg.): Literatur, Erinnerung, Identität.
Theoriekonzepte und Fallstudien, WVT Wissenschaftlicher Verlag Trier, Trier 2003, S. 49-78, hier S.51.
9
Halbwachs versucht im ersten Buch nachzuweisen, dass die persönliche Erinnerung sozial bedingt und
folglich ein kollektives Phänomen ist. Dabei bedient er sich (als Beispiel) u.a. dem GenerationenGedächtnis. Nach der offenen Kritik an seiner Theorie entscheidet sich der Soziologe, sein Konzept des
kollektiven Gedächtnisses weiter zu erläutern, was seine Wiederspiegelung in der zweiten Schrift
gefunden hat. Im dritten Werk werden die Formen und Funktionsweisen an einem Fallbeispiel aufgezeigt.
– Vgl. Erll, Astrid: Gedächtnisromane. Literatur über den Ersten Weltkrieg als Medium englischer und
deutscher Erinnerungskulturen in den 1920er Jahren. Trier: WVT 2003, S. 18f.
4
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
die
von
der
sozialen
Bedingtheit
der
Erinnerung
und
gilt
als
erster
Untersuchungsbereich. Den zweiten bilden die Fragen nach Formen und Funktionen des
Generationengedächtnisses und der dritte betrifft die Erweiterung des untersuchten
Begriffs auf dem Gebiet kultureller Überlieferung und Traditionsbildung (was Jan und
Aleida Assmann als „kulturelles Gedächtnis“ bezeichnen werden).10
Der
Soziologe
kommt
Gedächtniskonzepten
ab,
in
seinen
die
Untersuchungen
die
körperlichen
von
den
(biologischen,
herrschenden
neuronalen,
hirnpsysiologischen) Grundlagen als Basis für das Gedächtnis angeben. Er geht mithin
davon aus, dass die Erinnerungen eines Individuums sozial bedingt sind. Ein Mensch
kann ohne „cadres sociaux“ (soziale Bezugsrahmen) sein individuelles Gedächtnis
nicht konstituieren und seine persönlichen Erinnerungen nicht erhalten. Halbwachs
vermutet, dass ein Mensch, der in völliger Einsamkeit erwachsen wäre, kein Gedächtnis
hätte, denn „das Gedächtnis wächst dem Menschen erst im Prozess seiner Sozialisation
zu“11. Die erforderlichen sozialen Rahmen bilden die umgebenden Menschen, ohne die
ein Mensch keinen Zugang zu den eindeutig kollektiven Phänomenen, wie z.B. Sprache
oder Sitten, aber auch zu seinem eigenen Gedächtnis hat12. Ein Individuum erinnert sich
nämlich nicht nur an Erfahrungen, die ihm bedeutsam sind, sondern auch daran, was er
von anderen erfahren hat und was ihm die anderen erzählt haben 13. Dabei erfolgt der
Erinnerungsprozess nur im Dialog mit Familienmitgliedern, Freunden, Bekannten oder
auch Fremden. Solcher Erfahrungsaustausch in Rahmen sozialer Gruppen ist für
Halbwachs von großer Bedeutung, weil: „durch Interaktion und Kommunikation mit
unseren Mitmenschen Wissen über Daten und Fakten, kollektive Zeit- und
Raumvorstellungen, Denk- und Erfahrungsströmungen vermittelt werden“14. Es entsteht
eine kollektiv geteilte, symbolische und stabilitätsgewährende Ordnung, mit derer Hilfe
die Ereignisse verortet, interpretiert und erinnert werden können.
„Denn aus den ›sozialen Rahmen‹ im wörtlichen Sinne, unserem sozialen
Umfeld, leiten sich ›sozialen Rahmen‹ im metaphorischen Sinne ab:
Denkschemata, die unsere Wahrnehmung und Erinnerung in bestimmte
10
Vgl. Erll, Astrid: Gedächtnisromane, 2003, S. 19.
11
Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen
Hochkulturen. München: C. H. Beck 2005, S. 35.
12
Vgl. Erll, Astrid: Gedächtnisromane, 2003, S. 19.
13
Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis, 2005, S. 36.
14
Erll, Astrid: Gedächtnisromane, 2003, S.19.
5
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
Bahnen lenken. Cadres sociaux bilden also den umfassenden, sich aus
der materialen, mentalen und sozialen Dimension kultureller
Formationen konstituierenden Horizont, in den unsere Wahrnehmung
und Erinnerung eingebettet ist.“15
Die Wahrnehmung des Individuums ist also gruppenspezifisch und seine Erinnerungen
sind von den sozialen Rahmen geprägt, die die Inhalte des kollektiven Gedächtnisses
vermitteln. Innerhalb einer sozialen Gruppe kommt es zu Gesprächen, in denen
Erinnerungen, Lebensgeschichten und Bräuche ausgetauscht werden. Dies ermöglicht
die Vergegenwärtigung jener Aspekte der Vergangenheit, die die Gruppe hervortun. Es
verhindert auch den unerwünschten Vergessenheitsprozess, der ohne Kommunikation
und ohne in der Gegenwart existierenden Bezugsrahmen stattfindet.
„Wenn ein Mensch – und eine Gesellschaft – nur das zu erinnern
imstande ist, was als Vergangenheit innerhalb der Bezugsrahmen einer
jeweiligen Gegenwart rekonstruierbar ist, dann wird genau das
vergessen, was in einer solchen Gegenwart keine Bezugsrahmen hat.
[…] Das Gedächtnis lebt in der Kommunikation; bricht diese ab, bzw.
verschwinden oder ändern sich die Bezugsrahmen der kommunizierten
Wirklichkeit, ist das Vergessen die Folge. Man erinnert nur, was man
kommuniziert und was man in den Bezugsrahmen des
Kollektivgedächtnisses lokalisieren kann.“16
Die Erinnerung und Kommunikation in einer sozialen Gruppe sind folglich miteinander
untrennbar verwoben, was mit der Tatsache verbunden ist, dass das kollektive und
individuelle Gedächtnis in einer Beziehung der wechselseitigen Abhängigkeit stehen.17
Die Grenze zwischen ihnen ist permeabel. Das Gedächtnis eines Individuums ist bereits
ein soziales Phänomen und „ein ‘Ausblickspunkt’ auf das kollektive Gedächtnis“.18 Das
Kollektivgedächtnis erfüllt sich und offenbart sich in den individuellen Gedächtnissen,
wobei die individuellen Erinnerungen sich durch Vertreten des Standpunktes der
Gruppe auszeichnen. Jeder Mensch gehört aber nicht nur einer sozialen Gruppe an,
sondern mehreren (z.B. der Familie, dem Bekanntenkreis, der Religionsgemeinschaft),
die sich durch verschiedene Erfahrungen und Denksysteme auszeichnen. Erst „die
15
Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimar: Metzler 2005, S. 15.
16
Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis, 2005, S. 36f.
Vgl. Neumann, Brigit: Literatur, Erinnerung, Identität. – In: Erll, Astrid/ Nünning Ansgar (Hrsg.):
Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven.
Berlin: Walter der Gruyter 2005, S. 149-177, hier S. 160.
17
Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis, 2003. S. 36, Assmann zitiert hier aus dem Buch „Das
kollektive Gedächtnis“ von Maurice Halbwachs, 1991, S. 31.
18
6
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
Kombination
der
Gruppenzugehörigkeiten
und
daraus
resultierender
Erinnerungsformen und –inhalte sind demnach das wirklich Individuelle, das die
Gedächtnisse einzelner Menschen voneinander unterscheidet.“19 Alles andere als der
genannte Zusammenschluss von gruppenspezifischen Inhalten und Denkschemata bleibt
an der Grenze zwischen individuellem und kollektivem Gedächtnis.
Halbwachs unterscheidet verschiedene Formen des kollektiven Gedächtnisses. Er gibt
einige
soziologische
Fallbeispiele
Religionsgemeinschaften,
an:
Berufsgruppen
Gruppengedächtnisse
und
sozialen
von
Schichten,
Familien,
wobei
das
Familiengedächtnis als ein typisches Generationengedächtnis dargestellt wurde. An
dieser Form sind alle den Horizont des Familienlebens teilenden Familienmitglieder
beteiligt20. Die Familie zeichnet sich durch gemeinschaftliche Handlungen und geteilte
Erfahrungen aus. Dazu kommt auch das gemeinsame Vergegenwärtigen der
Vergangenheit, das ständig wiederholt wird. In familiären Gesprächen werden die
Erinnerungen von älteren an die jeweiligen jüngeren Generationen weitergegeben. Mit
anderen Worten: Es „findet ein Austausch lebendiger Erinnerung zwischen Zeitzeugen
und Nachkommen statt. Das kollektive Generationengedächtnis reicht daher so weit,
wie sich die ältesten Mitglieder der sozialen Gruppe zurückerinnern können.“21 Die
alltägliche Kommunikation bildet also ein Medium für das Familiengedächtnis und im
weiteren Sinne für das Generationengedächtnis, dessen Inhalte die individuellautobiographische Erinnerungen verkörpern. 22
Das Gedächtnis der Generationen soll man nach Halbwachs von der Geschichte
trennen, deren Anliegen auch die Vergangenheit ist. Der Unterschied liegt daran, dass
die Geschichte universal und ihr wesentliches Merkmal eine unparteiische
Gleichordnung aller vergangenen Ereignisse ist. Dazu stehen Gegensätze und Brüche
im Zentrum ihres Interesses. Das Generationengedächtnis (das kollektive Gedächtnis)
besteht dagegen aus partikulären und selektiven Erinnerungen, denn
„seine Träger sind zeitlich und räumlich begrenzte Gruppen, deren
Erinnerung stark wertend und hierarchisierend ist. Eine zentrale
Funktion des Vergangenheitsbezugs im Rahmen kollektiver Gedächtnisse
19
Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, 2005, S. 16.
20
Vgl. Erll, Astrid: Gedächtnisromane, 2003, S. 20.
21
Ebd.
22
Vgl. Ebd., S.21.
7
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
ist Identitätsbildung. Erinnert wird, was dem Selbstbild und den
Interessen der Gruppe entspricht.“23
Das kollektive Gedächtnis orientiert sich an den gegenwärtigen Belangen der Gruppe,
die sich und ihre Identität durch Erinnerungsakte erschafft. Durch gemeinsame
Auslegung der Vergangenheit, die als Kollektivvergangenheit gelten kann, entsteht die
kollektive Identität24. Nicht zu übersehen ist die Tatsache, dass das geteilte kollektive
Gedächtnis „konstitutiv und untrennbar mit der Existenz der Gruppe verflochten“
ist.25Anders gesagt: es ist identitätskonkret, bezieht sich „ausschließlich auf den
Standpunkt einer wirklichen und lebendigen Gruppe“. Dies bedeutet, dass ein
Kollektivgedächtnis an seinen Trägern haftet und nicht an irgendeinen Menschen
übertragen werden kann. Jeder Mensch zeigt seine Gruppenzugehörigkeit, indem er an
einem kollektiven Gedächtnis teil hat.26
Mit seiner Forschung zur mémoire collective theorisierte Halbwachs das Gedächtnis als
Kulturphänomen und hat „damit ‚Kultur‘ und ‚Identität‘ nicht mehr als Resultat
biologischer Vererbbarkeit, sondern als Produkt aktiver Selbstauslegungen und
Vergangenheitsaneignungen interpretiert“.27 Seine Begriffsverwendungen erschienen
aber zu heterogen, sein Konzept nicht ausreichend differenziert. Seine Theorie wurde
jedoch zur Basis für Entfaltung anderer Gedächtnistheorien (z.B. die von Jan und
Aleida Assmann), die das Phänomen des Gedächtnisses vertiefend untersuchten.
2.1.2 Zum kommunikativen Gedächtnis nach Jan Assmann
Im Zentrum der von Maurice Halbwachs entworfenen Theorie steht ein Phänomen der
mémoire collective, das jedoch aus zwei verschiedenen, aber zugleich miteinander
verbundenen Registern besteht. Es wird nämlich „zwischen einem kollektiven
Gedächtnis, das auf Alltagskommunikation basiert, und einem kollektiven Gedächtnis,
das sich auf symbolträchtige kulturelle Objektivationen stützt“28, unterschieden. Dies
hat zur Trennung des Begriffs des „kollektiven Gedächtnisses“ beigetragen, was in der
23
Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, 2005, S. 17.
24
Vgl. Neumann, Brigit: Literatur, Erinnerung, Identität, 2005, S. 160f.
25
Ebd., S. 161.
26
Vgl. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis, 2003, S. 39.
27
Neumann, Brigit: Literatur, Erinnerung, Identität, 2005, S. 159f.
28
Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimar: Metzler 2005, S. 26.
8
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
Gedächtnistheorie von Jan Assmann Ausdruck gefunden hat. Der Theoretiker stellt
nämlich zwei Gedächtnis-Rahmen gegenüber: das kommunikative und das kulturelle
Gedächtnis. Die verglichenen Merkmale, die beide Gedächtnisse charakterisieren,
wurden von Assmann überpointiert dargestellt, „um zu zeigen, dass sich Inhalte,
Formen, Medien, Zeitstruktur und Träger dieser beiden Gedächtnis-Rahmen
grundlegend unterscheiden.“29
Das erste Register, das kommunikative Gedächtnis definiert Assmann folgendermaßen:
„Das kommunikative Gedächtnis umfaßt Erinnerungen, die sich auf die
rezente Vergangenheit beziehen. Es sind dies[e – M.S.] Erinnerungen,
die der Mensch mit seinen Zeitgenossen teilt.“30
Diese Gedächtnisform beinhaltet die Geschichtserfahrungen in Rahmen individuellen
Biographien und basiert auf der Alltagkommunikation und –interaktion. Sie nimmt
Bezug auf den mit der fortschreitenden Gegenwart wandernden Zeithorizont von 80100 Jahren, was 3-4 Generationen entspricht. Deswegen kann sie auch als
„Kurzgedächtnis der Gesellschaft“ bezeichnet werden.31 Nach dieser Zeit wird sie als
irrelevante
Erfahrungen
angesehen
und
trifft
auf
eine
floating
gap
(Vergessensschwelle), die immer im gleichen zeitlichen Abstand mitwandert. Die
gegenwärtigen Sinnbedürfnissen fallen hinter ihr zurück.32
Das kommunikative Gedächtnis stellt nach Assmann den Gegenstandsbereich der „Oral
History“ dar:
„Dieser Erfahrungshorizont bildet neuerdings den Gegenstand der ‘Oral
History’, eines Zweiges der Geschichtsforschung, die […] ausschließlich
auf Erinnerungen [beruht – M.S.], die in mündlichen Befragungen
erhoben wurden. Das Geschichtsbild, das sich in diesen Erinnerungen
und Erzählungen konstituieren, ist eine ‘Geschichte des Alltags‘[…].33“
Es ist durch Alltagsnähe gekennzeichnet und besteht nur aus biographischen
Erinnerungen, nach denen konkret gefragt wird. Die Inhalte eines kommunikativen
29
Ebd., S. 27f.
30
Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis, 2003, S. 50.
31
Vgl. Welzer, Harald (Hg.): Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München: C.
H. Beck 2002, S. 14.
Vgl. Neumann Brigit: Literatur als Medium…, 2003, S. 58. Siehe dazu auch: Assmann, Jan: Das
kulturelle Gedächtnis, 2003, S. 48ff.
32
33
Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis, 2003, S. 51.
9
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
Gedächtnisses sind folglich veränderlich und fragmentarisch. Sie erfahren keine feste
Bedeutungszuschreibung.34
Von großer Bedeutung ist hier auch die Tatsache, dass die Träger dieser
Gedächtnisform keine Spezialisten oder Experten der informellen Überlieferung sind.
Es ist egal, wie viel man weiß und wieweit das Gedächtnis zurückreicht. (Alte
Menschen reichen mit ihren Gedächtnissen weiter zurück als junge.) Wenn es um
Erinnern und Deuten von der gemeinsamen Vergangenheit geht, besitzt jeder Mensch
die gleiche Kompetenz, auch „wenn [sich – M.S.] Einzelne mehr und besser erinnern
als andere“.35
Der typische Fall für das kommunikative Gedächtnis ist das von Halbwachs
hervorgehobene Generationen-Gedächtnis. Es besteht aus Erinnerungen, die durch
alltägliche Kommunikation und Interaktion geteilt werden und die von älteren an
jüngere Generationen weitergegeben werden. Seine Träger sind vor allem
durchschnittliche Menschen (meistens Familienmitglieder), von deren Lebensdauer die
Existenz des Gedächtnisses abhängig ist:
„Dieses Gedächtnis wächst der Gruppe historisch zu; es entsteht in der
Zeit und vergeht mit ihr, genauer: mit seinen Trägern. Wenn die Träger,
die es verkörpern, gestorben sind, weicht es einem neuen Gedächtnis.“36
Das Generationen-Gedächtnis umfasst also 3-4 Generationen. Nach ihren Inhalten wird
meistens in Gesprächen gefragt, deswegen bilden sie den Gegenstand der „Oral
History“. Alle Merkmale, die das kommunikative Gedächtnis charakterisieren, weist
auch das Generationen-Gedächtnis auf, deswegen gilt es als ein gutes Beispiel für diese
Gedächtnisform.37
Das zweite Register von Halbwachsschen kollektiven Gedächtnis verkörpert das
kulturelle Gedächtnis. Im Gegensatz zum kommunikativen Gedächtnis handelt es sich
hier um offiziell und medial gestiftete kollektive Erinnerungen, die sich auf die ferne,
absolute, zum Mythos verdichtete Vergangenheit beziehen:
34
Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, 2005, S. 113.
35
Ebd., S. 53.
36
Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis, 2003, S. 50.
37
Vgl. ebd., S. 50f.
10
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
„Für das kulturelle Gedächtnis zählt nicht faktische, sondern nur
erinnerte Geschichte. Man könnte auch sagen, daß im kulturellen
Gedächtnis faktische Geschichte in erinnerte und damit in Mythos
transformiert wird.“38
Dieses Gedächtnis ist an feste Objektivationen, an traditionelle symbolische Kodierung
in z.B. Wort, Bild oder Tanz gebunden. Es steht in einem inneren Zusammenhang mit
der Identität einer Gesellschaft oder auch einer Nation und kann auf eine große Zahl
von Archiven, öffentlichen Ritualen und Gedächtnisorten zurückgreifen. 39 Von daher
gehören, im Gegensatz zum kommunikativen Gedächtnis, die Träger des kulturellen
Gedächtnisses nur zu ausgebildeten Spezialisten, wie Lehrer, Priester, Schamanen,
Künstler, Schreiber, Gelehrten.40
Die zwei von Jan Assmann unterschiedenen Gedächtnisrahmen bestehen aus dem
kommunikativen und kulturellen Gedächtnis. Beide sind oppositionell dargestellt, wobei
das kommunikative Gedächtnis als Abgrenzungsfolie zum kulturellen Gedächtnis
gestellt wird. Diese Phänomene wurden jedoch nicht so gelassen, wie sie Jan Assmann
definierte. Sie unterlagen Forschungen von anderen Theoretikern, u.a. von Aleida
Assmann, deren Untersuchungsergebnisse im weiteren Teil der Arbeit dargestellt
werden.
2.1.3 Zu Gedächtnisformen nach Aleida Assmann
Die Formen des Gedächtnisses wurden genauer von Aleida Assmann im Jahre 2002
untersucht.
Die
Anglistin,
Ägyptologin
und
vor
allem
Literatur-
und
Kulturwissenschaftlerin hat zu diesem Thema einen Artikel geschrieben, in dem sie eine
neue Aufteilung des Gedächtnisses vorschlägt. Assmann behauptet, dass die
Gedächtnishorizonte ständig erweitert werden, indem sie „immer weitere Kreise ziehen:
das Gedächtnis der Familie, der Nachbarschaft, der Generation, der Gesellschaft, der
Nation, der Kultur“41. Es ist schwer die Grenzen zwischen den Kreisen festzustellen.
So müssen auch andere Aspekte, wie Raum- und Zeitradius, Gruppengröße,
38
Ebd., S. 52.
39
Vgl. Eigler, Friederike: Gedächtnis und Geschichte in Generationenromanen seit der Wende. Berlin:
Erich Schmidt 2005, S. 43.
40
Vgl. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis, 2003, S. 54.
Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. – In: Erwägen Wissen Ethik (EWE) 13 (2002) Heft
2, S. 183-190., hier S.184.
41
11
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
Flüchtigkeit und Stabilität in Betracht gezogen werden, um ein anschauliches Bild des
Gedächtnisbegriffes zu entwerfen. Bei den genannten Faktoren werden von Aleida
Assmann vier Stufen unterschieden: das Gedächtnis des Individuums, der Generation,
des Kollektivs und der Kultur.42
Im Folgenden werden diese Formen des Gedächtnisses diskutiert; wobei dem
individuellen Gedächtnis, dem Generationengedächtnis so wie dem kollektiven
Gedächtnis mehr Beachtung geschenkt wird, was mit dem Ziel der vorliegenden Arbeit
verbunden ist.
2.1.3.1 Zum individuellen und Generationen-Gedächtnis
Jeder Mensch verfügt über seine biographischen Erinnerungen, die er in einem
sogenannten „Speicher“ behalten kann. Da die Erinnerungen einer Person anders sind
als die der Anderen, ist der „Speicher“ durch Einzelartigkeit charakterisiert. Aleida
Assmann nennt ihn individuelles Gedächtnis. Sie spricht auch von anderen
Eigenschaften, die das Gedächtnis des Individuums kennzeichnen. Die Erinnerungen
von Einzelnen sind vor allem subjektiv und unübertragbar. Dies bedeutet, dass ein
Ereignis von verschiedenen Personen aus ganz anderen Perspektiven erinnert werden
kann – je nachdem welche Gefühle hervorgerufen werden. Die Informationen über die
Vergangenheit können nur mit Hilfe von Erzählungen vermittelt werden. Sie werden
aber nie zu Erinnerungen einer anderen Person – was von Unübertragbarkeit zeugt. Die
Erinnerungen können nicht isoliert, sondern nur in einem Netz mit Erinnerungen der
anderen existieren. Sie wirken dann nicht nur glaubwürdiger, sondern auch verbindend
und gemeinschaftsbildend. Weiter – so Aleida Assmann – sind sie „fragmentarisch, d.h.
begrenzt und ungeformt. Was als Erinnerung aufblitzt, sind in der Regel
ausgeschnittene, unverbundene Momente ohne Vorher und Nachher.“43 An Form und
Struktur gewinnen sie erst in Erzählungen.
Die individuellen Erinnerungen sind auch durch Flüchtigkeit und Labilität
gekennzeichnet. Bei dieser Feststellung nimmt Aleida Assmann Bezug auf die
Forschungsergebnissen der kognitiven Psychologen:
42
Vgl. ebd.
43
Ebd. S. 184.
12
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
„Ein […] Bild vom menschlichen Gedächtnisvermögen entwerfen heute
die kognitiven Psychologen, die den trügerischen Charakter unserer
Erinnerungen zum Gegenstand ihrer Forschungen gemacht haben. Sie
haben gezeigt, daß Erinnerungen zum Flüchtigsten und
Unzuverlässigsten gehören, das es gibt, indem sie die vielen möglichen
Fehlleistungen,
die
beim
Erinnern
auftreten,
empirisch
44
austesteten[…].”
Die zwei Merkmale finden darin Bestätigung, dass die Erinnerungen sich mit der Zeit
und mit der Person verändert und verdrängt werden oder ganz verloren gehen können.
Das letzt Genannte gilt am Häufigsten bei Erinnerungen, die nicht hervorgerufen
werden, deswegen ist das Erzählen über der Vergangenheit von großer Bedeutung.45
Dies gelingt oft bei familiären Gesprächen, wenn sich mehrere Generationen treffen,
von dem Vergangenen erzählen und auch weitere Fragen stellen:
„Durch Erzählen, Zuhören, Nachfragen und Weitererzählen dehnt sich
der Radius der eigenen Erinnerungen aus. Kinder und Enkel nehmen
einen Teil der Erinnerungen der älteren Familienmitglieder in ihren
Erinnerungsschatz auf, in dem sich selbst Erlebtes und Gehörtes
überkreuzen. Dieses Drei-Generationen-Gedächtnis ist ein existenzieller
Horizont für persönliche Erinnerungen (…)“46
Assmann betont die zeitliche Begrenzung der Existenz vom individuellen Gedächtnis,
die mit Hilfe von Generationengesprächen erweitert wird. Der Tod des Individuums ist
meistens mit dem Tod der persönlichen Erinnerungen gleichgesetzt. Doch die von
Familienmitgliedern erzählten Vergangenheitsgeschichten leben in den Köpfen der
jüngeren Generationen, also der Kinder und Enkel, weiter. Die drei Generationen bilden
somit eine Erinnerungs-, Erfahrungs- und Erzählgemeinschaft, deren Gedächtnis sich
nach etwa 80-100 Jahren auflöst. Erst mit dem Tod der genannten drei Generationen
kann man von dem richtigen Auflösen dieser Gedächtnisform sprechen.47
Die persönlichen Erinnerungen betreffen nicht nur das Individuum und den bereits
erwähnten Familien- und Bekanntenkreis. Sie werden auch von unbekannten Menschen
geteilt und bestätigt, denn sie greifen auf Ereignisse zurück, die auch von einer
44
Ebd.
45
Vgl. damit Halbwachstheorie zur mémoire collective, in der der Soziologe betont, dass auf keine
Kommunikation und keine Erzählungen von der Vergangenheit der Vergessenheitsprozess erfolgt.
46
Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses, 2002, S. 185.
Vgl. damit die Theorie von Jan Assmann, in der an dieser Stelle von einer getroffenen „floating gap“
gesprochen wird.
47
13
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
gewissen Gesellschaft gesehen oder miterlebt worden sind und an die sich immer noch
erinnert wird. Diese Erinnerungen bilden also das Gedächtnis einer Gesellschaft, z.B.
einer Gemeinde oder einer Stadt.48 Das hingegen wird vom Wechsel der Generationen
bestimmt, die sich durch bestimmte Überzeugungen, Haltungen, Weltbilder,
gesellschaftliche Maßstäbe und kulturelle Deutungsmuster charakterisieren. Dieser
Generationenwechsel erfolgt je ca. alle 40 Jahre und „verschiebt das Erinnerungsprofil
einer Gesellschaft“49. Die Weltauffassung einer Gesellschaft wird damit verändert: die
Werte und Haltungen, die im Vordergrund standen, treten in den Hintergrund und
werden von jenen ersetzt, die die nachfolgende Generation kennzeichnen. Das alles
bedeutet, „dass das individuelle Gedächtnis nicht nur in einer zeitlichen Erstreckung,
sondern auch in den Formen seiner Erfahrungsverarbeitung vom weiteren Horizont des
Generationengedächtnisses bestimmt wird“.50
Das Gedächtnis der Generation prägt nicht nur die persönlichen Erinnerungen, sondern
auch die Generationen-Identität. Und das, wie Assmann betont, ist nicht zu verändern:
„Ob gewollt oder ungewollt, eingestanden oder verleugnet, die Prägung
des Generationengedächtnisses und der Generationen-Identität bleibt für
das Individuum unveränderlich und bindend[…]“51
Die Veränderungen, die mit dem Generationenwechsel verbunden sind, beeinflussen
zwar die Persönlichkeit des Individuums, haben aber keinen Einfluss auf die
Generationenzugehörigkeit. Die Gleichaltrigen bilden also eine Generation und deren
Erinnerungen ein Generationengedächtnis – und dies ist konstant. So wie das
individuelle
Gedächtnis
die
einzelnen
Personen
unterscheidet,
ist
das
Generationengedächtnis für eine Generation charakteristisch und grenzt sie von
anderen, also von vorhergehenden und nachfolgenden Generationen ab.52
2.1.3.2 Zum kollektiven und kulturellen Gedächtnis
Die zwei besprochenen Gedächtnisse unterscheiden sich wesentlich von der dritten
Form des Gedächtnisses, welches Assmann als kollektives Gedächtnis bezeichnet. Es
48
Vgl. damit die Theorie von Maurice Halbwachs zum kollektiven Gedächtnis.
49
Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses, 2002, S. 185.
50
Ebd., S. 185.
51
Ebd.
Vgl. Assmann, Aleida/ Frevert, Uwe: Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit. Vom
Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1999, S. 38.
52
14
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
betrifft Institutionen und Körperschaften wie z.B. Nationen, Staaten, Kirche oder
Firmen, die über kein Gedächtnis verfügen, wie es im Falle des Individuums oder der
Generation gilt, sondern sich mit Hilfe von Zeichen, Symbolen, Texten, Bildern, Riten,
Orten und Monumenten ein Gedächtnis und zugleich eine Identität erschaffen.53 Wie
Assmann betont: „Es ist ein ‘Gedächtnis des Willens’ und der kalkulierten Auswahl. “54
Es bedeutet, dass diese Gedächtnisform nicht auf unwillkürliche und spontane Momente
beruht. Sie unterscheidet sich vom individuellen Gedächtnis dadurch, dass sie z.B. nicht
bruchstückhaft, labil oder flüssig ist. Ihre Grundlagen bilden nämlich Erzählungen, die
eine Struktur besitzen, sowie symbolische Zeichen, die „die Erinnerung fixieren,
vereinheitlichen
und
über
Generationen
hinweg
tradierbar
machen.“55
Die
symbolischen, materiellen Stützen dieser Gedächtnisform wie z.B. Monumente, Riten
oder Denkmäler befestigen nämlich die Erinnerungen des Kollektivs und verpflichten
die nachfolgenden Generationen auf die gemeinsame Erinnerung. Das hält auch das
Gedächtnis des Kollektivs und der Generation auseinander.
Des Weiteren gibt es für das individuelle und kollektive Gedächtnis gemeinsame
Merkmale, welche sind: die perspektivische Organisation, keine Einstellung auf
größtmögliche Vollständigkeit und das Phänomen des Vergessens - ein konstitutiver
Teil der beiden Gedächtnisformen. Das letzte Genannte erfolgt aus einer strikten
Erinnerungsauswahl, auf der sowohl das individuelle als auch kollektive Gedächtnis
beruht.56 Als gutes Beispiel gelten hier die Konstruktionen eines nationalen
Gedächtnisses, bei denen es
„regelmäßig um solche Bezugspunkte in der Geschichte [geht – M.S.],
die das positive Selbstbild stärken und im Einklang mit bestimmten
Handlungszielen stehe. Was nicht in dieses heroische Bild paßt, wird
dem Vergessen anheimgegeben. An Siege kann man sich offensichtlich
leichter erinnern als an Niederlagen.“57
Wie Aleida Assmann betont, versucht eine Nation sich so ein Gedächtnis zu schaffen, in
dem solche vergangenen Ereignisse aufbewahrt werden, die keinen negativen Einfluss
auf die Bildung des nationalen Selbstbildes nehmen. Aus diesem Grunde teilt sie das
53
Vgl. Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses, 2002, S. 186.
54
Ebd.
55
Ebd., S. 186.
56
Vgl. ebd.
57
Ebd., S. 187.
15
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
kollektive Gedächtnis in vier verschiedene Typen. Dies sind das Opfer-, Täter-,
Besiegten- und Siegergedächtnis. Sie unterscheiden sich wesentlich voneinander. Das
Gedächtnis der Sieger steht dem der Besiegten gegenüber, eine gleiche Beziehung
besteht auch zwischen dem Gedächtnis der Opfer und der Täter. Während die Besiegten
und Sieger ihr Gedächtnis auf Kriegsereignisse beziehen, ist diese Bezugnahme im Fall
des Opfer- und Tätergedächtnisses keine Voraussetzung.58
Je nachdem, ob eine Nation sich ein Opfergedächtnis erschafft oder nicht, werden ihre
Niederschläge kommemoriert oder geraten in Vergessenheit. Dieser Gedächtnistyp ist
nämlich durch traumatische Erfahrungen von Leid und Scham gekennzeichnet, die
manchmal erst nach einem langen zeitlichen Abstand gesellschaftliche Anerkennung
finden und dann zum Teil des kollektiven bzw. kulturellen Gedächtnisses werden.59 Ob
dies überhaupt stattfindet, ist damit verbunden „ob es der geschädigten Gruppe gelingt,
sich als politisches Kollektiv oder als Solidargemeinschaft zu organisieren und
generationenübergreifende Formen der Kommemoration zu entwickeln.“60
Neben dem Opfergedächtnis steht das Gedächtnis der Besiegten, das den Beschluss
„Das dürfen wir nie vergessen!“ als Grundlage hat61. Die Beiden unterscheiden sich
dadurch, dass der zweite Gedächtnistyp Menschen betrifft, die an einem Krieg aktiv
teilgenommen und ihn verloren haben, wobei die Opfer aus passiven und wehrlosen
Objekten von Gewalt bestehen. Die Gewalt wird von solchen Menschen angewendet,
die Täter genannt werden. Das Tätergedächtnis bildet also einen Gegensatz zum
Opfergedächtnis. Passende Beispiele sind jedoch schwer zu finden, weil dieser
Gedächtnistyp durch keine öffentliche Stütze gekennzeichnet ist und es schwierig ist,
„der eigenen Schuld eingedenk zu sein“62, besonders, wenn es zugleich nicht um den
vierten Gedächtnistyp, das Gedächtnis der Sieger geht. Das Siegergedächtnis stützt sich
auf öffentliche Rituale und Symbole, wie z.B. Denkmäler, politische Feiertage und
58
Vgl. ebd.
59
Vgl. Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses, 2002, S. 187; Mit dem kulturellen Gedächtnis
ist die von Aleida Assmann als vierte unterschiedene Gedächtnisform gemeint.
60
Ebd., S. 187.
61
Vgl. Assmann, Aleida/ Frevert, Uwe: Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit,1999, S. 46.
62
Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses, 2002, S. 188.
16
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
nationale Symbolik, die zur Vergoldung und Befestigung der bestehenden
Machtverhältnisse dienen.63
Aleida Assmann betont, dass es zu einem Novum in der Geschichte gekommen ist. Die
Erneuerung besteht darin, dass „sich Staaten und Gesellschaften beim Erinnern zusehen
und die Maßstäbe ihres Erinnerns und Vergessens einer grundsätzlichen Revision
unterziehen“.
64
Die Opfer und Täter sorgen nicht mehr um gemeinsames Vergessen,
sondern streben nach gemeinsamem Erinnern an vergangene Ereignisse, was einer
besseren, friedlichen Koexistenz zugrunde liegt. Dies fand im 19. und 20 Jahrhundert
noch nicht statt, heutzutage steht es im Zusammenhang mit der aktuellen Verbindung
der Nationen durch die technologische und vor allem ethnische Globalisierung. Diese
Verbindung fordert eine friedliche Koexistenz der Nationen, deswegen ist beim
Konstruieren des kollektiven Gedächtnisses die Rücksicht auf die Nachbarstaaten
erforderlich.
Wie beim kollektiven Gedächtnis besteht die Aufgabe der vierten Gedächtnisform: des
kulturellen
Gedächtnisses
darin,
„Erfahrungen
und
Wissen
über
die
Generationenschwellen zu transportieren und damit ein soziales Langzeitgedächtnis
auszubilden.“65 Diese Gedächtnisform lebt aber von externen Datenspeichern und
Institutionen der Gedächtnispflege und Wissensvermittlung. Die Grundlage für das
kulturelle Gedächtnis bildet ein komplexer Überlieferungsbestand heterogener
symbolischer Formen, zu dem Artefakte (Texte, Bilder, Skulpturen), räumliche
Kompositionen (Architektur, Landschaft) und zeitliche Ordnungen (Feste, Brauchtum,
Rituale) gehören. Die genannten Bestände lassen sich niemals rigoros vereinheitlichen
und politisch instrumentalisieren, sie müssen konserviert und gepflegt sein. Im
historischen Wandel bedürfen sie auch der beständigen Anpassung und Erneuerung
sowie der Deutung und Diskussion.66
Das kulturelle Gedächtnis besteht aus zwei Schichten: aus dem Speicher- und dem
Funktionsgedächtnis. Die erste Schicht ist mit dem kulturellen Archiv gleichzusetzen,
welches materielle Spuren der kulturellen Vergangenheit sichert. Die zweite Schicht
63
Vgl. Assmann, Aleida/ Frevert, Uwe: Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit, 1999, S.46.
64
Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses, 2002, S. 188.
65
Ebd., S. 189.
66
Vgl. ebd., S. 189; Siehe zu diesen Fragen vertiefend auch: Assmann, Aleida/ Frevert, Uwe:
Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit, 1999, S. 49-52.
17
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
bildet ein Reservoir aus zeitübergreifenden Botschaften aus der Vergangenheit. Zu ihr
gehören Artefakte, die durch gesellschaftliche Selektionsprozesse der Kanonisierung
hindurchgegangen sind. Die Grenze zwischen Funktions- und Speichergedächtnis ist
flüssig, denn
„Aus
dem
vom Willen und Bewußtsein
ausgeleuchteten
Funktionsgedächtnis können Elemente, die an Interesse verlieren, ins
Archiv zurückfallen und andere aus dem Speichergedächtnis ins aktive
Funktionsgedächtnis (wieder zurück-) geholt werden“.67
Die dargestellten, von Aleida Assmann unterschiedene Gedächtnisformen bilden – wie
schon erwähnt wurde – eine Erweiterung und vor allem Konkretisierung der bisher
geltenden Gliederungen, die u.a. von Maurice Halbwachs und Jan Assmann entfaltet
wurden.
2.2 Zum Gedächtnis der Generationen in der deutschen Bevölkerung
Das Gedächtnis der Generationen ist ein Phänomen, mit dem sich die
Gedächtnisforscher seit langer Zeit beschäftigten. Maurice Halbwachs und Jan
Assmann haben ihm besondere Beachtung geschenkt, als sie es als ein Beispiel jeweils
für das kollektive (Halbwachs) und kommunikative (Assmann) Gedächtnis dargestellt
haben. Aleida Assmann betrachtet es sogar als eine eigene Form des Gedächtnisses. In
jeder Theorie wird betont, dass sich die Gedächtnisse der einzelnen, nacheinander
folgenden Generationen durch gewisse Merkmale, wie. z.B. Werte, Haltungen,
Vergangenheitsbezüge voneinander unterscheiden. Dadurch konstituieren sie sich als
„einzigartige Erfahrungs- und Erinnerungsgemeinschaften“68, die sich mit dem Tod
der Generationsangehörigen auflösen. Um von einer Generation überhaupt sprechen zu
können, muss ein Bezug zur vorhergenenden oder nachkommenden Generation (oder
auch zu beiden) existieren.
Verschiedene Nationen bestehen aus unterschiedlichen Generationen, die über andere
Gedächtnisse
verfügen.
Für
einen
besonderen
Fall
stehen
jedoch
die
67
Ebd., S. 190; Siehe zu diesen Fragen vertiefend auch: Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und
Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimar: Metzler 2005; Erll, Astrid: Gedächtnisromane. Literatur über den
Ersten Weltkrieg als Medium englischer und deutscher Erinnerungskulturen in den 1920er Jahren. Trier:
WVT 2003.
Bude, Heinz: Die Erinnerung der Generationen. – In: König, Helmut/ Kohlstruck, Michael/ Wöll
Andreas (Hrsg.): Vergangenheitsbewältigung am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. Sonderheft
18/1998. Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1998, S. 69-85, hier S. 71.
68
18
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
Generationengedächtnisse, die in der deutschen Bevölkerung entstanden sind und deren
Inhalte mit der Zeit des Nationalsozialismus mehr oder weniger in Verbindung stehen.
Je nachdem, welche Verhältnisse zwischen den Generationenangehörigen und der Zeit
des „Dritten Reich“ bestehen, wird die Vergangenheit anders erinnert und in den
Gedächtnissen aufbewahrt. Es wird meistens von einer Unterteilung in „Drei
Generationen“ gesprochen, wobei auch mehrere nicht ausgeschlossen sind. Als Erste
Generation gelten die Träger der NS-Zeit, als Zweite ihre Kinder und als Dritte ihre
Enkel. Nächste Generationen bilden die weiteren Nachkommen69. Diese Unterteilung ist
oberflächlich, deswegen wird sie im Folgenden konkretisiert und die genannten
Generationen werden genauer beleuchtet.
Die „Erste Generation“ bilden die Deutschen, die vor 1930 geboren wurden70. Sie wird
Erlebnisgeneration genannt. Sie steht nämlich in direkter Verbindung mit den
Ereignissen, die im Dritten Reich sich zugetragen haben, weil ihre Angehörige NSTäter waren.71 Aus diesem Grund ist das Gedächtnis dieser Generation mit dem
Tätergedächtnis
gleichzusetzten
und
weist
die
für
diesen
Gedächtnistyp
charakteristischen Merkmale auf. Auf sie wurde die Schuld-Frage72 begrenzt, denn:
69
Vgl. Kohlstruck, Michael: Zwischen Geschichte und Mythologisierung. Zum Strukturwandel der
Vergangenheitsbewältigung. – In: König, Helmut/ Kohlstruck, Michael/ Wöll Andreas (Hrsg.):
Vergangenheitsbewältigung am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. Sonderheft 18/1998.
Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1998, S. 86-108, hier S. 90.
70
Die Jahrgänge sind nicht genau festzustellen. Man nimmt an, die Angehörigen sind diejenigen, die
1933 volljährig waren oder bis 1945 volljährig geworden sind. Zu dieser Generation soll aber auch die
sogenannte Flackhelfer-Generation gehören, deren Angehörigen zwischen 1926 und 1929 geboren
wurden. – Vgl. Schneider, Christian: Der Holocaust als Generationsobjekt. Generationsgeschichtliche
Anmerkungen zu einer deutschen Identitätsproblematik. – In: Fröhlich, Margrit/ Lapid, Yariv/ Schneider,
Christian (Hrsg.): Repräsentationen des Holocaust im Gedächtnis der Generationen. Zur
Gegenwartsbedeutung des Holocaust in Israel und Deutschland. Frankfurt a.M.: Brandes & Apsel 2004,
S. 234-252, hier. S. 235; Siehe dazu auch vertiefend: Kohlstruck, Michael: Zwischen Erinnerung und
Geschichte: Der Nationalsozialismus und die jungen Deutschen. Berlin: Metropol 1997.
71
Vgl. Kohlstruck, Michael: Zwischen Geschichte und Mythologisierung, 1998, S. 92.
Die Schuldfrage bezeichnet die Frage: „wem mit welchem Recht welche Schuld am NS und seinen
Verbrechen zugeschrieben werden müßte und welche Konsequenzen dies haben sollte[? - M.S.]“. Sie
beschäftigte sich mit dem Problem der historischen Schuld, die den Deutschen nach dem NS-Ende
zugeschrieben wurde oder die sie sich selbst zugeschrieben haben. – Vgl. Kohlstruck, Michael: Zwischen
Geschichte und Mythologisierung, 1998, S. 91; Siehe dazu ausführlich auch: Kohlstruck, Michael:
Zwischen Erinnerung und Geschichte: Der Nationalsozialismus und die jungen Deutschen. Berlin:
Metropol 1997.
72
19
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
„die zur Ersten Generation Gerechneten sind […] die einzigen, die
individuell während der NS-Zeit schuldig geworden sein können. Nur sie
können wirklich strafrechtlich, moralisch und politisch schuldig sein.“73
So wird die Schuld an NS-Verbrechen nach dem Ende des Nationalsozialismus der
„Ersten Generation“ zugeschrieben. Diese Generation, obwohl sie sich schuldig fühlte,
versuchte jedoch, sich eine ungebrochene Selbstdarstellung zu erschaffen. Das ist die
Folge der Abwehrmechanismen, deren Ziel es ist, die Schulderfahrungen und die daraus
gewonnenen Gefühle und Erinnerungen zu verdrängen bzw. auszublenden. Die
genannten Mechanismen kommen zum Vorschein, wenn der Täter zugleich als ein
Besiegter erscheint, was in diesem Fall zutrifft. Die Deutschen der Ersten Generation
waren nämlich diejenigen, die die Verantwortung für den Völkermord und die
Ruinierung des Landes trugen. Dabei haben sie den Krieg nicht nur angefangen,
sondern auch verloren. Der Nationalsozialismus gehört zur Lebensgeschichte der
Erlebnisgeneration, trotzdem entstehen Barrieren beim Reden über die Vergangenheit,
über die Verantwortung und die Schuld. Das gilt besonders bei öffentlichen
Thematisierungen und bei den von außen her erwarteten Selbstbeschuldigungen, ist aber
auch im privaten Raum zu beobachten. Ein gutes Beispiel sind die aus dem Kriegsdienst
und Kriegsgefangenschaft heimkehrenden Männer, die erwartet haben, dass man ihnen
Respekt zollen wird. Aber niemand fragte nach deren Erlebnissen. Erst nach einer
gewissen Zeit begannen sie Endlosgeschichten zu erzählen, mit denen sie ihren zur
Ersten und Zweiten Generation gehörenden Familienmitgliedern ‚auf die Nerven
gingen‘.74
Die „Zweite Generation“, die sogenannte Achtundsechziger-Generation75, umfasst
Menschen, die im Krieg und Nachkriegszeit geboren wurden und die die Kinder der
NS-Träger und –Täter, also der „Ersten Generation“ sind. Sie bildet somit die letzte
Gemeinschaft, deren Erinnerungen an die NS-Zeit teils auf eigenen Erfahrungen und
73
Kohlstruck, Michael: Zwischen Erinnerung und Geschichte: Der Nationalsozialismus und die jungen
Deutschen. Berlin: Metropol 1997, S. 76.
74
Vgl. Bude, Heinz: Die Erinnerung der Generationen, 1998, S. 75.
75
Der Begriff Achtundsechziger-Generation findet ihren Ursprung in der 68er-Bewegung, die
verschiedene Studentenbewegungen zusammenfasst. Die Teilnehmer dieser Bewegungen haben sich
später als „Zweite Generation“ selbst definiert. Siehe zu diesem Begriff ausführlich: Bude, Heinz: Die
Erinnerung der Generationen. – In: König, Helmut/ Kohlstruck, Michael/ Wöll Andreas (Hrsg.):
Vergangenheitsbewältigung am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts. Sonderheft 18/1998.
Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1998, S. 69-85; Weigel Sigrid: Die ‘Generation’ als
symbolische Form. Zum genealogischen Diskurs im Gedächtnis nach 1945. – In: Figurationen. Gender,
Literatur, Kultur 0 (1999), S.158-173.
20
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
teils auf den durch Medien oder von den Eltern vermittelten Ereignissen beruhen. Mit
dem Nationalsozialismus verbinden nur die vor 1945 Geborenen direkte Erinnerungen,
für die er ein Teil der Kindheit und Jugend ist. Diese Generation konnte keine bewusste
Verbrechen begehen und somit keine an Individuen gebundene Schuld tragen 76. Trotz
weniger Teilnahme am NS, „fühlten sich [jedoch viele – M.S.] genötigt, stellvertretend
die ausgeschlagene Schuld und die mit ihr verknüpften Emotionen zu übernehmen. Zum
Grundgefühl dieser Generation zählt eine tief sitzende Scham gegenüber den eigenen
Eltern und der Wunsch, sich von diesem schuldbeladenen Ursprung abzukoppeln.“77
Das erwähnte Schuldgefühl der „Zweiten Generation“ ist mit der Tatsache verbunden,
dass die Schuld an NS-Verbrechen nicht mit Fremden, sondern mit eigenen Eltern
verbunden ist. Das erklärt, warum diese Generation außer der wegen seiner Herkunft
zugeschriebenen kollektiven Schuldfrage, auch ihre eigene Schuld empfindet, obwohl
sie im Grunde genommen nicht schuldig war.78
Zur „Dritten Generation“ gehören die Kinder der „Zweiten Generation“, also Enkel der
„Ersten Generation“. Da ihre Eltern die Letzten sind, die den Nationalsozialismus
persönlich erlebt haben, gilt die NS-Zeit für diese Generation nur als Geschichte. Ihre
Erinnerungen an diese Zeit betreffen nur die von den Großeltern und Eltern erzählten
Geschichten über den Krieg. Ihr Wissen beruht auf dem, was in der Schule
eingetrichtert wurde, auf zeitgenössischen Dokumenten, auf späteren Berichten,
Forschungen und anderen Medien. Diese Generation trägt individualbiographisch keine
Schuld am Nationalsozialismus. Sie trägt aber die Kollektivzugehörigkeit zur deutschen
Nation, deswegen ist sie von der sogenannten Schuldfrage weiterhin betroffen, die für
alle Deutschen relevant ist. 79
Die „Vierte Generation“ hat meistens keinen direkten Zugang zu den Zeitzeugen und
ist nur auf Medien und Erzählungen der Älteren angewiesen. Wie die „Dritte
76
Vgl. Kohlstruck, Michael: Zwischen Erinnerung und Geschichte, 1997, S. 82.
77
Schneider, Christian: Der Holocaust als Generationsobjekt. Generationsgeschichtliche Anmerkungen
zu einer deutschen Identitätsproblematik. – In: Fröhlich, Margrit/ Lapid, Yariv/ Schneider, Christian
(Hrsg.): Repräsentationen des Holocaust im Gedächtnis der Generationen. Zur Gegenwartsbedeutung des
Holocaust in Israel und Deutschland. Frankfurt a.M.: Brandes & Apsel 2004, S. 234-252, hier S. 247.
Zum Begriff der „Zweiten Generation“ siehe vertiefend auch: Schneider, Christian: Der Holocaust als
Generationsobjekt. Generationsgeschichtliche Anmerkungen zu einer deutschen Identitätsproblematik. –
In: Fröhlich, Margrit/ Lapid, Yariv/ Schneider, Christian (Hrsg.): Repräsentationen des Holocaust im
Gedächtnis der Generationen. Zur Gegenwartsbedeutung des Holocaust in Israel und Deutschland.
Frankfurt a.M.: Brandes & Apsel 2004, S. 234-252.
78
79
Vgl. Kohlstruck, Michael: Zwischen Erinnerung und Geschichte, 1997, S. 7.
21
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
Generation“ steht auch sie mit dem Nationalsozialismus in keinem individuellen
Verhältnis, sie tragen jedoch die Schuld ihrer Vorfahren.
Die Einteilung in „Drei bzw. Vier Generationen“, die auf Basis von Schulddiskursen
entworfen wurde, gilt besonders für die Bevölkerung aus Westdeutschland. Zwar war
die Schuld sowohl der BRD- als auch der DDR-Bewohner auf internationaler Ebene
zugeschrieben, aber die Ostdeutschen wurden mit der Schuldfrage erst nach der Wende
1989 in öffentlichen Diskursen der DDR konfrontiert. Während die Auseinandersetzung
mit der Vergangenheit und die Vergangenheitsbewältigung in Westdeutschland offiziell
verlaufen sind, hat man sich damit in Ostdeutschland im privaten, familiären Raum
beschäftigt. Aus diesem Grund wird für die DDR von Großeltern-, Eltern-, Enkel- und
Urenkelgeneration gesprochen, die der für die BRD geltenden Ersten, Zweiten, Dritten
und Vierten Generation entsprechen.80
2.3 Zum Familiengedächtnis im „memory talk“
Die Enkelgeneration (und die Urenkelgeneration, falls sie in der Familie vorkommt) hat
an dem Zweiten Weltkrieg nicht teilgenommen. Ihr Wissen über diese Zeit gewinnt sie
in
der
Schule,
aus
Büchern,
Dokumenten
und
anderen
Medien.
Das
Geschichtsbewusstsein der jüngeren Generation ist aber nicht nur auf Basis von den in
Büchern stehenden Zahlen aufgebaut worden, die zum Beispiel die Jahre oder die
Anzahl der Getöteten bezeichnen ausweisen. Als Wissensquelle gelten vor allem die
Geschichten, die von den Familienmitgliedern erzählt werden, die die Kriegszeit erlebt
haben, also von der Großeltern- und, falls die Eltern auch zu dieser Gruppe gehören, der
Elterngeneration. Die trockenen Informationen über den Krieg wurden durch
gefühlvolle Erzählungen der Älteren ergänzt. Ein Vergangenheitsbild setzt sich aber
nicht nur aus Gesprächen zwischen Generationen zusammen, wichtig sind dabei auch
z.B. Briefe, Fotos und persönliche Dokumente aus der Familiengeschichte, die als eine
Art Album des Dritten Reiches gelten können81. Da die Vergangenheit in familiären
Erzählungen durch emotionale Färbung gekennzeichnet ist, unterscheidet sie sich auch
an dieser Stelle von den Vergangenheitsbildern und -vorstellungen, die in der Schule
80
Vgl. ebd., S. 10.
81
Vgl. Welzer, Harald/ Moller, Sabine/ Tschuggnall, Karoline: »Opa war kein Nazi«.
Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch 2003,
S.10.
22
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
oder in den Medien vermittelt wurden und ein Teil des kulturellen Gedächtnisses
bilden.82 Die Unterschiede sind zur Grundlage der Studie „Tradierung von
Geschichtsbewusstsein“ geworden, die untersucht hat, wie die nationalsozialistische
Vergangenheit im Bewußtsein und im Unbewußten der Deutschen fortwirkt“83. Dieses
Projekt, in dem 40 Familien interviewt wurden, ist „der Frage nachgegangen, was
»ganz normale« Deutsche aus der NS-Vergangenheit erinnern, wie sie darüber
sprechen und was davon an die Kinder- und Enkelgenerationen weitergegeben wird.“84
Die Ergebnisse dieser Studie und die daraus gezogenen Schlussfolgerungen wurden von
Harald Walzer vor allem im Buch „»Opa war kein Nazi«. Nationalsozialismus und
Holocaust im Familiengedächtnis“ beschrieben.85
Die Geschichten, die im Rahmen der Studie von den Familienmitgliedern erzählt bzw.
zusammengefertigt wurden, werden nicht nur zu Themen der familiären Gespräche, die
natürlich eine Kommunikation verlangen. Sie werden in Gedächtnissen der einzelnen
Generationen aufbewahrt und an die nächsten übertragen. Man spricht hier vom
entstehenden Familiengedächtnis, das sich vor allem auf Gesprächen konstituiert.86
Diese finden normalerweise nicht nur zu besonderen Anlässen, wie z.B. Feierabende
statt, sondern auch in alltäglichen Situationen wie z.B. beim Fernsehen oder beim
gemeinsamen Abendessen. Es wurde dabei keine Komplexität der Geschichten verlangt,
wie Welzer betont:
82
Vgl. ebd., S.11.
83
Welzer, Harald: Das gemeinsame Verfertigen von Vergangenheit im Gespräch. In: Welzer, Harald
(Hg.): Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung. Hamburg: Hamburger Edition 2001,
S. 160-178, hier S. 160.
84
Ebd.
85
Siehe: Welzer, Harald/ Moller, Sabine/ Tschuggnall, Karoline: »Opa war kein Nazi«.
Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch 2003.
Siehe zu diesem Thema vertiefend auch: Welzer, Harald: Das gemeinsame Verfertigen von
Vergangenheit im Gespräch. In: Welzer, Harald (Hg.): Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung,
Tradierung. Hamburg: Hamburger Edition 2001, S. 160-178.
86
Welzer geht den Theorien von Maurice Halbwachs und Jan Assmann nach, die das Familiengedächtnis
als ein Typ des kollektives bzw. kommunikativen Gedächtnisses betrachten, und definiert den Begriff
folgendermaßen: „»Familiengedächtnis« [stellt-M.S.] kein umgrenztes und rufbares Inventar von
Geschichten [dar - M.S.], sondern [besteht - M.S.] in der kommunikativen Vergegenwärtigung von
Episoden […], die in Beziehung zu den Familienmitgliedern stehen und über die sie gemeinsam
sprechen“ - Welzer, Harald/ Moller, Sabine/ Tschuggnall, Karoline: »Opa war kein Nazi«.
Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch 2003,
S. 18f.
23
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
„Das Familiengedächtnis basiert nicht auf der Einheitlichkeit des Inventars seiner
Geschichten, sondern auf der Einheitlichkeit und Wiederholung der Praxis des
Erinnerns sowie auf der Fiktion einer kanonisierten Familiengeschichte.“ 87
So wie bei kommunikativem Gedächtnis werden auch hier nur gewisse Stücke aus der
ganzen Menge von Erinnerungen herausgenommen, um in bestimmter Situation erzählt
zu werden. Da der Gegenstand des Erzählens nicht das Ganze, sondern einzelne
Ereignisse aus der Geschichte sind, wird Spannung aufgebaut und natürlich das
Interesse an weiteren Vergangenheitsdarstellungen geweckt. Es kommt also wieder zu
familiären Gesprächen, in denen bestimmte Geschehnisse noch einmal thematisiert
werden. Die Geschichten werden immer wieder erzählt und manchmal um einige
Begebenheiten ergänzt oder mit zusätzlichen Gefühlen gefärbt. Hier ist auch ein
wichtiges Phänomen hervorzuheben. Es kommt immer häufiger dazu, dass nicht die
Angehörigen der Erlebnisgeneration das Erzählen von der Vergangenheit selbst
beginnen, sondern dass es von den Nachwuchsgenerationen angesprochen und/oder
verlangt wird. Die Kinder oder Enkel versuchen von ihren Großeltern und/oder von den
Eltern etwas mehr von der Geschichte zu erfahren, als es in den meist ‚langweiligen‘
Büchern zu finden ist. Das Erzählen von den älteren Generationen ist durch Gefühle
gekennzeichnet und auch deswegen für den Nachwuchs und andere Familienmitglieder
interessanter. Das betrifft aber nicht nur die einmalig erzählten Geschichten, sondern
vor allem die, die im familiären Kreis bekannt sind. Viele von solchen Geschichten
haben sogar einen eigenen Namen, wie z.B. „die Sache mit dem Kind“ 88, was darauf
hinweist, dass sie mehrmals in Gesprächen vorgekommen sind.
Das Auftreten von schon früher behandelnden Themen bleibt nicht sinnlos, sondern
dient
einem
bestimmten
Zweck.
Damit
die
Vergangenheitsabbilder
im
Familiengedächtnis existieren können, müssen sie - so wie es auch beim individuellen
und kommunikativen Gedächtnis der Fall ist – immer wieder hervorgerufen, in Worte
gefasst und nacherzählt werden. Walzer bezieht sich in diesem Rahmen auf eine
Position von Angela Keppler, die betont, dass es:
„wichtig ist, dass Geschichten in der Familie gerade deswegen erzählt werden, weil
jeder sie schon kennt: denn der »Bezug auf vergangene Ereignisse (ist) nicht allein ein
Akt ihrer gemeinsamen Vergegenwärtigung als etwas Vergangenes, sondern ein
87
Welzer, Harald: Das gemeinsame Verfertigen von Vergangenheit im Gespräch. In: Welzer, Harald
(Hg.): Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung. Hamburg: Hamburger Edition 2001,
S. 160-178, hier S. 164.
88
Siehe dazu: Welzer, Harald/ Moller, Sabine/ Tschuggnall, Karoline: »Opa war kein Nazi«, 2003, S.38.
24
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
Vorgang der Bestätigung einer Einstellung zu wichtigen Angelegenheiten des Lebens,
die sich in der Familie über die Zeiten hinweg durchgehalten hat. Die rituelle
Wiederholung […] benennt eine Kontinuität des Selbstverständnisses, die sie im selben
Akt bezeugt.«89
Das Familiengedächtnis bildet also eine Art Bindung zwischen Familienmitgliedern. Es
ist für das Gemeinsame verantwortlich, das als Grundlage für eine Familie gilt. Dies ist
nämlich eine gemeinsame einheitliche Geschichte, die sich den jüngeren Generationen
einprägt, weiteren nacherzählt wird und dadurch einer Familie eine Identität gibt. Bei
diesen Feststellungen ist noch ein wichtiger Punkt zu beachten. Viel von dem Erzählten
wurde subjektiv dargestellt. Dies bedeutet, dass die Vergangenheit abgemildert oder
ganz verändert wurde.
Die Geschichten werden nach bestimmten wiederkehrenden Mustern erzählt, die als
„Tradierungstypen“ bezeichnet werden. Man unterscheidet fünf Tradierungstypen:
Opferschaft, Rechtfertigung, Distanzierung, Faszination und Überwältigung. Jeder von
ihnen enthält eine Moral, einen sogenannten „werthaltigen Endpunkt“, der die
Geschichte sinnhaft macht90. Eine dominante Rolle bei den Erzählungen spielt die
Darstellung des Erzählers oder/und der nächsten Familienmitglieder als Opfer, obwohl
sie in Wirklichkeit sehr oft zu den NS-Verbrechern gezählt wurden. Meistens stellen sie
sich dar als Vergewaltigungs- und Gewaltopfer von russischen Besatzungssoldaten, als
Flüchtlinge, als Opfer des Krieges an der Heimatfront oder als Leidende wegen den
sozialen Umständen oder der Kriegsgefangenschaft.91 Dies hat zum Ziel, Mitleid und
Empathie bei den Zuhörern zu erwecken und somit den erzählenden Personen zu
ermöglichen, über jeden Verdacht erhaben zu sein. Es gibt auch Fälle, in denen die
Teile von Familien als „Nationalsozialisten“ oder „Nazis“ bezeichnet wurden. Wenn
aber solche Bezeichnungen und Schuldvorwürfe die wichtigen Personen betroffen
haben, tritt der Tradierungstyp „Rechtfertigung“ in den Vordergrund. Die Zeitzeugen
bedienen sich dann bereits entwickelter Rechtfertigungsstrategien, bei denen bestimmte
Sequenzen wiederholt werden, wie z.B. „Wir haben von den Lagern nichts gewusst“
oder „man war gezwungen, in die NDSAP einzutreten“ oder „für die Gestapo zu
89
Keppler, Angela: Tischgespräche. Über Formen Kommunikativer Vergemeinschaftung am Beispiel der
Konversation in Familien. Frankfurt a.M. 1994, zitiert nach Welzer, Harald/ Moller, Sabine/ Tschuggnall,
Karoline: »Opa war kein Nazi«. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt
a.M.: Fischer Taschenbuch 2003, S. 19f.
90
Vgl. Welzer, Harald/ Moller, Sabine/ Tschuggnall, Karoline: »Opa war kein Nazi«, 2003, S. 81.
91
Vgl. ebd., S.86.
25
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
arbeiten“. Einige sagten auch, die haben mitgemacht, weil es alle taten. Häufig wurde
auch die ökonomische Lage als Grund angegeben, dass man nicht anders handeln
konnte.92
Die
Vorwürfe,
dass
die
Angehörigen
der
Großelterngeneration
„Nationalsozialisten“ waren, haben die Verdächtigen und die nachfolgenden
Generationen, falls ihnen die Geschichten schon bekannt waren, nicht nur gerechtfertigt,
sondern auch zu Distanzierungen geführt, die aufgrund der in den Raum gestellten
Vorwürfe und allgemeinen Bezichtigungen entstanden sind. Dieses Muster hat „sein
stärkstes stilistisches Element in der Ironie, die von den Zeitzeugen offensiv eingesetzt
wird, um deutlich zu machen, dass sie sich schon zeitgenössisch in kritischer Distanz
zum Nationalsozialismus befunden haben.“93 Als Beispiele sind hier u.a. die
Erzählungen von zwei Frauen zu erwähnen. Die Eine berichtete, dass ihr Mann zwar
SA-Mitglied war, hätte aber „nichts von den Nazis gehalten“. Die Zweite dagegen
betonte, dass ihr Onkel „kein Nazi“ war, obwohl der zur NSDAP gehörte und für die
Gestapo arbeitete.94 In familiären Gesprächen sind ähnliche Unterscheidungen zwischen
den „Deutschen“, die für die Erzählenden wichtige Personen waren, und den „Nazis“ zu
treffen. Die „Deutschen“ werden als „Verführte, Missbrauchte, ihrer Jugend beraubte
Gruppe“ betrachtet, die „Nazis“ hingegen stehen immer für „die Anderen“, für die
Täter.95 Die Großeltern bzw. Eltern werden immer als diejenigen angesehen, die trotz
der Mitgliedschaft an NS-Organisationen nichts mit dem Nationalsozialismus zu tun
haben wollten. Für diesen Tradierungstyp ist auch eine lächerliche und unglaubwürdige
Darstellung der politischen Eliten aller Länder und Epochen charakteristisch, wobei auf
solche Art und Weise auch der Nationalsozialismus betrachtet wurde.96
Im Rahmen des Musters „Faszination“ wird die Zeit des Nationalsozialismus in einem
vorteilhaften Licht dargestellt. Die Vergangenheit, die vor allem die Kindheit und die
Jugend geprägt hat, wird als „schöne Zeit“ bezeichnet und mit den gegenwärtigen
Jugendzeiten der jüngeren Generationen verglichen, wobei hervorgehoben wird, dass
die Gegenwart im Vergleich zur „schönen Zeiten“ schlechter ausfällt, die bessere
92
Vgl. ebd., S. 155.
93
Ebd. S. 83.
94
Vgl. ebd., S. 153.
95
Ebd., S. 79.
96
Vgl. ebd., S. 83.
26
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
„»Leistungen« für das Gemeinschaftserleben der Jugendlichen [und – M.S.] für die
Beseitigung der Arbeitslosigkeit vorzuweisen“ haben.97
Der fünfte Tradierungstyp „Überwältigung“ findet in Erzählungen selten statt. Die in
Worte gefassten Erinnerungen betreffen Ereignisse und Erlebnisse, die die Zeitzeugen
nachhaltig beeindruckt haben. Sie werden mit einer so großen Kraft zur Identifikation
und Perspektivübernahme dargestellt, dass die Zuhörer „bemüht sind, den Erzählern
deutlich zu machen, dass sie die Reise in die retrospektiven Vergegenwärtigungen des
historischen Geschehens nach Kräften mitzumachen versuchen.“ 98 Die Erzählungen im
Rahmen dieses Musters besitzen eine situative Überzeugungskraft und handeln sehr oft
von Themen, die eher für das männliche Publikum interessant sind. Zu den behandelten
Themen zählen Kriegs- und Kampfsituationen, die in allen Einzelheiten erzählt werden.
Da von solchen Geschichten die Angehörigen der jüngeren Generationen meistens
überwältigt werden, spielen sie in familiären Gesprächen keine zentrale Rolle.99
Infolge der Dialoge zwischen den Generationen erscheint die Großelterngeneration
meistens als Opfer und die Leidenden schlechthin. In den nach den bestimmten Mustern
erzählten Geschichten versucht die Erlebnisgenerationen sich „in einem Licht
erscheinen zu lassen, dass sie auch nach Maßgabe heutiger Bewertungen und
normativer Einschätzungen als jederzeit moralisch integre Persönlichkeiten zeigt.“100
Sie machen sich deswegen meistens zu Opfer des Nationalsozialismus und vor allem zu
Opfer von russischen Besatzungssoldaten. Sie stellen sich häufig auch als „Helden des
alltäglichen Widerstands“ dar, indem sie mit den Juden Geschäfte gemacht und/oder
ihnen geholfen oder zumindest versucht haben, ihnen zu helfen. In Wirklichkeit haben
sie von kleinen Taten und alltäglichen, unauffälligen und unspektakulären
Widerständen gesprochen, aber infolge der Darstellungsweise ihrer Einzelgeschichten
stilisierten sie sich zu Helden und ihre Klein-Taten wurden zu großen Heldentaten.101
So haben die mehrmals wiederholten Geschichten dazu getragen, dass in den
Gedächtnissen der jungen Generationen Vorstellungen von „guten Großeltern bzw.
Eltern“ einerseits und von „Nazis“ andererseits entstehen und überstehen. Dazu
97
Vgl. ebd.
98
Ebd., S. 84.
99
Vgl. ebd., S. 84f.
100
Ebd., S. 52.
101
Vgl. ebd., S. 54.
27
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
kommen auch Bilder von „bösen Russen“, mit denen Bedrohung, Schrecken,
Vergewaltigung, Plünderung und Mord verbunden sind.102
Hervorzuheben ist an dieser Stelle die Tatsache, dass die entwickelte Vorstellung von
den
Familienmitgliedern,
die
der
Großelterngeneration
gehören,
und
die
Familienzusammenhänge so stark in den Gedächtnissen der jüngeren Generationen
verankert ist, dass sie sogar dann unveränderlich bleibt, wenn die „guten“ Großeltern,
Eltern oder andere nächste Personen aus der Erlebnisgeneration sich als „reine Nazis“
oder „eifrige Nationalsozialisten“ erweisen. Welzer veranschaulicht das am Beispiel
einer Familie, in der der Urgroß- bzw. Großvater als Held vorkam, da er einer Jüdin
geholfen hatte. Dieses Bild wurde erst nach seinem Selbstmord in Frage gestellt, weil er
eine selbst verfasste Chronik hinterließ. In ihr „entpuppt er sich zur Überraschung der
Familie als immer noch überzeugter Nationalsozialist, der offenbar auch an Verbrechen
beteiligt war.“ Das war eine große Diskrepanz für die Enkel und Urenkel – die Tochter,
die davon wusste, war überhaupt nicht erschüttert. Die in der Chronik offenbarte
Persönlichkeit stimmte nicht mit den Bildern, das die Enkelin und Urenkelin von dem
Groß- bzw. Urgroßvater hatten, überein. Trotzdem entsteht bei der Enkelin nur eine
Vermutung von der eventuellen Angehörigkeit des Großvaters zu Tätern. Die
Vorstellungen der Urenkelin blieben jedoch unverändert.103 Zu ähnlichen Situationen ist
es in vielen Familien gekommen, von deren Angehörigen immer noch zu hören ist: „Ich
bin mir sicher, dass meine Großeltern keine Nazis waren“.
Die familiären Gespräche zwischen Generationen werden nicht nur erforscht. Sie
werden auch in literarischen Texten thematisiert, was im weiteren Teil der Arbeit an
einem Beispiel dargestellt wird.
102
Vgl. ebd., S. 141.
103
Vgl. ebd., S. 70ff.
28
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
3 Erinnerung und Gedächtnis in der Literatur - Zur
Rhetorik der Erinnerung nach Astrid Erll
Erinnerung und Gedächtnis spielen in der Literatur eine bedeutende Rolle, sowohl in
dem thematischen als auch strukturellen Bereich. Sie werden mit verschiedenen
literarischen Mitteln inszeniert, was schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts untersucht
worden war.104 Hat man in einem literarischen Text mit einem Ich-Erzähler105 zu tun, so
unterscheidet man zwischen erlebendem und erzählendem Ich. Da die zwei IchErzählerformen in der literaturwissenschaftlichen Erzähltheorie als „Formen der
Inszenierung
von
Beobachtererinnerungen
und
Felderinnerungen
verstanden
werden“106, lässt sich feststellen, dass die Beschäftigung mit den Ich-Erzählformen
zugleich eine Beschäftigung mit der literarischen Inszenierung von Erinnerung ist.107
Die Literatur kann als ein Medium sowohl des individuellen als auch des kollektiven
und kulturellen Gedächtnisses betrachtet werden. Die „erzählerischen Mittel, mit denen
die Illusion einer authentischen Erinnerung erzeugt wird“108, werden unter dem Begriff
„Rhetorik der Erinnerung“ zusammengefügt. Wird der Bezug auf Romane genommen
und darauf, dass die individuellen Erinnerungen Teile des kollektiven Gedächtnisses
sind, so definiert Erll diesen Begriff folgendermaßen:
104
Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimar: Metzler 2005,
S. 71.
105
Nach Franz Stanzel ist der Ich-Erzähler ein Erzähler, der in der Ich-Form von den Ereignissen erzählt,
die er selbst erlebt hat oder von denen er gehört hat. Siehe dazu: v. Graevenitz, Gerhart: Erzähler. – In:
Ludwig, Hans-Werner (Hrsg.): Arbeitsbuch Romananalyse. Tübingen: Narr 1998, S. 78-106; Strasen,
Sven: Zur Analyse der Erzählsituation und der Fokalisierung. – In: Wenzel, Peter (Hg.): Einführung in
die Erzählanalyse. Kategorien, Modelle, Probleme. Trier: WVT 2004, S. 111-140. Gérard Genette
unterscheidet noch zwischen Ich-Erzähler, der an dem erzählten Ereignis beteiligt ist oder nur als
Beobachter auftritt. Siehe dazu: Genette, Gérard: Die Erzählung. München: Wilhelm Fink 1998.
106
Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, 2005, S. 72. Als Felderinnerungen
werden solche Erinnerungen bezeichnet, in denen die erinnernde Person die vergangenen Ereignisse mit
eigenen Augen gesehen hat, so dass sie sich selbst nicht als Teil des gesehenen Bildes betrachtet. Bei
Beobachtererinnerungen werden die Geschehnisse von einem distanzierten Beobachter gesehen, der
selbst zum Erinnerungsbild gehört. In Untersuchungen zu diesem Thema wurde festgestellt, dass die
Felderinnerungen öfter auftauchen, wenn die erinnernde Person sich auf Gefühlen konzentrieren. Richtet
man sich mehr auf die objektiven Umstände, so kommen meistens Beobachtererinnerungen zum
Vorschein. Je nach Grad der Gefühlbeteiligung kann es zum Wechsel zwischen beiden Erinnerungstypen
kommen. – Vgl. Schacter, Daniel L.: Wie sind die Erinnerungen. Gedächtnis und Persönlichkeit. Reinbek
bei Hamburg: Rowohlt 2001, S. 45ff.
107
Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, 2005, S. 71f.
108
Vgl. ebd., S. 72.
29
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
„Die Gesamtheit der literarischen Verfahren, durch die der
Gedächtnisroman auf verschiedenen textinternen Ebenen als Medium
und Modell des kollektiven Gedächtnisses inszeniert wird, ist die
‘Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses’.“109
Die narrativen Techniken machen also einen literarischen Text zu einem Medium des
Gedächtnisses. Aus der Rhetorik der Texte leitet sich gewissermaßen ab:
„dass und wie die literarische Werke von der Leseschaft als Medien
funktionalisiert werden […]. Die (bewusste und unbewusste)
Aktualisierung eines literarischen Textes als Gedächtnismedium kann
durch eine Strategie provoziert werden, die im Folgenden ›Rhetorik des
kollektives Gedächtnisses‹ genannt werden soll.“110
Nach Astrid Erll gibt es fünf Modi der Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses, dessen
Erzeugung durch verschiedene literarische Ausdrucksformen, wie z.B. Fokalisierung,
Figurendarstellung
und
Zeitdarstellung
erfolgt.
Die
genannten
Modi
sind:
erfahrungshaftiger, monumentaler, historisierender, antagonistischer und reflexiver
Modus. Im weiteren Teil der vorliegenden Arbeit werden diese genauer dargestellt.
3.1 Erfahrungshaftiger und monumentaler Modus
Die Literatur ist ein Medium des kollektiven Gedächtnisses. Im Hinblick auf Jan
Assmanns Gedächtnistheorie stellt man fest, dass literarische Texte Medien des
kommunikativen und kulturellen Gedächtnisses sind. Die Affinität zu beiden Registern
kollektiven Erinnerns resultiert daraus, dass die Literatur erfahrungshaftig und/oder
monumental ist. In der Literatur hat man dann mit der Erfahrungshaftigkeit zu tun, wenn
typische Inhalte von kommunikativen Alltags- und Gruppengedächtnissen, also
lebensweltliche Details und spezifische Erfahrungen, inszeniert werden.111 Der
monumentale Modus zeichnet sich hingegen durch solche Darstellungsweisen aus, die
durch Medien und Praktiken des kulturellen Gedächtnisses, z.B. Rituale, Mythos oder
die Vergangenheit, präsentieren. Es dominieren die Verfahren, die „den literarischen
109
Erll, Astrid: Gedächtnisromane. Literatur über den Ersten Weltkrieg als Medium englischer und
deutscher Erinnerungskulturen in den 1920er Jahren. Trier: WVT 2003, S. 146.
110
Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, 2005, S. 168.
111
Vgl. ebd., S. 169.
30
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
Text als traditionshaltiges, geformtes und Sinn stiftendes Medium erscheinen lassen“.112
Die beiden Modi lassen sich durch verschiedene Darstellungsverfahren unterscheiden.
Der erfahrungshaftige Modus steht dem kommunikativen Gedächtnis nahe. Werden die
dargestellten Ereignisse und Personen in der außentextuellen Erinnerungskultur im
Rahmen des kommunikativen Gedächtnisses mitgeteilt, so weist das auf die
Erfahrungshaftigkeit
des
Textes
hin.
Diesen
Modus
zeichnen
sprachliche
Besonderheiten, wie z.B. gruppenspezifische und alltagsspezifische Ausdrücke aus. Die
Intermedialität ist hier auch von großer Bedeutung, wobei es um die für das
kommunikative
Gedächtnis
wichtigen
Medien
geht
wie
Fotos
oder
Tonbandaufnahmen.113 Die erzählerische Vermittlung ist auch nicht ohne Belang.
Astrid Erll hebt hervor:
„Durch Ich-Erzählungen bringt der literarische Text die typische
Kommunikationssituation des kommunikatives Gedächtnisses zur
Anschauung, bei der individuelle Erlebnisse und subjektive Wertungen
durch Erzählen dem kollektiven Erfahrungsschatz hinzugefügt
werden.“114
Ein homodiegetischer Erzähler, der oft in der Ich-Form erzählt, steht in enger
Verbindung zum erfahrungshaftigen Modus, denn er ist ein Teil der erzählten
Geschichten. Er ist entweder am Geschehen beteiligt oder ein Zeuge des Erzählten. Sein
narratives Wissen beruht auf der Lebenserfahrung der Figur, die ihn verkörpert.115
Von der Erfahrungshaftigkeit des literarischen Textes zeugt auch die Art und Weise der
Innenweltdarstellung. Durch die interne Fokalisierung werden Elemente dargestellt, die
über Narrativisierung und Verbalisierung zu typischen Gegenständen kommunikativer
Gedächtnisse werden. Man kann nämlich in das Innere der Figur blicken und somit ihre
Erfahrungsspezifität und sinnliche Eindrücke und Emotionen sehen. Man weiß dadurch
auch, wie die Person die Ereignisse, an denen sie beteiligt ist, wahrnimmt. Die interne
Fokalisierung lässt auch traumatische Erlebnisse und fragmentierte Wahrnehmungen
inszenieren, die in der kulturellen Praxis schwierig zu vermitteln sind. Dies erfolgt
112
Ebd., S. 175.
113
Vgl. ebd., S. 170f.
114
Ebd., S. 172.
115
Vgl. ebd.
31
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
durch narrative Verfahren wie z.B. die erlebte Rede, den Gedankenbericht oder den
inneren Monolog.116
Entscheidend für den monumentalen Modus ist im großen Maße die Situation, in der die
dargestellten Personen, Ereignisse und Dinge im Rahmen des kulturellen Gedächtnisses
erinnert werden. Der Modus wird auch durch die paratextuelle Gestaltung dominant,
d.h. wenn im Text Mottos wie beispielsweise Bibelsprüche auftauchen. Der Etablierung
des Modus dient ebenfalls die Intertextualität, die bedeutet, dass im literarischen Werk
der Hinblick auf kanonische oder klassische Texte genommen wird. Dies erfolgt durch
Übernahme, beispielsweise aus der Bibel, von Zitaten, Symbolik, typischen Figuren,
sprachlichen Besonderheiten, Plotstrukturen und Gattungsmustern (Tragödie, Epos).
Mit der Inszenierung der „Sprache des Monuments“ durch formelhafte und
archaisierende Wendungen und mit der Hinsicht auf Medien des kulturellen
Gedächtnisses, wie Denkmäler und Archiven, ist auch der monumentale Modus
verbunden.117 Dazu kommt auch die erzählerische Vermittlung, besonders die
auktorialen Erzählinstanzen, die keine Figuren der Geschichte sind und einen Überblick
sowohl über die handelnden Personen und ihre Motive als auch über Zeit und Raum
haben. „Sie erscheinen genauso wenig involviert in die alltäglichen Geschäfte der
dargestellten Lebenswelt wie die Träger des kulturellen Gedächtnisses.“118 Das ist der
Grund, warum sie auf den monumentalen Modus hinweisen.
Die beiden Modi der Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses schließen einander nicht
aus, sondern werden als Formen des literarischen Vergangenheitsbezugs verstanden, die
stets ineinander greifen. Mit Hilfe von narrativen Mitteln kann nämlich jedes
lebensweltliche Detail als wichtiger Teil des kulturellen Gedächtnisses betrachtet
werden und jede mythische Begebenheit lebensweltliche Bedeutungen aufweisen.119
Wie wichtig die Verbindungen zwischen erfahrungshaftigem und monumentalem
Modus sind, betont Erll mit folgender Feststellung:
„Das Oszillieren zwischen beiden Modi dient im literarischen Text […]
der Überführung alltagsweltlicher Erinnerung in kulturelles Gedächtnis
116
Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, 2005, S. 173.
117
Vgl. ebd. S. 170f. Vgl. dazu auch: Erll, Astrid: Gedächtnisromane, 2003, S. 153.
118
Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, 2005, S. 172.
119
Vgl. ebd., S. 174.
32
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
ebenso wie der Anreicherung von Inhalten des kulturellen Gedächtnisses
durch Erfahrungshaftigkeit.“120
3.2 Antagonistischer Modus
Literarische Texte dienen nicht nur zur Inszenierung der erfahrungshaftigen und
monumentalen Modi, sondern werden auch zu Medien der Aushandlung von
Erinnerungskonkurrenzen. Dies kommt zu Stande, wenn es zur Inszenierung von
anderen
Selbstbildern
und
Werthierarchien,
als
die
der
dominierenden
Erinnerungskultur, und somit zum Entwerfen der Gegen-Erinnerungen kommt.121 „Der
antagonistische Modus basiert auf literarischen Strategien, die dominant darauf
abzielen, bestehende Gedächtnisnarrative affirmativ zu verstärken oder subversiv zu
dekonstruieren und durch andere zu ersetzen.“122 Im literarischen Werk, in dem der
antagonistische Modus dominant ist, werden solche Gedächtnisse und ihre
Identitätskonzepte, Werte, Normen und Gedächtnisbilder inszeniert, die in einer
sozialen Gruppe unterrepräsentiert oder ausgeschlossen sind. Dieser Modus ist daher
durch Steigerung der inhärenten Selektivität, Strukturgebundenheit und Perspektivität
des Gedächtnismediums gekennzeichnet.123
Die Analyse der literarischen Konstitution antagonistischer Modi ist eng mit der
Analyse der narrativen Konstruktion bzw. Inszenierung von Identität und Alterität
verknüpft. Literarische Werke sind nämlich wichtige Instanzen, mit deren Hilfe die
Identifizierungen und die von ihnen abhängigen Identitäten der Personen, die ein
Kollektiv bilden, vorgenommen werden. Astrid Erll hebt im Hinblick auf Monika
Fludernik hervor, dass:
„im literarischen Text […] nicht nur Erinnerungskonkurrenzen auf
nationaler Ebene antagonistisch verhandelt [werden – M.S.], sondern es
werden
auch
die
Vergangenheitsversionen
verschiedener
innergesellschaftlicher Gruppen einander gegenübergestellt: Aus der
Vielfalt der Gedächtnisse von sozialen Klassen, Geschlechtern,
Generationen oder religiösen Gemeinschaften ergeben sich die ›Fronten‹
antagonistischer Texte.“124
120
Ebd., S. 175.
121
Vgl. ebd., S. 178.
122
Erll, Astrid: Gedächtnisromane, 2003, S. 154.
123
Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, 2005, S. 178.
124
Ebd., S. 179.
33
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
Ein Anzeichen dafür, dass es im narrativen Werk um den antagonistischen Modus geht,
ist die Selektionsstruktur des Textes. Sie erteilt die Auskunft darüber, welche sozialen
Gruppen erwähnt, welche konkurrierenden Gedächtnisse literarisch gegenüber gestellt
und welche Erinnerungen vergessen oder durch das Ausgewählte repräsentiert
werden.125
Auch die narrative Konfiguration der ausgewählten Elemente bleibt bedeutungsvoll,
besonders, wenn im Text häufige Kontrast- und Korrespondenzrelationen auftreten. Mit
Hilfe der Figurenkonstellation kann verdeutlicht werden, „welchen Gruppen relevante
und ›richtige‹ Erinnerungen zugesprochen werden und welchen nicht“126, was auf die
antagonistische Gegenüberstellung der sozialen Gruppen und ihrer Erinnerungen
hinweist.
Zu den wichtigsten narrativen Verfahren, die ein antagonistisches Aushandeln
verschiedener Gedächtnisversionen möglich machen, gehört die meistens relativ
geschlossene
Perspektivenstruktur
Korrespondenzrelationen
von
literarischer
Figuren-
und
Texte.
Die
Kontrast-
Erzählerperspektiven
können
und
die
Identitätskonzepte inszenieren, hierarchisieren und gewichten.127 Betrachtet man dabei
die Ebene der erzählerischen Vermittlung, so sind Wir-Erzählungen für den
antagonistischen Modus besonders geeignet, in denen die „Stimme einer Gemeinschaft“
(communal voice) inszeniert wird oder eine Abfolge mehrerer Ich-Erzähler zu treffen
ist. Communal voice wird als zentrales Mittel des Selbstautorisierung betrachtet und
„im Rahmen einer Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses stellt sie
zugleich […] eine literarische Strategie der Monopolisierung und
Monophonisierung von Erinnerung dar. Sie ist ein hervorragendes Mittel
der Artikulation von (Gegen-)Erinnerungen in von Konkurrenzen
beherrschten Erinnerungskulturen.“128
Mit der „Stimme der Gemeinschaft“ finden also die konkurrierenden Gedächtnisse
ihren Ausdruck.
Bei der Aushandlung von Erinnerungskonkurrenz ist die Verwendung von impliziten
Verfahren von großer Bedeutung. Die Techniken sind beispielsweise das Umschreiben
125
Vgl. Erll, Astrid: Gedächtnisromane, 2003, S. 155f.
126
Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, 2005, S. 180.
127
Vgl. ebd., S. 180.
128
Ebd., S. 181.
34
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
der bestehenden Vergangenheitsversionen und das Auslassen von Inhalten des
kollektiven Gedächtnisses. Da sie schwer zu erkennen sind, sind bei der Analyse der
Modi
der
Rhetorik
des
kollektiven
Gedächtnisses
die
Verknüpfungen
von
kulturhistorischem Wissen und narratologischen Kategorien notwendig.129
Die zentrale Funktion von literarischen Texten, in denen der antagonistische Modus
vorherrschend ist, ist ihr Eingreifen in das gesellschaftliche Ringen um die
Erinnerungshoheit, was der Stiftung oder Zerstörungen von Traditionen, Legitimierung
bzw. Delegitimierung gesellschaftlicher Handlungen, Vermittlung und Dekonstruktion
der Konzepte von Identität des Kollektivs und der Etablierung, Bestätigung und
Desavouierung der Werthierarchien dient.130
Die Modi der Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses stehen miteinander oft in
Verbindung. Die Kombination des antagonistischen und monumentalen Modus ergibt
eine monumentalisierende (De-)Legitimierung, indem die anderen Gedächtnisnarrative
durch das Leistungsvermögen des kulturellen Gedächtnisses legitimiert oder
delegitimiert werden. Wird dagegen der antagonistische Modus mit einem
erfahrungshaftigen Modus verknüpft, so hat man es mit einer erfahrungsgestützten
Ermächtigung zu tun.131
Die Verbindungen, in denen verschiedene Modi stehen, bilden die Basis der Rhetorik
des kollektiven Gedächtnisses in literarischen Vergangenheitsnarrationen. Die
monumentalisierten Vergangenheitsdarstellungen verlangen den erfahrungshaftigen
Modus, um akzeptiert zu werden. Die in einem Werk inszenierten Antagonismen
werden erst dann zuverlässig und wirksam, wenn der Text als Medium der Vermittlung
von Vergangenheit wahrgenommen wird. Von daher hat der antagonistische Modus
seine Grundlagen vor allem im erfahrungshaftigen und monumentalen Modus.132
129
Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, 2005, S. 181f.
130
Vgl. Erll, Astrid: Gedächtnisromane, 2003, S. 157.
131
Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, 2005, S. 182f.
132
Vgl. ebd., S. 189.
35
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
4 Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’
Roman „Himmelskörper“
4.1 Zum Inhalt
Die Handlung des Romans spielt im heutigen Berlin. Die zentrale Figur ist Eva Maria
alias „Freia“ Sandmann, die etwa Mitte Dreißig ist. Der Roman ist aus ihrer Perspektive
geschrieben, somit stellt sie die Ich-Erzählerin dar. Sie ist Meteorologin von Beruf auf
dem Gebiet Wolkenforschung und arbeitet an der Erstellung eines Wolkenatlanten, zu
der ihr nur das Bild von einer Wolke Cirrus Perlucidus fehlt. Aus diesem Grund sucht
sie so oft wie nur möglich den Himmel ab, um die schwer zu findende Wolke zu
entdecken. Zu Beginn des Romans befindet sich die Protagonistin, die ein Kind von
dem vor Kurzem in ihr Leben getretenen Freund Christian erwartet, auf der Reise auf
eine Konferenz und schaut sich Familienfotos an. Die Reise und das Durchschauen von
Fotos, bei denen das Foto der Mutter zu fehlen scheint, sind ein Anzeichen dafür, dass
der Leser mit einer Reise in die Familiengeschichte voller Geheimnissen konfrontiert
wird. Die Reise wird von Freia unternommen, um ihre eigene Identität zu finden.
Die Ich-Erzählerin erzählt in mehreren Rückblicken über die Geschichte ihrer Familie.
Sie spricht über ihre Kindheit und Jugend, die sie mit ihrem Zwillingsbruder Paul und
den Eltern Peter und Renate am Stadtrand von Westberlin (Berlin-Zehlendorf) verbracht
hat. Einige der angesprochenen Themen aus dieser Lebenszeit sind: die Ausflüge von
Freia und Paul in den Wald hinter dem Elternhaus, das Treffen des Vaters mit den
„Waldgeistern“ und die geheim gehaltene Liebe zu Wieland, die sich später als
unglücklich erwies, weil der Junge sich in Paul verliebte und mit ihm eine Beziehung
einging.
Das zentrale und zugleich tabuisierte Thema, das sich nicht nur durch die Kindheit und
Jugend der Hauptfigur durchzieht, sondern Freia bis in die „Gegenwart“ folgt, betrifft
die Vergangenheit der Mutter und der Großeltern Johanna und Maximilian, die Jo und
zuerst Max und später Mäxchen genannt werden133. Thematisiert werden hier die Zeiten
des Krieges, während dessen der Großvater sein Bein verloren hat und mit der
133
Vgl. Dückers, Tanja: Himmelskörper. Berlin: Aufbautaschenbuch Verlag 2003; 2. Auflage 2005,
S. 48. (Bei Zitaten werden in Klammern die Seitenangaben gegeben.)
36
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
Großmutter und mit der damals fünfjährigen Renate aus dem preußischen Gotenhafen
(heutigen polnischen Gdynia) fliehen musste. Die Flucht, die in allen Details erzählt
wurde, fand im Jahre 1945 statt und gelang mit Hilfe eines Mienensuchboots
„Theodor“. Freias Mutter musste dafür die Nachbarn denunzieren, da sie und ihre Eltern
mit dem Schiff „Wilhelm Gustloff“ untergegangen wären. Aus diesem Grund wurde
Renate von den Angehörigen der Erlebnisgeneration, die die Mitglieder der Familie
waren, als Retterin betrachtet. Sie selbst empfindet aber ihr Leben lang Schuldgefühle.
Um dies zu mildern, unternimmt sie mehrere heimliche Reisen nach Warschau zu Freias
Onkel Kazimierz. Das Thema „Das Dritte Reich“ wurde im familiären Kreis sehr oft
angesprochen, bleibt aber bis zum Tod der Großeltern offen. Erst dann kommen einige
ungeklärte Sachen ans Tageslicht, wie z.B. dass Jo und Mäxchen, die sich in den
erzählten Geschichten vorwiegend zu Opfer des Nationalsozialismus gemacht haben,
sich letztendlich als „überzeugte Nationalsozialisten der ersten Stunde“ erwiesen haben.
Nachdem Freias Onkel Kazimierz Selbstmord begangen hat und die Großeltern
gestorben sind, machen Freia und ihre Mutter einen spontanen Ausflug nach Gdynia,
um zu sehen, inwieweit sich die Stadt seit dem Krieg verändert hat. Dort besprechen die
Beiden die familiären Geheimnisse. Als Freia einmal in den Himmel schaut, sieht sie
die seit langer Zeit gesuchte Wolke, die sie fotografiert und somit die Erstellung des
Wolkenatlanten abschließen kann. Wenig später nach ihrer Rückkehr nimmt sich
Renate das Leben.
Außer den genannten Geschichten findet man im Roman auch andere Erzählungen, die
sich um die sich mehrmals ändernden Beziehungen zwischen den Zwillingen, um
Renates heimliche Jugendliebe zu Rudolf und um die Erzählungen über die Verwandten
mütterlicherseits drehen.
In „Himmelskörper“ wird nicht nur das Leben einer Frau dargestellt, die zur
Enkelgeneration gehört. Im Handlungszentrum steht das „Dritte Reich“ und die Frage
nach seinen Auswirkungen auf Angehörigen von Drei Generationen, wobei die IchErzählerin sich auch um das Leben ihrer Tochter Aino Elise Sorgen macht. Geschildert
wird hier auch die Auseinandersetzung mit der Schuldfrage, die die Familienmitglieder
betrifft. Der Umgang mit den Themen „Krieg“, „Flucht“ und „Schuld“, ist für jede
Figur unterschiedlich, was im Roman deutlich gezeigt wurde.
37
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
4.2 Zu Rhetorik der Erinnerung
4.2.1 Romananfang und –ende als Erzählrahmen in die Erinnerungsreise
Im Umgang mit literarischen Texten kann man den Textanfang, als auch das Textende
außer Acht lassen. Schon am Textanfang werden die im weiteren Teil behandelten
Themen angedeutet, am Erzählende hingegen findet eine Zusammenfassung statt, die an
allen dargestellten Geschehnissen angepasst ist. Von der Wichtigkeit dieser Textteile
deutet die Tatsache, dass sie nach der Lektüre im Gedächtnis des Lesers am stärksten
haften bleiben.134
Diese zwei Aspekte spielen besonders bei einer Romananalyse eine große Rolle, was im
folgenden Teil der Arbeit am Beispiel von „Himmelskörper“ dargestellt wird.
4.2.1.1 Zum Textanfang
Nach Hans-Wilhelm Schwarze werden vier Typen des Textanfangs unterschieden:
1. Beginn ab ovo, in dem es um eine Art Einstieg in die eigentliche Geschichte geht;
2. Beginn in medias res, für den ein bestimmter Zeitpunkt mitten in der Geschichte
gewählt wird;
3. Beginn in ultimas res, bei dem das Erzählen mit dem Ende der Geschichte anfängt,
was für u.a. Krimis charakteristisch ist;
4. Vorwort als invocatio, in dem eine Hinführung auf die Geschichte unter einem
besonderen Blickpunkt, eine Legitimierung für das Erzählen erfolgt.135
Jede Variante erfüllt eine andere Funktion. Was für eine Art des Anfangs gewählt wird,
beeinflusst die Gestaltung des ganzen Textes.
Der Roman „Himmelskörper“ beginnt mit der Beschreibung einer stressigen Situation
in der sich der Ich-Erzähler befindet:
Vgl. Krings, Constanze: Zur Analyse des Erzählanfangs und des Erzählschlusses. – In: Wenzel, Peter
(Hg.): Einführung in die Erzählanalyse. Kategorien, Modelle, Probleme. Trier: WVT 2004, S. 163-179,
hier S. 163.
134
Vgl. Schwarze, Hans-Wilhelm: Ereignisse, Zeit und Raum, Sprechsituationen in narrativen Texten. –
In: Ludwig, Hans-Werner (Hrsg.): Arbeitsbuch Romananalyse. Tübingen: Narr 1998, S. 145-188, S. 160;
Siehe dazu auch: Krings, Constanze: Zur Analyse des Erzählanfangs und des Erzählschlusses, 2004, S.
165ff.; Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur. Ein Praxisbuch für den Unterricht. Berlin:
Cornelsen 1999, S. 74.
135
38
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
„Ich hatte das Foto nicht dabei. Unruhig durchwühlte ich meine
Reisetasche, durchblätterte einen Notizblock, eine Zeitung, schlug
meinen Paß, suchte zwischen Bahn-Card und Bibliotheksausweis,
zwischen Thermoskanne und getrockneten Früchten das kleine
Schwarzweißbild, das ich gestern aus dem Foto-Schuhkarton genommen
und auf meinen Schreibtisch gelegt hatte. Ich biss mir vor Wut auf die
Lippen. Als ich den Kopf hob, begegnete ich dem Blick eines stark
geschminkten jungen Mädchens, der nicht Mitleid, sondern Verachtung
ausdrückte. Schließlich schlug ich den weißen Ordner mit den vielen
Klarsichtfolien wieder auf, einen Ordner, der mich seit Jahren weite
Reisen unternehmen ließ.“ (S. 7)
Der Leser wird mit einer Situation auseinandergesetzt, die einen ausgewählten
Zeitpunkt mitten in der Geschichte darstellt. Klar ist nur, dass es sich um eine Person
handelt, die sich mit einem Mädchen in einem Raum befindet und aufgeregt ihre Sachen
nach einem Foto durchsucht, welches sie am vorigen Tag noch auf den Schreibtisch
gelegt hatte. Es ist aber unklar, wer der Erzähler ist, wo er ist, was für ein Foto gesucht
wird und warum es so wichtig ist, was die Neugier beim Leser hervorruft. Erst nach
einigen Zeilen stellt sich heraus, dass die erzählende Person am nächsten Tag einen
Vortrag im Bereich der Wolkenforschung auf einer Internationalen Meteorologischen
Konferenz halten wird und selbst einen Wolkenatlas erstellen möchte:
„»EINE BITTE UM WOLKENBILDER. – Die Internationale Meteorologische
Konferenz hat beschlossen, bei ihrem nächsten Treffen, 1984 in Uppsala,
einen farbigen Wolkenatlas zu veröffentlichen, um die typischen
Wolkenformationen nach der Nomenklatur von Hildebrandsson und
Abercromby darzustellen. […]«
Mit dieser 1982 im American Meteorological Journal erschienenen
Anzeige – nur ein typisches Beispiel von vielen ähnlichen aufrufen –
wollte ich morgen meinen Vortrag beginnen. […]
Ich selbst wollte einen historische Überblick über die verschiedenen
Wolken-Klassifikationsmodelle
geben,
um
anschließend
ein
leidenschaftliches Plädoyer für einen neuen, umfassenderen Wolkenatlas
mit internationaler Beteiligung zu halten.“ (S.7f)
Der Leser erfährt auch, dass der Erzähler sich im Zug befindet, was mit folgenden
Worten bestätigt wurde: „Ein kleines Kind neben mir weinte im Rhythmus des
schaukelnden Zuges vor sich hin.“ (S. 8). Im weiteren Textteil wird auch klar, dass es
sich bei der erzählenden Person um eine schwangere Frau handelt, die nach Köln zu
einer Konferenz fährt und dass das gesuchte Foto ihre Mutter darstellt.
Es ist leicht zu erkennen, dass es in diesem Roman um den Beginn in medias res geht.
Es gibt keine Vorgeschichte und keine Begründung für die Geschichte. Der Text
39
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
beginnt auch nicht mit dem Ende der Geschichte, sondern versetzt den Leser mitten in
das Geschehen hinein. Diese Art des Anfangs ist auch dadurch gekennzeichnet, dass
sich die ungeklärten Fragen und Zusammenhänge erst im weiteren Verlauf der
Geschichte aufklären, was in diesem Roman der Fall ist.136 Der Beginn steht also in
enger Verbindung mit allen Geschehnissen, die im Roman vorkommen.
Die gleich zu Beginn erwähnten Fotos stehen für materialisierte Erinnerungen, denn sie
sind Abbilder des Vergangenen. Die Fotografien werden nämlich als zentrales
Erinnerungsmedium gehalten, das die Authentizität suggeriert.137 Und so erinnert sich
die Ich-Erzählerin beim Durchsehen von Familienfotos an die auf den einzelnen Bildern
festgehaltene Person. Jeder Rückblick in die Vergangenheit ist mit Geschichten
verbunden, die Geheimnisse enthalten wie z.B. das häufig auftretende nächtliche
Verschwinden von Peter, was natürlich die Neugier beim Leser weckt. Freia nimmt auf
jede Reise Fotos mit Familienmitgliedern mit, wobei die Zahl der Bilder gering ist:
„Ein Foto jeder Person. Das genügte.“ (S. 9) Interessant ist aber, dass sie jahrelang nur
die Fotos von Peter, Paul, Jo und Mäxchen besaß. Erst ihr Freund Christian, von dem
sie ein Kind erwartet, machte sie darauf aufmerksam, dass sie kein Foto von Renate
hat. (S. 13) Dass ausgezeichnet die Mutter fehlte, ist kein Zufall und findet eine
Begründung:
„Manchmal, wenn meine Mutter regungslos im Wohnzimmer vor ihren
Strohblumen stand, übersah ich sie schlicht. Sie stand da vor der
Fensterbank, und wenn sie nach zehn Minuten ein Wort sagte, ich lag
längst mit einem Buch auf der Couch, fuhr ich zusammen. Meine Mutter
hatte ein enormes Talent im Nicht-anwesend-Sein entwickelt.“ (S. 15)
Das fehlende Foto, das der Ich-Erzähler lange Zeit nicht gemerkt hat, ist mit Renates
durch Abwesenheit gekennzeichneten Lebensstil verbunden, der genauer von Freia
beschrieben wurde: „Doch meistens fand ich meine Mutter langweilig. Still, wie sie
war, gab es keine Reibung, kaum Kontakt“ (S. 15). Renate war eine Person, die zwar
existierte, aber auch ganz schnell vergessen oder nicht beachtet werden konnte. Das
erklärt zwar den Grund, warum der Ich-Erzähler lange Zeit kein Foto von ihr hatte ohne
es zu bemerken, und warum sie Schwierigkeiten mit dem Abfinden des auftauchenden
136
Vgl. Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur. Ein Praxisbuch für den Unterricht.
Berlin: Cornelsen 1999, S. 74
137
Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimar: Metzler 2005, S.
127.
40
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
Schwarzweißbildes hat. Zum Vorschein kommt aber die Frage nach den Ursachen der
die Mutter kennzeichnenden Verhaltensweise.
Trotz der Anzahl der mitgetragenen Fotos, scheinen sie von großer Bedeutung für den
Erzähler zu sein. Dies ist daran zu erkennen, dass er „unruhig“ nach dem fehlenden
Foto sucht. Diese Vergangenheitsabbilder rufen nicht nur seine individuellen
Erinnerungen an die dargestellten Personen und an die mit ihnen verbundenen
Erlebnisse, sondern auch die damit verbundenen Emotionen hervor, was auf das
Vorhandensein des erfahrungshaftigen Modus hindeutet.
Nicht ohne Grund befindet sich die Ich-Erzählerin auf dem Weg zu einer Konferenz.
Sie schaut sehr oft in den Himmel, um eine Wolke zu suchen, die ihr zur Erstellung
eines vollständigen Wolkenatlanten nötig ist:
„Ich lehnte den Kopf ans Fenster und schaute in den Himmel, suche ihn
unwillkürlich nach Cirrus Perlucidus ab, dem durchsichtigen Cirrus, der
einzigen Cirrus-Formation, die ich bisher nur von Beschreibungen aus
verschiedenen Wolkenatlanten kannte und die ich seit Jahren überall auf
der Welt suchte.“(S. 11f)
Die Suche nach etwas, was schwer zu finden ist, steht im Zusammenhang mit dem
Inhalt des Romans. Das Motiv einer Reise, auf der die Familienfotos angeschaut
werden, deutet auf eine Entdeckungsreise in die Vergangenheit der eigenen Familie und
auf die Suche nach eigener Identität der Protagonistin hin138. Damit hat auch ihre
Schwangerschaft viel zu tun. Denn erst als sie schwanger wurde, begann sie sich als
eine Frau zu betrachten. Die Schwangerschaft hatte bei ihr auch das Gefühl geweckt,
dass sie sich mit Renate und Jo verbunden zu fühlen begann. Sie will die zwischen den
beiden Frauen und zwischen den Familienmitgliedern bestehenden Verhältnisse
verstehen, was auch ein Grund für die Reise in die Vergangenheit ist. Diese Reise wird
aber von Geheimnissen und ungeklärten Situationen überfüllt, worauf u.a. das Fehlen
und späteres Erscheinen von Renates Fotos hinweist.
Die Handlung, die nach dem Anfang in medias res folgt, verläuft nicht chronologisch,
sondern mit mehreren Rückwendungen, in denen man als Leser Zusatzinfos aufgetischt
bekommt. Erst am Ende des Textes kann der Leser die chronologische Ereignisabfolge
Vgl. Giesler, Birte: Krieg und Nationalsozialismus als Familientabu in Tanja Dückers’
Generationenroman Himmelskörper. – In: Vogel, Marianne/ Koch, Lars (Hrsg.): Imaginäre Welten im
Widerstreit. Krieg und Geschichte in der deutschsprachigen Literatur seit 1900. Würzburg: Königshausen
& Neumann 2007, S. 286-303, hier S. 287.
138
41
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
zusammenstellen und die schon am Anfang unklaren und im Verlauf des Erzählens
erschienenen
Zusammenhänge
nachvollziehen.139
Dies
ist
sowie
die
bereits
beschriebenen Merkmale auch für den Anfang in medias res charakteristisch.140 Man
kommt also zum Schluss, dass der Beginn des Romans, für den nicht nur der erste
Absatz, sondern auch das erste Kapitel gelten kann, unzweifelhaft in medias res ist.
4.2.1.2 Zum Textende
Nicht nur der Erzählanfang sondern auch der Schluss ist bei einer Romananalyse von
großer Bedeutung. Er ist eine der Stellen, die der Leser nach der Lektüre in seinem
Gedächtnis behalten wird, deswegen ist es wichtig, wie ein Text endet. Es werden auch
vier Typen von Textenden unterschieden, die durch verschiedene Merkmale
gekennzeichnet werden:
1. Das geschlossene Ende, in dem die Geschichte mit „Happy End“, Heirat, Tod oder
mit beiden von den letztgenannten Varianten endet.141
2. Das offene Ende, das mit einem nicht eindeutigen, sondern rätselhaften,
mehrdeutigen Schluss oder mit mehreren alternativen Schlüssen verbunden ist. Die
Konflikte werden nicht aufgelöst oder es findet ein Rückbezug auf den Beginn statt,
was bedeutet, dass alles von Anfang an beginnt. Es kann auch eine Hoffnung für
einen Neuanfang sein. Bei dieser Schlussvariante bleiben wichtige Fragen ohne
eindeutige Antworten und der Leser hat den Eindruck, dass die Geschichte keinen
Schluss hat.142
3. Das erwartete Ende, in dem die Konflikte aufgelöst werden, es zur Gerechtigkeit
kommt oder das Erzählte zusammengefasst und erklärt wird. Dazu gehört auch das
Nachwort bzw. Epilog, in dem das Erzählte zu einem außerhalb liegenden
Sachverhalt in Beziehung gesetzt wird.143
139
Siehe zum Thema der Ereignisfolge in „Himmelskörper“ das Kapitel „Zur Ordnung“.
140
Vgl. Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur, 1999, S. 74.
Vgl. Schwarze, Hans-Wilhelm: Ereignisse, Zeit und Raum, Sprechsituationen in narrativen Texten. –
In: Ludwig, Hans-Werner (Hrsg.): Arbeitsbuch Romananalyse. Tübingen: Narr 1998, S. 145-188, hier
S. 160.
141
142
Vgl. Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur, 1999, S. 64.
143
Vgl. Schwarze, Hans-Wilhelm: Ereignisse, Zeit und Raum, Sprechsituationen in narrativen Texten,
1998, S. 161.
42
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
4. Das unerwartete bzw. überraschende Ende, das durch einen Eingriff einer „fremden
Macht“, einen abrupten Abbruch des Erzählten oder einen nicht nachvollziehbaren,
unlogischen Schluss gekennzeichnet ist.144
Am Romanschluss in „Himmelskörper“ passiert nichts Unerwartetes und es gibt kein
Resümee und kein Nachwort, deswegen sind sowohl die Varianten des erwarteten als
auch unerwarteten Endes ausgeschlossen. Im Verlauf des Romans werden die
Zusammenhänge erklärt. Der Leser findet Antworten auf viele wichtige Fragen, die
beim Lesen nicht nur am Anfang, sondern auch in weiteren Textteilen entstanden sind.
Insofern könnte man von einem geschlossenen Ende sprechen. Es gibt aber ein
Merkmal, das auch diese Variante in Frage stellt.
Als Ende des Romans gilt das letzte Kapitel, welches mit dem Namen „Himmelskörper“
versehen wurde. Hier kommt es zu Gesprächen zwischen Freia und ihrem Bruder Paul,
deren Thema vor allem die Familie war:
„Drei Tage lang sprachen wir auf Spaziergängen in der Stadt, in
zahllosen verrauchten Cafés oder nachts bei einem Glas Wein im
Wohnzimmer über alles mögliche, vor allem über unsere Familie.“(S.
315)
Alles, was zur Vergangenheit gehört und mit Freias Familie verbunden ist, scheint in
den Gedanken der Zwillinge immer noch lebendig zu sein, was in Pauls Aussage
folgenden Ausdruck gefunden hat:
„»Ich bin so weit fortgegangen von zu Hause, und Renate lebt nicht
mehr. Und trotzdem: An all das, was passiert ist, denke ich täglich – eine
Endlosschleife in meinem Kopf. Alles, was ich male, steht unter diesem
Bann oder Fluch. […] Wir sind glücklich, aber trotzdem spüre ich den
Sog der Vergangenheit einfach immer… […] Freia, immerfort, jeden
Tag, wie – du wirst den Begriff besser kennen als ich – so eine Art
›kosmische Hintergrundstrahlung‹. Etwas, das immer da ist.«“(S. 316f)
Da die Vergangenheit, die voll von Geheimnissen, Lügen und ungeklärten Situationen
war, eine deutliche Spur im Gedächtnis und in den Gedanken von Freia und Paul
hinterlassen haben, hat Paul einen Weg gefunden, um das Vergangene wieder ans Licht
zu bringen und um erneute Ruhe in ihr Leben einkehren zu lassen:
„[…] aber worauf ich nicht warten will, ist, daß dieses Rauschen, diese
seltsame Hintergrundstrahlung in meinem Kopf einmal von selbst
144
Vgl. Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur, 1999, S. 66.
43
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
aufhört. Vermutlich erst, wenn ich sterbe…! Ich muss etwas dagegen tun,
Freia. Ich möchte hier in Frieden leben […], und deshalb müssen wir
dieses Buch schreiben.“ (S. 318)
Es wird deutlich gezeigt, dass die vergangenen Ereignisse immer noch in Pauls Kopf
lebendig sind und ihm das Leben erschweren. Er bezeichnet das ständige, ihn an die
Familiengeschichte erinnernde Gefühl als „komische Hintergrundstrahlung“. Dieser
Begriff ist für die Zwillinge verständlich und gehört zu ihrer gemeinsamen Sprache, die
mit der Gefühldarstellung davon zeugt, dass hier der erfahrungshaftige Modus
dominiert. Das Schreiben des Buches scheint für Paul die einzige Möglichkeit zu sein,
sich vom „Sog der Vergangenheit“ zu lösen. Und das, wie Paul betont, „wird […] eine
Gemeinschaftsarbeit“(S. 318), was bedeutet, dass an ihrer Erstellung sowohl Paul als
auch Freia arbeiten werden. Ihr Inhalt soll die Geschichte von ihrer Familie sein. Der
Titel „Himmelskörper“, den Paul bestimmt hat, deutet darauf hin, dass es um Dückers’
Roman geht, der in der vorliegenden Arbeit einer Analyse unterzogen wurde. Mit der
Entscheidung, ein Buch zu schreiben, in dem die noch mal unternommene Entdeckung
der eigenen Geschichte erfolgt, wird ein deutlicher Bezug auf den Beginn des Romans
genommen. Es entsteht der Eindruck, dass alles vom Anfang beginnt, was nicht für das
geschlossene, sondern für das offene Ende typisch ist. Für diesen Typ des Textendes ist
auch charakteristisch, dass einige Fragen ohne Antwort bleiben. So ist es auch in diesem
Fall. Paul spricht von dem Frieden, den er mit dem Schreiben des Buches erzwingen
will. Das Buch ist zwar entstanden, aber die Frage danach, ob er und Freia Ruhe
gefunden haben, bleibt offen. Das alles deutet darauf hin, dass es in dem Roman um ein
offenes Ende geht.
Im Dückers’ Roman stehen der Beginn und der Schluss in einem engen
Zusammenhang. Der Anfang des Buches ist eine Andeutung auf eine Reise in die
Vergangenheit der Familie von Freia, welche vom Suchen und Finden der Wahrheit und
der eigenen Identität bestimmt ist. Das Ende gibt die zusätzliche Ursache an, warum
diese Reise stattfindet und warum sie erzählt werden muss: um den Frieden mit der
Vergangenheit zu schließen. Insofern kann man sagen, dass die beiden Textteile einen
Rahmen für den Roman bilden.
44
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
4.2.2 Zum Zeitpunkt und Ort des Erzählens
In einer Rahmenanalyse ist, außer der Untersuchung vom Textanfang und –ende, die
Berücksichtigung des Zeitpunkts und des Ortes des Erzählens wichtig. Die beiden
Aspekte geben Aufschluss darüber, wann und auf welcher Ebene erzählt wird.
Zu Grunde der Untersuchung des Zeitpunktes des Erzählens liegt der zeitliche Abstand
zwischen dem Erzählen und dem Erzählten.145 Es wird zwischen folgenden Typen des
Zeitpunktes des Erzählens differenziert: späterer, gleichzeitiger und früherer und
eingeschobener Zeitpunkt.146
Im Falle eines früheren Erzählens handelt es sich um eine prophetische Geschichte, wie
die Vorhersage. Es wird hier davon erzählt, was noch nicht stattgefunden hat und erst in
der Zukunft passieren wird. Die Erzählung wird vorwiegend in Futur vermittelt, kann
aber auch im Präsens vorgetragen werden.147
In einem gleichzeitigen Erzählen wird von einer nahezu vollständigen zeitlichen
Koinzidenz von dem Erzählten und dem Erzählen gesprochen. Es wird im Präsens
erzählt.148
Im späteren Erzählen, das in literarischen Werken am Häufigsten anzutreffen ist, wird
von vergangenen Ereignissen gesprochen. Dieser Typ ist durch ein Merkmal leicht zu
erkennen, nämlich durch die Verwendung des Präteritums. Diese grammatische
Zeitform reicht nämlich allein, um festzustellen, dass es um späteres Erzählen geht,
auch wenn der Abstand zwischen dem Zeitpunkt des Erzählten und dem des Erzählens
nicht genau bestimmt ist. Das Präteritum kann nach Käte Hamburg im Falle einer
scheinbaren Zeitlosigkeit, die eine vollkommene Unbestimmtheit des zeitlichen
Abstands zwischen dem Moment der Narration und dem der Geschichte bezeichnet,
seine grammatische Funktion verlieren. Man spricht dann von einer „fiktiven
Unter dem Begriff „das Erzählte“ bzw. „die Erzählung“ versteht man den Text der Geschichte, also
den mündlichen oder schriftlichen Diskurs, der von einer Geschichte erzählt. Unter „dem Erzählen“ wird
die Art, verstanden, die den genannten Diskurs entstehen lässt. – Vgl. Martinez, Matias/ Scheffel,
Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München: C. H. Beck 2007, S. 30.
145
146
Vgl. Genette, Gérard: Die Erzählung. München: Wilhelm Fink 1998, S. 154f.
147
Vgl. Martinez, Matias/ Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München: C. H. Beck
2007, S. 69f.
148
Vgl. ebd., S. 70.
45
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
Gegenwärtigkeit“149. Es kommt in fiktionalen Texten, in denen der spätere Zeitpunkt
dominiert, dazu, dass der Zeitabstand zwischen dem Zeitpunkt des Erzählten und des
Erzählten zuerst groß ist und sich mit der Handlung so verringert, dass er am Ende der
Geschichte sogar in der Erzählgegenwart angelangt sein kann.150
Die dargestellten Zeitpunkte stehen in einem literarischen Text nicht immer getrennt:
„In der Form des in die Zeit des Erzählten eingeschobenen Erzählens
können sich die genannten Typen schließlich mehr oder weniger mischen
und die Zeitverhältnisse im Einzelfall so weit komplizieren, daß auch die
Zeitabstände zwischen Erzählen und Erzähltem letztlich nicht mehr
bestimmbar sind.“151
Beim eingeschobenen
Erzählen geht es
um eine Narration mit mehreren
Erzählerinstanzen. Vielmehr können sich die Narration und die Geschichte derart
ineinander schlingen, dass die letztere auf die erste reagiert. Von daher gilt dieser Typ
des Zeitpunkts als der komplexeste.152
Der zweite zu beachtende Aspekt bei einer Textanalyse, der der Ort des Erzählens ist,
gibt die Antwort auf die Frage nach der Ebene, auf der erzählt wird. Bei den
Unterschieden zwischen Erzählebenen bedient sich Genette folgender Definition:
„Jedes Ereignis, von dem in einer Erzählung erzählt wird, liegt auf der
nächsthöheren diegetischen Ebene zu der, auf der der hervorbringende
narrative Akt dieser Erzählung angesiedelt ist.“153
Der Literaturtheoretiker unterscheidet folglich drei Erzählebenen, wobei auch mehrere
nicht ausgeschlossen werden. Die erste Ebene nennt er extradiegetisch. Sie steht für die
Ebene, auf der die Basiserzählung bzw. Rahmenerzählung154 vermittelt wird. Kommt es
aber dazu, dass eine Geschichte im Rahmen der Basiserzählung erzählt wird, so
befindet sie sich auf der zweiten Ebene, die Genette als intradiegetisch bzw. diegetisch
nennt. In diesem Falle geht es um Fluderniks Binnenerzählung.155 Handelt es sich um
eine Geschichte, die eine Erzählung in der Erzählung der Erzählung ist, so wird sie auf
149
Vgl. ebd., S. 71f.
150
Vgl. ebd., S. 73.
151
Ebd., S. 69.
152
Vgl. Genette, Gérard: Die Erzählung. 1998, S. 155.
153
Ebd. S. 163.
154
Vgl. Fludernik, Monika: Einführung in die Erzähltheorie. Darmstadt: WBG 2006, S. 39.
155
Vgl. ebd.
46
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
der dritten, als metadiegetisch bezeichneten Ebene vermittelt.156 Die weiteren
Erzählebenen, auf denen Geschichten im Rahmen anderer Geschichten erzählt werden,
werden metametadiegetisch, metametametadiegetisch etc. genannt.
Es ist leicht zu beobachten, dass in „Himmelskörper“ der am Häufigsten vorkommende
Typ des Zeitpunktes des Erzählens vorkommt, nämlich das spätere Erzählen. Der
Roman wird im Präteritum und an einigen Textstellen, die aus einzelnen Sätzen bzw.
Satzteile bestehen, im Plusquamperfekt geschrieben, was von dem genannten Typ
zeugt. Dass es um diese grammatischen Zeitformen geht, beweisen u.a. folgende
Beispiele: „Ich hatte das Foto nicht dabei“ (S. 7), „Jo hielt ein Brotmesser militärisch
in unsere Richtung, lachte aber laut, rauh und warm.“ (S. 53), „Mein Großvater hatte
aufgehört zu röcheln, er pulte sich mit beiden Zeigefingern Wurstreste aus den
Backenzähnen.“ (S. 90), „Ich war sehr aufgeregt, denn dieser Wieland war der erste
Junge, mit dem ich mich verabredet hatte.“ (S. 109), „Mäxchen lachte erleichtert und
genehmigte sich einen großen Schluck Wein.“ (S. 147), „Ich nahm Jo das Buch aus der
Hand und reichte ihr eine Schale Kompott“ (S. 244), „Die Fotos, die Erzählungen
waren meine Wirklichkeit gewesen, und ich wußte nicht, wie ich sie auch nur im
entferntesten mit dieser gelösten Strandatmosphäre in Übereinstimmung bringen
sollte.“ (S. 295).
Die Vergangenheitsdarstellungen betreffen verschiedene Zeitpunkte der Geschichte. Je
nachdem, im welchen zeitlichen Abstand zu dem Moment der Narration sie sich
befinden, werden im Roman drei Vergangenheitsebenen unterschieden. Die erste
Vergangenheitsebene umfasst die Ereignisse, die die Basiserzählung bilden und die auf
der Ebene der Basiserzählung liegen. Dazu gehören also Freias individuelle
Erinnerungen, in denen sie vor allem als Hauptfigur vorkommt. Hier kommt Freia als
schwangere Figur vor, die etwa Mitte Dreißig ist. Sie erinnert sich z.B. an die Zugfahrt
nach Köln auf dem Weg zu einer Konferenz, an die Wohnungsauflösung der
Der Terminus „metadiegetisch“ wird als missverständlich betrachtet, was von Mieke Bal kritisiert
wurde. Nach Bal gelten alle weiteren eingebetteten Ebenen als „hypodiegetisch“. (Vgl. Mahne, Nicole:
Transmediale Erzähltheorie. Eine Einführung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, S. 29)
Genette erklärt den Gebrauch dieses Begriffes folgendermaßen: „Das Präfix ‘meta-’ funktioniert hier
gerade umgekehrt wie im logisch-linguistischen Gebrauch, wo eine Metasprache eine Sprache ist, in der
man über eine (andere) Sprache spricht, während in meinem Vokabular eine Metaerzählung eine
Erzählung ist, die in einer (anderen) Erzählung erzählt wird.“ Dem von Bal entfalteten Begriff
„hypodiegetisch“ schlägt er vor , von einer hiperdiegetischen Ebene zu sprechen. Er bleibt jedoch bei
dem Terminus „metadiegetisch“, der für ihn bessere Bezeichnung für die nächste Ebene einer Erzählung
.ist. – Vgl. Genette, Gérard: Die Erzählung. München: Wilhelm Fink 1998, S. 253f.
156
47
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
Großeltern, die nach deren Tod stattfand, an die Reise nach Gdynia mit der Mutter, wo
sie die seit langem gesuchte Wolke fotografiert, an die Nachricht über Renates Tod und
an
die
Tochter
Aino,
die
der
Vierten
Generation
angehört.
Auf
dieser
Vergangenheitsebene werden die Erfahrungen von Freia dargestellt, die für sie
bedeutend waren. Dies zeugt davon, dass auf dieser Ebene der erfahrungshaftige Modus
vorherrscht. Freias Erinnerungen betreffen auch den Aufenthalt bei Paul in Paris,
währenddessen die beiden beschlossen haben, ein Buch über die Familiengeschichte zu
schreiben. Diese Reise ist ein Anzeichen für den Moment der Narration. Sie findet
nämlich „zwei Jahre später, nach dem Hausverkauf […], nach Pauls und meinem Streit
über die künstlerische Verwendung meiner vermaledeiten Zöpfe“ statt. (S. 315) Dank
dieser Angaben weiß man, dass das Erzählen bestimmt nach zwei Jahren erfolgt. Der
genaue Zeitabstand zwischen dem Erzählten und dem Erzählen bleibt jedoch
unbestimmt. Die Ereignisse, an denen Freia sich im Rahmen der Basiserzählung
erinnert, gehören also zu der ersten Vergangenheitsebene und werden auf der
extradiegetischen Erzählebene vermittelt.
Die zweite Vergangenheitsebene bilden die Geschehnisse, die in der Kindheit und
Jugend
von
Freia
passierten.
Ähnlich
wie
die
Ereignisse
der
ersten
Vergangenheitsebene werden sie in Form von Freias individuellen Erinnerungen
dargestellt. Zu dieser Ebene gehören die mit Peter gemeinsame Beobachtung von
„Waldgeistern“, die Geschichten über Freias und Pauls Ausflüge in den Wald hinter
dem Elternhaus sowie unzählige Familientreffen, bei denen das zuerst tabuisierte
Thema des Krieges besprochen wurde, betreffen. Es wird auch an die Liebe zu Wieland
und an die Reise nach Warschau, die Freia gemeinsam mit ihm unternommen hat, an
Freias Schul- und Studienzeit, wie auch an den Tod von Mäxchen und Jo erinnert. Da
die Ereignisse wieder Freias eigene Erfahrungen darstellen, die stark emotionsgeladen
sind, wie z.B. ihre erste Liebe, dominiert auf dieser Vergangenheitsebene der
erfahrungshaftige Modus. Während des Aufenthalts in Warschau kommt auch der
monumentale Modus kurz zum Vorschein, denn hier ist die Rede von kulturellen
Plätzen und Denkmäler Polens, wie der Kulturpalast oder das Ghettodenkmal. Diese
haben Freias Nachdenken über den Krieg ausgelöst haben.
Die zweite Ebene der Vergangenheit hat zu Beginn des Romans auf einen großen
zeitlichen Abstand zwischen dem Zeitpunkt des Erzählten und des Erzählens verwiesen.
Es wird nämlich an die Zeit erinnert, in der Freia als Kind auftritt. Mit der Entwicklung
48
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
der Handlung verringert sich der Zeitabstand und schließlich ist er in der ersten
Vergangenheitsebene angelangt. Dies kommt nach dem Tod der Großeltern bei der
Wohnungsauflösung zu Stande. Die Erzählungen über die Ereignisse, die zu dieser
Vergangenheitsebene gehören, werden als Binnengeschichten betrachtet, was bedeutet,
dass sie auf der intradiegetischen Ebene erzählt werden.
Die dritte Vergangenheitsebene umfasst die Ereignisse, die die Kriegszeit und
besonders die Flucht aus Gdynia, das noch im Jahre 1945 unter der deutschen
Regentschaft Gotenhafen genannt wurde, betreffen und an die sich die Angehörigen der
ersten und zweiten Generation erinnern. Im Unterschied zur ersten und zweiten
Vergangenheitsebene bleibt der zeitliche Abstand zwischen dem Erzählten und
Erzählen für diese Vergangenheitsebene im Verlauf der Geschichte unverändert. Die
Erinnerungen an die erwähnte Zeit bilden nicht nur Teile der individuellen Gedächtnisse
von Freias Mutter und deren Großeltern, sondern auch einen Teil des Generationenbzw. Familiengedächtnisses. Wichtig ist an dieser Stelle zu erwähnen, dass es um zwei
Vergangenheitsversionen geht, die in den Gegen-Erinnerungen von Renate und ihren
Eltern dargestellt werden. Dies bedeutet, dass auf dieser Vergangenheitsebene der
antagonistische Modus dominiert. Es kommt auch der erfahrungshaftige Modus vor,
denn die Gegen-Erinnerungen bauen auf den Erfahrungen der Ersten und Zweiten
Generation auf. Über die Ereignisse wird meistens auf der intradiegetischen Ebene
erzählt, weil sie größtenteils in den Familiengesprächen in einzelnen Äußerungen
thematisiert wurden. Dies ist auch der Fall, wenn im Erzählen auf der extradiegetischen
Ebene von den Geschehnissen der dritten Vergangenheitsebene gesprochen wird. Des
Weiteren treten die Erzählungen über die Kriegszeit im Rahmen der intradiegetischen
Ebene als einzelne Geschichten auf. Diese werden dann auf der metadiegetischen Ebene
(nach Genette) bzw. hypodiegetischen Ebene (nach Bal) erzählt.157
Im Roman sind die Erzählebenen nachvollziehbar mit Blick auf bestimmte
Vergangenheitsebenen, die mit Hilfe von Ereignissen vermittelt werden. Der Zeitpunkt,
in dem die Geschichte erzählt wird, bleibt jedoch unbestimmt. Die zeitlichen Abstände
die ihn und die Zeitpunkte der einzelnen Vergangenheitsebenen trennen, bleiben aus
diesem Grunde auch unbekannt. Da die erste Vergangenheitsebene dem Zeitpunkt des
Siehe zum Thema Erzählebene in „Himmelskörper“ die Beispiele im Kapitel „Zum Erzähler nach
Gérard Genette“.
157
49
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
Erzählens am nächsten liegt, kann sie als „fiktionale Gegenwärtigkeit“ gelten. Von
daher wird diese Vergangenheitsebene in weiteren Teilen der vorliegenden Arbeit
„Erzählgegenwart“, bzw. „Gegenwartsebene“ genannt. In Folge dessen werden die als
zweite und dritte beschriebene Vergangenheitsebene entsprechend „erste“ und „zweite
Vergangenheitsebene“ bezeichnet.
4.2.3 Zur Zeitstruktur
Bei einer Romananalyse, in deren Zentrum die Untersuchung der Inszenierung der
Erinnerung steht, ist einer der wichtigsten Punkte die Analyse der Zeitstruktur. Von
großer Bedeutung ist hier die Unterscheidung zwischen der „Erzählzeit“ und der
„erzählten Zeit“, die von dem „Erzählen“ und dem „Erzählten“ geprägt ist158. Martinez
und Scheffel geben folgende Definitionen für die beiden Begriffe an:
„UnterErzählzeit hat man sich die Zeit vorzustellen, die ein Erzähler für
das Erzählen seiner Geschichte benötigt und die sich im Fall eines
Erzähltextes, der keine konkreten Angaben über die Dauer des Erzählens
enthält, einfach nach dem Seitenumfang der Erzählung bemißt. Die
erzählte Zeit meint dem gegenüber die Dauer der erzählten
Geschichte.“159
Wie die Definitionen beweisen, ist es bei einer Textanalyse wichtig, zwischen der
Erzählzeit und der erzählten Zeit zu unterscheiden, denn sie tragen andere Bedeutungen
mit sich.
Im folgenden Teil der vorliegenden Arbeit werden die Verhältnisse zwischen dem
Erzählen und dem Erzählten in „Himmelskörper“ untersucht. Es werden Antworten auf
die Fragen nach der Reihenfolge bzw. Ordnung sowie nach der Dauer und Frequenz
der im Roman dargestellten Ereignisse gegeben.
4.2.3.1 Zur Ordnung
Bei der Untersuchung der Ordnung in literarischen Texten sucht man die Antwort auf
die Frage: „In welcher Reihenfolge werden die Ereignisse dargestellt?“ Werden die
Geschehnisse in solcher Abfolge dargestellt, die der Abfolge der Ereignisse in der Zeit
der Realität entspricht, so stellt man fest, dass es um chronologisches Erzählen geht.
Kommt es aber dazu, dass die Erzählung in anderer Reihenfolge erzählt wird, so spricht
158
Vgl. Martinez, Matias/ Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, 2007, S. 31.
159
Ebd., S. 31.
50
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
man von einer Anachronie. Die Umstellung der Ordnung kann mit Hilfe von zwei
Formen vonstatten gehen. Dies sind eine Rückwendung und eine Vorausdeutung– so
Lämmert, bzw. eine Analepse und eine Prolepse – so Genette160. In Form von Analepse
bzw. Rückwendung wird ein Ereignis dargestellt, das früher als der gerade im Verlauf
des Erzählprozesses erreichte Zeitpunkt des Erzählens in der Basiserzählung stattfand.
Im Fall der Prolepse bzw. Vorausdeutung kommt es zum Erzählen über ein Ereignis,
das in Bezug auf den gegenwärtig vorhandenen Zeitpunkt der Basiserzählung in der
Zukunft vorkommt.161 Die beiden Anachronieformen lassen sich durch zwei Merkmale
charakterisieren, nämlich durch die Reichweite und den Umfang. Unter der Reichweite
wird „der zeitliche Abstand zwischen der Zeit, auf die sich der Einschub bezieht, und
dem gegenwärtigen Augenblick der Geschichte“ verstanden.162 Der Umfang, der von
Schwarze zeitliche Ausdehnung genannt wird163, bezeichnet hingegen die Dauer der
Geschichte, die im Rahmen des eingeschobenen Textes dargestellt wird.164
Lämmert unterscheidet zwei Typen von Rückwendung: aufbauende und auflösende.
Die aufbauende Rückwendung wird folgendermaßen definiert:
„In Gestalt eines mehr oder minder langen, unmittelbar auf die
Eingangsszene folgenden Einschubs wird hier eine Art Exposition
nachgereicht, mit deren Hilfe die Hintergründe einer zunächst
unvermittelt präsentierten Situation entwickelt werden.“165
Sie tritt häufig in literarischen Texten auf, wenn diese in medias res beginnen. Diesem
Typ gegenüber steht die auflösende Rückwendung, die am Ende der erzählten
Geschichte vorkommt und für Kriminalromane und Detektivgeschichten besonders
160
Genette unterscheidet noch zwischen kompletten und partiellen Anachronieformen. Siehe dazu
ausführlich: Genette, Gérard: Die Erzählung. München: Wilhelm Fink 1998.
161
Vgl. Martinez, Matias/ Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, 2007, S. 32f. Genette führt
weitere Unterscheidung der Anachronie, nämlich in die externe und interne Anachronie .Vom ersten Typ
spricht man, wenn die Analepse bzw. Prolepse entweder vor dem Anfang oder nach dem Ende der
erzählten Ereignisse liegt. Der zweite Typ kommt bei Anachronien vor, die innerhalb des Erzählten
Ereignisse beinhalten. – Siehe dazu ausführlich: Genette, Gérard: Die Erzählung. München: Wilhelm
Fink 1998.
162
Martinez, Matias/ Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, 2007, S. 35.
Vgl. Schwarze, Hans-Wilhelm: Ereignisse, Zeit und Raum, Sprechsituationen in narrativen Texten. –
In: Ludwig, Hans-Werner (Hrsg.): Arbeitsbuch Romananalyse. Tübingen: Narr 1998, S. 145-188, hier S.
163.
163
164
Vgl. Martinez, Matias/ Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, 2007, S. 35.
165
Ebd., S. 36.
51
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
geeignet ist. Sie dient der Ergänzung des lückenhaft erzählten Geschehen und der
Aufklärung des Unverständlichen bzw. des Missverstandenen.166
Es werden auch zwei Typen von Vorausdeutungen bei Lämmert unterschieden: die
zukunftsgewisse und die zukunftsungewisse Vorausdeutung. Beim ersten Typ erzählt der
Erzähler aus einem großen Zeitabstand heraus und macht den Leser zum „Mitwisser der
Zukunft“.167 Zum zweiten Typ gehören „Prophezeiungen, scheinbar zukunftsweisende
Träume und alle möglichen Arten von Wünschen oder Ängsten, die sich auf die Zukunft
beziehen“168, also alle von der Zukunft handelnden Geschichten, die nicht glaubwürdig
klingen.
Schon zu Beginn des Romans „Himmelskörper“ kommen einige Begebenheiten vor,
deren Ursachen geklärt werden sollten, wie z.B. das Fehlen von Renates Foto. Dies
erfolgt mit Hilfe vieler aufbauenden Rückwendungen, die im Roman häufig auftreten.
Ihre Reichweite und ihre Umfänge sind aber von Analepse zu Analepse verschieden. Es
kommt nämlich zu Rückwendungen, die sowohl die Ereignisse der ersten und zweiten
Vergangenheitsebene als auch die vor einem Tag passierten Geschehnisse, die zur
Erzählgegenwart gehören, betreffen. Der Umfang der Vergangenheitsdarstellungen ist
auch unterschiedlich. Es können die Vorkommnisse des heutigen Abends oder sogar die
vor Jahren sein. Außer vielen Analepsen hat man auch mit Prolepsen zu tun, die aber
seltener vorkommen.
Im Roman „Himmelskörper“ werden die einzelnen Kapitel zu Rückwendungen oder
Vorausdeutungen, innerhalb deren es zu meist kurzen Analepsen und Prolepsen kommt.
Bereits in dem ersten und zweiten Kapitel, die zur Erzählgegenwart gehören, werden
einige Begebenheiten aus der Vergangenheit dargestellt. Beispielsweise sieht Freia aus
dem Zug heraus ihre Mutter. Sie erinnert sich dann an das am Vormittag geführte
Gespräch mit Renate:
„Auf einmal zuckte ich zusammen. Da draußen lief meine Mutter!
[…]Siedend wurde mir der Zusammenhang bewußt: Noch am Vormittag
hatte ich mit ihr telefoniert, dann hatte sie auflegen wollen, weil sie den
Zug zu meiner Großmutter, deren Zustand sich verschlimmert hatte, seit
mein Großvater gestorben war, erreichen mußte. Ich hatte nebenbei
166
Vgl. ebd., S. 36.
167
Vgl. ebd., S. 37.
168
Ebd.
52
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
erwähnt, daß ich zu einem Kongreß fahren würde. Daß mein Zug nach
Köln über Hannover fuhr und wir tatsächlich vorhatten, denselben Zug
zu nehmen, war mit entgangen“ (S. 18)
Eine Analepse, die mit den Worten „Noch am Vormittag hatte ich […]“ beginnt, betrifft
die vor Kurzem stattgefundenen Ereignisse und umfasst ein kurzes Gespräch per
Telefon, wovon die Feststellung zeugt, dass Freia „nebenbei erwähnt“ hat. Als Beispiel
gelten auch die vergangenen Ereignisse, die Freia folgendermaßen beschreibt:
„»Deine BDM-Glatze«, murmelte er [Paul – M.S.], und spielte auf eine
Geschichte an, die er »Verschwundene Zöpfe« getauft hatte, und ich
mußte grinsen: Ich trug schon seit vielen Jahren Glatze, zum nie
verschmerzten Verdruß meiner Großmutter, die mir früher gern die
Zöpfe geflochten und uns Fotos aus »der glücklichsten Zeit ihres Lebens
« gezeigt hatte […]. Aber ich hatte mir eines Nachts einfach die Haare
geschoren und meine langen Zäpfe ordentlich auf den Schreibtisch
gelegt.“ (S. 27)
Die Rückwendung reicht bis an die Kindheit von Freia und umfasst „viele Jahre“, in
denen Jo Freias Zöpfe geflochten und den Enkeln Fotos gezeigt hat, und in denen Freia
sich eine Glatze geschoren hat. Was genau die Geschichte von „Verschwundenen
Zöpfen“ beinhaltet, erfährt der Leser erst im siebten Kapitel, das nach dem Namen der
Geschichte genannt wurde und selbst eine aufbauende Analepse bildet.
Das dritte Kapitel ist eine Analepse, die die Vergangenheit kurz vor Freias Reise zu der
Konferenz betrifft. Es ist eine aufbauende Rückwendung, weil sowohl der Titel als auch
die im Kapitel erzählte Geschichte von Rudolf bereits am Anfang des Romans erwähnt
wurden: „Für einen Moment schoß mir die »blaue Stunde« und mein seltsames
Gespräch vor einer Weile mit Renate durch den Kopf. Dann vergaß ich alles
wieder.“ (S. 17), „Vielleicht fuhr Renate ja gar nicht zu ihrer Mutter…? […] Diesen
wilden Moment lang […] wünschte ich mir, daß sie eine geheimnisvolle Reise anträte,
daß sie Rudolf heimlich treffen […] würde […].“ (S. 19) Es wird nicht erklärt, was mit
der „blauen Stunde“ und dem „seltsamen Gespräch“ gemeint ist. Man weiß auch
nicht, wer Rudolf ist. Die Antworten werden erst im Kapitel namens „Blaue Stunde“
geliefert. Es wird das Gespräch zwischen Freia und ihrer Mutter thematisiert, in dem
Renate über einen Jungen Rudolf berichtet, der sie in der Jugendzeit geküsst hat und
den sie nach Jahren als „älteren Mann“ (S. 37) gesehen hat. In diesem Kapitel treten
gleich drei Analepsen auf. Die Erste betrifft Freias Besuch bei der Mutter, der kurz vor
ihrer Reise nach Köln stattfindet. Die Zweite umfasst die Ereignisse aus Renates
Jugend, also von dem Zeitpunkt, „als Renate in die Untersekunda ging“ (S. 31) und
53
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
ihrem fünfzehnten Lebensjahr. Die dritte Rückwendung, die die Beerdigung von Onkel
Kurt und das Treffen mit Rudolf thematisiert, bezieht sich hingegen auf den Zeitraum,
der zwischen der ersten und zweiten Analepse liegt. Der beim Sprechen über die
Vergangenheit gemeinsame verbrachte Abend erscheint Freia „unglaublich“ (S. 38)
bzw. „irreal“ (S. 39).
In den zwei nächsten Kapiteln, deren Titel „Waldgeister“ und „Die Insel“ sind, treten
die Formen der Analepsen in Erscheinung. Diese Rückwendungen stellen die Ereignisse
der ersten Vergangenheitsebene, also die Kindheit von Freia und Paul dar. Die
Rückwendungen haben den Umfang von entsprechend einer Nacht und einem Abend,
wobei am Anfang des fünften Kapitels eine kurze Analepse vorkommt, die von dem
Zustand des aus dem Krieg zurückkommenden Großvaters handelt. Des Weiteren wird
die Zeitspanne beschreiben, in der Max zu Mäxchen und Johanna zu Jo
„mutierten“ (S.48).
Das sechste Kapitel ist das Einzige, in dem eine zukunftsgewisse Prolepse auftritt,
innerhalb dieser sind auch einige Analepsen zu finden sind. Das Kapitel thematisiert die
„Transformationsarbeit“ (S.56), die nach dem Tod der beiden Großeltern aber vor der
Geburt von Freias Tochter stattfindet, worauf folgende Worte hinweisen:
„Paul und ich hatten viel herausgefunden über unsere Mutter und ihre
Eltern in den letzten Wochen vor und während der Wohnungsauflösung
[…]. Die Geburt von Christians und meiner Tochter stand bevor, und
Paul und ich knieten vor Bergen von Dingen, die wir nie gesehen hatten,
die nie erwähnt worden waren, die uns als einzige Spur geblieben waren,
denn Jo und Mäxchen waren nicht mehr da.“ (S. 55f)
Die „Transformationsarbeit“ bedeutet die Beschäftigung der Zwillinge mit den Sachen,
die Jo und Max gehörten und durch die die Großeltern in einem anderen, für Freia und
Paul unbekannten Licht erschienen. Die erwähnte Arbeit sah folgendermaßen aus:
„Zu Hause hatte ich in Geschichtsbüchern oder Lexika
nachgeschlagen, um dem einen oder anderen Fundstück auf den Grund
zu gehen, und nun erzählte ich Paul etwas darüber. Hatte er seine
Zeichnung oder sein Gemälde beendet, warf ich die entsprechende
Gegenstände weg, oft mit einem Gefühl von Befreiung. Solange Paul
aber noch nicht fertig war, beschäftigten diese Fundstücke mich so, daß
ich mich nicht von ihnen trennen konnte.“ (S. 56)
Eines der gefundenen Fotos stellte die NS-Fliegerin Hanna Reitsch dar, was auf den
hier auftretenden monumentalen Modus hinweist, denn „die Frau Flugkapitän“ (S. 57)
war eine der bedeutendsten deutschen Fliegerinnen im 20. Jahrhundert.
54
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
Die in diesem Kapitel vorkommende Prolepse umfasst Ereignisse, die nicht länger als
einen Tag dauern, worauf der erste Kapitelsatz: „Ich stand am Fenster und starrte in die
Dämmerung.“ (S. 55) und der Teil der abschließenden Sätze: „die Abendsonne
leuchtete rot auf den breiten […] Flügeln […]“ (S. 60) hindeuten. Es geht um eine
zukunftsgewisse Prolepse, denn sie handelt von Geschehnissen, die später als der
aktuelle Zeitpunkt der Geschichte vorkommen und die erst im 19. und 20. Kapitel
genauer besprochen werden.
Die nächsten Kapitel, die von sieben bis fünfzehn nummeriert wurden, stehen für die
Rückwendungen, in denen Freias Erinnerungen an die Kindheit und Jugend dargestellt
werden. Sie werden in einer chronologischen Reihenfolge erzählt. Die Themen, die in
den Kapiteln berührt werden, sind: die Geschichte von „Verschwundenen Zöpfen“, die
zwischen den Zwillingen bestehenden Ähnlichkeiten, die Schulzeit und damalige
Beschäftigung mit dem Thema des „Nationalsozialismus“, die Liebe zu Wieland und
die gemeinsame Reise nach Warschau nach dem Tod von Kazimierz, die Arbeit von
Mäxchen beim Bienenhaus, der achtzehnte Geburtstag von Freia und Paul, das Ende
von Freias Beziehung zu Wieland, sowie viele familiäre Gespräche, in denen die Flucht
und die Kriegszeit diskutiert wurden. Die Analepsen betreffen also Ereignisse vor allem
der ersten, aber auch der zweiten Vergangenheitsebene. Ihre Umfänge sind von
Geschichte zu Geschichte unterschiedlich und betragen ein paar Jahre – wie bei der
Beschreibung der Schulzeit, einige Tage – wie bei der Reise nach Warschau oder auch
einzelne Nachmittage bzw. Abende, an denen das Thema des Krieges und der Flucht
besprochen wurde. Innerhalb der Kapitel kommt es auch zu kurzen Rückwendungen.
Beispielsweise wird im Kapitel „Die Zwillinge“, das von den Ähnlichkeiten zwischen
Freia und Paul handelt, von der frühen Kindheit der Zwillinge erzählt: „Als Paul und
ich sehr klein gewesen waren, hatten wir oft zusammen Vater-Mutter-Kind
gespielt.“ (S. 74).Während der Reise nach Warschau berichtet Freia, dass sie sich in den
letzten Wochen viel an Onkel Kazimierz und an die mit ihm verbrachten Momente
erinnert hat:
„In den letzten Wochen hatte ich unterschiedliche Bilder von Kazimierz
in meinem Kopf abgerufen“ (S. 154)
„Ich erinnerte mich an Onkel Kazimierz, wie er mit uns im ŁazienkiPark spazierenging und im Amphitheater die Komödie simultan ins
Deutsche übersetze, damit wir mitlachen konnten. […]
55
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
Und ich erinnerte mich, wie er uns im Park-Café Cola bestellte und uns
beim ersten Schluck genau beobachtete.“ (S. 155)
Die Analepsen, die innerhalb anderer Rückwendungen auftraten, umfassten einzelne
Ereignisse, deren zeitliche Ausdehnungen nicht groß waren.
Im Unterschied zu den sechs Kapiteln liegt die Reichweite der Rückwendung des
sechzehnten Kapitels, der den Titel „Bernsteinketten“ trägt, nahe der Basiserzählung,
denn Jo wird als kranke Person dargestellt sowie Mäxchen, der unter Prostatakrebs
leidet und aus diesem Grunde im Krankenhaus ist. Folgende Worte beweisen dies: „Jos
Krebserkrankung war trotz der Operation vor ein paar Jahren innerhalb kurzer Zeit
wieder ausgebrochen.“ (S. 206), „Vor sechs Wochen war sie in ihrer Küche gestürzt
und hatte einen Oberschenkelhalsbruch erlitten.“ (S. 208f), „Mein Großvater hatte zu
diesem
Zeitpunkt
schon
wegen
seines
Prostata-Krebses
im
Krankenhaus
gelegen.“ (S. 208) Die Erwähnung von Jos Sturz ist schon an sich eine Analepse, die
von einem Ereignis handelt, das vor sechs Wochen stattfand.
Im nächsten Kapitel, in dem eine Rückwendung erscheint, kommt die Handlung zum
Zeitpunkt zurück, an dem das fünfzehnte Kapitel endet: „Wieland hatte am Morgen,
nachdem ich ihn mit meinem Bruder auf der Lichtung gesehen hatte, einen Zettel unter
den Salamander-Stein gelegt, aber ich hatte mich nicht gleich gemeldet.“ (S. 221) Das
Kapitel handelt von der Jugend und Studienzeit von Freia, umfasst also mehrere Jahre.
Es wird davon berichtet, wie Freia und Paul nach langer Zeit, in der sie nicht
miteinander gesprochen haben, wieder Zeit gemeinsam mit Wieland verbringen, der den
Eltern als Pauls Freund vorgestellt wurde. Es wird auch Freias Studienzeit thematisiert,
in der sie viele Liebhaber hatte, um Wieland zu vergessen.
Die nächsten Kapitel bis zu dem letzten gehören zur Basiserzählung, das heißt sie
beziehen sich auf die Ereignisse der Gegenwartsebene. Sie werden in einer
chronologischen
Reihenfolge
erzählt.
In
ihnen
kommen
aber
auch
viele
Rückwendungen vor, die unterschiedliche Reichweiten und zeitlichen Ausdehnungen
aufweisen sowie eine zukunftsgewisse Vorausdeutung, die im Kapitel „Nachtkammern“
zu finden ist. Das Kapitel betrifft die bereits im sechsten Kapitel angedeutete
„Transformationsarbeit“. Die Prolepse betrifft den zukünftigen Streit mit Peter, der
Freias Zöpfe in einer Collage verarbeiten wollte, worauf Freias folgendermaßen
reagiert: „[…]aber daß nun schon wieder jemand meine Zöpfe aufbewahren wollte,
ging mir entschieden zu weit.“ (S. 274) Der Streit findet nach einem Jahr statt, nachdem
56
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
Freia das Schreiben eines Buches vorgeschlagen hat. Die Reichweite wird mit folgenden
Worten ausgedrückt:
„Später, nach jenem Winter, der uns alle überraschte, […]nach dem
kürzesten Tag des Jahres, als das Eis des Winters schon längst in einen
Sommer geflossen und in einem neuen Winter gefroren war, würden Paul
und ich uns über seinen Arbeiten vollständig zerstreiten.“ (S. 273f)
Die Prolepse beinhaltet eine kurze Zeitspanne, in der es zum Streit zwischen den
Zwillingen gekommen ist.
In „Himmelskörper“ werden die Ereignisse nicht chronologisch dargestellt. Es kommen
viele aufbauenden Rückwendungen vor, deren Aufgaben darauf basieren, die
Hintergründe der Basiserzählung darzustellen. Sowohl die Reichweiten als auch die
Umfänge von Analepsen unterscheiden sich voneinander. Es treten auch einige
zukunftsgewisse Vorausdeutungen, die die erzählte Geschichte spannender machen, auf.
4.2.3.2 Zur Dauer
In der Zeitstruktur eines literarischen Textes lässt sich neben der Ordnung auch die
zeitliche Dauer untersuchen, „welche […] die Darstellung eines Geschehens oder
einzelner Geschehenselemente in einer Erzählung [beansprucht – M.S.].“169. Je
nachdem, in welchem Verhältnis die Erzählzeit und die erzählte Zeit zueinander stehen,
werden von Gérard Genette und Eberhardt Lämmert fünf Grundformen unterschieden:
1. Szene, die Lämmert als zeitdeckendes Erzählen bezeichnet. Sie kommt bei zeitlichen
Übereinstimmungen von der Erzählzeit und der erzählten Zeit vor. Dies erfolgt mit
der wörtlichen Wiedergabe der Figurenrede, die in einem Dialog dargestellt wird,
ohne Auslassungen oder Erzähleinschübe, wobei die Sprechgeschwindigkeit der
Sprecher und die entstehenden Pausen berücksichtigt werden.170
2. Dehnung, die Lämmert zeitdehnendes Erzählen nennt. Es wird von dieser Form
gesprochen, wenn die Erzählzeit, die für die Darstellung eines Ereignisses
verwendet wird, deutlich länger ist als die wirkliche Dauer des Geschehens. In
169
Martinez, Matias/ Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, 2007, S. 32.
170
Vgl. ebd., S. 39.
57
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
literarischen Texten wird das z.B. durch den Wechsel zwischen der äußeren Welt
und der Innenwelt dargestellt.171
3. Raffung, die Lämmert als zeitraffendes bzw. summarisches Erzählen bezeichnet.
Diese Form kommt vor, wenn es eine Zusammenfassung von Stunden, Monaten
oder Jahren in einem Satz erfolgt. Typische Beispiele sind: „Nach zwei Tagen…“,
„Nach einiger Zeit…“, „Nach einiger Jahren…“. 172
4. Ellipse, die Lämmert Zeitsprung nennt. Sie wird auch als Aussparung bezeichnet,
denn es werden bei dieser Geschwindigkeitsform bestimmte zeitliche Abschnitte,
die dem Erzähler als nicht erzählenswert erscheinen, aus der Geschichte
ausgelassen.173
5. Pause, bei der das Erzähltempo mit Hilfe von z.B. längeren, nicht aus der
Perspektive einer handelnden Figur erfolgenden Kommentaren oder Reflexionen des
Erzählers verringert wird.174
Da im ganzen Roman „Himmelskörper“ aus der Perspektive von Freia erzählt wird und
es somit zu Darstellungen ihrerseits kommt, sind in dem Text keine Pausen zu finden.
Die anderen vier Formen der zeitlichen Dauer, die Szene, Dehnung Raffung und Ellipse,
treten auf. Allerdings ist es aber schwer festzustellen, welche Form die vorherrschende
ist.
Als Beispiel für eine Szene ist das Gespräch zwischen Peter und Freia, das gleich nach
der Bekanntmachung der Eltern mit Pauls Freund stattfand.
„Schließlich redete mein Vater weiter:
»Keine Enkel … keine … naja, da müssen wir uns, glaube ich, noch
daran gewöhnen … also, das ist natürlich so als Vater … naja.«
Er brach ab und zerstach sein Kuchenstück. […]
171
Vgl. ebd., S. 43f.
172
Vgl. ebd., S. 42.
Vgl. Marsden, Peter H.: Zur Analyse der Zeit. – In: Wenzel, Peter (Hg.): Einführung in die
Erzählanalyse. Kategorien, Modelle, Probleme. Trier: WVT 2004, S. 89-110, hier S. 100. Genette
unterscheidet auch zwischen einer bestimmten und expliziten Ellipse, die die entstehende Zeitspanne mit
Worten wie z.B. „viele Jahre später“ benennt, einer unbestimmten und impliziten Ellipse, bei der die
Kennzeichnung einer Aussparung nicht stattfindet und der Leser das Vorhandensein des Zeitsprungs
selbst erschließen kann sowie bei einer hypothetischen Ellipse, die erst durch Analepsen erkannt werden
könne. – Siehe dazu ausführlich: Genette, Gérard: Die Erzählung. München: Wilhelm Fink 1998,
S. 76-78.
173
174
Vgl. Martinez, Matias/ Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, 2007, S. 44. Siehe dazu
vertiefend auch: Genette, Gérard: Die Erzählung. München: Wilhelm Fink 1998, S. 71-76.
58
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
Plötzlich fuhr mein Vater zu mir herum. Er musterte mich einen
Moment – ebenso abweisend wie seinen Sohn.
»Sag mal, nicht, daß du mir auch noch auf dumme Ideen kommst!«
Ich schwieg.
»Hast du jemals einen Freund gehabt?«
»Seit wann interessierst du dich dafür, was wir…«
»Ja oder nein?«
»Ja – ich bin auch nicht mehr Jungfrau, falls es dich
interessiert.«“ (S. 234f)
Es wird ein Dialog dargeboten, in dem die Sprechart berücksichtigt wurde. Die
Auslassungspunkte in Peters Aussage stehen für Pausen, die er beim Sprechen gemacht
hat. Freias Schweigen kommt auch in einem entsprechenden Satz zum Ausdruck. Die
Kommentare des Erzählers sind begrenzt und stören den Redefluss nicht. Die Erzählzeit
stimmt mir der erzählten Zeit überein. Von daher kann man feststellen, dass es sich in
diesem Beispiel um ein zeitdeckendes Erzählen handelt. Solche Darstellungsweisen von
Gesprächen kommen im Roman „Himmelskörper“ häufig vor.
Es kommt oft zum Wechsel zwischen der äußeren Welt und der Innenwelt, wobei
jeweils die Gedanken von Freia dargestellt werden. So ist die für die Darstellung des
Ereignisses verwendete Zeit deutlich länger als die wirkliche Dauer der Geschichte. Ein
Beispiel für solche Erzählung ist die Geschichte, die der ersten Vergangenheitsebene
angehört. Freia geht im Winter auf den gefrorenen See, um Schlittschuh zu laufen.
„Es war ein kalter, aber ein offenbar nicht ganz so kalter Februarabend,
wie ich angenommen hatte[…].
Ich kreiste alleine auf dem See. Dabei beobachtete ich abwechselnd das
Eis und den Himmel. Wie liebte ich diese unendlich fernen, zerfransten
Cirruswolken, die mir aus 10000 Meter Höhe einen kalten Gruß sandten.
Mir war unverständlich, was meine Klassenkameraden im [Café – M.S.]
»Zungenkuß«, einer engen, verrauchten, stickigen Höhle suchten …
Selbst wenn ich mich ins Café begeben hätte, wäre ich genauso allein
gewesen wie jetzt. […] Bei der Hofpause hatte ich einmal das Wort
»zurückgeblieben« in bezug auf mich aufgeschnappt. Doch Paul hatte
demonstrativ seinen Arm gelegt um mich und gemeint, wir sollten
weggehen von all diesen Gänsen. Und wieder einmal schwänzten wir die
Schule, um auf einer Wiese zu liegen und uns die zahllosen Formen der
Wolken anzuschauen.
Nun lief ich also meine Bahnen unter diesem klaren Himmel.“ (S. 107f)
Es werden hier Freias Gefühle und Gedanken vermittelt, die ihre Liebe zu Wolken und
ihre Relationen zu Klassenkameraden betreffen. Dann stellt der Erzähler seine
individuellen Erinnerungen an ein Ereignis aus der Schulzeit dar, und kehrt zur
59
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
Erzählung vom Schlittschuhlaufen zurück. Es wird deutlich, dass es sich in diesem Fall
um ein zeitdehnendes Erzählen handelt.
Die Ellipse, die zu den drei in „Himmelskörper“ dominierenden Dauerformen gehört,
tritt am häufigsten im siebzehnten Kapitel auf, das mit „Wasserpfeife“ betitelt wurde.
Die in diesem Kapitel dargestellte Geschichte betrifft die Zeit, nach der Freia ihren
Bruder und Wieland zusammen im Wald sitzend gesehen hat.
„Der Winter brachte eine neue, umfassende Einsamkeit über mich. […]
Als ich Silvester mit meinen Eltern bei einem Kollegen von Peter auf
der Dachterrasse stand, dachte ich nicht an die Zukunft […]“ (S. 225)
„Irgendwann im Februar jedoch stiefelte ich kurz entschlossen in Pauls
Atelier […]“ (S. 226)
„Im März bekam ich einen langen Brief von Wieland.“ (S. 229)
„Im April sah ich Wieland wieder. […] Zwei Tage später kochten wir
zu dritt.“ (S. 230f)
„Im Mai beschloß ich, mir mit dem Abi doch etwas Mühe zu
geben […].“ (S. 232)
„Ich erinnere mich genau an jenen Sonntagnachmittag[…].
Es war ein strahlender Frühsommertag […].“ (S.233)
In den genannten Beispielen treten bestimmte und explizite Ellipsen auf, durch die
angegeben wird, wie groß die Zeitspanne zwischen den Ereignissen ist, wobei keine
genauen Datenangaben erfolgen. Der erste Zeitsprung umfasst über zwei Monate (von
Silvester bis Februar). Die nächsten Ellipsen betreffen jeweils einen Monat: von
Februar bis Mai, wobei bei der Beschreibung von April ein zwei Tage umfassender
Zeitsprung aufritt. Die in der letzten Ellipse ausgelassene Zeitspanne ist nicht genau
bestimmbar, denn es erfolgt keine genaue Zeitangabe. Der Leser weiß in diesem Fall
nur, dass nach den im Mai passierten Geschehnissen von einem „Frühsommertag“
gesprochen wird. Nicht nur in diesem Kapitel verwendet der Erzähler Aussparungen.
Sie kommen an mehreren Textstellen im Roman vor.
In „Himmelskörper“ sind auch Beispiele für das summarische Erzählen zu finden:
„Renate hatte drei lange Wochen Angst.“ (S. 35)
„In den letzten Wochen hatte ich unterschiedliche Bilder von Kazimierz
in meinem Kopf.“ (S.154)
„Abendelang hatten Renate und ich neben Jo gesessen, hatten sie mit
Kompott gefüttert und ihr Fotos von vielen Reisen gezeigt, die sie in
ihrem Leben unternommen hatte.“ (S. 208)
„Die nächsten Wochen
Erinnerung.“ (S. 223)
waren
fürchterlich
lang
in
meiner
60
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
Die Raffung wird in diesen Beispielen durch die Worte „drei lange Wochen“, „in den
letzten Wochen“, „abendelang“ und „die nächsten Wochen“ ausgedrückt.
Im Roman „Himmelskörper“ werden die Geschichten mit Hilfe von Szenen,
Dehnungen, Ellipsen und Raffungen erzählt, wobei das zeitraffende Erzählen nicht so
oft wie die drei anderen Formen der zeitlichen Dauer vorkommt. Die dominante Form
der zeitlichen Dauer ist nicht festzustellen.
4.2.3.3 Zur Frequenz
Die dritte von Genette unterschiedene Kategorie der Zeitstruktur ist die Frequenz, mit
der die sich wiederholenden oder nicht wiederholenden Geschehnisse in der Erzählung
vermittelt werden. Es werden vier folgende Kategorien von der Frequenz bzw.
Häufigkeit unterschieden:
1. Singulative Erzählung, in der einmal erzählt wird, was einmal passiert ist
2. Repetitive Erzählung, in der n-mal erzählt wird, was einmal geschah.
3. Multi-singulative Erzählung, in der n-mal erzählt wird, was sich n-mal ereignet hat.
4. Iterative Erzählung, in der einmal erzählt wird, was n-mal passiert ist.175
Im Roman „Himmelskörper“ treten meistens singulative Erzählungen auf. Dies betrifft
vor allem die
Mehrheit der
Ereignisse der Gegenwarts- und der
ersten
Vergangenheitsebene. Einmal dargestellt sind solche Ereignisse, die einmal passiert
sind, wie beispielsweise die Geschichten von den „Waldgeistern“, die Freia und Peter
beobachtet haben, von den Erlebnissen, die Freia und Wieland verbunden haben, von
den Reisen nach Warschau und Gdynia sowie Freias Aufenthalt bei Paul in Paris.
Neben den singulativen Erzählungen kommen auch iterative vor. Beispielsweise erzählt
Freia eine Geschichten, die sie so viele Male unverändert gehört hat, dass sie sich gut an
u.a. jedes Wort und jede Sprechpause erinnern kann:
„Die Geschichte ihrer [der Großmutter – M.S.] Flucht kannte ich schon
auswendig. Wie einen Weg, den man sehr oft abgeschritten ist, kannte ich
fast jede Redewendung, jede sprachliche Ausschmückung. […] ich
[wusste – M.S.] genau, welche Höhepunkte, Kunstpausen oder
retardierenden Momente Jos Fluchtgeschichte kennzeichneten. Und
175
Vgl. Marsden, Peter H.: Zur Analyse der Zeit, 2004, S. 102f. Siehe dazu ausführlich: Gérard: Die
Erzählung. 1998, S. 81-91; Martinez, Matias/ Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, 2007,
S.46-48.
61
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
immer wieder gab es an den gleichen Stellen dieselben Streitigkeiten mit
meiner Mutter, und immer wieder verstummte meine Mutter irgendwann
resigniert und ließ Jo weiterreden.“ (S. 98)
Von der Flucht wurde mehrmals erzählt, worauf nicht nur die Worte „immer wieder“
hindeuten, sondern auch die Tatsache, dass Freia diese Geschichte auswendig kennt.
Die Erinnerungen der Großmutter sind so oft in Gesprächen vorgekommen, dass sie
Teil des individuellen Gedächtnisses Freias und somit auch des kommunikativen bzw.
Familiengedächtnisses geworden sind.
Ein weiteres Beispiel für die iterative Erzählung stellt folgende Textstelle vor: „Die
Stimme meiner Großmutter zitterte nicht oder zitterte nicht mehr bei diesen
Erinnerungen; zu oft hatte sie diese zurechtgelegte Sätze wiederholt“ (S. 100) Diese
Textpassage bezieht sich auf Jos Aussage über Königsberg und den russischen Angriff
auf diese Stadt und deutet darauf hin, dass die Großmutter davon häufig erzählt hat.
Andere Beispiele für iterative Erzählungen treten meistens in Form von Raffungen
auf.176
Es kommen auch oft repetitive Erzählungen vor. Sie betreffen meistens die in
Gesprächen vermittelten Erinnerungen der Angehörigen der Zweiten und Dritten
Generation an die Kriegszeit. Beispielsweise spricht Jo oft darüber, wie sie ihr Haus in
Königsberg verlassen und nach Gdynia ziehen musste. Sie hat das nur einmal erlebt,
trotzdem kommt es in ihren Aussagen oft zu Schilderungen dieses Ereignisses, das im
Familiengedächtnis aufbewahrt sein sollte. Mehrmals wird auch in den Gesprächen
zwischen den Generationen zur Betonung der Kälte, die in Gotenhafen während der
Flucht herrschte, aufgegriffen. Dies veranschaulichen folgende Aussagen, die entweder
Jo oder Renate angehören:
„Wenn ich [die Großmutter – M.S.] daran denke, wie wir damals eine
ganze Nacht und einen Morgen bei minus zwanzig Grad im Schnee
draußen am Pier gestanden haben!“ (S. 99)
„Überall standen, lagen und saßen die Menschen bei minus zwanzig
Grad!“ (S. 137) (– Jos Aussage)
„[…] wir warteten schon … bei minus zwanzig Grad … seit … ich [Jo –
M.S.] glaube anderthalb Tagen.“ (S. 247)
176
Siehe die Beispiele im Kapitel „Zur Dauer“.
62
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
„»Freia, als ich das letztemal hier war, herrschten zwanzig Grad
minus …«, sagte sie [Renate – M.S.] dann leise.“ (S. 295)
Die Hervorhebung der herrschenden Kälte ist mit der in den Gesprächen wiederholten
Darstellung der sich nur einmal ereigneten Flucht verbunden, was von einer repetitiven
Erzählung zeugt.
Diese repetitive Frequenzform betrifft auch Freias Erinnerungen an die Ereignisse der
Gegenwarts- und der ersten Vergangenheitsebene. Es wird z.B. von der einmal
stattgefundenen Wohnungsauflösung der Großeltern nicht einmal erzählt. Mehrmals
kommen auch Freias individuelle Erinnerungen an die Zeit vor, in der sie Zöpfe
getragen und diese später abgeschnitten hat.
Beschäftigt man sich mit der Häufigkeit, mit der die im Roman „Himmelskörper“
dargestellten Geschichten erzählt werden, so stellt man fest, dass im Text alle
Kategorien der Frequenz auftreten. Je nachdem, auf welcher Vergangenheitsebene
erzählt wird, ändert sich die Dominanz der Häufigkeitskategorien, wobei die iterativen
Erzählungen nicht dominant sind. Gehören die Ereignisse der Gegenwarts- oder der
ersten Vergangenheitsebene, so herrschen die singulativen Erzählungen vor. Geht es
aber um die Geschichten, die die zweite Vergangenheitsebene betreffen, so dominieren
die repetitiven Erzählungen.
Im Roman „Himmelskörper“ sind die Ereignisse nicht chronologisch dargestellt. Es
kommt zu vielen Analepsen, in denen die Geschehnisse der ersten und zweiten
Vergangenheitsebene dargestellt werden und einigen zukunftsgewissen Prolepsen, die
von den Ereignissen der Gegenwartsebene handeln. Bei der Schilderung der
Geschichten bedient sich der Erzähler verschiedener Darstellungsformen, bei denen
zeitdeckendes und -dehnendes Erzählen und Ellipsen dominieren. Von den
stattgefundenen Ereignissen wird einmal oder mehrmals erzählt. Es kommen
singulative, repetitive und iterative Erzählungen vor, wobei im Roman die ersten zwei
Frequenzkategorien vorherrschen.
Genauso, wie man die Geschichten erzählen kann, kann man sich auch an die
vergangenen Ereignisse singulativ, repetitiv oder iterativ erinnern. Dabei kann es zur
Darstellung aller Geschehnissen kommen oder es werden einige Zeitspannen
ausgelassen werden. Da die Erinnerungen Kommunikation verlangen, um sich im
63
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
Gedächtnis zu erhalten und zum Teil eines kommunikatives, bzw. kollektives
Gedächtnisses zu werden, und die Erzählungen auf dem Wissen basieren, das im
Gedächtnis aufbewahrt werden, ist das Erinnern und Erzählen eng miteinander
verbunden. Dies hat im Roman „Himmelskörper“ seinen Ausdruck gefunden.
4.2.4 Zur erzählerischen Vermittlung
Die Geschichte wird in literarischen Texten von einem Erzähler vermittelt, der eine vom
Autor geschaffene Instanz darstellt. Die Erzählerinstanz ist nur in faktualen Texten177
z.B. einer Autobiographie mit dem Autor des Textes gleichzusetzen. In fiktionalen
Texten wird sie hingegen als ein Teil der Fiktion betrachtet178. In beiden Textsorten
erfüllt die Erzählerinstanz bestimmte Funktionen. Sie führt in die Geschichte ein,
charakterisiert die Figuren und schildert ihre Handlungen. Sie macht auch Angaben zu
Raum und Zeit des Geschehens.179 Dies kann auf verschiedene Art und Weise
passieren, von daher werden auch unterschiedliche Modelle für die Typologie des
Erzählers entfaltet. Im folgenden Teil der Arbeit wird die Erzählerinstanz des Romans
„Himmelskörper“ einer Analyse unterzogen, die nach Modellen von Franz Karl Stanzel
und Gérard Genette in angegebener Reihenfolge erfolgt.
4.2.4.1 Zum Erzähler nach Franz Karl Stanzel
Franz Karl Stanzel unterscheidet drei Erzähler bzw. drei sogenannten Erzählsituationen,
welche sind:
1. die auktoriale Erzählsituation, in der es um einen allwissenden Erzähler geht, der
sich durch eine Distanz zum Erzählten auszeichnet, über die Innen- und Außensicht
177
Es werden zwei Textsorten unterschieden: faktuale und fiktionale Texte, deren Definitionen geben
Martinez und Scheffel vor: „Faktuale Texte sind Teil einer realen Kommunikation, in der das reale
Schreiben eines realen Autors einen Text produziert, der aus Sätzen besteht, die von einem realen Leser
gelesen und als tatsächliche Behauptungen des Autors verstanden werden. Fiktionale Texte sind ebenfalls
Teil einer realen Kommunikationssituation, in der ein realer Autor Sätze produziert, die von einem realen
Leser gelesen werden. Fiktionale Texte sind jedoch komplexer als faktuale, weil sie außer der realen
auch noch einer zweiten, imaginären Kommunikationssituation angehören.“ – Martinez, Matias/
Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, 2007, S. 37.
178
Vgl. Mahne, Nicole: Transmediale Erzähltheorie. Eine Einführung. Göttingen: Vandenhoeck &
Ruprecht 2007, S. 25. Zu Begriffen faktuales und fiktionales Erzählen siehe ausführlich: Martinez,
Matias/ Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München: C. H. Beck 2007.
179
Vgl. Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur, 1999, S.27.
64
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
verfügt, von den Handlungen und Gedanken der Personen berichtet und sie
bewertet;180
2. die Ich-Erzählsituation, in der der Erzähler zur Welt der Figuren gehört und nur
darüber erzählen kann, was er selbst erlebt oder von Anderen gehört hat. Er kann
das Wissen über die Vergangenheit besitzen, über die Zukunft kann er aber mit
keiner Sicherheit sprechen.181
3. die personale Erzählsituation, bei der der Erzähler anonym und neutral bleibt und
das Geschehen aus der Sicht einer an der Geschichte beteiligten Person erzählt,
wobei er auf Kommentare und Einmischung in das Erzählte verzichtet.182
In „Himmelskörper“ nimmt der Erzähler an der Handlung teil und erzählt in der „IchForm“, was schon zu Beginn des Romans deutlich gezeigt wird und in seinem Verlauf
immer wieder vorkommt:
„Ich war sehr aufgeregt, denn dieser Wieland war der erste Junge, mit
dem ich mich verabredet hatte.“ (S. 109)
„Als ich den Kölner Bahnsteig erreicht hatte, sah ich nur die
Schwarzgekleideten unter den an mir Vorbeihastenden, sah nur die tote
Taube vor der Imbißbude mit dem prosaischen Namen »Ham
Ham«, […].“ (S. 310)
Auf diese Form deuten auch bestimmte von der Erzählerinstanz verwendete
Wendungen, die die Zugehörigkeit zu der erzählenden Person ausdrücken, wie z.B.
„meine Mutter“, „meine Großmutter“, „mein Großvater“, „meine Hände“, „meine
Zöpfe“. Das veranschaulichen folgende Beispiele aus dem Roman „Himmelskörper“:
„Ich erschrak immer wieder, wie meine beiden Zöpfe da losgelöst von
meinem Kopf an der Wand hingen. Und meine Mutter öffnete mein totes
Haar und flocht es wieder und wieder.“ (S. 67)
„Meine Großmutter tätschelte meinem Großvater das Bein, das er
sofort wegnahm, wobei er kurz das Gesicht verzog wegen der wunden
Haut am Strumpf.“ (S. 123)
Vgl. v. Graevenitz, Gerhart: Erzähler. – In: Ludwig, Hans-Werner (Hrsg.): Arbeitsbuch
Romananalyse. Tübingen: Narr 1998, S. 78-106, hier S. 92f.
180
181
Vgl. Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur, 1999, S.30ff:
182
Vgl. ebd., S. Siehe zum Thema Erzählsituationen nach Franz K. Stanzel vertiefend: v. Graevenitz,
Gerhart: Erzähler. – In: Ludwig, Hans-Werner (Hrsg.): Arbeitsbuch Romananalyse. Tübingen: Narr 1998,
S. 78-106; Strasen, Sven: Zur Analyse der Erzählsituation und der Fokalisierung. – In: Wenzel, Peter
(Hg.): Einführung in die Erzählanalyse. Kategorien, Modelle, Probleme. Trier: WVT 2004, S. 111-140.
65
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
„Jo saß mit geradem Rücken auf ihrem Sofa, eine Teetasse in der
Hand. Sie hob die kleine, mit bunten Vögeln bemalte Tasse nur leicht an,
stülpte die Lippen vor und schlürfte ihren Tee. […] Meine Mutter und ich
hockten auf kleinen Sesseln […] und hörten Jo zu.“ (S. 206)
„Paul legte seine Hand kurz auf meine. Ich zuckte die Schultern. […]
Im grüblerischen Gesicht meines Bruders spiegelten sich meine
eigenen Gefühle.“ (S. 240)
Die genannten Textstellen zeugen auch davon, dass der Erzähler Freia selbst verkörpert,
die die Hauptfigur des Romans ist. Wichtig dabei ist, dass der Erzähler nur das mitteilt,
was zu Freias individuellen Erinnerungen und was zum Familien- bzw. GenerationenGedächtnis, also zum kommunikativen Gedächtnis gehörende Informationen, zählt. Es
wird davon berichtet, woran die Hauptfigur selbst teilgenommen oder was sie von
anderen Protagonisten gehört hat, was von Erfahrungshaftigkeit zeugt. Die
Erzählerinstanz spricht z.B. über ihre individuellen Erinnerungen an die unglückliche
Liebe zu Wieland, der sie für ihren Zwillingsbruder verlassen hat. Darüber spricht sie
aber erst, als sie die Beiden im Wald sieht. Da sie danach den Kontakt mit Paul
vermeidet, ist sie auch nicht weiter in der Lage über die Entwicklung der Beziehung
zwischen ihrem Bruder und Wieland Auskunft zu geben. Wenn sie nach den
Erinnerungen aus dem Familiengedächtnis greift, erzählt sie nur davon, was sie von den
Großeltern und der Mutter über die Geschichte der eigenen Familie in den Gesprächen
gehört hat. Der Erzähler stellt also die Gedanken und Gefühle dar, die nur ihm gehören.
Was die Anderen fühlen und denken, weiß er nicht. Nur das, was in den Gesprächen
Ausdruck fand und was zu Freias Erlebnissen gehörte, kommt im Text vor.
Die besprochenen Merkmale, die der Erzähler in „Himmelskörper“ charakterisieren,
weisen darauf hin, dass es sich in diesem Roman um die Ich-Erzählsituation handelt. Es
existiert jedoch eine Textstelle, die die Feststellung, dass es im ganzen Text um die
erwähnte Erzählsituation geht, in Frage stellt. Das dritte Kapitel, das den Titel „Blaue
Stunde“ trägt, enthält einen Textabschnitt (S. 30-35), in dem schwer zu bestimmen ist,
aus wessen Perspektive erzählt wird.
Die in dieser Passage erzählte Geschichte betrifft Freias Mutter, die statt eines Abiturs
eine Ausbildung als Orthopädieassistentin bei ihrer Tante Lena absolvierte. Eines Tages
ließ sich die fünfzehnjährige Renate von einem gleichaltrigen Jungen namens Rudolf
küssen, der bei ihrem Onkel Kurt in der Baumschule arbeitete. Aus diesem Grund
bekam sie später große Angst, schwanger zu sein, was offensichtlich nicht der Fall war.
66
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
In der Darstellungsweise, die in diesem Textteil zutrifft, sind keine deutlichen
Anzeichen dafür gegeben, dass der Rest des Romans aus der Sicht des vorhandenen IchErzählers erzählt wird. Wenn es um die Person Renate geht, dann wird sie mit dem
Vornamen genannt und nicht als „meine Mutter“ bezeichnet. Jo und Mäxchen sind auch
nicht mehr als Freias Großeltern dargestellt, sondern als Renates Mutter und Vater, was
auch Onkel Kurt und Tante Lena betrifft und an mehreren Textstellen aufgezeigt wird,
z.B.:
„So pendelte Renate zwischen der stilistischen Wohnung ihrer Eltern –
die mit viel zu vielen Möbeln und Erinnerungen vollgestopft war, in der
ihr Vater in seinen aufgepolsterten Stuhl, sein rechtes Bein hochgelagert,
Patienten legte und ihre Mutter stundenlang nähte, ohne ein Wort zu
sprechen – und dem Gelände ihres schon in frühen Jahren glatzköpfigen
Onkels und ihrer praktisch-fürsorglichen Tante mit den kräftigen,
orthopädische Griffe gewohnten Händen.“ (S. 31)
„Johanna, ihre Mutter, gab Renates Vater einen flachen Klaps auf den
Hinterkopf […].“ (S. 33)
Nicht nur die Benennung der Familienmitglieder stellt das Vorhandensein der IchErzählsituation in Frage. Der Erzähler scheint Renates Gedanken zu kennen, was im
folgenden Textabschnitt bewiesen wird:
„Nachts zu Hause allein in ihrem Bett, dachte Renate nach über das,
was ihre Mutter einmal vage […] gemurmelt hatte […]. Renate, verwirrt
von all den Gerüchen und Geschmäckern an ihrem Körper, bekam auf
einmal große Angst“ (S. 34)
Es ist deutlich zu bemerken, dass nicht nur ihre Gedanken, sondern auch ihre Gefühle
der Erzählerinstanz bekannt sind. Die Erzählweise lässt keine Neutralität der
Geschehensbeschreibung erkennen, z.B. „Er lächelte verlegen“ (S. 34), „Dann, endlich,
als sie ihre Tage bekam, legte sich die Furcht, schwanger zu sein“ (S. 35), was bei
neutraler Darstellung beispielsweise so ausgedrückt werden könnte: „Er lächelte.“,
„Dann, als sie ihre Tage bekam, legte sich die Furcht, schwanger zu sein“. Insofern
kann man behaupten, dass es sich hier um keine personale, sondern auktoriale
Erzählsituation“ handelt. Wenn man aber diese Passage genauer untersucht, kommt
man zum Schluss, dass dieser Erzählertyp ausgeschlossen werden muss. Erstens ist der
Erzähler nicht allwissend und sein Wissen über die Figuren ist begrenzt, wovon einige
Vermutungen zeugen: „Vielleicht fuhren die Männer ja mit den Mädchen in ein Land
jenseits der Baumgrenze“, „Vielleicht hatte Renate damals gespürt, daß die
Reihenfolge verkehrt war […].“ (S. 32) Zweitens wird die Tochter von Lena und Kurt,
67
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
die Renates Cousine war, als „Tante Marion“(S. 31) bezeichnet. Dies deutet darauf hin,
dass hier von Freias Tante, also von der Tante des im Roman vorhandenen IchErzählers geht. Drittens wird im diesem Abschnitt nicht von „russischen Soldaten“,
sondern von „dem Russen“ gesprochen: „Tante Lena, die zusammen mit Jo und der
kleinen Renate vor »dem Russe« geflohen war […].“(S. 31). Dieser gruppenspezifische
Ausdruck weist auf die Gespräche in Freias Familie hin, in denen von „den Russen“
gesprochen wird. Er wird im Familiengedächtnis behalten, herausgeholt und für die
Bezeichnung der russischen Soldaten benutzt. Da in der Textpassage die Rede von
Renates Erlebnissen ist, herrscht in dem Textabschnitt der erfahrungshaftige Modus
vor. Die Dominanz der Erfahrungshaftigkeit, die den auktorialen Erzähler ausschließt,
wird durch den Ausdruck „die Russen“ bewiesen. Viertens soll auch der
vorherstehende Text berücksichtigt werden:
„Während wir Zitronen zum Nachtisch aßen […] erzählte Renate auf
einmal von einem sommersprossigen Jungen namens Rudolf, der bei
Onkel Kurt in der Baumschule gearbeitet hatte. […] einmal, als sie sich
auf der Couch ausruhte, hatte er plötzlich vor ihr gekniet und sie
geküßt…“ (S. 30)
Es ist wie eine Einleitung in die nachfolgende Geschichte, die die Erinnerung aus
Renates individuellem Gedächtnis betrifft, die plötzlich hervorgehoben wurden und die
Renate im Gespräch ihrer Tochter vermittelte, was für das kommunikative Gedächtnis
charakteristisch ist. Sie wurden dadurch Teil des Familiengedächtnisses, aus dem Freia
sie herausgenommen und nacherzählt hat.
Es kommen in der untersuchten Passage viele Anzeichen vor, dass es nicht nur aus der
Perspektive des Ich-Erzählers erzählt wird. Die genauere Analyse, die die vier
genannten Punkte darstellen, gilt als Beweis dafür, dass es in diesem Textabschnitt doch
um die Ich-Erzählersituation geht. Man kommt also zum Schluss, dass es sich im
ganzen Roman „Himmelskörper“ um den Ich-Erzähler handelt.
4.2.4.2 Zum Erzähler nach Gérard Genette
Das von Franz Stanzel vorgestellte Modell der Erzählsituationen wurde einer Kritik
unterzogen. Die von ihm eingeführten Begriffe wurden als nicht ausreichend
differenziert betrachtet. Sie werden u.a. von Gérard Genette weiter untersucht und
entfaltet.
68
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
Genette hat einige Begriffe von Stanzels Theorie inhaltlich unverändert übernommen.
Dies betrifft die Unterscheidung zwischen dem Erzählen in der 1. und in der 3.Person.
Er stellte Stanzel gegenüber fest, „dass diejenigen Erzähler, die nicht Teil der erzählten
Welt sind, also klassische Er-Erzähler im Sinne Stanzels, häufig auch in der 1. Person
sprechen […].“183 Genette stellte also ein neues Modell vor, in dem er von der
„Stimme“ spricht, was Stanzels Kategorie der „Person“ entspricht.184 Je nachdem in
welcher Beziehung der Erzähler und die Figuren stehen, werden nach Genette zwei
Erzählertypen unterschieden: homodiegetischer Erzähler, der als eine Figur an der
Erzählung teilnimmt und heterodiegetischer Erzähler, der nicht zu den in der erzählten
Geschichte beteiligten Figuren gehört. 185
Auch die Frage, nach der Perspektive, aus der erzählt wird, hat Genette genauer
differenziert. Was Stanzel als „Außen-„ und „Innen-Perspektive“ bezeichnet hat186,
steht bei Genette unter dem Begriff „Fokalisierung“. Es geht hier um die Antwort auf
die Frage, wie viel weiß der Erzähler bezüglich der Figur. Es werden drei Typen der
Fokalisierung unterschieden: Null-, interne und externe Fokalisierung, die auch
auktoriale, aktoriale und neutrale Fokalisierung genannt werden. In der Erzählung mit
Nullfokalisierung spricht man von einer Übersicht, d.h. der Erzähler weiß bzw. sagt
mehr als irgendeine Figur weiß. Bei der internen Fokalisierung weiß der Erzähler nicht
mehr, als die Figur selbst weiß, von daher wird bei diesem Fokalisierungstyp von der
Mitsicht gesprochen. In der Erzählung mit externer Fokalisierung spricht man von der
Außensicht, d.h. man erfährt vom Erzähler weniger, als die Figur weiß. Es werden
beispielsweise nicht die Gedanken oder Gefühle einer Figur dargestellt.187
Vergleicht man die Modelle von Stanzel und Genette, so stellt man fest, dass dem
auktorialen Erzähler (nach Stanzel) die unfokalisierte heterodiegetische Narration (nach
Strasen, Sven: Zur Analyse der Erzählsituation und der Fokalisierung. – In: Wenzel, Peter (Hg.):
Einführung in die Erzählanalyse. Kategorien, Modelle, Probleme. Trier: WVT 2004, S. 111-140, hier
S. 120.
183
184
Vgl. Genette, Gérard: Die Erzählung. München: Wilhelm Fink 1998, S. 245.
185
Vgl. Martinez, Matias/ Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München: C.H. Beck 2007,
S. 80. Siehe dazu vertiefend: Genette, Gérard: Die Erzählung. München: Wilhelm Fink 1998.
186
Bei der Innerperspektive wird von der Perspektive einer Figur erzählt, bei der Außenperspektive
erfolgt das Erzählen von einem Blickpunkt, der außerhalb der erzählten Geschichte und Romanfiguren
liegt. – Vgl. Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur, 1999, S. 32f.
187
Vgl. Martinez, Matias/ Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, 2007, S. 64. Siehe auch:
Genette, Gérard: Die Erzählung. 1998, S. 135f.
69
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
Genette), dem personalen Erzähler hingegen die heterodiegetische Narration mit
interner Fokalisierung und dem Ich-Erzähler der homodiegetische Erzähler gegenüber
steht.188
Bei der Untersuchung der Erzählerinstanz hat Genette auch einen zusätzlichen Aspekt
in Betracht gezogen, nämlich die Erzählebenen.189 Setzt man die zwei ersten
Erzählebenen und die Stellung des Erzählers zum Geschehen zusammen, so
unterscheidet man vier Erzähltypen:
1. extradiegetisch-heterodiegetisch – der Erzähler, der eine der ersten Erzählebene
mitgeteilte Geschichte erzählt, aber nicht zu ihren Figuren gehört;
2. extradiegetisch- homodiegetisch – der Erzähler, der die eigene Geschichte auf der
ersten Erzählebene erzählt;
3. intradiegetisch-heterodiegetisch – der Erzähler, der eine auf der zweiten
Erzählebene mitgeteilte Geschichte erzählt, aber nicht zu den Figuren gehört;
4. intradiegetisch-homodiegetisch – der Erzähler, der die eigene Geschichte der
zweiten Erzählebene erzählt.190
Diese Einteilung lässt sich noch an dem Grad der Beteiligung am Geschehen ergänzen.
Die Möglichkeiten stellte Susan Sniader Lanser dar und dies sind: 1. Unbeteiligter
Erzähler, 2. Unbeteiligter Beobachter, 3. Beteiligter Beobachter, 4. Nebenfigur, 5. Eine
der Hauptfiguren, 6. Die Hauptfigur. Die erste Möglichkeit besteht nur bei dem
heterodiegetischen Erzähler, die anderen stehen für Varianten des homodiegetischen
Erzählers, wobei der Erzähler, der zugleich die Hauptfigur ist, autodiegetischer
Erzähler genannt wird.191
In „Himmelskörper“ werden die Erzählungen vom Ich-Erzähler vermittelt, was bei der
Analyse nach Stanzels Modell bewiesen wurde. Da nur die Erinnerungen aus
individuellem und Familiengedächtnis thematisiert werden, die Freias Wissen nicht
überschreiten, handelt es sich im ganzen Roman um die interne Fokalisierung. Der
Erzählertyp wechselt aber je nachdem, um welche Erzählebene es sich handelt,
188
Vgl. Genette, Gérard: Die Erzählung. 1998, S. 269.
189
Siehe zu diesem Thema ausführlich das Kapitel „Zum Zeitpunkt und Ort des Erzählens“.
190
Vgl. Martinez, Matias/ Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, 2007, S. 81.
191
Vgl. ebd., S. 82.
70
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
irrelevant ob Freia eine Geschichte aus dem Leben der Familienmitglieder, an der sie
nicht teilgenommen hat oder die eigene Geschichte erzählt.
In der Hauptgeschichte, die auf der Gegenwartsebene verläuft, kommt Freia als
Hauptfigur vor. Von daher wird hier von einem extradiegetisch-autodiegetischen
Erzähler gesprochen. Die Geschichten, die die erste bzw. zweite Vergangenheitsebene
betreffen und an denen Freia beteiligt ist, werden vom intradiegetischenautodiegetischen Erzähler erzählt. Der Übergang zwischen beiden Erzählebenen
veranschaulicht die Situation gleich am Anfang des Romans, in der die Hauptfigur sich
in einem Zug nach Köln befindet und die Familienfotos anschaut, die ihre Erinnerungen
hervorrufen:
„Ich blickte noch einmal auf das Bild von Peter mit den Kirschen über
den Ohren und mußte wieder daran denken, wie mein Vater frühe
taubengraue Briefe an »Gott« geschrieben und ins Meer geworfen hatte.
»Papa, was hast du denn Gott geschrieben?« fragten Paul und ich. Peter
antwortete nur: »Das bleibt mein Geheimnis.«“ (S. 9)
Das Anschauen von Peters Foto verläuft noch auf der extradiegetischen Ebene, die aus
dem individuellen Gedächtnis hervorgerufenen Erinnerungen hingegen auf der
intradiegetischen Ebene, die mit den Worten „ wie mein Vater…“ beginnen und mit
dem Absatzende, d.h. mit den Satz „Sie [die Mutter – M.S.] glaubte immer, etwas nicht
zu können.“ (S. 10) endet. An beiden Geschichten nimmt Freia teil, was im ersten Fall
die Worte „Ich blickte“ und im zweiten Fall „fragten Paul und ich“ beweisen. Von
daher verkörpert sie auf der ersten Stufe die autodiegetische Erzählinstanz, weil sie die
Hauptfigur ist, und auf der zweiten Ebene den homodiegetischen Erzähler, weil in der
Erinnerung Peter die Hauptfigur und sie eine Nebenfigur darstellt.
Schon im nächsten Absatz kommt es wieder zu Übergängen zwischen den
Erzählebenen. Der Anfang „Der Regen wurde stärker, und bald waren Häuschen. die
Felder und die Traktoren nur noch rote, gelbe und grüne Flecken, begleitet von einem
beständigen Prasseln und Trommeln.“ (S. 10) wird wieder vom extradiegetischenhomodiegetischen, als Beobachter vorkommenden Erzähler mitgeteilt, weil dies wieder
von Freia erzählt wird, die sich im Zug befindet und den Regen beobachtet, während sie
sich an Peter erinnert. In den nächsten Sätzen werden diese Erinnerungen an den Vater
folgendermaßen ausgedruckt:
„Pe-ter. Pe-ter. Pe-ter. Pe-ter, der Kopfschmerzen hat, den eine Wespe
gestochen hat, der am Strand auf eine Qualle getreten ist. Der am ersten
71
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
Urlaubstag in Dänemark alle mit seiner schlechten Laune quälte, weil er
keinen Zigarettenautomaten neben der Blockhütte fand. Der seine
lustigen Geschichten schreib, bis man vor Müdigkeit, und weil auch
Lachen auf die Dauer anstrengend ist, nicht mehr konnte.“ (S. 10)
In dieser Passage kommt wieder der intradiegetisch-homodiegetische Erzähler zu Wort.
Der Erzähler spricht wieder über die vergangenen Ereignisse, die in seinem
individuellen Gedächtnis behalten werden. Da es um seine eigenen Erinnerungen geht,
ist Freia eine der Figuren, die „vor der Müdigkeit […] nicht mehr konnte“. Sie selbst ist
aber keine Hauptfigur, deswegen gilt sie nicht als autodiegetischer, sondern
homodiegetischer Erzähler. Ähnliche Übergänge kommen in dem Roman öfters vor.
Es sind auch solche Textstellen zu finden, in denen nicht nur der Übergang zwischen
den Erzählebenen, sondern auch zwischen den Arten der Beziehungen von Erzähler und
Figur stattfindet. Dies wird z.B. in der Passage deutlich, in der über Renates individuelle
Erinnerungen an den ersten Kuss erzählt wird und die bei der Analyse nach Stanzels
Modell genauer untersucht wurde. Bevor es aber zu dieser Erzählung über das
Vergangene kommt, wird vom extradiegetisch-autodiegetischen Erzähler mitgeteilt, wie
es zu Renates Erzählen gekommen ist:
„Es war fünf nach sechs, und bei Christian machte niemand auf. Das
irritierte mich […]. Ich verordnete mir, bis halb sieben zu warten. Da
Christian nicht kam […] überlegte ich, was ich tun sollte. Plötzlich kam
mir die Idee, bei meinen Eltern vorbeizuschauen.[…]
Meine Mutter stand irritiert, fast ein wenig erschrocken, in der
Tür.“ (S. 29)
Freia war also mit Christian verabredet und da er aber nicht kam, entschied sie sich
dafür, ihre Eltern zu besuchen, wobei zu Hause nur die Mutter war. Freia tritt als die
Hauptfigur, soweit die Figur der Mutter nicht vorkommt, auf und das Erwähnen Freias
Freundes weist darauf hin, dass es um die Gegenwartsebene, also um die
Hauptgeschichte geht. Deswegen ist sie als extradiegetisch-autodiegetisch bezeichnet.
Als Renate in Erscheinung tritt, sind sie und Freia Hauptfiguren, deswegen ist der
Erzähler nicht mehr autodiegetisch, sondern homodiegetisch. Beim Nachtischessen
begann die Mutter plötzlich von ihrem vergangenen Erlebnis zu sprechen:
„Während wir Zitronen zum Nachtisch aßen […] erzählte Renate auf
einmal von einem sommersprossigen Jungen namens Rudolf, […] einmal,
als sie sich auf der Couch ausruhte, hatte er plötzlich vor ihr gekniet und
sie geküßt…“ (S. 30)
72
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
Der Erzähler beginnt mit den Worten „einmal, als sie sich auf der Couch ausruhte“
über die Vergangenheit zu sprechen, an der er nicht teilnimmt, weil die erzählte
Geschichte von den individuellen Erinnerungen an die Jugend einer anderen Person
handelt. Ab dieser Stelle ist der Erzähler intradiegetisch-heterodiegetisch. Mit dem
Ende der Geschichte geht er zurück in den extradiegetisch-homodiegetischen über, was
die folgende Textstelle beweist:
„Dann, endlich als sie ihre Tage bekam, legte sich die Furcht,
schwanger zu sein.
Ich wischte mit einem Lappen den Schaum und einige Krümel aus dem
Ausguß und gab Renate den letzten Teller zum Abtrocknen. […]Sie [die
Mutter – M.S.] hängte das Tuch an seinen Haken und nahm sich einen
Lakritzbonbon aus dem umgedrehten Deckel […].“ (S. 35)
Das Erzählen verläuft wieder auf der Gegenwartsebene und der Erzähler spricht wieder
in der Ich-Form. Er ist aber eine der Hauptfiguren, denn die Mutter kommt als die
zweite Hauptfigur in dieser Geschichte vor.
Im Roman treten nicht nur einzelne Übergänge zwischen dem extra- und
intradiegetischer und dem homo- und heterodiegetischen Erzähler auf. Es kommt auch
zu mehreren Wandlungen zwischen den Erzähltypen innerhalb einer Textpassage,
wobei auch auf metadiegetischer bzw. hypodiegetischer Ebene erzählt wird. Folgendes
Beispiel macht solche Situation anschaulich. Es wird von der Kindheit von Freia und
Paul gesprochen, als sie den Großvater zum Sprechen über den Krieg beinahe
gezwungen haben. „[…] ich [hatte – M.S.] auf meine Weise nachgebohrt. Ich nahm
Großvaters große schwere Hand in meine und rief: »Gefangen! Die laß ich erst wieder
frei, wenn du uns erzählst, wo dein Bein ist!«“ (S. 86). Mäxchen hat die Geschichte, in
der er als Soldat im Krieg diente, fragmentarisch und nicht zusammenhängend erzählt,
was die Worte „Stockend suchte er nach einleitenden Worten, seine Erzählung war
nicht zusammenhängend, er unterbrach sich selbst mit seinem Husten.“ (S. 86)
beweisen. Die Erinnerungen des Großvaters werden aus seinem individuellen bzw.
kommunikativen Gedächtnis hervorgehoben, denn erstens, betreffen sie seine eigenen
Erlebnisse und zweitens, werden sie bruchstückhaft erzählt, was die individuellen
Erinnerungen charakterisiert. Bis an dieser Stelle spricht der intradiegetischhomodiegetische Erzähler. Ab dem nächsten Satz: „Er was Soldat, erfuhren wir, »für
Hitler« zog er in den Krieg, nach Rußland, am Anfang.“ (S. 87f) kommt es zu ständigen
73
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
Wechseln der Vergangenheitsebenen und somit zu Übergängen zwischen den
Erzähltypen innerhalb einzelner Sätze. Die Satzglieder „Er war Soldat“, „»für Hitler«
zog er in den Krieg, nach Rußland“ werden von dem metadiegetisch-heterodiegetischen
Erzähler vermittelt. Bei Worten „erfuhren wir“, „»lief alles wie am Schnürchen«,
murmelte er“ kommt wieder Freia als intradiegetisch-homodiegetischer Erzähler vor.
Solche Mischung beobachtet man auch im weiteren Teil des Erzählens vom
Kriegsgeschehen.
Nächste Textzeilen beinhalten einen deutlichen Übergang vom intradiegetischhomodiegetischen auf den metadiegetisch-heterodiegetischen Erzähler. Nach dem
Gespräch, in dem der Angehörige der Großelterngeneration der Enkelgeneration über
den Krieg erzählte, gingen Freia und Paul als Hauptfiguren in ihr Kinderzimmer und auf
dem Bett liegend sprachen sie miteinander darüber, was sie vom Mäxchen erfahren
haben.
„Paul und ich schlichen uns ins Kinderzimmer. Wir legten uns
zusammen auf die obere Etage unseres Stapelbetts […].
Wir sprachen leise miteinander. Man hatte auf Großvater geschossen.
Armes Mäxchen. Er ging mutig nach »Rußland«, blieb sogar einen
ganzen Winter, anstatt zu Hause Weihnachten zu feiern, er harrte aus,
damit alles wieder »wie am Schnürchen« lief, und als Dank dafür schoß
man auf ihn. Der Russe mußte ein besonders fieses Monster sein. Die
Welt jenseits des Bleichen Sees schien voller Ungerechtigkeiten.“ (S. 87)
Der Erzähler erzählt, was in den Gedächtnissen von Freia und Paul von der Geschichte
geblieben ist. Er kommt auf die von Mäxchen dargestellten Ereignisse zurück, an denen
der Erzähler selbst unbeteiligt bleibt. Das ist Beweis dafür, dass es um den
metadiegetisch-heterodiegetischen Erzähler geht. Bemerkenswert ist die Tatsache, wie
die Kinder Großvaters Erzählung wahrgenommen und nacherzählt haben, also wie die
Geschichte im Generationen- bzw. Familiengedächtnis behalten wurde. Es tauchen
nämlich einige Merkmale auf, die für diesen Gedächtnistyp, der sich im memory talk
entfaltet, charakteristisch sind. Erstens wird das Sprechen über die Vergangenheit von
der Enkelgeneration verlangt. Zweitens kommt der Großvater in den Gedächtnissen der
Zwillinge als „Armes Mäxchen“ vor, der für seine guten Taten unter Beschuss
genommen wurde. Dabei erscheint der Russe, der geschossen hat, für die Kinder, die
keine Ahnung vom Krieg hatten, als „fieses Monster“ also etwas Negatives. Es wird
also das Bild vom „guten Großvater“ und „bösen Russen“ in die Gedächtnisse der Enkel
und somit ins Familiengedächtnis eingeprägt.
74
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
Wie es an angegebenen Beispielen gezeigt wurde, verlaufen die in „Himmelskörper“
dargestellten Geschichten auf extra-, intra- und meta- bzw. hypodiegetischer Ebene und
werden sowohl vom hetero- als auch vom homodiegetischen Erzähler vermittelt. Es
kommt zu Mischungen innerhalb einzelner Sätze und zu deutlichen Übergängen
zwischen den Erzähltypen.
4.2.5 Zur Figurenanalyse
Bei der Frage nach der Inszenierung der Erinnerung im Roman „Himmelskörper“
erscheint die Analyse der handelnden Figuren wichtig zu sein. Je nachdem, wie die
Konzeption und Charakteristik einzelner Figuren ist, werden von ihnen die vergangenen
Ereignisse verschieden erinnert.
Edward Morgan Forster unterschied zwischen zwei Figurenkonzeptionen: flachen und
runden Figuren. Die flachen Figuren verändern sich im Verlauf der Erzählung nicht. Da
ihre Konzeption auf einer einzigen Eigenschaft oder Idee basiert, überraschen sie mit
ihrer Handlung den Leser nicht. Die runden Figuren verändern sich hingegen im
Verlauf der Geschichte. Sie überraschen oft den Leser, weil sie aufgrund mehrerer Ideen
oder Eigenschaften konzipiert sind.192
Die im Forsters Modell dargestellten Vorstellungen von flachen und runden Figuren
wurden von Manfred Pfister übernommen und detaillierter systematisiert193. Pfister hat
ein Modell von einer Figurenkonzeption und –charakteristik vorgestellt, das sich
folgendermaßen beschreiben lässt.
1. Die Figuren können statisch, wenn sie innerhalb des Textes gleich bleiben, oder
dynamisch sein, wenn sie sich im Verlauf der Erzählung entwickeln, wobei die
Entwicklung kontinuierlich oder diskontinuierlich sein kann.194
2. Die Figuren können als eindimensional, wenn sie durch wenige Merkmale
gekennzeichnet werden, oder mehrdimensional bezeichnet werden, wenn sie „durch
eine Reihe von Merkmalen gekennzeichnet [sind – M.S.], wobei es um Herkunft,
Vgl. Bachorz, Stephanie: Zur Analyse der Figuren. – In: Wenzel, Peter (Hg.): Einführung in die
Erzählanalyse. Kategorien, Modelle, Probleme. Trier: WVT 2004, S. 51-67, hier S. 57f.
192
193
Vgl. Ludwig, Hans-Werner: Figur und Handlung. In: Ludwig, Hans-Werner (Hrsg.): Arbeitsbuch
Romananalyse. Tübingen: Narr 1998, S. 106 – 144, hier S. 142.
194
Vgl. ebd., S. 143; Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur. Ein Praxisbuch für den
Unterricht. Berlin: Cornelsen 1999, S. 38.
75
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
Werdegang, psychologische Dispositionen, weltanschauliche Positionen gehen
kann. Im Fortlauf der Handlung werden immer neue Seiten der Figur offenbar.“195
3. Die Figuren sind geschlossen, falls sie für den Leser vollständig definiert
erscheinen, oder offen, wenn sie für den Rezipienten rätselhaft bleiben.196
4. Die Figuren können als Personifikation, Typ oder Individuum bezeichnet werden.
Werden sie durch eine extrem geringe Anzahl an Informationen charakterisiert und
verkörpern somit eine Eigenschaft oder einen abstrakten Begriff, so stehen sie für
eine Personifikation. Sind sie dagegen durch eine Menge von soziologischen
und/oder psychologischen Eigenschaften gekennzeichnet, wobei eine Reduktion auf
typische Merkmale erfolgt (z.B. ein autoritärer Vater), so werden diese Figuren als
Figurentyp bezeichnet. Beim Individuum handelt es sich hingegen um „das
Einmalige
und
Unwiederholbare
einer
Figur.
Damit
muss
die
Figur
mehrdimensional angelegt sein und durch eine Vielzahl von Details gekennzeichnet
werden: Sprache, Herkunft, Aussehen, Charakter.“197
5. Die Figuren sind psychologisch, wenn sie psychologisch in einem plausiblen
Rahmen der subjektiven Figurenperspektive verbleiben, oder transpsychologisch,
wenn die diese Rahmen überschreiten.198
Die Figuren unterscheiden sich nicht nur durch innere und äußere Merkmale, sondern
auch durch ihre Gefühle und Gedanken sowie ihre Beziehungen zu anderen Figuren.199
Ihre Charakteristik kann auf zwei verschiedene Weisen erfolgen: figural oder auktorial.
Bei einer figuralen Charakteristik wird die Figur aus einer Figurenperspektive, also von
einer anderen Figur beschrieben. Bei einer auktorialen Charakteristik wird der Figur aus
der Erzählerperspektive, d.h. über den Erzähler bestimmt.200
Im Roman „Himmelskörper“ ist der Erzähler durch eine der handelnden Figuren
verkörpert.
Von
daher
werden
alle
Figuren
figural
charakterisiert.
Die
Figurenkonzeption ist von Figur zu Figur unterschiedlich und hängt im großen Maße
195
Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur, 1999, S. 38.
196
Vgl. Ludwig, Hans-Werner: Figur und Handlung, 1998, S. 143.
197
Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur, 1999, S. 38.
198
Vgl. Ludwig, Hans-Werner: Figur und Handlung, 1998, S. 143.
199
Vgl. Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur, 1999, S. 37.
200
Vgl. ebd., S. 39.
76
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
von den Erlebnissen und von der Art und Weise ab, auf der sich die Figuren an das
Vergangene erinnern. Dies wird im folgenden Teil der vorliegenden Arbeit genauer
untersucht und dargestellt.
4.2.5.1 Zu Figuren der Großelterngeneration
Im Roman „Himmelskörper“ gehören zur Großelterngeneration Johanna und
Maximilian Bonitzky, die Jo und Mäxchen genannt werden. Die Großmutter ist die
Person in der Familie, die die Vormacht über allen Familienmitgliedern, auch über Peter
hat. (S. 53, 215) Sie stammt aus Königsberg, was sie in familiären Gesprächen betont:
„Denn wie ihr wißt […] eigentlich komme ich aus Königsberg.“ (S. 99) Die
Heimatstadt von Mäxchen bleibt unbekannt. Die Beiden erscheinen als Angehörige der
Erlebnisgeneration, indem sie an dem Krieg aktiv Teilgenommen haben. Wie Jo selbst
sagt, sie seien in der Partei gewesen. (S. 219) Mäxchen kämpfte dazu an der Ostfront
und, als er achtundzwanzig Jahre alt war, verlor er im Krieg ein Bein. (S. 97) Die
Mitgliedschaft bestätigt nicht nur der Inhalt der nach Jos Tod bei der
Wohnungsauflösung gefundenen Kisten aber auch die Tatsache, dass die Großeltern zu
Hause Strichlisten über die Nachbarn hatten und sogar ihre Tochter zur Bespitzelung
der Spielkameraden angehalten haben. (S. 251) Dazu kommt auch die Feststellung vom
Erzähler, der sagt: „Bevor die Pfadfinder 1933 verboten wurden, war er [der Großvater
– M.S.] ein begeistertes Mitglied gewesen.“ (S. 97) Selbst Renate sagt im Gespräch mit
Freia, dass die Großeltern „als Nazis der ersten Stunde seit langem sehr privilegiert
waren“ (S. 300) Jo und Mäxchen waren also „gar keine unpolitischen Mitläufer des
NS-Regimes, sondern 200%ige Nazis, die auch entsprechende Privilegien genossen und
zudem die Nachbarn bespitzelten.“201 Wegen seiner NSDAP-Mitgliedschaft und seiner
Tätigkeiten gehören sie den Tätern an, die sich zugleich als Besiegte erwiesen, weil sie
als Deutsche den Krieg verloren haben. Von daher zeigen Jos und Mäxchens
Erinnerungen die für die Täter- und Besiegtengedächtnis charakteristischen Merkmale
auf und ihre Art und Weise, auf die die Großeltern über die Vergangenen Ereignisse
erzählen, sind sie von Abwehrmechanismen gekennzeichnet.
201
Emmerich, Wolfgang: Dürfen die Deutschen ihre eigenen Opfer beklagen? Schiffsuntergänge 1945 bei
Uwe Johnson, Walter Kempowski, Günter Grass, Tanja Dückers und Stefan Chwin. – In: Böning, Holger/
Jäger, Hans Wolf/ Kątny, Andrzej/ Szczodrowski, Marian: Danzig und der Ostseeraum. Sprache,
Literatur, Publizistik. Bremen: edition lumière 2005, S. 293-323, hier S. 311.
77
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
Die Großeltern unterscheiden sich in ihrer Erzählweise. Wie Mäxchen über den Krieg
erzählt, wird von Freia folgendermaßen dargestellt:
„Aber mein Großvater sprach nicht oft vom Krieg. Noch als wir älter
geworden waren, bedrängten wir ihn geradezu mit Fragen, doch
meistens berichtete er nur von diesem und jenem U-Boot, dieser und
jener Flakabwehr, vertiefte sich in technische Details. Wenn er plötzlich
über seine eigenen Erlebnisse sprach. dann nur äußerst gefühlsbetont. Er
fluchte und schimpfte, er schüttelte den Kopf, bohrte seinen Zeigefinger
in die Luft, entwarf wirre Topographien im Wohnzimmer, trommelte auf
die Tischplatte. Manchmal standen ihm auch die Tränen in den Augen.
Und manchmal strich er über seine Prothese und sah Paul und mich,
stellvertretend für diejenigen, die ihn in den Krieg geschickt hatten,
vorwurfsvoll und unendlich traurig an.“ (S. 97)
Freias Großvater spricht selten vom Krieg. Bei familiären Gesprächen erzählt er aber
ohne dazu gezwungen zu sein, wobei er sich auf die militärischen Details konzentriert,
was er für sein Revier hält (S. 130), und immer an gleichen Stellen redet. Seine
Äußerungen, die von eigenen Erlebnissen handeln und somit seine individuellen
Erinnerungen betreffen, sind gefühlsbetont. Die Erzählweise seiner Ehefrau ist hingegen
ganz anders. Als Freia und Paul noch Kinder waren, wollte Jo sie vor den
Kriegserzählungen schützen, u.a. deswegen, weil sie meinte, die Enkel wären zu jung
und würden nichts davon verstehen. (S. 85, 98) Wurden die Zwillinge älter, so begann
die Großmutter vom Krieg „bei jeder sich bietenden Gelegenheit“ zu erzählen. (S. 98)
Dabei unterscheiden sich ihre Erzählungen von den der Großmutter dadurch, dass sie
oft keine Gefühle dabei zeigt:
„Die Stimme meiner Großmutter zitterte nicht oder nicht mehr bei diesen
Erzählungen; zu oft hatte sie diese zurechtgelegten Sätze wiederholt. Wie
eine Lehrerin klang sie, wenn sie so sprach, oder eine Reiseführerin,
nicht wie meine Großmutter.“ (S. 100)
Zwar vermitteln die Großeltern ihre individuellen Erinnerungen auf andere Art und
Weise, in ihren Erzählungen versuchen die Beiden jedoch, sich eine ungebrochene
Selbstdarstellung zu erschaffen. Dabei bedienen sie sich einiger Abwehrmechanismen,
was besonders in Jos Äußerungen deutlich zu sehen ist.
Obwohl die Großeltern NS-Verbrecher waren, versuchen sie sich zu Opfer des NaziRegimes zu stilisieren. Selbst die Tatsache, dass Mäxchen sein Bein im Krieg verloren
hat, macht ihn zum Kriegsopfer, was er auch in seinen Erzählungen Ausdruck gefunden
hat. Er wurde nämlich von den kleinen Enkelkindern als „armes Mäxchen“ bezeichnet,
78
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
auf den die „bösen Russen“ für seine guten Taten geschossen haben. (S. 87) Er selbst
wurde von Johanna wie ein Kind (S. 123), sogar als ein Wackelkind behandelt:
„Jo rieb Mäxchen täglich morgens und abends die vernarbte Haut mit
Ringelblütencreme ein. Großvater lag dann mit gespreizten, sehr dünnen
weißen Beinen auf dem Rücken im Bett – ein bißchen wie ein Baby, das
gewickelt wird.“ (S. 77)
Auch Renate macht ihn einigermaßen zum Opfer, indem sie feststellt: „Er hat genug
gelitten.“ (S. 188). Nicht nur Mäxchen wird als Kriegsopfer dargestellt. Die Großmutter
machte sich auch zur leidenden Person, da sie ihre Lieblingsstadt Königsberg verlassen
musste, was für sie „besonders furchtbar“ und „das Schlimmste“ in ihrem ganzen
Leben war. (S. 245f) Dann musste sie mit ihrer Schwester Lena und Tochter aus
damaligem Gotenhafen auf dem „Theodor“ fliehen, wobei sie bei minus 20 Grad am
Pier stehen mussten. Die Geschichten von Mäxchen als Opfer des Krieges und von Jo,
Lena und Renate als Flüchtlinge hatten als Ziel, bei den Enkeln Mitleid und Empathie
hervorzurufen. Und dies ist für die Angehörigen der Großelterngeneration typisch, die
Tätergesellschaft angehört haben.
Die Erzählungen von Großeltern sind oft mit der Distanzierung gekennzeichnet, was
Freia selbst betont: „Ich dachte an all die distanzierten und ironischen Bemerkungen
meiner Großeltern in den vergangenen Jahrzehnten über die Nazi-Zeit und über Hitler
selber.“ (S. 262) Beispielsweise sagt die Großmutter, dass die Nazis von ihr „endgültig
diskreditiert“ worden sind, weil sie Juden–Kinder, die ihr „egal“ waren, umgebracht
haben. (S. 104) Sie gibt sich und Mäxchen auch für keine ‚Nazis‘ aus, nachdem sie von
Freia nach Bedeutung der „guten Verbindungen zur Partei“ gefragt wird:
„Freia wir waren keine Nazis. Jede gewalttätige Ausschreitung haben
wir abgelehnt. Grob, furchtbar fanden wir das. Vulgär. Diese Horden,
die da herumzogen. Widerlich. Dieser Krach. Unser Umfeld war
treudeutsch, aber nicht nazideutsch. Das war ein großer
Unterschied[…].“ (S. 126)
Die Feststellung, dass die Großeltern keine Nationalsozialisten waren, ist für die
Erlebnisgeneration charakteristisch und wird in mehreren familiären Gesprächen
betont. Dazu werden auch einige Geschichten mehrmals erzählt, die sogar ihren eigenen
Namen haben und in denen die Großeltern als „gute Deutsche“ vorkommen, die einen
kleinen Widerstand zu leisten versuchten. Als Beispiel gilt die Darstellung einer
Geschichte, die von Paul „Die berühmte Bananengeschichte“ genannt wird.
79
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
„»Die berühmte Bananengeschichte« lässt sich in wenigen Zeilen
zusammenfassen:
Jo war Ende der dreißiger Jahre in einem Lebensmittelladen gewesen,
als sie bemerkte, daß neben ihr ein kleiner Junge mit Judenstern stand.
Er war schlecht gekleidet und sah kränklich aus. Jo hatte Mitleid mit
dem Jungen und überlegte nun, ob sie es wagen könnte, dem Juden eine
Banane zu schenken, aber dann hatte sie zu große Angst, dabei vom
Verkäufer beobachtet zu werden, und daher tat sie es nicht.“ (S. 104)
Wie Jo die Geschichte dargestellte, wird von Freia folgendermaßen beschrieben:
„Das Absurde an der Bananengeschichte war, daß Jo ihr Abwägen,
ihren Wunsch zu helfen, ihre Unsicherheit und Angst jedesmal derart
dramatisch schilderte, daß man am Ende fast den Eindruck bekommen
konnte, Jo hätte ein KZ befreit. Irgendwie gelang es ihr, das Unterlassen
einer Handlung zur Heldentat zu stilisieren.“ (S. 104)
Das die Großmutter diesen kleinen Taten nach einer Heldentat gestaltet und sich fast zur
Heldin stilisiert hat, ist für die Großelterngeneration charakteristisch. In Erzählungen
dieser Generation kommen auch oft zur Darstellung von ‚bösen Russen‘, was auch in
diesem Fall stattfindet, was folgendes Beispiel aus dem Roman „Himmelskörper“
veranschaulicht:
„»[…] Weiß du, wie der Russe in Ostpreußen gewütet hat? Leute in
Kirchen gedrängt und erschossen, Frauen vergewaltigt, Kinder, das
waren doch alles Unschuldige! Also der Russe hat heimtückisch
Ostpreußen abgeriegelt … «
»Um die 4. Armee und die 3. Panzerarmee einzuschließen!« wart
Mäxchen erregt ein.
»… und Millionen von Zivilisten gezwungen, die Flucht übers Meer
anzutreten. So war das.«“ (S. 128)
Zu solchen Vorstellungen, die die russischen Soldaten im schlechten Licht darstellten,
kam es oft in den Gesprächen zwischen Generationen in Freias Familie.
Die Angehörigen der Großelterngeneration, die zugleich Täter waren, wollen nicht als
solche erscheinen, sondern im Familiengedächtnis eine Vorstellung von guten
Großeltern entwickeln. Im Falle der Figuren in „Himmelskörper“ ist es Jo und Mäxchen
gelungen, ein Vorstellungsbild von ‚guten Großeltern‘ und ‚bösen Russen‘ in Freias und
Pauls Gedächtnissen zu entwerfen und, sogar wenn die Zwillinge die Wahrheit über die
Vergangenheit entdecken, zu erhalten.
80
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
Wie sich in der Fortsetzung der Geschichte erweist, bleiben Jo und Mäxchen ihren
politischen
Idealen
treu.202
Mäxchen
gibt
Faszination
an
der
Zeit
der
Nationalsozialismus aus, indem er kurz vor seinem Tod die Bienen den Menschen als
Vorbild stellt und die Errungenschaften der Deutschen in der NS-Zeit angibt:
„Das Volk braucht einen Führer. Aber nur einen.[…]
»Der Mensch!«, fuhr er leise weiter fort, »sollte sich ein Vorbild an den
Bienen nehmen. Damals waren wir fast soweit. Wir waren, kann man
ohne Übertreibung sagen, die fortschrittlichste Gesellschaft der Welt.
Nobelpreisträger.
[…]
fünfmal
Chemie
von
1931
bis
1944.[…]«“ (S. 183f)
Der
Großvater
erscheint
auch
judenfeindlich,
indem
er
die
sogenannten
Kuckucksbienen mit dem Judenvolk vergleicht:
„»Das ist eine Kuckucksbiene. Es sind Schmarotzerarten. Leben solitär,
bauen keine Stöcke, sammeln keine Nahrungsvorräte, und Brutpflege
betreiben sie auch nicht. «
Der Tonfall meines Großvaters klang vorwurfsvoll. Er sah der einzelnen
Biene mit gerunzelter Stirn nach. […]
»[…] Für mich sind die Kuckucksbienen die Juden im Bienenvolk. Sie
bereichern sich an den Grundlasen, die andere Völker für sie geschaffen
haben. Nutznießerisch. Berechnend.[…]«“ (S. 187)
Mäxchen hat seine politische Überzeugung nach dem Krieg nicht verändert. Er glaubt
immer noch, dass ein Volk nur einen Führer braucht, womit eine Anspielung an Hitlers
Person zu sehen ist, und bleibt ein Judenfeind. Auch Jo verändert ihre Weltanschauung
nicht. Sie „spricht von ‚wertvollen Familien‘ und gebraucht ausschließlich die
Bezeichnung ‚Gotenhafen‘, als hätte das Großdeutsche Reich weiterhin bestanden, als
wäre Gotenhafen heutzutage ein Stützpunkt der Kriegsmarine gewesen.“203 Freias
Großeltern bleiben innerlich die ganze Zeit Nationalsozialisten, was davon zeugt, dass
sie die statischen Figuren im Roman „Himmelskörper“ verkörpern. Da sie aber von
einer Menge der Merkmale gekennzeichnet sind und ihre neue Seiten im Laufe der
Geschichte offenbar werden, wobei sie für den Leser nicht rätselhaft bleiben, werden sie
als mehrdimensional und offen bezeichnet. Sie versuchen sich in memory talk zu
Vgl. Jaroszewski, Marek: Das leuchtende Schiff. Der Untergang der „Wilhelm Gustloff“ bei Günter
Grass und Tanja Dückers. – In: Böning, Holger/ Jäger, Hans Wolf/ Kątny, Andrzej/ Szczodrowski,
Marian: Danzig und der Ostseeraum. Sprache, Literatur, Publizistik. Bremen: edition lumière 2005, S.
277-291, hier S. 282.
202
203
Ebd.
81
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
Kriegsopfern und leidenden Personen zu stilisieren und somit im kollektiven, also
Familien- bzw. Generationengedächtnis eine Vorstellung von „guten Großeltern“ zu
entwickeln und zu bewahren. Sie unterscheiden sich in Charakter und Verhaltensweise
und referieren dabei viele für die Erlebnisgeneration, für Täter und Besiegte
charakteristische Eigenschaften und Ideen. Von daher kann man sie als Individuen
bezeichnen.
Die Großeltern sind die Figuren im Roman „Himmelskörper“, deren fragmentarische
und – solange Jo ihre Selbstkontrolle nicht verliert - bewusst selektierte Erinnerungen
durch Kommunikation an die weiteren Generationen weitergegeben und somit sie Teile
des Familien- bzw. Generationen-Gedächtnisses werden. Die Darstellung ihrer eigenen
Erlebnisse zeigt auf die Dominanz des monumentalen Modus, wobei im Bezug auf
Renates Erinnerungen kommt auch der antagonistische Modus zum Vorschein.204 Die
Art und Weise, auf die Jo und Mäxchen die Vergangenheit darstellen, weist viele
Merkmale auf, die für ein Täter- und zugleich Besiegtengedächtnis charakteristisch
sind.
4.2.5.2 Zu Figuren der Elterngeneration
Zur Elterngeneration gehören Freias Vater Peter und ihre Mutter Renate Sandmann.
Die Beiden sind durch verschiedene Verhaltensweisen, Erfahrungen und Erlebnisse
gekennzeichnet, was mit ihrer Herkunft und ihren Verhältnissen zum Krieg verbunden
ist.
Peter, der Orthopäde vom Beruf ist, ist eine Person, die im Zentrum der Familie steht,
was von seiner Tochter folgendermaßen betont wird:
„Weder Paul, der aus dem Stegreif Geschichten erfinden konnte, noch
ich, das Mathe-As und Knobeltalent, und schon gar nicht meine Mutter,
von der jeder glaubte, sie und ihre Frauenzeitschriften, ihren
Kräutergarten und ihre Königsberger Klopse in- und auswendig zu
kennen, standen im Mittelpunkt unserer Familie. Nein, es war immer
Peter.“ (S. 10)
Der Vater war ein energischer Mensch, der jede vom Leben gebotene Herausforderung
nahm. Er war für Freia und Paul, als sie Kinder waren, ein Vorbild. (S. 70) Er erzählt
seinen Kindern von nächtlichen Begegnungen „Waldgeistern“ bzw. Elfen, in
204
Siehe dazu das Kapitel „Zu Figuren der Elterngeneration“.
82
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
Wirklichkeit trifft er sich jedoch mit seinem Geliebten und fühlt dabei keine
Schuldgefühle Renate gegenüber. Dabei interessiert er sich wenig für die Probleme
seiner Kinder. Sinken die Schul- bzw. Studienleistungen, so fragt Peter nach den
Gründen nicht, sondern erhöht sofort das Taschengeld von Freia (S. 232) und
Paul (S. 242).
Peter erscheint im Roman „Himmelskörper“ als die einzige Figur, die über den Krieg
nicht spricht bzw. nicht sprechen darf und die vom Krieg nichts hören will. Den Grund
dafür gibt Freia an, indem sie sagt:
„Mein Vater schnitt das Thema »Nazi-Zeit« und »Zweiter Weltkrieg« nie
an. Nicht weil er traumatische Erfahrungen gemacht hätte, über die er
nicht sprechen wollte oder konnte, sondern, im Gegenteil, weil er keine
traumatische Erlebnisse aufzuweisen hatte. Alles in allem war er
unbeschadet durch den Krieg gekommen.“ (S. 96)
Wie der Erzähler betont, musste kein Mitglied der Familien von Peter in den Krieg. Von
daher wurde ihm Redeverbot zum Kriegsthema erteilt. (S. 96f)
Die Figur Peters ist statisch und geschlossen, denn er verändert sich im Verlauf der
Erzählung nicht und erscheint für den Leser vollständig definiert. Er ist durch wenige
soziologische als auch psychische Merkmale gekennzeichnet, was davon zeugt, dass
seine Figur eindimensional ist und als Typ gelten kann.
Im Gegenteil zu Peter steht seine Frau Renate, die in der Kindheit „Natilein“ bzw.
„Nati“ (S. 106, 132, 249) und später manchmal „Renätchen“ (S. 105, 250) von ihrer
Mutter genannt wurde. Sie ist – wie der Erzähler betont – keine typische Mutter, die laut
und herrisch sein soll:
„Aber Renate war anders: Leise war sie, oft flüsterte sie ohne Grund. Sie
war sehr schlank und hübsch mit ihrem feingeschnittenen slawischen
Gesicht, den blonden langen Haaren und den blauen Augen, doch sie
schminkte sich nie, zog sich möglichst unauffällig an, um keine
Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. […] Statt uns Kindern im Haushalt
ein paar Pflichten zu übertragen, erledigte sie das meiste
stillschweigend.“ (S. 14)
Nicht nur unauffällige Kleidung, sondern auch ihr „Talent im Nicht-anwesendSein“ (S. 15) führen dazu, dass Freia sie sogar als „Hausgeist“ (S. 283) bezeichnet.
Dazu kommt auch die Tatsache, dass Renate viel zur gleichen Tageszeit macht: „Sie
stand jeden Tag zu einer bestimmten Uhrzeit auf, ging immer nach dem Frühstück zum
Briefkasten, zum Gymnastikkurs, zum Markt.“ (S. 284) Freias Mutter bedient sich, im
83
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
Gegensatz zu ihren Eltern, des Städtenamens „Gdynia“ bzw. „Gdingen“ (S.124). Die
spricht auch immer von „Warszawa“ (S. 302) und hat einwandfrei Polnisch beherrscht.
Renate ist im ersten Kriegsjahr geboren (S. 26), was sie zur Angehörigen der
Elterngeneration und teilweise der Erlebnisgeneration macht. Da sie den Krieg als
Kind erlebt hat, basiert ihr Wissen über diese Zeit weniger auf ihren individuellen
Erinnerungen und im größeren Maße auf eigenen Recherchen, worauf der Erzähler den
Leser aufmerksam macht:
„Meine Mutter hatte versucht, den Makel, ein unmündiges Kind zu
Kriegszeiten gewesen zu sein, später mit viel Lektüre auszugleichen – auf
ihrem Nachttisch türmten sich Erinnerungen von Flüchtlingen und
Sachbücher[…]“ (S. 130)
„Sie [Renate – M.S.] schien […] die einzige zu sein, die sich für
Publikationen über den Krieg interessierte, insbesondere für den
Rußlandfeldzug und für die Flucht aus Ost- und Westpreußen.“ (S. 98)
Von daher werden ihre Äußerungen bezüglich des Krieges mit Fakten, Zahlen und
sogar militärischen Details überfüllt. Freias Mutter spricht von sich über den Krieg
nicht. Falls sie es aber tut, wird ihre Erzählweise von ihren Eltern kritisiert:
„Wenn Renate jedoch in diesen »Erzählt doch mal vom Krieg«Diskussionen das Wort ergriff und zum Beispiel berichtete, wie ein
NSDAP-Kreisleiter einem Mann den Zutritt zu einem Sonderzug
verwehrte, wurde sie meist sofort von Jo oder Mäxchen unterbrochen,
die meinten, dieses oder jenes Detail hätte sie aber nun vollkommen
falsch wiedergeben. Nun manchmal setzte sie sich durch und behielt das
letzte Wort.“ (S. 98)
Renates
Aussagen
über
den
Krieg
wurden
von
den
Angehörigen
der
Großelterngeneration als unzuverlässig dargestellt, indem Jo und Mäxchen betonen,
dass sie alles als Kind erlebt hat. (S. 128) So kommt Freia zum Schluss, dass ihre
Großeltern in Gesprächen über die Vergangenheit „eine gemeinsame Front gegen
Renate“ bilden. (S. 125) Es lässt sich also feststellen, dass es zwischen Renate und
ihren Eltern zu Konkurrenzerinnerungen kommt, was von der Dominanz des
antagonistischen Modus zeugt.
Renates Erlebnisse, die die Kriegszeit betreffen, sind mit der Parteimitgliedschaft und
den Überzeugungen ihrer Eltern verbunden. Renate war nämlich in ihrer Kindheit von
Jo und Mäxchen stark beeinflusst. Sie hatte ihre Spielkameraden bespitzelt und trat „als
84
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
Fünfjährige selbst als Vertreterin der Überzeugung ihrer Eltern auf […]“205, indem sie
die Nachbarn denunzierte, die am Pier auch auf die „Theodor“ wollten. Wie sie das
gemacht hat, wird von Jo folgendermaßen dargestellt:
„»Da rief Natilein plötzlich … vorher war sie den ganzen Tag still vor
Angst gewesen … also plötzlich rief die Kleine richtig laut: ›Die ham gar
nicht mehr den Gruß gemacht. Schon ganz lange nicht mehr.‹ Und Nati
streckte ihren dünnen kleinen Arm sehr gerade nach vorn… das weiß ich
noch… der Schiffsmann […]der winkte mir und Renate dann
zu…«“ (S. 249f)
Durch diese Tat werden Jo, Renate und Lena auf die „Theodor“ genommen und die
denunzierten Nachbarn: die Frau Hunstein mit ihrem Sohn Rudi, der am selben Tag wie
Renate geboren ist, mussten auf die „Wilhelm Gustloff“, auf der sie ihren Tod fanden.
Renate wird in der Familie, sowohl von ihren Eltern als auch von ihrem Onkel und ihrer
Tante als „Lebensretterin“ betrachtet. (S. 250, 300) Sie selbst „wurde sich der Folgen
ihrer Aussage erst später bewusst, als sie sich mit der ‚Gustloff’-Katastrophe zu
beschäftigen begann“206 und aus diesem Grunde fängt an, Schuldgefühle zu empfinden.
Um diese zu mildern, unternimmt sie mehrere Reisen zu ihrem Cousin Kazimierz, mit
dem sie sich innerlich verbunden fühlt und der die einzige Person war, der Renate
vertrauen konnte. (S. 300) Während sie bei ihm zu Besuch war, haben die Beiden vor
allem viel geredet und dabei „viele Wässerchen zusammen getrunken“ (S. 301) Freia
vermutet sogar, dass Renate in den wenigen Nächten, die sie mit Gesprächen mit Kazi –
wie sie ihn nannte – verbrachte, mehr sprach als zu Hause in Monaten. (S. 156) Außer
den Reisen zum Cousin schreibt Freias Mutter auch Briefe an ihn. Alles findet statt,
solange er lebt. Als er sich das Leben nimmt, stellt sich Renate Fragen nach ihrer
Berechtigung zum Leben. (S. 303) Kazimierz war nämlich nur ein Opfer des Krieges,
indem er im zerbombten Warschau ohne Eltern aufgewachsen ist. Renate fühlt sich
hingegen allen Taten, die sie als Kind begangen hat, vor allem des Todes von Frau
Hunstein und Rudi schuldig. „Der Untergang der ‚Gustloff‘ hat sie [Renate – M.S.] ihr
Leben lang nicht losgelassen. Sie kann ihren Schuldkomplex nicht überwinden, die
Scham dafür, dass ihre Eltern ihre Verbindung mit den Tätern nicht wahrhaben wollen,
Giesler, Birte: Krieg und Nationalsozialismus als Familientabu in Tanja Dückers’ Generationenroman
Himmelskörper. – In: Vogel, Marianne/ Koch, Lars (Hrsg.): Imaginäre Welten im Widerstreit. Krieg und
Geschichte in der deutschsprachigen Literatur seit 1900. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007, S.
286-303, hier S. 290.
205
206
Jaroszewski, Marek: Das leuchtende Schiff, 2005, S. 279.
85
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
das Bewusstsein, dass sie selbst unberechtigterweise dem Tod entkommen konnte,
während andere nicht leben durften, die schuldlos waren.“207 Freias Mutter kann ihre
Schuldgefühle nicht bezwingen. Schließlich nimmt sie sich das Leben.
Renate bleibt im Verlauf der Handlung dieselbe. Als Vertreterin der Elterngeneration
ist sie stets mit Schuldgefühlen belastet und kann sie nicht überwinden. Von daher ist
sie eine statische Figur. Da sie still aber auch „unberechenbar“(S. 284) ist, was der
Erzähler betont, wird sie als mehrdimensional bezeichnet. Sie bleibt dem Leser nicht
rätselhaft, denn er weiß wie sie ist, und erfährt, dass ihre Verhaltensweisen aus den
Kindheitserlebbnissen resultieren. Von daher ist sie eine geschlossene Figur. Sie ist als
eine meist stille Person dargestellt, die eine „perfekte Doppelgängerin“(S. 18) ist und
alles
sammelt,
was
ihre
individuellen
Erinnerungen
hervorrufen
können.
(S. 73ff, 273, 284) Dies sind die Merkmale, die darauf hinweisen, dass sie ein
Individuum ist. Die Inhalte ihrer Aussagen über die Vergangenheit basieren teils auf
ihren individuellen Erinnerungen, teils auf dem Wissen, das sie durch Recherche
erworben hat. Die weisen also nicht auf den erfahrungshaftigen, sondern auf den
monumentalen Modus hin. Dabei stehen sie den Erinnerungen der Großeltern gegenüber
und werden stets von Jo und Mäxchen kritisiert, deswegen kann man von der Dominanz
des antagonistischen Modus sprechen.
4.2.5.3 Freia als Vertreterin der Enkelgeneration
Im Roman „Himmelskörper“ werden Freia und ihr Zwillingsbruder Paul als Vertreter
der Enkelgeneration dargestellt. Sie erscheinen im Text als Kinder, später als etwa 20jährige und als Freia ihr Kind bekommt – als 30-jährige.208 Da Freia, eigentlich Eva
Maria Sandmann, die Hauptfigur des Romans und zugleich die Ich-Erzählerin ist, wird
sich die Analyse der Angehörigen der Enkelgeneration auf ihre Figur konzentrieren.
In der Kindheit verwiesen Freia und Paul viele Ähnlichkeiten und ergänzten sich
einander:
Stüben, Jens: Erfragte Erinnerung – entsorgte Familiengeschichte. Tanja Dückers’ „WilhelmGustloff“-Roman „Himmelskörper“. – In: Beßlich, Barbara/ Grätz, Katharina/ Hildebrand, Olaf (Hg.):
Wende des Erinnerns? Geschichtskonstruktionen in der deutschen Literatur nach 1989. Berlin: Erich
Schmidt 2006, S. 169–189, hier S. 185.
207
208
Vgl. Partouche, Rebecca: Der nüchterne Blick der Enkel. Wie begegnen junge Autoren der
Kriegsgeneration? Ein Gespräch mit Tanja Dückers. – In: Die Zeit, Nr. 19, 30. April 2003, S. 42.
86
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
„Ein Junge und ein Mädchen, die, gleich groß, im Kapuzenanorak nicht
voneinander zu unterscheiden waren […]. Der eine konnte schon gut
schreiben, die andere war gut im Kopfrechnen, der eine konnte sich
Geschichten ausdenken. die andere die Namen der Sternbilder aufsagen,
der eine […] aß gerne die obere Hälfte vom Brötchen und unreife
Bananen, die andere die untere Hälfte und halb matschige
Bananen[…].“ (S. 68)
Freia erinnert sich in ihrer Erzählung daran, dass sie und ihr Bruder, als sie Kinder
waren, nicht begreifen konnten, welche Unterschiede zwischen ihnen, also zwischen
einem Mädchen und einem Jungen, bestehen. Sie konnten auch nicht verstehen, wie die
Leute sie unterschieden haben:
„Daß wir ein Junge und ein Mädchen waren und dies ein »großer
Unterschied« wäre, kam Paul und mir damals nicht in den Sinn.“ (S. 69)
„Wir sahen einander so ähnlich und waren doch ein Junge und ein
Mädchen – was auch immer das genau bedeutete. Es gab den
Unterschied, daß Paul weiter pinkeln konnte als ich, aber wieso
behaupteten die Erwachsenen, schon beim Anblick unserer Gesichter zu
wissen, wer das Mädchen und wer der Junge sei? Was machte den
Unterschied aus?“ (S. 80)
Freia nimmt sich als ein Mädchen nicht wahr. Sie machte mit Paul alles zusammen und
will auch so wie er aussehen. Z.B. schneidet sie aus diesem Grunde ihre Zöpfe, als Peter
Pauls Haare geschoren hat. Selbst, als sie „Blutflecken in [ihrer – M.S.] Unterhosen“
fand (S. 71) und von Renate Kochen lernen soll, fühlt sie sich keine Frau zu sein. Sie ist
aber deprimiert und findet das ungerecht, weil sie sich „mit dieser blutigen,
schmerzhaften Angelegenheit jeden Monat herumplagen sollte, Paul aber an diesen
Tagen wie immer zum Fußballspielen gehen konnte.“ (S. 71) Die Verhältnisse zwischen
den Beiden verändern sich diametral durch ihre Beziehungen mit Wieland. Als Freia
mit dem Jungen eine Beziehung eingeht, verlieren ihre Kontakte mit dem Bruder an
Bedeutung, da Wieland ihr die wichtigste Person auf der Welt zu sein scheint:
„Paul gegenüber hatte ich jedoch ein sehr schlechtes Gewissen. Plötzlich
gab es jemanden, der mir wichtiger schien als jeder andere Mensch. Je
mehr ich von Wieland erzählte, desto neugieriger wurde Paul auf ihn,
aber ich genoß es schon bald zu sehr, einen Bestandteil meines Lebens
nicht mit meiner Familie teilen zu müssen – selbst nicht mit meinem
allgegenwärtigen Zwillingsbruder.“ (S. 116)
Als Wieland Pauls Geliebte geworden ist, bricht Freia Beziehungen zu ihrem Bruder
ab (S. 224), der auf einmal versucht, ganz anders als Freia auszusehen. (S. 226f) Nach
einiger Zeit beginnen jedoch die Zwillinge miteinander zu reden. Die Unterschiede
87
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
zwischen ihnen werden aber immer größer, besonders wenn es um die Sexualität der
Beiden geht. Durch die Beziehung mit Wieland erfolgt nämlich die endgültige
Bestätigung der Heterosexualität der Zwillingsschwester und der Homosexualität des
Zwillingsbruders.209
Freia interessiert sich schon seit der Kindheit für die Familiengeschichte, jedoch die
Motive ihres Interesses an die Vergangenheit verändern sich mit ihrem Leben. Als Kind
ist sie, so wie ihr Bruder, neugierig, warum ihr Großvater statt eines Beins eine Prothese
hat. Die Zwillinge stellen also Fragen, auf die sie keine eindeutigen Antworten
bekamen. Freia erinnert sich daran folgendermaßen:
„Auf unsere neugierigen Fragen, warum Großvater denn so ein
Schrumpelbein habe, bekamen wir immer die gleiche Antwort, nämlich
daß Großvater »im Krieg« gewesen sei. Was das bedeuten sollte, wurde
uns nicht klar. »Krieg« schien jedenfalls ein schrecklicher Ort zu sein,
eine Gefahrenzone, in die aus irgendeinem Grund nur Männer kamen. Es
hieß noch, daß »Großvater hart gekämpft und Großmutter lange auf ihn
gewartet« habe.“ (S. 78)
Das ständig erwähnte Wort „Krieg“ war für Freia und Paul unverständlich und die
Beiden waren „nicht ganz sicher, ob »Krieg« eher ein Ort oder ein Ereignis
bezeichnete“ (S. 79). In dieser Zeit ihres Lebens versuchten sie also von den Großeltern
zu erfahren, was ist der „Krieg“, was ist damals passiert und welche Bedeutung er im
Bezug auf Mäxchens fehlendes Bein trägt. In der Schulzeit gewannen die Zwillinge im
Gymnasium und in der Oberschule das Wissen über den Krieg, wobei das Thema nicht
explizit besprochen wurde, sondern nur „Daten und Fakten gepaukt [wurden –
M.S.].“ (S.95) Somit wurden Freia und Paul mit Ereignissen konfrontiert, die in keinem
Zusammenhang zu den in den familiären Gesprächen besprochenen vergangenen
Ereignissen stehen. Von daher bedrängten sie die Großeltern und die Mutter mit Fragen
nach dem Krieg, was für die Angehörigen der Enkelgeneration typisch ist. Als die
Hauptfigur des Romans „Himmelskörper“ schwanger wurde, beginnt eine neue Phase in
ihrem Leben. Die Schwangerschaft löst nämlich Freias individuelle Erinnerungen an die
209
Vgl. Jaroszewski, Marek: Das leuchtende Schiff, 2005, S. 280.
88
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
eigene Geschichte und ihre Versuche, die Geschichte ihrer Familie zu rekonstruieren,
aus.210 Dies beschreibt Freia im Gespräch mit Paul folgendermaßen:
„[…] »seitdem ich also weiß, daß ich selbst Mutter werde, muß ich sehr
oft an Renate und auch an Jo denken. Es gibt so viel Ungeklärtes in
unserer Familie, das mir plötzlich keine Ruhe mehr läßt. Als hätte mit
meiner Schwangerschaft eine Art Wettlauf mit der Zeit begonnen, in der
ich noch offene Fragen beantworten kann … ich weiß auch nicht genau,
woher meine Unruhe stammt … vielleicht ist es ein unbewußter Drang,
zu wissen, in was für einen Zusammenhang, in was für ein Nest ich da
mein Kind setze…«“ (S. 26)
Freia ist bewusst, dass es in ihrer Familie viele Geheimnisse gibt, was sie durch die
Schwangerschaft ständig beschäftigt. Sie fühlt sich unvermittelt ein „Teil einer langen
Kette, einer Verbindung, eines Konstrukts, das [ihr – M.S-] eigentlich immer suspekt
gewesen war“ (S. 26) und ist sich dessen bewusst, dass alles, was mit der
Vergangenheit der Familie verbunden ist, auf die Angehörige der Vierten Generation,
also auf ihre Tochter übertragen wird. Freia scheint dabei zu wissen, dass sie, wegen
den Krankheiten der Großeltern, nicht viel Zeit hat, um die familiären Geheimnisse zu
enthüllen. Denn mit dem Tod der Großelterngeneration würden Jo und Mäxchen ihre
individuellen Erinnerungen und somit die Wahrheit über die Vergangenheit mit ins
Grab nehmen. Sie fragt also die noch lebendige Großmutter nach den vergangenen
Ereignissen, die in ihrem Gedächtnis aufbewahrt wurden. Freia versucht vor dem
bevorstehenden Tod Jos die in Gesprächen fehlenden Informationen einzuholen.
„Seit neuestem versuchte ich, in ihre Erinnerungen »einzusteigen«. Ich
wollte, daß Jo sich erinnerte – an diese Zeit, von der so oft in unserer
Familie erzählt worden war und in der es dennoch so viele Leerstellen
gab. Ich wollte, daß sie sich erinnerte. So gut wie möglich. Solange sie
noch da war.“ (S. 212)
Um Jos Erinnerungen hervorzurufen, bedient sich Freia verschiedener Mittel. Sie bringt
Jo Fotoalben, Postkarten, Kleidungsstücken und andere Gegenstände, die für Freias
Großmutter wichtig zu sein scheinen. (S. 208f) Sie legt auch Platten mit klassischer
Musik mit der Hoffnung auf, „sie würden bei Jo manche Erinnerungen wach werden
lassen“(S. 210) In Gesprächen mit der Großmutter versuchte sie sogar Lena zu spielen,
Vgl. Giesler, Birte: „Der Satz ‘ich erinnere mich nicht’ könnte zur Ausrede werden…“. Gender und
Gedächtnis in Tanja Dückers’ Generationenroman Himmelskörper. - In: Erinnern und Geschlecht. Bd. I.
Freiburg i. Br.: jos fritz Verlag 2006, S. 171-201, hier S. 178.
210
89
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
infolge dessen beginnt Jo sich an die Flucht so erinnern, als ob sie wieder am Pier in
Gdingen wäre. Es treten also bei der Großmutter die Felderinnerungen auf.
Die Versuche geben Freia Antworten auf viele Fragen. Sie bekommt zu wissen u.a.,
dass ihre Familie auf den Bord aufgenommen wurde, weil Renate die Nachbarn
denunzierte und den Hitlergruß gemacht hat. Dazu erfährt die Hauptfigur des Romans
„Himmelskörper“ zum ersten Mal von Jo, dass die Mutter und die Großeltern in der
Partei waren. (S. 219) Als Freia dies hört, fragt sie sich: „was sie [Jo – M.S.] noch alles
wußte, was ich nicht wußte.“ (S. 219) Sie fängt an, zu zweifeln, dass die Großmutter
sich nicht mehr an die wichtigen vergangenen Ereignisse erinnern kann. Wie sie selbst
im Roman schreibt: „Der Satz »ich erinnere mich nicht« könnte zur Ausrede
werden… .“ (S. 219)
Nach dem Tod der Großmutter finden Freia und ihr Bruder in Jos Wohnung viele
Gegenstände, wie Briefe, Postkarten vom „Führer“, Fotos und Bücher (S. 55, 262ff.),
die aus der NS-Zeit stammen und die Parteiangehörigkeit der Großelterngeneration
endgültig bestätigen. Während Freias und Renates Aufenthalts in Gdingen erfährt die
Tochter, wie die Flucht genau aussah und dass Jo und Mäxchen „Nazis der ersten
Stunde“ waren. (S. 300) Aber trotz den materiellen Beweisen und Jos mündlicher
Offenbarung kann Freia sich, wie eine typische Angehörige der Enkelgeneration, ihre
Großeltern als Nationalsozialisten nicht vorstellen: „Mir fiel plötzlich auf, wie viele
kleine grenzwertige Äußerungen ich doch von ihnen [den Großeltern – M.S.] kannte,
doch nie hatte ich diese bisher zu einem stimmigen Gesamtbild zusammengefügt, nie
wäre mir früher in den Sinn gekommen, Mäxchen und Jo als Nazis zu
bezeichnen.“ (S. 263) Im Gedächtnis bewahrt Freia das Bild von den Großeltern als
„gute Großeltern“, obwohl Freia die Familiengeschichte ohne bedeutende Lücken kennt
und sich dessen bewusst ist, dass die Großmutter, der Großvater und die Mutter NSTäter waren.
Freia, Meteorologin von Beruf auf dem Gebiet Wolkenforschung, ist ständig auf der
Suche nach „Cirrus Perlucidus“, einer Wolke, die „in 13000 Meter Höhe, nichts mehr
als ein Hauch“ ist. (S. 12) Wie der Erzähler betont: „[…] niemand interessierte sich für
diese Wolke, die vielleicht nicht einmal den Namen »Wolke« verdiente, so wenig war
von ihr zu sehen[…].“ (S. 12) Freia sucht diese Wolke schon seit langer Zeit überall auf
der Welt (S. 12), um sie zu fotografieren und damit einen vollständigen Wolkenatlas zu
erstellen. Der Wolkenatlas sollte nämlich aus Wolkenbilder bestehen, die in
90
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
systematisch geordnet werden sollen. Dies steht für Freias Forschungen, die nicht nur
auf dem Gebiet der Meteorologie, sondern auch die Familiengeschichte betreffen. D.h.,
dass die Angehörige der Enkelgeneration ihr Wissen von den Ereignissen in Gdingen
im Jahre 1945 auch in Ordnung bringen will.211 Es ist also kein Zufall, dass sie die
gesuchte Wolke am Pier in Gdingen sieht. An diesem Ort fand die Bordaufnahme auf
die „Theodor“ statt und hier erfährt Freia durch Renates Erzählen den letzten Rest der
Familiengeheimnissen.212 So könnte man sagen, dass Wolken „als Bild für die den
Roman durchziehende Frage nach dem ‚real‘ Gegebenen [fungieren – M.S.]“213, wobei
das „real Gegebene“ sich auf die wahren, in der Vergangenheit stattgefundenen
Ereignisse bezieht.
Die Hauptfigur des Romans „Himmelskörper“ sucht durch das Erzählen und Erinnern
ihre eigene Identität. Sie stellt sich nämlich die Frage „Wie sieht die wahre Herkunft
ihrer Familie, die sie mit der Geburt ihres Kindes fortsetzen wird?“ Mit dieser Frage ist
die Suche nach der Identität also nach der Antwort auf die Frage „Wer bin Ich?“
verbunden.214 Freia versucht eine Antwort darauf zu finden, indem sie sich an ihr Leben
erinnert und über die Vergangenheit von ihr und von den Familienmitgliedern ein Buch
schreiben will. Die Protagonistin ist eine Figur, die nicht nur die Identität sucht, die sich
auf die Familiengeschichte stützt. Sie sucht auch nach ihrer Geschlechtsidentität.215
Freia hat sich nämlich in der Kindheit nicht als ein Mädchen betrachtet und wollte sich
nicht so sehen. In der Jugend erfährt sie am eigenen Leibe, dass sie heterosexuell ist.
Die Gedanken, dass sie eine Frau ist, und die Betrachtung des Ichs als solche haben erst
mit ihrer Schwangerschaft begonnen. Durch viele Gespräche, die zuerst im familiären
211
Vgl. Stüben, Jens: Erfragte Erinnerung – entsorgte Familiengeschichte, 2006, S. 178.
212
Vgl. ebd., 182.
213
Giesler, Birte: „Der Satz ‘ich erinnere mich nicht’ könnte zur Ausrede werden…“, 2006, hier S. 177.
Vgl. Breger, Claudia: Identität. – In: von Braun, Christina/ Stephan, Inge (Hrsg.): Gender & Wissen.
Ein Handbuch der Gender-Theorien. Köln: Böhlau Verlag 2005, S. 47-65, hier S. 47. Siehe zum Thema
Erinnerung und Identität ausführlich: Neumann, Birgit: Erinnerung, Identität, Narration.
Gattungstypologie und Funktionen kanadischer Fictions of Memory. Berlin: Walter de Gruyter 2005;
Neumann, Brigit: Literatur, Erinnerung, Identität. – In: Erll, Astrid/ Nünning Ansgar (Hrsg.):
Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven.
Berlin: Walter der Gruyter 2005, S. 149-177; Gymnich, Marion: Individuelle Identität und Erinnerung aus
Sicht von Identitätstheorie und Gedächtnisforschung sowie als Gegenstand literarischer Inszenierung. –
In: Erll, Astrid/ Gymnich, Marion/ Nünning, Ansgar (Hg.): Literatur, Erinnerung, Identität.
Theoriekonzepte und Fallstudien. Trier: WVT 2003, S. 29-48.
214
Siehe zu Thema Geschlechtsidentität: Breger, Claudia: Identität. – In: von Braun, Christina/ Stephan,
Inge (Hrsg.): Gender & Wissen. Ein Handbuch der Gender-Theorien. Köln: Böhlau Verlag 2005,
S. 47-65.
215
91
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
Kreis und die später zwischen Freia und ihrer Großmutter bzw. Mutter geführt werden,
wurde Freia die Antwort auf die Frage nach der Familiengeschichte geliefert. Durch das
Erinnern an das Vergangene, was in Form vom Schreiben eines Buches erfolgt, findet
Freia ihre Identität. Ihre Geschlechtsidentität kommt zum Ausdruck, indem sie beginnt,
sich als eine Frau zu fühlen. Dazu erfährt sie, dass sie nicht Angehörige der Generation
ist, deren Familienmitglieder passiv am Krieg teilgenommen haben, sondern der
Enkelgeneration, deren Vorfahren Nationalsozialisten waren. Die Antwort auf die Frage
nach der Herkunft und nach dem Geschlechtsgefühl ist also zugleicht die Antwort auf
von Freia gestellte Frage „Wer bin Ich?“.
Die Hauptfigur des Romans „Himmelskörper“ ist keine statische Figur. Der Leser sieht
ihre Entwicklung, die im Freias Leben stattfindet und im Verlauf des Textes dargestellt
wird. Dies wird auch von Freia bestätigt, indem sie als schwangere Erwachsene sagt:
„Ich bekam jetzt ein Kind wie so viele andere Frauen. Ich würde die
Geschichte fortschreiben. Ich würde mit Haut und Haaren an einem
neuen Krieg, vielleicht als besorgte Mutter, beteiligt sein, ich war nicht
mehr die Sackgasse der Geschichte, das Mädchen vom Stadtrand, das
nicht dazugehörte, das nicht in den »Zungenkuß« ging, sondern in den
Zoo, und das über alles aus der Entfernung nachdenken konnte.“(S. 254)
Wie Freia selbst sagt, ist sie nicht mehr die Person, die sie in der Kindheit war. Sie ist
zu einer Frau geworden und denkt mehr als früher über ihre Gefühle und darüber nach,
was sie weiß. Dabei kann der Leser noch die wissenschaftliche Entwicklung der
Protagonistin verfolgen. Von daher kann man sagen, dass Freia eine dynamische Figur
ist. Sie bleibt jedoch bis zum Ende des Romans rätselhaft, denn es bleibt offen, ob sie
nach dem Schreiben des Buches Ruhe gefunden hat und wie ihr Leben danach aussieht.
Dies lässt feststellen, dass Freia eine offene Figur ist. Sie wird als mehrdimensional
bezeichnet, indem sie durch viele Merkmale gekennzeichnet ist und im Verlauf der
Handlung immer neue Seiten der Hauptfigur offenbart werden. Für ihr Aussehen ist
eine Glatze charakteristisch. Sie ist eine Frau, aber sieht sich als solche nicht. Sie will
die Geschichte ihrer Familie entdecken, weil sie dadurch die Antwort auf die Frage
nach ihrer, lange Zeit unsicher bleibenden Herkunft und somit nach ihrer eigenen
Identität sucht. Dazu verfügt sie über polnische Sprachkenntnisse. Das alles führt dazu,
dass Freia ein Individuum ist.
Freia ist eine typische Angehörige der Enkelgeneration, deren Wissen über den Krieg
und die Familiengeschichte einigermaßen auf den in der Schule erlernten Kenntnissen
92
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
basiert und im größeren Maße auf den familiären Gesprächen basiert. Sie interessiert
sich für die Geschichte der Familie und aus diesem Grunde fragt sie die
Familienmitglieder nach ihren Erinnerungen. Das, was sie erfährt, wird zu Teilen des
kommunikativen
und
Familien-
bzw.
Generationen-Gedächtnisses.
Trotz
den
vollständigen Kenntnissen über die Vergangenheit von Jo, Mäxchen und Renate,
werden in Freias individuellem Gedächtnis Bilder von „guten Großeltern“ und „bösen
Russen“ aufbewahrt. Sie selbst kann sich die ganze Zeit von den vergangenen
Ereignissen nicht loslassen. Von daher entscheidet sie sich gemeinsam mit ihrem
Bruder ein Buch zu schreiben, in dem Freia über ihre Erinnerungen erzählen, ihr Selbst
finden und ihre Identität bilden kann.216
4.2.6 Zur Gattungstypologie
Mit der Gattungstypologie der Romane, in denen die Rhetorik der Erinnerung im
Zentrum steht, ist der von Brigit Neumann eingeführte Begriff der Fictions of Memory
eng verbunden. Neumann definiert den Terminus als „übergreifende[n – M.S.]
Gattungsbegriff zur Bezeichnung von Romanen eingeführt, die die konstitutive
Interdependenz von Erinnerung und Identität ausloten.“217 Betont wird hier, dass die
Identitätsbildung
mit
den
Gedächtnisbeständen
und
den
Erinnerungsakten
zusammenhängt, wobei die beiden Termini von Neumann folgendermaßen definiert
werden:
„Während der Terminus Gedächtnis auf die Gesamtheit gespeicherter
Erfahrungen verweist und ihm damit eine gewisse Stasis zu Eigen ist,
bezeichnet der Begriff der Erinnerung den konkreten Akt der
Vergegenwärtigung und dynamischen Elaboration spezifischer
Gedächtnisbestände. Das Gedächtnis bildet einen in der Gegenwart
abgeschlossenen Fundus vergangener Erfahrungen und damit eine
stabile Grundlage für das Erleben persönlicher Identität im Wandel der
Zeit.“218
Die
im
Gedächtnis
behaltenen
vergangenen
Erfahrungen
werden
also
im
Erinnerungsprozess lebendig gemacht und somit trage sie zur Identitätsbildung bei.
216
Vgl. ebd., S. 189.
217
Neumann, Brigit: Fictions of Memory: Erinnerung und Identität in englischsprachigen
Gegenwartsromanen. – In: Literatur in Wissenschaft und Unterricht. Heft 4/2004, S. 333-360, hier S. 336.
218
Ebd., S. 334.
93
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
In den Fictions of Memory wird der Zusammenhang zwischen Erinnerung und Identität
durch verschiedene Verfahren erkundigt, die über die Gattungstypologie der Fictions of
Memory entscheiden. Ausschlaggebend ist die Zeitstruktur eines literarischen Textes,
weil eine Grundlage für die Inszenierung der Erinnerungen die Analepsen bzw.
Rückwendungen sind.219 Von Bedeutung sind auch die erzählerische Vermittlung,
Innenweltdarstellung und Perspektivenstruktur, die zusammen mit der Zeitdarstellung
die grundlegenden Konstituenten der Rhetorik der Erinnerung und Identität bilden.220
Die Darstellung von Gedächtnis wird durch die Vergangenheitsorientierung und die
Dominanz der intradiegetischen Erzählebene gekennzeichnet. Die Inszenierung der
Erinnerung erfolgt hingegen meistens auf der extradiegetischen Ebene und ist
gegenwartsorientiert.
Aufgrund der genannten Merkmalen werden von Neumann zwei Gruppen der Fictions
of Memory unterschieden: der Gedächtnis- und der Erinnerungsroman. Je nachdem,
wer als erinnernde Subjekt vorkommt, werden die genannten Gruppen jeweils in zwei
Arten differenziert. Werden die vergangenen Ereignisse von einem personal voice
dargestellt, so unterscheidet man zwischen dem autobiographischen Gedächtnisroman
und dem autobiographischen Erinnerungsroman. Kommt aber die communal voice in
Erscheinung, so werden die Fictions of Memory in kommunale Gedächtnisromane und
soziobiographische Erinnerungsromane unterteilt.
Im Roman „Himmelskörper“ wird vom Ich-Erzähler erzählt, der nicht für eine
Gesellschaft steht, so werden im vorliegenden Kapitel der autobiographische
Gedächtnis- und Erinnerungsroman genauer untersucht.
Die autobiographischen Gedächtnisromane sind durch die Vergangenheitsorientierung
gekennzeichnet, die im Zentrum dieser Romanform steht. Die subjektiven vergangenen
Erfahrungen eines erinnerten bzw. erinnernden Ichs werden aus der gegenwärtigen
Perspektive eines erzählenden Ichs reaktualisiert.221 Die zurückliegenden Erlebnisse
eines autodiegetischen Erzählers werden in einen grundsätzlich abgeschlossenen
Erlebniszusammenhang überführt. Die erzählte Geschichte zeichnet sich durch
219
Vgl. ebd., S. 338.
220
Vgl. ebd., S. 341.
221
Neumann, Birgit: Erinnerung, Identität, Narration. Gattungstypologie und Funktionen kanadischer
Fictions of Memory. Berlin: Walter de Gruyter 2005, S. 213.
94
Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
anachronologische Darstellung der Ereignisse aus, wobei die Vergangenheit mit Hilfe
von mehreren Rückwendungen dargestellt wird, die in einer relativ chronologischen
Folge auseinander hervorgehen. Das Erzählen ist durch eine retrospektive Teleologie
gekennzeichnet. Dies bedeutet, dass das Vergangene vor dem Hintergrund eines Endes,
das bereits bekannt ist, konfiguriert und narrativiert wird222, was auf die
Geschlossenheit der vergangenen Erfahrung der fiktionalen Erzählerinstanz hindeutet.
Die Authentizität der Erinnerungen wird dabei durch die dominante interne
Fokalisierung der Vergangenen, eine genaue Beschreibung der vergangenen Zeiten und
Orten und durch „zahlreiche intertextuelle und intermediale Referenzen auf persönliche
Gedächtnismedien wie Briefe, Photographien oder Tagebüchereinträge“ bestätigt.223
Die im autobiographischen Gedächtnisroman präsentierten Ereignisse, bei deren
Darstellung das Erzählen auf der intradiegetischen Ebene dominiert, „liefern dem
erzählenden Ich ‚Antworten‘ auf die Frage nach dem Gewordensein seiner Identität“224
Im Gegensatz zum Gedächtnisroman steht im Zentrum des autobiographischen
Erinnerungsroman „die Offenheit eines hochgradig dynamischen, situativ gerahmten
Erinnerungsprozesses“.225 Dies bedeutet, dass den zentralen Gegenstand dieser
Romanform nicht das „Was“, sondern das „Wie“ des Erinnerns bildet. Die Darstellung
der
Ereignisse
charakterisiert
die
anachronische
Zeitstruktur,
wobei
die
unterschiedlichen Zeitebenen unverbunden nebeneinander stehen.226 Das Erzählen von
der Vergangenheit zeichnet sich durch die Gegenwartsorientierung, die externe
Fokalisierung des Vergangenen und die Dominanz der extradiegetischen Erzählebene
aus. Die Identitätsbildung erfolgt bei dieser Romanform „erst im narrativen Modus, im
Prozess des Erzählens“227, was bedeutet, dass der Versuch einer Stabilisation der
Vergangenheit und der Persönlichkeit des erinnernden Ichs durch das Erzählen erfolgt.
Die Erinnerungserzählungen liefern aber keine endgültigen Antworten auf die Frage
nach dem Gewordensein der individuellen Identität.228
222
Vgl. Neumann, Birgit: Erinnerung, Identität, Narration, 2005, S. 214.
223
Vgl. ebd., S. 215f.
224
Neumann, Brigit: Fictions of Memory, 2004, S. 343.
225
Ebd., S. 345.
226
Vgl. ebd., S. 346.
227
Neumann, Birgit: Erinnerung, Identität, Narration, 2005, S. 218.
228
Vgl. Neumann, Brigit: Fictions of Memory, 2004, S. 356.
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Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
Im Roman „Himmelskörper“ wird die ganze Geschichte von einem Ich-Erzähler
dargestellt, aus dessen Perspektive erzählt wird und der sich eines personal voice
bedient. Die Darstellung der zurückliegenden Erfahrungen der autodiegetischen bzw.
homodiegetischen Erzählerinstanz erfolgt durch die anachronologische Zeitstruktur.
Die Basiserzählung wird auf der extradiegetischen Erzählebene vermittelt. Da es aber
im Roman zu vielen Rückwendungen kommt, die die Ereignisse der ersten und zweiten
Vergangenheitsebene betreffen, dominiert in „Himmelskörper“ die intradiegetische
Ebene. Im Zentrum des Romans stehen nicht die Erinnerungsprozesse, sondern die
erinnerten Inhalte. Die Authentizität der Erinnerungen wird nicht nur von den im
Roman vorkommenden Fotos, Postkarten und andere Andenken an die NS-Zeit,
sondern vor allem von dem Vorhandensein eines Kalenders bestätigt, den Freia „genau
geführt“(S. 273) hat. Das Schreiben des Buches, das Freia und Paul unternehmen
wollen, zeugt davon, dass die erzählte Geschichte durch eine Geschlossenheit der
vergangenen Erfahrungen gekennzeichnet ist. Im Verlauf der Geschichte wird auch die
Frage nach die Herausbildung der Identität des erzählenden Ichs beantwortet. Somit
lässt sich feststellen, dass im Falle von dem Roman „Himmelskörper“ sich um den
autobiographischen Gedächtnisroman handelt.
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Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
5 Schlussbetrachtung
Die vorliegende Arbeit stellt eine Auseinandersetzung mit der Inszenierung der
Erinnerung in Tanja Dückers‘ Roman „Himmelskörper“ dar. Die im ersten und zweiten
Teil der Arbeit präsentierten gedächtnistheoretischen Konzepte und Zusammenhänge,
die zwischen der Literatur und der Erinnerung bestehen, gelten als Grundlage für die im
dritten Teil der Arbeit folgende Analyse des Romans „Himmelskörper“. In dem zuletzt
genannten Teil wurden das „Was“ und das „Wie“ des literarischen Textes untersucht,
also die Verfahren, mit denen die Erinnerung im Gedächtnisroman „Himmelskörper“
inszeniert wird.
In Dückers‘ Roman wird der Leser mit einer Reise in die Vergangenheit konfrontiert,
die
aus
der
Perspektive
der
Hauptfigur
dargestellt
wird.
Das
Ziel
der
Vergangenheitsreise ist der Versuch der Ich-Erzählerin, die Geschichte der Familie neu
zu entdecken, um damit die eigene Identität zu finden und die Ruhe ins Leben
einkehren zu lassen. Dies kommt in Form von einem von Freia und Paul geschriebenen
Buch zum Ausdruck, das zugleich den der Analyse unterliegenden Roman bezeichnet.
In dem Text werden die individuellen Erinnerungen der Hauptfigur sowie die Inhalte
des Familien- bzw. Generationengedächtnisses dargestellt, das als kommunikatives und
kollektives Gedächtnis betrachtet wird.
Die genannte Darstellung erfolgt mit Hilfe von verschiedenen literarischen Verfahren.
Schon am Anfang des Romans „Himmelskörper“, der als in medias res bezeichnet wird,
wird der Leser mit Freias Erinnerungen an Familienmitglieder konfrontiert. Das offene
Ende des Textes weist auf das Schreiben des Buches hin, was den Roman als
autobiographisch kennzeichnet und was zugleich feststellen lässt, dass es um das
spätere Erzählen geht. Der Beginn und das Ende von „Himmelskörper“ bilden
gemeinsam den Erzählrahmen für die von Freia unternommene Vergangenheitsreise,
die im Roman beschrieben wurde. Das Erzählen erfolgt dabei nicht chronologisch,
sondern mit zahlreichen aufbauenden Rückwendungen, deren Reichweite und Umfänge
unterschiedlich sind, und einigen zukunftsgewissen Vorausdeutungen, die davon zeugen,
dass die Geschichte zu einem späteren Zeitpunkt erzählt wurde. Die vorkommenden
Analepsen betreffen Freias individuelle Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend,
deren meistens ganze Kapitel gewidmet werden. Die individuellen Erinnerungen der
Großeltern und der Mutter, die in familiären Gesprächen über die Kriegszeit besprochen
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Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
wurden, sind somit zu Teilen des Familien- bzw. Generationengedächtnisses geworden
und stellen die Teile der einzelnen Kapitel dar. So wie die bestimmten Erinnerungen
hervorgerufen werden können, so werden auch die Geschichten in Dückers’ Roman
geschildert.
Beim
Erzählen
über
die
Vergangenheit
kommen
nämlich
in
„Himmelskörper“ singulative, repetitive und iterative Erzählungen vor, in denen der
Ich-Erzähler sich Szenen, Dehnungen, Zeitsprünge und Raffungen bedient.
Die in „Himmelskörper“ dargestellten Geschichten werden auf verschiedenen Ebenen
vermittelt. Handelt es sich um die Basiserzählung, die die Ereignisse der
Gegenwartsebene betrifft, so wird auf der extradiegetischen Ebene von einem
autodiegetischen oder homodiegetischen Erzähler erzählt, je nachdem, ob Freia in
ihnen als Hauptfigur oder nur eine der Haupt- bzw. Nebenfiguren auftritt. Werden
hingegen die Geschehnisse der ersten und zweiten Vergangenheitsebene präsentiert, so
erfolgt das Erzählen auf intra- oder metadiegetischer Ebene. In diesen Erzählungen
handelt es sich um die vergangenen Ereignisse, an denen Freia beteiligt oder nicht
beteiligt war, d.h. es werden hier Freias individuelle Erinnerungen oder Erinnerungen
von den Mitgliedern Freias Familie dargestellt. Insofern geht es bei diesen Geschichten
um einen homo- bzw. autodiegetischen oder heterodiegetischen Erzähler. Da die
Ereignisse aus der Perspektive der Hauptfigur des Romans „Himmelskörper“ präsentiert
werden, handelt es sich im Text um die interne Fokalisierung.
Mit der Analyse der im Roman „Himmelskörper“ wichtigsten Figuren wird gezeigt, wie
die Vergangenheit in den Gedächtnissen der Großeltern-, Eltern- und Enkelgeneration
aufbewahrt wird und wie sich die Angehörigen der einzelnen Generationen an die
vergangenen Ereignisse erinnern. Die in Erzählungen der Großeltern thematisierten
Erinnerungen weisen viele Abwehrmechanismen, wie z.B. Stilisierung zu Opfer der
NS-Regimes
oder
Distanzierungen,
was
für
das
Täter-
und
zugleich
Besiegtengedächtnis typisch sind, auf. Bei den von Renate erzählten Geschichten ist die
Dominanz von antagonistischem Modus zu beobachten, indem ihre Äußerungen über
die Vergangenheit von Jo und Mäxchen als unzuverlässig bezeichnet werden, dadurch
gelten ihre Erinnerungen als Gegen-Erinnerungen zu den der Großeltern. Die
Erinnerungen der Enkelgeneration werden durch Freias individuelle Erinnerungen
repräsentiert, in denen der erfahrungshaftiger Modus dominiert. Die Hauptfigur ist
dabei durch Merkmale charakterisiert, die durch Welzers Studium zur memory talk als
typisch für die Enkelgeneration bezeichnet wurden. Freia ist nämlich die Person in der
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Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
Familie, die nach die Familiengeschichte fragt und die nicht an die Schuld der
Großeltern glauben kann, obwohl sie Beweise für die Parteimitgliedschaft der
Familienmitglieder, wie Fotos oder Postkarten aus der NS-Zeit, hat. Durch ihre Figur
wird auch der Zusammenhang zwischen dem Erinnern, also dem Versuch, die
Familiengeschichte in Ordnung zu bringen, und der Identitätsbildung dargestellt.
In der vorliegenden Arbeit wurde der Roman „Himmelskörper“ der Analyse
unterzogen. Die Ergebnisse haben eine klare Antwort auf die Frage nach den
literarischen Verfahren gegeben, mit denen die Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman,
der zum autobiographischen Gedächtnisroman gehört, inszeniert wird.
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Zur Inszenierung der Erinnerung in Tanja Dückers’ Roman „Himmelskörper”
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