Warum lebenslang glutenfrei? - Gesundheitlicher Nutzen und Konsequenzen der glutenfreien Ernährung (Vortrag Dr. S. Baas, Informationsveranstaltung Freiburg, 20.10.2012) Warum sich Personen glutenfrei ernähren, kann unterschiedliche Gründe haben: Manche schätzen die glutenfreie Ernährung als gesünder ein, anderen wird durch den Arzt, Heilpraktiker oder den Bekanntenkreis dazu geraten, um eine Verbesserung ihres Gesundheitszustandes zu erzielen. Bei einem anderen Teil wurde eine Zöliakie diagnostiziert oder betrifft ein Familienmitglied, so dass sich auch gelegentlich die gesamte Familie glutenfrei ernährt. Allerdings macht es nur für Zöliakie-betroffene tatsächlich Sinn, sich glutenfrei zu ernähren, denn "gesünder" als die normale Ernährung ist die glutenfreie nicht zwingendermaßen. Es ist heutzutage bekannt, dass die Zöliakie deutlich häufiger ist als früher angenommen wurde. So lagen die Schätzungen früher bei 1 Betroffenen pro 2000 bis 4000 Personen in der Bevölkerung, heute weiß man, dass die Zahlen etwa zehnmal so hoch liegen. Studien ergaben für Europa, Nord- und Südamerika und den mittleren Osten Häufigkeiten zwischen 1:100 bis 1:500. Allerdings ist noch ein Großteil der Patienten nicht erfasst: Auf einen diagnostizierten Patienten kommen etwa 5 - 10 nicht bekannte Betroffene, das wird auch als Eisberg Zöliakie bezeichnet. Im Mittel vergehen fast 10 Jahre vom Beginn der ersten Beschwerden bis zur Diagnosestellung. Ein Teil der Ursache für diese Verzögerung liegt darin begründet, dass die Symptome oftmals nicht sehr offensichtlich sind und nicht den klassischen entsprechen. Das Spektrum der Beschwerden hat sich in den vergangenen Jahren deutlich gewandelt. So beobachtet man seltener Patienten mit den als typisch angesehenen Zeichen wie Durchfall, Gewichtsverlust, Blähungen und Misslaunigkeit. Bei den meisten tritt die Zöliakie diskreter in Erscheinung mit Beschwerden wie Migräne, Depression, Osteoporose, verzögerter Pubertätsentwicklung, Kleinwuchs oder Fruchtbarkeitsstörung. Diese wenig symptomatischen oder stummen Formen übernehmen die größte Zahl der Betroffenen. Die nicht behandelte Zöliakie hat jedoch Auswirkungen für die Personen: In aktuellen Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass sie eine verminderte Knochendichte, häufiger eine Schilddrüsenunterfunktion und niedrigere Eisenwerte aufwiesen. Eine Studie fand auch eine erhöhte Sterblichkeitsrate, welche sich aber in anderen Untersuchungen nicht bestätigte. Gelangt Gluten in den Dünndarm, kommt es beim Zöliakiepatienten zu einer beginnenden Entzündungsreaktion mit Einströmen von Entzündungszellen (Lymphozyten) in die Schleimhaut. Bei regelmäßigem Kontakt kommt es dann auch zum Schleimhautumbau mit Abflachung der Zotten. Wie viel Gluten dafür notwendig ist, ist schwierig zu bestimmen: Manche Betroffene reagieren schon auf geringe Mengen zwischen 20 bis 50 mg, bei anderen kann man erst bei größeren Mengen über 200 mg und mehr Veränderungen nachweisen. Dies ist jedoch für den Einzelnen nicht auszutesten, vor allem da nicht immer gleich Beschwerden auftreten. Symptomfreiheit darf nicht mit Verträglichkeit an der Schleimhaut gleichgesetzt werden. Durch die Entzündungsreaktion können auch direkt Resorptionsvorgänge von Nährstoffen gehindert werden, dies ist z.B. gerade für Eisen der Fall. Mit dem Schleimhautumbau bei häufigen Diätfehlern nimmt die Resorptionsleistung weiter ab. Desweiteren wird vermutet, dass auch zusätzliche Autoimmunerkrankungen eher entstehen, wenn länger Gluten konsumiert wird. So hatte eine Untersuchung von 1999 eine Zunahme der Häufigkeit von Autoimmunerkrankungen beobachtet, wenn die Zöliakie erst später (nach dem 10. Lebensjahr und darüber) diagnostiziert wurde. Wenn auch selten, so wird doch gerade für ältere Personen mit Zöliakie der Übergang zu einer refraktären, nicht auf die glutenfreie Ernährung ansprechenden Zöliakie oder gar eine bösartige Entwicklung (Lymphom) beschrieben. Eine schlechte Diäteinhaltung führt zu einem höheren Risiko, das etwa 3 - 6-mal größer ist als in der Gesamtbevölkerung. Eine gute Diäteinhaltung senkt das Risiko auf das allgemeine innerhalb von etwa 5 Jahren. Zusammenfassend kann man sagen, dass die glutenfreie Ernährung vor der Entstehung von Nährstoffdefiziten schützt, die sonst regelhaft zu beobachten sind. In Bezug auf die Entstehung von zusätzlichen Autoimmunerkrankungen wird vermutet, dass eine möglichst baldige Diagnosestellung und Behandlung das Risiko senkt. Die zwar seltenen Formen der refraktären Zöliakie und des Dünndarmlymphoms werden durch die dauerhafte konsequente Diäteinhaltung ebenfalls verhindert. Daher ist es insgesamt anzustreben, Patienten frühzeitig zu erkennen und dann die Ernährungsumstellung konsequent einzuleiten. Auch Betroffene mit wenigen oder keinen Symptomen profitieren über die Lebensspanne von der glutenfreien Diät. Dabei ist es sinnvoll, bei dem geringsten Verdacht auf eine Zöliakie Untersuchungen einzuleiten, um möglichst viele Betroffene zu erfassen. Auch die Reihenuntersuchung von Risikogruppen, die besonders häufig an Zöliakie erkranken, hat sich bewährt. Dazu zählen Patienten mit einem Diabetes mellitus Typ 1, weiteren Autoimmunerkrankungen (insbesondere der Schilddrüse), Personen mit IgA-Mangel oder chromosomalen Auffälligkeiten wie Down- oder Turner (XO)-Syndrom. Auch wenn der glutenfreien Ernährung sehr viele positive Aspekte zugeschrieben werden, hat sie für die Betroffenen auch beträchtliche Einschränkungen zur Folge. Soziale Aktivitäten sind erschwert, die Ernährung ist weniger frei und spontan zu gestalten und die finanzielle Belastung deutlich höher. Da auch einige Patienten eine erhöhte Sensibilität auf die Kleinstmengen an Gluten haben, die sich in glutenfrei deklarierten Lebensmitteln befinden, könnten gerade diese von einer zusätzlichen medikamentösen Therapie profitieren, um sich gesundheitlich zu erholen. Daher wird seit einigen Jahren daran gearbeitet, Medikamente zu entwickeln, die Gluten unschädlich machen sollen. Verschiedenste Ansätze werden dabei verfolgt, bislang ist allerdings noch keines auf dem Markt erhältlich. Realistisch kann mit einem Medikament nur eine geringe Menge Gluten (bis vermutlich ca. 3 g am Tag, „normale“ Ernährung 15 – 20g Gluten pro Tag) damit zugelassen werden. So könnte aber vor allem im außerhäuslichen Bereich die Ernährungssituation erleichtert werden.