Leitthema: Public-Health-Ethik in der Praxis Bundesgesundheitsbl 2009 · 52:549–556 DOI 10.1007/s00103-009-0841-5 Online publiziert: 11. April 2009 © Springer Medizin Verlag 2009 A. Lob-Hüdepohl Rektor der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin Wohlergehen – eine gemeinsame Zielperspektive von Sozialer Arbeit und Public Health? von sozialen Netzwerken, von Selbsthilfegruppen und so weiter, die klassische Handlungsfelder Sozialer Arbeit sind [4]. In diesem Sinne ist Soziale Arbeit immer schon ein Teil öffentlicher Gesundheitsarbeit (gewesen) [5]. Umgekehrt ist Gesundheit ein zentrales Thema und Aufgabenfeld Sozialer Arbeit: Die Gesundheit eines Menschen wirkt sich in erheblichem Maße auf andere Dimensionen seiner Lebenslage wie Erwerbsbeteiligung, Wohnen, soziale Integration, Bildungschancen und so weiter aus. Daher stellt sich die Frage, welchen Beitrag eine (öffentlich dimensionierte) Gesundheitsarbeit für das Anliegen Sozialer Arbeit leisten kann und muss. Soziale Arbeit und Public Health stehen in wechselseitiger Verschränkung zueinander: als Sozialarbeit im (öffentlichen) Gesundheitswesen sowie als (öffentlich dimensionierte) Gesundheitsarbeit im Sozialwesen [6]. Vor allem stehen Public Health und Soziale Arbeit vor einem gemeinsamen Problem: das ihrer ethischen Legitimität – besonders in Ansehung ihrer historischen Genese. Erst in den letzten Jahrzehnten versteht berufliche Soziale Arbeit die Förderung des persönlichen Wohlergehens und damit die Verwirklichung menschenrechtlicher Ansprüche der von Marginalisierung und Exklusion bedrohten Menschen als ihre primäre Aufgabe, bevor andere, vorrangig gesamtgesellschaftliche bzw. staatliche Interessenlagen berücksichtigt werden. In der Geburtsstunde beruflicher Sozialer Arbeit im Deutschland des 19. Jahrhunderts etwa überwog ein anderes Interesse: nämlich das der Sicherung und Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung durch die Gewährleis- Auf den ersten Blick zielen Public Health und Soziale Arbeit in unterschiedliche Richtungen: Zwar geht es beiden um das Wohlergehen von Menschen. Während Public Health aber die „öffentliche Sorge um die Gesundheit aller“ [1] und damit das Wohlergehen der Bevölkerung insgesamt in Blick hat, ist berufliche Soziale Arbeit – folgt man dem Selbstverständnis der International Federation of Social Workers [2] – am individuellen Wohlergehen eines Menschen interessiert. Soziale Arbeit bemisst dieses Wohlergehen an der Fähigkeit eines Menschen, möglichst selbstständig prekäre Lebenssituationen bewältigen und insgesamt ein selbstbestimmtes Leben führen zu können. Public Health dagegen konzentriert sich lediglich auf einen Aspekt menschlichen Wohlergehens: „Health is one of these distinct dimensions of well-being, as is personal security, the development and exercise of cognitive capacities of reasoning, living and conditions of social respect, developing and sustaining deep personal attachments, and being able to lead selfdetermining lives.“ [3] Gleichwohl signalisieren schon diese grundsätzlichen Zielorientierungen von Public Health und Sozialer Arbeit wichtige Überschneidungen und Gemeinsamkeiten: Wenn Public Health neben der Verringerung von Krankheitsrisiken auch die Gesundheitsförderung insgesamt im Blick hat, dann befasst sie sich mit Handlungsstrategien wie der Entwicklung persönlicher Lebensführungskompetenzen, Die normativen Grundlagen Sozialer Arbeit – (auch) ein Beitrag zur Public-Health-Ethik tung bestimmter Standards sozialen Friedens und auskömmlichen Daseins. Davon zeugt noch heute das sogenannte Doppelmandat der sozialen Arbeit von Fürsorge und Kontrolle [7]. Ähnlich liest sich die Geschichte des öffentlichen Gesundheitswesens, die gelegentlich durch das neue und positiv konnotierte Labeling Public Health ausgeblendet zu werden scheint: Die Ursprünge des öffentlichen Gesundheitswesens dienten nicht der Sicherung des privaten Guts „Gesundheit“, sondern zum Beispiel der Sicherung öffentlichen Zusammenlebens oder der Aufrechterhaltung von Wirtschaft und Handel, die durch Krankheitsepidemien bedroht wurden [8]. In der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts steigerte sich diese Ausrichtung des Gesundheitswesens sogar bis zur rassenhygienisch legitimierten Aussonderung und Vernichtung von Menschen „minderen Werts“ [9]. Auch die berufliche Soziale Arbeit war in vielfältiger Weise in die Kontrolle, Diskriminierung und Aussonderung von Menschen verstrickt [10]. Dass sie sich heute als ambitionierte Menschenrechtsprofession versteht, ist wohl kaum ohne dieses Erschrecken vor dem unheilvollen Verstrickungszusammenhang ihrer eigenen Geschichte zu verstehen. Deshalb nimmt eine Ethik Sozialer Arbeit hier ihren Ausgangspunkt [11]. Damit sichert sie das normative Fundament Sozialer Arbeit und formuliert sozialprofessionelle Fundamentalnormen, die nicht zuletzt aufgrund des engen Wechselverhältnisses zwischen Sozialarbeit im Gesundheitswesen und Gesundheitsarbeit im Sozialwesen auch konstitutive Bestandteile einer Public-Health-Ethik sein müssen. Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 5 · 2009 | 549 Leitthema: Public-Health-Ethik in der Praxis Die Negation der Negation: die angetastete Menschenwürde als Ausgangspunkt einer Menschenrechtsprofession Am Ende des nationalsozialistischen Rassenwahns standen die vielen „Endlösungen“ sozialer Probleme wie die „Endlösung der Judenfrage“, die Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ durch Euthanasieprogramme, die Verhinderung „erbkranken Nachwuchses“ durch Zwangssterilisationen oder die Unterjochung „minderwertiger Rassen“ als Arbeitsvölker für die „Herrenmenschen“. An seinem Anfang standen jedoch ganz gewöhnliche und ungeheuer populäre Leitbilder der verschiedensten Humanwissenschaften und Sozialprofessionen, die weit über Deutschland beziehungsweise über die nationalsozialistische Rassenideologie hinausreichten. Zu einem solchen Leitbild zählte die Auffassung, dass die großen sozialen Probleme im Umgang mit individuellen Lebensschicksalen wie Krankheit, Armut, „Anomalität“ oder auch „Schwererziehbarkeit“ im Prinzip durch den Einsatz geeigneter wissenschaftlicher oder sozialtechnischer Instrumente lösbar seien. An dieses Leitbild konnte die NS-Ideologie von der „Endlösung der sozialen Frage“ [12] anknüpfen und für die Klassifizierung der Bevölkerung in auszulesende und zu fördernde „wertvolle“ Menschen einerseits und auszumerzende „unwerte“ Menschen andererseits nutzbar machen. Vier Faktoren waren für das Vorantreiben der „Endlösung der sozialen Frage“ besonders relevant: Fein naiver Fortschrittsoptimismus mit seiner Unterstellung, dass sich durch wissenschaftlich-technische sowie medizinisch-soziale Anstrengungen die sozialen Fragen einer Gesellschaft lösen lassen; Fdie Steigerung dieses Fortschrittsoptimismus zu einem Allmachtswahn, der auf die Erfahrung, dass sich trotz aller sozialprofessionellen oder medizinisch-technischen Anstrengungen immer wieder leidvolle und belastende Lebensschicksale ereignen, nicht mit einer Selbstbescheidung reagiert, sondern die Idealvorstellung von Leidfreiheit nunmehr vom einzelnen Individuum weg auf die ima- 550 | ginäre und vor allem mythologisch überhöhte Größe des „Volkskörpers“ projiziert; Fder Vorrang des „Volkskörpers“ vor dem „Individualkörper“: weil nur im „Volkskörper“ „gestähltes“ und „gesundes“ Leben evolutionär in der Menschheitsgeschichte zum Zuge kommen kann, muss alle Aufmerksamkeit der professionellen Fürsorge dem Wohl des „Volkskörpers“ gelten und folglich dem Einzelnen nur in dem Maße, wie dessen Einzelschicksal das Wohl der „Volksgemeinschaft“ beeinflusst; Fdie Qualifizierung von „lebenswertem“ und „lebensunwertem“ Leben und die mit dieser Hierarchisierung von Lebensrechten einhergehende antinatalistische Politik gegenüber erbgeschädigten Menschen (Zwangssterilisation, Euthanasie) einerseits und eine pronatalistische Politik für „gestähltes“ Leben (Volksgesundheit durch Leibesertüchtigung, Jugendkult, Geburtenförderung und so weiter) andererseits. Die Äußerung der Leiterin der Berliner Evangelischen Frauenschule der Inneren Mission, Erika Nitzsche, im Völkischen Beobachter 1934 macht deutlich, wie subtil das Denken in den Kategorien des Volkskörpers bis tief in das Selbstverständnis sozialer Berufe hineinreichen konnte: „Anstelle einer unzureichenden Hilfeleistung am kranken Volkskörper soll die Volkspflegerin in jeder Familie die Mutter als Wächterin der Gesundheit auf ihren Posten stellen, damit die Kinder vernünftig ernährt und gepflegt, gestählt und ertüchtigt ins Leben hineinwachsen.“ [13] Noch schärfer und durch seine rhetorische Bezugnahme auf ein biblisches Bildmotiv religiös sanktioniert fordert der katholische Moraltheologe und Schriftleiter des Deutschen Caritasverbandes Joseph Mayer bereits 1927 die absolute Unterordnung des Wohls eines Einzelnen unter das des Volkskörpers: „Wenn zur Rettung des ganzen Körpers die Entfernung irgendeines Gliedes, das brandig oder sonst wie den anderen Gliederns verderblich ist, notwendig wird, dann ist es durchaus löblich und heilsam, dass es entfernt wird. Jede Person verhält sich aber zur Gemeinschaft wie der Teil zum Ganzen. Wenn darum ein Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 5 · 2009 Mensch der ganzen Gemeinschaft gefährlich ist und sie durch irgendein Vorgehen zu verderben droht, dann ist es löblich, ihn zu töten, damit das Gemeinwohl gerettet wird.“ [14] Nur konsequent beschreibt wenige Jahre später der Herausgeber des Jahrbuchs der Caritaswissenschaften, Franz Keller, das Wesen der katholischen Caritas: „Echter Caritasdienst muss Dienst der Rassenhygiene sein, weil nur durch die Aufartung des Volkes die beste Grundlage für die Ausbreitung des Reiches Gottes auf Erden geschaffen wird, weil die Aufartung des Volkes Lebensgestaltung, Lebensbereicherung bedeutet und so im Dienste des Schöpfers und Erlösers steht.“ [15] Die Erfahrung solcher Missachtung elementarer Ansprüche des Menschen auf humane Behandlung und Förderung des Wohlergehens um seiner selbst willen, wie sie Teil der Geschichte auch beruflicher Sozialer Arbeit wurde, macht verständlich, dass die Forderung nach Respekt und Durchsetzung unverletzbarer Menschenrechte eines Jeden die zwingende Reaktion auf die millionenhafte Beschädigung menschlichen Lebens und seiner Würde ist, die auch im Namen sozialer Berufe geschehen konnte. Und die Lektion, die Soziale Arbeit durch die Priorisierung menschenwürdiger Lebensführung jedes Einzelnen als unaufgebbare Leitoption ihres Tuns sich zu lernen müht, dürfte auch für andere soziale Professionen lehrreich sein – nicht zuletzt für Public Health. Diese Priorisierung führt zum Selbstverständnis Sozialer Arbeit als Menschenrechtsprofession [16] in einem besonderen Sinne: Sie respektiert nicht nur die Menschenrechte ihrer Adressaten – auch das ist keine Selbstverständlichkeit –, sondern sie versteht sich als unterstützende Akteurin bei der Durchsetzung von Menschenrechtsansprüchen von Personen, denen eine angemessene Teilhabe an den elementaren Dimensionen des gesellschaftlichen Lebens noch, zeitweilig oder sogar auf Dauer erschwert, versperrt oder sogar gänzlich verwehrt ist. Dabei gilt es zu beachten, dass die Respektierung und Durchsetzung von Menschenrechten keinesfalls eine gelingende menschenwürdige Lebensführung garantieren. Vielmehr zielt die klassische Trias von Freiheits-, politischen Teilhabe- sowie Kultur- und Sozialrechten lediglich auf jene essenziellen Zusammenfassung · Abstract Bedingungen der Möglichkeit, unter denen Menschen ein Leben führen und ihres „Glückes Schmied“ werden können, das der Würde eines Menschen entspricht [17]. Menschenrechte beabsichtigen weniger die Affirmation des guten, sondern vor allem die Negation des beschädigten Lebens. Professionelle Soziale Arbeit – ethische Grundprinzipien einer ambitionierten Menschenrechtsprofession Aufgabe der Ethik einer solchermaßen ambitionierten Sozialprofession ist es, die Geltung dieser professionellen Grundoption als begründet auszuweisen und im Sinne einer Bereichsethik [18] für die verschiedenen Beziehungs- und Organisationsformen professioneller Sozialer Arbeit zu entfalten. Als ein wichtiger Ankerpunkt erweist sich die Kategorie der Menschenwürde, da sie für die Grundlegung einer modernen Menschenrechtsethik [19] und einer modernen Sozialstaatskonzeption [20] gleichermaßen fundamental ist. Dies gilt, obwohl der Begriff der Menschenwürde in seiner inhaltlichen Entfaltung eine hohe Unschärfe aufweist [21]. In der moralphilosophischen Tradition Kants steht Würde für das, was „keinen Preis verstattet“, also durch nichts austauschbar, mithin ein Zweck an sich, allein um seiner selbst willen da ist. Dieses „Um-seiner-selbst-willen-Dasein“ dokumentiert sich im fundamentalen Anspruch jedes Menschen auf Autonomie. Autonomie steht nicht für Beliebigkeit oder Bindungslosigkeit – Letzteres wäre Autarkie. Autonomie meint vielmehr die Lebensführung eines Menschen, die mit jener Vorstellung eines sinnerfüllten Lebens überstimmt, die der Betreffende sich selbst zu eigen gemacht hat. Eine solchermaßen selbstbestimmte Lebensführung freilich ist wesentlich sozialkommunikativ verfasst. Denn sie ist notwendig eingebettet inmitten jener sozialen Lebensvollzüge, in denen das sinnerfüllte Lebensprojekt eines Menschen allein gelingen kann. Schon Kants Autonomiekonzeption ist sozialkommunikativ verfasst und grenzt sich so gegen liberalistische Verengungen ab: „Ein jeder Mensch“, erläutert Kant die strikte Wechselseitigkeit von Bundesgesundheitsbl 2009 · 52:549–556 DOI 10.1007/s00103-009-0841-5 © Springer Medizin Verlag 2009 A. Lob-Hüdepohl Die normativen Grundlagen Sozialer Arbeit – (auch) ein Beitrag zur Public-Health-Ethik Zusammenfassung Soziale Arbeit und Public Health unterscheiden sich, sind aber wechselseitig eng miteinander verflochten. Beide sind Professionen mit einem eigenen ethischen Fundament. Unbeschadet aller Unterschiede vereint sie ein gemeinsames Ziel: der Schutz und die Förderung des Wohlergehens jedes einzelnen Menschen. In diesem Sinne sind die fundamentalen ethischen Prinzipien der Sozialen Arbeit auch für die Entwicklung einer Public-Health-Ethik aufschlussreich. Als Menschenrechtsprofession respektiert Soziale Arbeit die persönliche Autonomie ihrer Klienten, unterstützt solidarische Beziehungsmuster in Familien, sozialen Gruppen oder Nachbarschaften und engagiert sich für soziale Gerechtigkeit in Staat und Gesellschaft. Sozialarbeiter ihrerseits sind gegenüber ih- ren Klienten spezifischen Grundhaltungen verpflichtet: Aufmerksamkeit für deren Verletzlichkeit, Achtsamkeit gegenüber deren Eigenressourcen und Stärken, Assistenz statt überbehütender Fürsorge und Anwaltlichkeit für deren Interessen immer dann, wenn sie selbst nicht mehr für sich entscheiden können. Auf Basis dieser ethischen Prinzipien lässt sich eine Vielzahl von Einzelfragen diskutieren: zum Beispiel die Legitimität sozialprofessioneller Interventionen, die in die Lebensführung Einzelner eingreifen, ohne dass die Betroffenen diesen Interventionen zugestimmt haben. Schlüsselwörter Soziale Arbeit · Public-Health-Ethik · Ethische Prinzipien Fundamental principles of social work – (also) a contribution to public health ethics Abstract Social work and public health are different but mutually connected. Both are professions with their own ethical foundations. Despite all differences, they have the same goal: to protect and to enhance the well-being of people. This is, in part, why the fundamental ethical principles of social work are salient for developing public health ethics. As a human rights profession, social work respects the personal autonomy of clients, supports solidarity-based relationships in families, groups or communities, and attempts to uphold social justice in society. Social workers need to adopt special professional attitudes: sensibility for the vulnerabilities of clients, care and attentiveness for their resources and strengths, assistance instead of paternalistic care and advocacy in decision making for clients’ well-being when clients are not able to decide for themselves. These fundamental ethical principles are the basis for discussion of special topics of social work ethics as public health ethics, for example, in justifying intervention in individual lifestyles by public services without the participation or consent of the affected persons. Keywords Social Work · Public Health · Ethical principles Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 5 · 2009 | 551 Leitthema: Public-Health-Ethik in der Praxis Selbst- und Fremdachtung, „hat rechtmäßig Anspruch auf Achtung von seinen Nebenmenschen, und wechselseitig ist er auch dazu gegen jeden anderen verbunden.“ [22] Denn der Kategorische Imperativ bindet sein Handeln umfassend an der Achtung „der Menschheit, sowohl in deiner Person, wie in der Person eines jeden anderen“ [23]. Diese zunächst abstrakt formalisierte, strikte Reziprozität von Achtungserfordernissen, die zwischen allen Angehörigen der menschlichen Gattung aufgrund ihrer absolut gleichen Würde bzw. Selbstzwecklichkeit besteht, führt im Interaktionsbereich sozialer Professionen zu erheblichen Konsequenzen: Gerade aufgrund der für sozialprofessionelle Handlungssettings typischen realen Ungleichheiten und asymmetrischen Machtverhältnisse zwischen Professionellen und Unterstützungsbedürftigen oder zwischen den Akteuren im lebensweltlichen Alltag fordert die reziprok-egalitäre Anerkennung des jeweiligen Gegenübers dessen Anerkennung als grundsätzlich gleichberechtigtes und gleichwertiges Subjekt seiner Lebensgeschichte – und zwar völlig unabhängig von seiner jeweiligen Leistungsfähigkeit und Lebenslage sowie unabhängig davon, ob das Andere des Anderen für das Ego sympathisch oder befremdlich ist. Diese Anerkennungsorientierung [24] führt Soziale Arbeit angesichts der Grammatik sozialer Konflikte und Problemlagen, in der sie mit Menschen in prekären Lebenslagen zu tun hat, unweigerlich zu einer Widerstandsorientierung [25]; Widerstand gegen alle Blockaden, Dominanzen oder auch (materielle wie immaterielle) Ausstattungsdefizite, die die persönliche Autorschaft der einzelnen Individuen über ihr Leben beschädigen und damit ihre autonome, also ihre gleichermaßen selbstbestimmte wie selbstzweckliche Lebensführung latent oder manifest, individuell oder strukturell behindern oder gar verunmöglichen. Es sind diese Kontrasterfahrungen des Misslingens, die professionelle Soziale Arbeit erforderlich werden und von hier aus die vorfindlichen individuellen wie strukturellen Ressourcen aller Beteiligten im Sinne einer Verbesserungsorientierung nutzen lässt, um angemessene Lebensführungskompetenzen sowie menschendienlichere Handlungs- und 552 | Lebensarrangements aufzubauen und zu stabilisieren [26]. Diese alltagsweltliche Verortung der sozialprofessionellen Leitoption „autonome Lebensführung“ führt zu weiteren Ausdifferenzierungen moralischer Grund­ optionen und Grundprinzipien Sozialer Arbeit. Sie führt zu persönlichen Grundhaltungen, die der Sozialprofessionelle im gegenüber zum Adressaten seiner Unterstützung zu gewährleisten hat. Und sie führt zu normativen Gestaltungsprinzipien, die Soziale Arbeit im Rahmen ihres Beitrags zur Verbesserung zwischenmenschlicher Beziehungen wie zum sozialen Wandel institutioneller wie gesamtgesellschaftlicher Strukturen ins Werk zu setzen hat. Denn Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession hat ein genuin sozial- beziehungsweise gesellschaftspolitisches Mandat. Die Durchsetzung von Menschenrechtsansprüchen Benachteiligter bedarf der steten Gestaltung gesellschaftlicher Institutionen und Strukturen, die nachhaltig auf das menschliche Wohlergehen einwirken. Die wichtigsten Gestaltungsprinzipien sind vertraut, müssen allerdings im Medium Sozialer Arbeit genauer entfaltet werden [27]: Fsoziale Gerechtigkeit, die zwischen allen Mitgliedern der Gesellschaft gleiche Rechte und Pflichten begründet (iustitia legalis), einen angemessenen Ausgleich von Leistung und Gegenleistung gewährleistet (iustitia commutativa), für alle eine Mindestausstattung an Grundgütern sichert (iustitia distributiva) und vor allem strukturelle Ursachen ungleich verteilter Beteiligungschancen an der gesellschaftlichen Entwicklung abbaut (alle drei klassischen Dimensionen der Gerechtigkeit sind als normative Grundlagen Sozialer Arbeit einschließlich ihrer institutionellen Vermittlungsformen erheblich, wobei das Rawl’sche Differenzprinzip [28] zwischen der durchaus in Spannung tretenden Leistungsgerechtigkeit und der Verteilungsgerechtigkeit vermittelt) [29]; FSolidarität, die über die klassischen Formen politischer Konflikt- und sozialstaatlicher Pflichtsolidarität solche Formen von Beistandssolidarität organisiert, in denen soziale Nähe Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 5 · 2009 zwischen verschieden Ausgestatteten durch das alltägliche, projektbezogene Gemeinsame-Sache-Machen handgreiflich erfahren wird und so in den Aufbau gemeinschaftlich getragener Selbstachtung und Selbstvertrauen umgemünzt werden kann; FSubsidiarität als Organisation wirklich hilfreicher Hilfe, die Hilfesysteme und soziale Dienstleistungen deshalb möglichst nahe am Hilfebedürftigen konzipiert, weil solche Nähe einen möglichst hohen Grad an aktiver Selbstbeteiligung und damit Selbstbestimmung des Betroffenen im Hilfeprozess ermöglicht; FNachhaltigkeit als Qualitätsmerkmal von Hilfeleistungen, die eine möglichst dauerhaft-tragfähige Kompetenz zur selbstbestimmten und selbstzwecklichen Lebensführung bewirken. Die Grundhaltungen sozialer Professionen tragen wiederum dem Umstand Rechnung, dass Soziale Arbeit durch ihre Beratung, Betreuung, Bildung, Erziehung, Mediation und Konfliktmanagement, Gewährleistung von materiellen sowie immaterieller Unterstützung der Sozialhilfe, „Assessment“ und „Profiling“ und so weiter in der Regel auf Menschen einwirkt, die sich aufgrund ihrer Notsituation und prekären Lebenslage in einer aktuell und strukturell schwachen (und vor allem schwächeren) Position befinden. Gelegentlich sind sie sogar dem sozialen Hilfesystem und seinen Akteuren wehrlos ausgeliefert. Sozialprofessionelle Interventionen verlaufen in der Regel unter Bedingungen erheblich asymmetrischer Machtverteilung zwischen Professionellem und Klient, in denen die strikt reziproke Anerkennungsorientierung zwar normative Forderung, keinesfalls aber automatisch Realität ist. Deshalb sind aufseiten des Professionellen vorschlagsweise [30] folgende vier Grundhaltungen erforderlich, will Soziale Arbeit tatsächlich die Kompetenzen zur autonomen Lebensführung aufseiten der Unterstützungsbedürftigen fördern: Feine Aufmerksamkeit, die sich sensibel zeigt für die Versehrungen des Selbstvertrauens und der Selbstachtung, die der Unterstützungsbedürftige durch die Vielfalt von Missachtungserfahrungen erlitten hat; etwa die Missach- tung ihres Bedürfnisses nach emotionaler Nähe und Wertschätzung in Partnerschaft, Familie, Nachbarschaft, Kollegenschaft usw.; die Missachtung ihres Bedürfnisses nach gleichberechtigter Teilhabe im politischen Leben und nach Akzeptanz ihrer kulturellen Identität; oder der Missachtung ihres Bemühens, durch der eigenen Hände Arbeit an der materiellen und immateriellen Wertschöpfung teilzuhaben; Feine Achtsamkeit, die sich von der klassischen Haltung des Mitleids ablöst und damit deren Gefahr zur abwertenden Defizitorientierung und zur Selbsterhöhung des Mitleidenden über den Bemitleideten zu vermeiden sucht; eine Achtsamkeit, die die oftmals (nur) verschütteten oder unmerklich vorhandenen Ressourcen und Stärken des Hilfebedürftigen freilegt, ohne das Problematische, das schmerzhaft Prekäre und darin das Defizitäre seiner Lebenslage zu verharmlosen; Feine Assistenz, die die paternalistische Attitüde einer überbehütenden oder gar einspringenden Fürsorge überwindet und sich – überspitzt formuliert – nicht als Mutter von Lösungen, sondern als Hebamme bei deren Geburt versteht; Feine Anwaltlichkeit schließlich, die zwar weiß, dass in bestimmten Lebenssituationen und damit in bestimmten Handlungsdispositionen Sozialer Arbeit (zum Beispiel Erziehung von Kindern und Jugendlichen, Betreuung psychisch erkrankter oder schwer behinderter Menschen) auch stellvertretende Entscheidungen für andere getroffen werden müssen; die aber ihre unvermeidlich stellvertretenden Entscheidungen nicht am eigenen Gutdünken, sondern am mutmaßlichen Willen und am (subjektiv empfundenen) Wohl des Betroffenen ausrichtet und für dessen spätere Revisionen und Korrekturen offen hält. Recht der Gesellschaft? Zur Legitimation sozialprofessioneller Interaktionen Zwar fokussieren diese vier professionsmoralischen Grundhaltungen besonders auf den persönlichen Habitus und Gestus des Professionellen. Ihre Bedeutung für die Soziale Arbeit wäre aber nur zur Hälfte abgegolten, würden sie nicht auch für die Gestaltung institutioneller Settings und gesellschaftlicher Rahmungen veranschlagt. Dies gilt nicht zuletzt für den Bereich von Public Health: Wenn sie neben der Krankheitsverhütung und Krankheitsbekämpfung auch Systeme der Gesundheitserziehung und der Gesundheitsförderung etabliert, muss sie – wie soziale Dienstleistungseinrichtungen insgesamt – zugleich strukturelle Bedingungen schaffen, unter denen ihre Akteure solche Grundhaltungen in ihre professionellen Beziehungen zu ihrem Klientel operationalisieren können. Dies gilt insbesondere für jene Handlungssettings, in denen Soziale Arbeit und Public Health ungefragt und unerbeten auf die Lebensweise ihrer Adressaten einwirken. Einer der markantesten Unterschiede, den die Soziale Arbeit im Gegenüber etwa zur Medizin mit Public Health teilt [31], besteht in der scheinbaren Selbstverständlichkeit, mit der beide auf Menschen, auf einzelne wie auf ganze Bevölkerungsteile, einwirken und sich letztlich durch ihre Interventionen in die Lebensentwürfe und Lebenspraktiken der Betroffenen einmischen. In der Medizin gilt der Grundsatz, dass jede diagnostische, therapeutische oder pflegerische Intervention des vorher erfolgten informierten Einverständnisses (informed consent) seitens des Betroffenen bedarf, will sie nicht den Straftatbestand der Körperverletzung erfüllen. Dieses in Deutschland seit über hundert Jahren auch rechtlich gültige [32] Primat der Patientenautonomie geht so weit, dass Patienten auch dann jede Form der kurativen Behandlung ablehnen dürfen, wenn diese ohne jeden Zweifel medizinisch indiziert ist und ihre Unterlassung den sicheren Tod bedeuten würde. Anders in der Sozialen Arbeit und Public Health: Nicht wenige erzieherische, betreuerische, aufklärerische oder präventive Maßnahmen wirken auf ihre Adressaten ein, ohne dass ihnen ein wirksames Abwehrrecht gegen diese Interventionen zur Verfügung steht oder gar zugestanden wird. Offensichtlich illegitim – weil unvereinbar mit der Option selbstbestimmter und selbstzwecklicher Lebens- führung – sind solche Interventionen, die offen oder versteckt lediglich bestimmte gesellschaftliche Interessen befriedigen, nicht aber das Wohlergehen der Betroffenen steigern helfen. Beabsichtigt Soziale Arbeit allein die Normalisierung der Lebensläufe ihrer Adressaten, um gesellschaftliche Dysfunktionalitäten zu beseitigen, so ist dies mit dem menschenrechtsethischen Paradigma unvereinbar. Und sollte es zutreffen, dass die Leitidee von Public Health tatsächlich nur eine Bevölkerung vor Augen hat, die „strong soldiers, good workers and fertile women“ [33] erzeugt, dann beabsichtigt sie eine nicht legitimierbare Fremdbestimmung, selbst wenn einige Betroffene wirklich starke Soldaten oder gebärfähige Frauen sein wollen. Komplizierter freilich ist die professionsmoralische Beurteilung solcher Interventionen, die nicht nur vorgeblich, sondern tatsächlich das Wohl der Betroffenen zu fördern beabsichtigen, von diesen aber weder erbeten noch erwünscht sind. Darf Soziale Arbeit auf die Lebensführung eines Privathaushaltes auch ohne dessen Auftrag und Einwilligung einwirken und Veränderungsprozesse initiieren, um ihn aus der Überschuldungsfalle herauszuführen [34]? Darf Gesundheitsförderung auch das Mittel abschreckender Anti-Raucherkampagnen nutzen und auch die in Unruhe versetzen, die aus reiflicher Überlegung oder purem Lebensvergnügen Tabak genießen wollen? Soziale Arbeit wie Public Health stehen in solchen wie in vielen weiteren typischen Situationen vor der Aufgabe, ihren Paternalismus begründen zu müssen, auch wenn sie damit lediglich eine Beeinträchtigung der Handlungsfreiheit einer Person beabsichtigen, die ausschließlich durch Gründe gerechtfertigt wird, die auf das Wohlbefinden, auf die Nöte oder die Interessen der betroffenen Person abheben. Solche begründungspflichtigen Paternalismen sind aus der Kinderund Jugendarbeit wohl vertraut: Mit welchem moralischen Recht unterbinden Erziehungsberechtigte bei Kindern und Jugendlichen einen ungehemmten Fernsehkonsum? Mit welchem moralischen Recht unterstellt der Staat Kinder und Jugendliche der Schulpflicht – einschließlich der gesundheitsförderlichen Pflicht zur Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 5 · 2009 | 553 Leitthema: Public-Health-Ethik in der Praxis sportlichen Ertüchtigung und zum Besuch des Schulzahnarztes (!) –, und raubt ihnen so ihr Recht auf den eigenen Tag? Diese und ähnliche Fragen spiegeln eine (pädagogische) Paradoxie: Einerseits zielen Bildung und Erziehung auf die Verwirklichung verantworteter Freiheit und damit auf die autonome Lebensführung der Edukanden ab. Andererseits sind die meisten Interventionen keine von ihnen selbst verfügten Einwirkungen auf ihre Lebensentwicklung und Lebensführung; gelegentlich setzen sie solche Selbstverfügungen dezidiert außer Kraft. Bei ihnen stellt sich – wie bei Erwachsenen – grundsätzlich die Frage nach der Legitimität, „in nicht vernünftig begründete Willensartikulationen von Menschen einzugreifen mit dem Ziel, sie durch diese Interventionen direkt oder indirekt, mittelfristig oder langfristig dazu zu disponieren, ihr Leben künftig nur nach begründeten Entscheidungen, das heißt vernünftig zu führen“ [35]. Die Legitimität begründungspflichtiger Paternalismen in allen Feldern von Sozialer Arbeit und Public Health wird mindestens davon abhängig zu machen sein, ob sie die mutmaßliche Zustimmung der Betroffenen finden können und ob sie die Betroffenen potenziell in die Lage versetzen, entweder post factum ihre Zustimmung zu erteilen oder aber den mit der Intervention eingeschlagenen Weg ihrer Lebensführung im Nachhinein zu korrigieren. Solche Zustimmung oder Korrektur ist keine Frage ferner Zukunft, sondern erfolgt in lebensgeschichtlichen Prozessen, in denen sich die Betroffenen sukzessive an den Aushandlungen über Zielsetzungen und Instrumente sozialprofessioneller Interventionen beteiligen und damit deren Legitimierung über den Abgleich mit den eigenen Optionen selbstbestimmter und selbstzwecklicher Lebensführung erzeugen können. Gerade dieser Abgleich ist hoch bedeutsam; denn er ist Teil jenes für die konsistente Identitätsbildung einer Person essenziellen Lernprozesses, in dem sich die eigenen Optionen autonomer Lebensführung im Für und Wider unterschiedlicher Lebensentwürfe und Lebensweisen herausbilden. Lernprozesse bedürfen aber immer förderlicher Provokationen, die das unproblematische Vertrauen auf die bislang gewohnten Lebensweisen 554 | unterbrechen und entweder mit neuer Bestärkung versehen oder aus Überzeugung zur Änderung anregen. Dies gilt für die induzierten Lernprozesse Sozialer Arbeit und Public Health gleichermaßen. In diesem Sinne ist die Ottawa-Charta sehr einsichtig, wenn sie die Gesundheitsförderung auf einen Prozess abzielen lassen will, „allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen.“ Professionstheoretisch bedeutet das für Soziale Arbeit (wie für Public Health) die Absage an jede Form expertokratischer Professionalität [36]. Soziale Professionen stehen in der Gefahr, sich als fachlich geschulte Expertinnen gegenüber ihren Klienten eine Macht anzueignen, „die den Adressaten professioneller Interventionen seiner eigenen Handlungs- und Entscheidungsmacht beraubt und ihn zum bloßen Objekt, nicht aber zur Legitimationsinstanz des professionellen Handelns macht“ [37]. Damit entmündigt Soziale Arbeit den Hilfebedürftigen. Die Lebenswelt des Adressaten, in die sein selbst erworbenes und persönlich akzeptiertes Handlungs- und Orientierungswissen eingelagert ist, wird durch die Dominanz fachlichen Expertenwissens förmlich kolonisiert [38]. Denn in den verunsicherten Lebenssituationen bietet der Experte allzu schnell standardisierte, normalbiographische Lösungsstrategien an, die der Klient aufgrund der Asymmetrie zwischen ihm und dem Experten gerne als mutmaßlich zweckmäßige Handlungsoptionen befolgt und sich so in gefügiger Compliance übt. Damit aber droht die Gefahr, die Einmaligkeit eines individuell-biographischen Lebensvollzugs der expertokratisch verordneten Zweckrationalität einer durchschnittlich normalen Lebensführung preiszugeben. Zwillingsschwester dieser Entmündigung des Hilfsbedürftigen ist dessen Entmächtigung. Denn die Angleichung an expertokratisch verordnete Lebensmuster depotenziert zwangsläufig die vorhandene Kreativität eigenständiger Lebensführungskompetenzen. Einen Gegenakzent zur Entmündigung und Entmächtigung bildet freilich nicht eine expertoskeptische, sondern eine expertokritische Haltung. Nicht weniger, sondern passgenauere Expertise ist erforderlich; passgenau in dem Sinne, dass die unverzichtbaren Standards Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 5 · 2009 fachlicher Interventionen eingepasst sind in den Prozess deutender und innovativer Assistenz, die lediglich Teil des Selberverstehens und der Selbstdeutung, des Selbstbegreifens und des Selbermachens aufseiten des Adressaten sozialprofessioneller Interaktionen ausmacht. Cui bono: wessen „Wohlergehen“ und wessen „Gesundheit“? In der ethischen Diskussion Sozialer Arbeit ist mittlerweile unbestritten, dass das individuelle Wohlergehen des Einzelnen immer Vorrang hat vor den ansonsten durchaus legitimen „Wohlergehensinteressen“ der Allgemeinheit. Dieser Vorrang scheint auch in der ethischen Debatte von Public Health überwiegende Zustimmung zu erfahren, auch wenn in der Public-HealthEthik von ihrem originären Aufgabenbereich nochmals akzentuierter das Gemeinwohlinteresse am (gesundheitlichen) Wohlergehen herausgestellt und mit dem Individualwohlinteresse des Einzelnen abgewogen wird [39]. Aus gutem Grund: Denn es gibt gerade im Kontext von Public Health immer wieder Zielkonflikte, die zu einer Güterabwägung zwingen: besonders etwa in der medizinischen Forschung, die von ihrem Wesen her nicht nur am Wohl des Einzelfalls (das wäre ein Heilversuch), sondern an der Generierung verallgemeinerbaren Wissens interessiert ist, von dem potenziell alle und damit das Gemeinwohl profitieren [40]. Nun besteht zwischen Individualinteresse und Gemeinwohlinteresse kein antagonistischer Gegensatz, im Gegenteil: Beide stehen in einem wechselseitigen Voraussetzungs- und Überbietungsverhältnis. Gemeinwohlinteressen sind kein Selbstzweck, sondern sie verkörpern lediglich die unhintergehbaren Voraussetzungen, die in einem Gemeinwesen verwirklicht sein müssen, wollen die Individuen als personale, also als immer schon kommunikativ verfasste Existenzen ihre Individualität inmitten ihrer sozialen Netze und kommunikativen Bezüge zu anderen Lebensgeschichten entfalten. Darin aber sind selbstbestimmte und selbstzweckliche Individuen um ihrer selbst willen auf Gemeinwohlinteressen verwiesen. Neben diesem sozialanthropologisch begründeten Wechselverhältnis zwischen Individual- und Gemeinwohl gibt es sogar eine spezifisch menschenrechtsethische Rechtfertigung, die besonders für menschenrechtsbasierte Sozialprofessionen von Bedeutung ist. Menschenrechte begründen unabweisbare Ansprüche eines Jeden, die aber, weil sie alle betreffen, zugleich Menschenpflichten begründen: Dem eigenen Anspruch auf ein menschenwürdiges Leben korrespondiert die Pflicht zur Anerkennung der Ansprüche aller anderen auf eine menschenwürdiges Leben und damit die Pflicht, im Rahmen der je zuhandenen Möglichkeiten Gestaltungsverantwortung für die humanen Lebensbedingungen anderer zu übernehmen [41]. Für jeden Träger von Menschenrechten besteht die „konstruktive Verpflichtung“, die ihm gewährten Rechtsansprüche nicht nur nicht zulasten, sondern vielmehr zugunsten anderer Rechtsträger zu nutzen [42]. Diese menschenrechtsethische Einsicht führt zur Forderung nach einer Alteritäts- beziehungsweise Sozialverträglichkeitsprüfung, der sich jede Lebensführung unterziehen muss. Jede Lebensführung verursacht Kosten, die zumindest teilweise externalisiert, also durch andere kompensiert werden müssen. Damit werden die Ansprüche anderer belastet. Dieser Sachverhalt ist für die normative Grundlegung einer Ethik Sozialer Arbeit sowie eine Public-Health-Ethik von fundamentaler Bedeutung. Denn sie gewährt neue Anhaltspunkte, wie sozialprofessionelle Interventionen legitimiert werden können, die Menschen in ihrer Lebensführung einschränken oder verändern; und zwar auch dann, wenn die Lebensstile mit erheblichen Risiken nicht nur für die Betroffenen selbst, sondern mittelbar auch für die Solidargemeinschaft verbunden sind. Denn die Solidargemeinschaft ist es, die den möglicherweise eintretenden Schaden durch ihre sozialen beziehungsweise gesundheitsbezogenen Dienstleistungen abfedern und ausgleichen muss. Darf also die Solidargemeinschaft den höchst persönlichen Lebensstil eines Menschen einschränken oder wenigstens zu verändern suchen, nur weil das Rauchen, das Skilaufen, die mangelnde Bewegung, das zwanghafte Essen, das übermäßige Sonnebaden, das Auslassen wichtiger Impfungen, die übermäßige Geschäftigkeit im Berufsleben und so weiter ein (freiwilliges?) Verhalten ist, das die Gesundheit bedroht und in sozial prekäre Lebenslagen führen kann [43]? Ein wichtiges Desiderat für eine Ethik Sozialer Arbeit sowie einer Public-HealthEthik bleibt es, die Dialektik zwischen dem privaten Gut persönlicher Gesundheit beziehungsweise persönlichem Wohlergehen als öffentliche Aufgabe einerseits und dem öffentlichen Gut gemeinschaftlicher Gesundheit beziehungsweise gemeinschaftlichem Wohlergehens als private Aufgabe eines Jeden andererseits genauer auszuloten. Unstrittig ist vermutlich dies: Unter dem bleibenden Primat persönlichen Wohlergehens dürfte die Gemeinwohlverträglichkeit des eigenen Lebensstils im aufgeklärten Eigeninteresse eines Jeden liegen. Der Verzicht auf schädliches Verhalten oder bewusst riskante Lebensweisen, deren materielle wie immaterielle Kosten unbedenklich auf die Allgemeinheit abgewälzt werden, ist, wenn schon kein Gebot moralischer Verantwortung (Gerechtigkeit gegen andere), dann doch wenigstens ein Ausweis praktischer Klugheit, nicht jene Ressourcen über Gebühr zu belasten oder gar zu zerstören, denen sich unsere persönliche Existenz in erheblichem Maß unhintergehbar selbst verdankt. Korrespondenzadresse Prof. Dr. A. Lob-Hüdepohl Rektor der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin Köpenicker Allee 39, 10318 Berlin [email protected] Literatur 1. Brand A, Stöckel S (2002) Die öffentliche Sorge um die Gesundheit aller – ein sinnvoller Anspruch? 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