ADHS als Entwicklungsstörung: Neue Erkenntnisse in Bezug auf Diagnostik und Therapie 7. Irseer Symposium für Kinder- und Jugendpsychiatrie Kloster Irsee, 16.11.2016 Dr. D. Schlamp kbo-Heckscher-Klinikum Heinrich Hoffmann, 1809 - 1894 2 „Der Zappel-Philipp“, 1846 3 „Der Zappel-Philipp“, 1846 4 „Der Zappel-Philipp“, 1846 5 „Hans Guck-in-die-Luft“, 1846 6 „Der böse Friederich“, 1846 7 ADHS: Symptomatik •Aufmerksamkeitsdefizit (immer) •Hyperaktivität (unterschiedlich) •Impulsivität (in der Regel) •Eingeschränkte Selbstorganisation •[Affektive Dysregulation „Disruptive Mood Dysregulation Disorder“] •Pervasiv •Situationsübergreifend •Beeinträchtigung / Leidensdruck ADHS Diagnostische Kriterien / DSM 5 Neuronale Entwicklungsstörungen („Neurodevelopmental disorders“) Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörung A. Charakterisiert durch (1) und / oder (2): 1. Unaufmerksamkeit (6 bzw. 5/9) 2. Hyperaktivität und Impulsivität (6 bzw. 5/9) B. Symptome vor dem Alter von 12 Jahren C. In zwei oder mehr Lebensbereichen D. Eingeschränktes psychosoziales Funktionsniveau E. Nicht besser erklärt durch andere psychische Störung ADHS / DSM-5 Klinische Unterformen („Current Presentation“) •Kombiniert •Vorwiegend unaufmerksam •Vorwiegend hyperaktiv-impulsiv 10 Neurobiologische Funktionsstörungen bei ADHS Störung des „zentralen Managementsystems“ im Frontalhirn (Exekutivfunktionen) Steuerungsdefizite betreffend •Aufmerksamkeit •Motorik •Impulskontrolle •Verhaltenssteuerung •Handlungsplanung •Emotionale Reaktionen 11 Neurobiologische Funktionsstörungen bei ADHS Dopamin Noradrenalin S.M. Stahl 2009 12 Entstehungsbedingungen von ADHS Genetische Ursachen Familie Lebensgeschichte ADHS Somatische Faktoren Zentrale Steuerungsdefizite Soziales Umfeld Gesellschaft 13 ADHS-Symptomatik (altersabhängig) Kindergarten- und Vorschulalter •Meist ausgeprägte motorische Unruhe •Erhöhte Ablenkbarkeit beim Spielen •Oppositionelles Verhalten •Integrationsprobleme 14 ADHS-Symptomatik (altersabhängig) Schulalter •Konzentrationsstörungen im Unterricht •Meist deutliche motorische Unruhe •Störverhalten (z. T. oppositionell-aggressiv) •Ablehnung durch Gleichaltrige •Schulleistungsstörungen •Selbstwertprobleme 15 ADHS-Symptomatik (altersabhängig) Jugendalter •Verminderung der motorischen Unruhe •Persistierendes Aufmerksamkeitsdefizit •Emotionale Störungen •Aggressiv-dissoziales Verhalten •Alkohol- und Drogenmissbrauch 16 ADHS-Symptomatik (altersabhängig) Erwachsenenalter •Selbstorganistion / Zeitmanagement beeinträchtigt •Geringerer Beschäftigungsstatus •Sekundäre depressive Störungen, Angststörungen •Suchtprobleme, antisoziales Verhalten / Delinquenz •Scheitern in Partnerschaft, Familie, Beruf 17 Besserung der ADHS-Kernsymptome mit zunehmendem Alter J. Biederman, 2011 18 Persistenz von ADHS-Diagnose und –Symptomen J. Biederman, 2011 19 ADHS Neuronale Entwicklungsstörung mit Beginn in der Kindheit versus „Late-onset“ – ADHS des Erwachsenenalters Diagnostisches Vorgehen Anamnese •Umfassende Erhebung der Vorgeschichte •ADHS-Symptome in Familie / Schule? •Beginn / Verlauf der Störung? •Schulische Leistungsprobleme? •Familiäre Probleme? •Sonstige Störungen? 21 Diagnostisches Vorgehen Klinische Untersuchung •Körperlich-neurologische Untersuchung •Gespräch mit dem Kind/Jugendlichen •Verhaltensbeobachung 22 Diagnostisches Vorgehen Psychologische Untersuchung •Fragebögen (FBB/SBB-ADHS) •Konzentrationsfähigkeit (TAP, CPT) •Intelligenz •Teilleistungsstörungen •Persönlichkeit / Emotionalität 23 Differenzialdiagnose und Komorbididät unaufmerksam depressiv Symptome Funktioneller Zusammenhang? Diagnostische Zuordnung? 24 Kasuistik: Peter, 8 J. Mutter: Lange Tirade über Fehlverhalten Mache nie, was er solle Unruhig und frech Aggressiv, v. a. gegen Mutter Eltern getrennt, kein Kontakt zu Vater Mutter Bedienung, seit kurzem eigene Pilsstube Fehlende Wärme in der Mutter-Kind-Interaktion 25 Kasuistik: Peter, 8 J. Schule: Eher ruhiger Schüler Oft nicht bei der Sache Mittlere Leistungen Wirke bedrückt Gelegentlich aggressive Reaktionen Sonst keine wesentlichen Verhaltensprobleme 26 Kasuistik: Peter, 8 J. 27 Differenzialdiagnose und Komorbididät Keine ADHS Oppositionelle Störung Pflegefamilie Depressive Störung Psychotherapie Deprivation 28 Kasuistik: Peter, 8 J. 29 Komorbiditäten erschweren Diagnose und Behandlung von ADHS ADHS allein 31% Tic-Störung 40% Oppositionelles Trotzverhalten 11% ADHS 14% Störungen des Sozialverhaltens 38% N = 579 Angststörungen affektive Störungen The MTA Cooperative Group, Archives of General Psychiatry 1999;56:1073-1086 30 Erhöhtes Risiko psychischer Störungen bei Erwachsenen mit ADHS Impulskontrollstörungen Substanzmissbrauch 20 % 15 % Affektive Störungen Angststörungen 38 % 43 – 52 % Kessler et al. 2006 31 Erhöhtes Risiko psychischer Störungen bei Erwachsenen mit ADHS Antisoziale Persönlichkeitsstörung Substanzmissbrauch ~ 10 x ~4–8x Affektive Störungen Angststörungen ~2–6x ~2–4x Banaschewski et al. 2013 32 Management von ADHS Analyse der Bedingungsfaktoren und ihrer funktionellen Zusammenhänge Differenzialdiagnostische Klärung / Komorbidität Synoptische Gesamtbetrachtung des erfahrenen Arztes Planung einer individuell optimierten therapeutischen Strategie 33 Management von ADHS Ziel Die Patienten sollen in die Lage versetzt werden, ihren Alltag in den verschiedenen Lebensbereichen angemessen zu bewältigen. 34 Management von ADHS Therapiestrategien Basis: •Information / Psychoedukation •Fortgesetzte eingehende Beratung •Bemühung um Motivation und Compliance •Verhaltenstherapie •Heil- oder sozialpädagogische Maßnahmen •Medikamentöse Behandlung 35 Multimodal Treatment Study of Children with ADHD (MTA) 1. „Konventionelle“ Behandlung durch niedergelassene Ärzte 2. Intensive Verhaltenstherapie 3. Optimierte medikamentöse Behandlung, eingehende Beratung 4. Kombination von optimierter Medikation und Verhaltenstherapie MTA-Studie: 3-Jahres-Ergebnisse Subgruppen („latent classes“) MTA-Studie: 16-Jahres-Ergebnisse • Insgesamt Tendenz zur Besserung der Symptomatik • Bei Medikation Tendenz zu geringerem Dosisbedarf • Verlaufsformen jedoch sehr unterschiedlich • Verlauf im Erwachsenenalter abhängig von Symptompersistenz •Symptompersistenz abhängig von - Initialem Schweregrad - Psychischer Gesundheit der Eltern - Komorbidität im Kindesalter - Nicht IQ, sozioökonomischer Status oder elterlichem Erziehungsverhalten MTA Cooperative Group; Swanson et al. 2016 Verhaltenstherapie 40 Verhaltenstherapie 41 Verhaltenstherapie 42 Verhaltenstherapie bei Jugendlichen Spröber et al., „SAVE – Strategien für Jugendliche mit ADHS“, Springer 2013 43 Verhaltenstherapie bei Erwachsenen 44 Jugendhilfemaßnahmen •Ambulante Erziehungshilfen •Teilstationäre Maßnahmen (HPT) •Vollstationäre Maßnahmen (Fremdunterbringung) (Fachärztliches Gutachten) 45 Management und Therapie Eine medikamentöse Therapie bessert oder normalisiert bei den meisten Patienten Konzentrationsdefizite, Hyperaktivität und Steuerungsfähigkeit, führt jedoch nicht automatisch zu einer Änderung habituierter ungünstiger Verhaltensmuster. 46 Medikamente zur Behandlung von ADHS Stimulanzien (Btm) Methylphenidat (Ritalin® etc.) Amfetamin (Attentin®) Lisdexamfetamin (Elvanse®) •Sofortige Wirkung •Zeitlich limitiert •Ca. 85 % Responder •Effektstärke ≥1,0 •I. a. Mittel 1. Wahl Zugelassen ab dem Alter von 6 Jahren 47 Wirkung von Stimulanzien: Methylphenidat nach Stahl nach S. Stahl 48 Wirkung von Stimulanzien: Amphetamin nach Stahl nach S. Stahl 49 ADHS - Medikamentöse Behandlung Methylphenidat-Retardpräparate Wirkungsdauer ca. 8 Stunden •Medikinet® retard •Medikinet® adult •Ritalin® LA •Ritalin® Adult •Equasym® Retard Wirkungsdauer ca. 12 Stunden •Concerta® •Methylphenidathydrochlorid-neuraxpharm® 50 Medikamente zur Behandlung von ADHS Selektive Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer Atomoxetin (Strattera®) •Verzögerter Wirkungseintritt •Durchgehende Wirkung •Ca. 70 % Responder •Effektstärke 0,7 •Vorteile bei Komorbidität (Tics, Angst-, Suchterkrankungen) Zugelassen ab dem Alter von 6 Jahren 51 Least Square Means ADHS Rating Scale Gesamtscore Wirkeintritt und Besserung im Verlauf 40 35 Placebo 30 * 25 * 20 15 Wo 0 Wo1 Wo 2 Placebo (n = 85) Atomoxetin * * Wo 4 Wo 6 Atomoxetin (n = 85) *p≤0,001 vs Placebo Michelson et al., Am J Psychiatry 2002;159:1896-1901 52 ADHS - Medikamentöse Behandlung Mögliche Nebenwirkungen Methylphenidat/Atomoxetin •Appetitminderung (häufig) •Schlafstörungen (gelegentlich) •Zunahme von Herzfrequenz/Blutdruck (i. a. geringfügig) •Vorübergehende leichte Wachstumsverlangsamung möglich Methylphenidat •Triggerung von Ticstörungen (falls Disposition) Atomoxetin •Sexuelle Funktionsstörungen (gelegentlich) 53 Medikamente zur Behandlung von ADHS Zentrale Alpha 2 - Rezeptoragonisten Guanfacin (retardiert) Clonidin •Verzögerter Wirkungseintritt •Durchgehende Wirkung •Effektstärke 0,4 – 0,8 •Vorteile bei vorwiegend hyperaktivimpulsivem Bild, komorbiden Tics oder Suchterkrankungen Zugelassen ab dem Alter von 6 Jahren 54 Zentrale Alpha 2 - Rezeptoragonisten nach S. Stahl ADHS - Medikamentöse Behandlung Differenzielle Indikationsstellung Stimulanzien (Methylphenidat, Amfetamin) Rascher Wirkungseintritt Begrenzte Wirkungsdauer Flexible Handhabbarkeit SNRI (Atomoxetin) Durchgehende Wirkung Komorbide Ticstörungen, emotionale Störungen (Ängste) oder Suchterkrankungen Guanfacin (retardiert) Durchgehende Wirkung vorwiegend hyperaktiv-impulsives Bild komorbide Tics oder Suchterkrankungen 57 Methylphenidat - Verordnungen 58 ADHS, Medikation und Kriminalität 25 656 ADHS-Patienten in Schweden Zusammenhang zwischen Medikation und Kriminalität (2006-2009) Unter Medikation Kriminalitätsrate um 32% reduziert bei Männern um 41% bei Frauen Lichtenstein et al., N Engl J Med, 2012 Nov 22, 367(21): 2006-14 59 ADHS, Medikation und Fahrsicherheit 17 408 ADHS-Patienten in Schweden Zusammenhang zwischen Medikation und Unfallhäufigkeit (2006-2009) ADHS: Risiko für Verkehrsunfälle um 47% (m) bzw. 45% (f) erhöht Unter Medikation Unfallhäufigkeit normalisiert (m) Chang et al., JAMA Psychiatry, 2014 Mar, 71(3): 319-25 60 Neurofeedback-Therapie kbo-Heckscher-Klinikum Die Modulation bestimmter EEG-Muster wird erlernt Training als Computerspiel konzipiert, welches nicht per Maus oder Joystick, sondern über die „gewünschten“ Veränderungen im EEG gesteuert wird 61 Neurofeedback bei Kindern mit ADHS Das heißt: Selbstregulation hirnelektrischer Parameter mittels kontinuierlicher Rückmeldung und Belohnung (operante Konditionierung) Das Kind lernt mittels Neurofeedback seine Aufmerksamkeit gezielt und situationsangemessen zu regulieren. 62 Ablauf des Trainings • 25 - 40 Trainingseinheiten (45-60 Min.) Transfer in den Alltag • Transfer-Trials während des Trainings • Neurofeedback bei Lösen von Aufgaben • 'Trockentraining' zu Hause 63 64 Ergebnisse • ADHS-Symptomatik (FBB-ADHS) gebessert: - Neurofeedback-Training > Computer-Aufmerksamkeitstraining - Verbesserungen der Kernsymptome: 25-30% - Responder: 52% (>25% Verbesserung FBB-HKS) (mittlere Effektstärke) - Im EEG Verschiebung von langsameren (Theta-) zu rascheren (Alpha-/Beta-) Frequenzbändern • positive Effekte auf anderen Skalen (z.B. oppositionelles Verhalten) • Effekte nach 6 Monaten noch stabil Gevensleben et al, JCPP (2009) 65 Fazit ADHS ist eine neuronale Entwicklungsstörung und kann unbehandelt zu erheblichen psychischen und Verhaltensproblemen im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter führen. Zur Behandlung steht heute eine Palette von Möglichkeiten zur Verfügung – von eingehender und fortgesetzter Information und Beratung über psycho- und soziotherapeutische Maßnahmen bis hin zu einer medikamentösen Behandlung. Jeder Betroffene kann heute wirksame Hilfen finden. 66