Simone Heinemann Ethik der Finanzmarktrisiken am Beispiel des Finanzderivatehandels mentis MÜNSTER Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort Einbandabbildung: © Eisenhans – Fotolia.com Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem ∞ ISO 9706 und alterungsbeständigem Papier © 2014 mentis Verlag GmbH Eisenbahnstraße 11, 48143 Münster, Germany www.mentis.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zulässigen Fällen ist ohne vorherige Zustimmung des Verlages nicht zulässig. Printed in Germany Einbandgestaltung: Anne Nitsche, Dülmen (www.junit-netzwerk.de) Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten ISBN 978-3-89785-632-5 (Print) ISBN 978-3-89785-999-9 (E-Book) Einleitung Risiken der Finanzmärkte sind bisher selten zum Gegenstand moralphilosophischer Reflexion gemacht worden. Die wenigen vorhandenen Arbeiten, die sich philosophisch-ethisch mit dem Risikothema auseinandersetzen, beziehen sich meist auf technische, ökologische und medizinische Risiken. Die Risiken auf Finanzmärkten sind dagegen aus ethischer Perspektive nahezu unbeachtet geblieben. Angesichts der Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2007 und der sich aktuell anschließenden »Verschuldungskrise« in der Europäischen Union spielt jedoch die Frage, wie ein verantwortungsvoller Umgang mit Finanzmarktrisiken gelingen kann, eine entscheidende Rolle. Während – zumeist national, aber teilweise auch international – an einer Neuregulierung der Finanzmärkte gearbeitet wird, werden zunehmend Stimmen laut, die die leitenden Annahmen hinsichtlich der Beherrschbarkeit und Verteilung von Finanzmarktrisiken hinterfragen und sie einer kritischen Prüfung unterziehen. Die Finanzakteure, insbesondere die Entscheidungsträger in den Finanzinstitutionen, sehen sich immer häufiger mit Fragen der moralischen Verantwortbarkeit ihres Handelns und den damit verbundenen Risiken konfrontiert, sei es, dass sie sich selbst solche Fragen stellen, sei es, dass sie von einer kritischer werdenden Öffentlichkeit dazu genötigt werden. Bedenken seitens der Öffentlichkeit werden vor allem im Hinblick auf risikobehaftete Transaktionen und deren Systemrelevanz geäußert. Eine besonders oft mit Argwohn beurteilte Risikoquelle stellt der sich seit den 1970er Jahren mit rasanter Geschwindigkeit entwickelnde Handel mit Finanzderivaten dar. Finanzderivate bieten sowohl individuellen als auch institutionellen Anlegern nützliche, aber auch »gefährliche« Mechanismen zur Risikoübertragung und -verteilung. Indem sie Risiken handelbar machen, können Derivate einerseits zu einem effizienten Risikomanagement beitragen; andererseits werden sie häufig als Auslöser und Beschleuniger systemischer Risiken und Finanzkrisen genannt. Neben der Größe der Handelsvolumina werden vor allem die Komplexität der Instrumente und die Qualität der Risiken kritisch betrachtet. Die vorliegende Arbeit möchte zeigen, dass die Risikoverteilung auf Finanzmärkten, insbesondere durch Finanzderivate, nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine ethische Dimension hat. Wirtschaftliche Entscheidungen und die mit ihnen verbundenen Risiken können nicht nur den Entscheider selbst, sondern auch die legitimen Interessen anderer – auf dem Finanzmarkt und darüber hinaus – betreffen. Wenn sich individuelle oder ag- 14 Einleitung gregierte Risiken niederschlagen, z. B. in Form eines erheblichen Verlustes für eine Bank, einer Unternehmensinsolvenz oder sogar einer Finanzkrise, werden die ökonomischen Kosten häufig nicht von den Anbietern, Entwicklern oder Anwendern der Finanzprodukte getragen, sondern können unbeteiligte Dritte belasten. So hat zum Beispiel die Subprime-Krise 2007–09 in den USA zu einem massiven Arbeitsplatz- und Wohlstandsverlust geführt, der Betroffene u. a. in ihren grundlegenden Rechten auf Obdach und angemessene Versorgung bedroht hat. Aus ethischer Sicht sind jedoch nicht nur eingetretene Schäden durch risikobehaftete Produkte und Handlungen auf Finanzmärkten von Bedeutung. Vielmehr gilt es schon im Hinblick auf den Umgang mit Finanzmarktrisiken selbst, d. h. ex ante, danach zu fragen, ob bereits das Eingehen der Risiken moralisch gerechtfertigt werden kann: Welchen Finanzrisiken dürfen wir andere Personen aussetzen? Von welchen Faktoren hängt die Akzeptabilität der Risiken und der Risikoübertragungen ab? Wie können Risikoübertragungen ex ante angemessen reguliert werden? Wenn danach gefragt wird, welche Risiken anderen zugemutet werden können und dürfen, so wird damit explizit eine der Grundfragen der Ethik des Risikos gestellt. Die Risikoethik untersucht, unter welchen Voraussetzungen bestimmte Risiken nicht eingegangen werden dürfen bzw. Dritte nicht oder zumindest nicht ohne Weiteres bestimmten Risiken ausgesetzt werden dürfen. Da sie riskante Handlungen ex ante bewerten muss, d. h. bevor ein Schaden eintritt, und ein Schaden ex ante nur mehr oder minder wahrscheinlich ist, ist die Bewertung auf eine Reihe von Kriterien angewiesen. Dazu gehören z. B. Kriterien wie die mögliche Schadenshöhe, die Eintrittswahrscheinlichkeit des Schadens und die Zustimmung zu einer Risikoübertragung. Im Hinblick auf die Verteilung von Risiken bedürfen die Kriterien weiterer Spezifizierung. So ist z. B. zu untersuchen, wer die möglichen Betroffenen einer Risikoexposition sind, wer von der Risikoübertragung profitiert und ob Schäden kompensierbar sind. Die ethische Auseinandersetzung mit Risiken liefert allerdings bisher trotz wichtiger vorhandener Beiträge keine eindeutigen Antworten. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass die beiden Hauptansätze der normativen Ethik, der Utilitarismus und primär rechtsbasierte Theorien, zu unbefriedigenden Antworten zu führen scheinen: Der Utilitarismus scheint für Fragen der Risikoverteilung relativ unempfindlich zu sein und damit gerade für Fragenstellungen, die zum Kern der Fragen einer Ethik des Risikos gehören. Die rechtsbasierten Theorien scheinen dagegen von vornherein zu verbieten, andere gegen ihren Willen Risiken auszusetzen. Denn wenn man andere nicht schädigen darf, wieso sollte man sie dem Risiko einer Schädigung aussetzen dürfen? Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, die Frage nach einem moralisch akzeptablen Umgang mit Finanzmarktrisiken als vordringliche aktuelle Problem- Methode und Aufbau 15 stellung mit den bisherigen Ansätzen der Ethik des Risikos zu verbinden. Die Arbeit setzt sich somit insgesamt zum Ziel, an zwei »Fronten« weiterzukommen und den Untersuchungsgegenstand gewissermaßen durch eine »Gleitsichtbrille« zu betrachten: Einerseits werde ich dazu den konkreten Handel mit Finanzderivaten und dessen Risiken in den Blick nehmen, um Voraussetzungen und Kriterien für einen moralisch akzeptablen Umgang mit Finanzmarktrisiken zu entwickeln. Andererseits knüpfe ich an Grundlagenfragen der Risikoethik an, um die bisherigen Ansätze und Kriterien als Perspektive und mögliche Lösungswege einzubinden. Konkrete und allgemeine Risikofragen sollen sich überlappen, mit dem Ziel, daraus für beide Seiten – für die Praxis des Risikohandels auf Finanzmärkten und die Risikoethik selbst – Einsichten zu erlangen. Für den Umgang mit Finanzmarktrisiken werde ich zeigen, dass sich aus den beiden genannten Hauptansätzen, den utilitaristischen und den rechtsbasierten Theorien, trotz ihrer möglichen Unzulänglichkeiten Erkenntnisse gewinnen lassen. Ich werde primär davon ausgehen, dass beiden Ansätze gleichsam Rechnung zu tragen ist. Beide Theorieansätze bieten in besonderer Weise Lösungspotenziale für bestimmte Problemstellungen, die in der Arbeit genutzt werden. So liegt es nahe, bei Fragen der Effizienz beim Utilitarismus und bei Fragen der Verteilung von Nutzen und Schaden an Theorien anzuknüpfen, die auf basale Rechte rekurrieren. Wesentliche Aufgabe ist in diesem Zusammenhang die Entwicklung einer Risikoethik für den Finanzmarkt, die systemische Risiken in den Vordergrund stellt. Zu diesem Zweck werde ich eine Reihe relevanter Kriterien erarbeiten, diskutieren und zusammenstellen, die dazu dienen können, die Frage nach den Akzeptabilitätsbedingungen für den Umgang mit Finanzmarktrisiken, insbesondere für Risiken des Finanzderivatehandels und systemische Risiken, zu beantworten. Vor dem Hintergrund der beiden genannten Theorieansätze werde ich u. a. danach fragen, wie die Größe und Komplexität des Derivatehandels zu beurteilen ist, welche Rolle die Fiktivität einer Derivattransaktion spielt und aufgrund welcher Faktoren eine Systemrelevanz von Finanzderivaten angenommen werden kann. Die Ergebnisse sollen für gegenwärtige Entwicklungen und Diskussionen über die Ausgestaltung der Finanzmärkte neue Denkmöglichkeiten aufzeigen. Methode und Aufbau Bislang liegt die Beschäftigung mit Finanzmarktrisiken vor allem in den Händen der Entscheidungstheorie und erfolgt praktisch im Rahmen des Risikomanagements einzelner Unternehmen und Anleger, wodurch moralische 16 Einleitung Fragen ausgeklammert werden. Dabei liegt der Schwerpunkt auf individuellen Risiken, die Personen freiwillig übernehmen. Allerdings mehren sich in der letzten Zeit ökonomische Arbeiten, die sich kritisch einerseits mit den theoretischen Annahmen und Modellen auseinandersetzen, die das Risikomanagement leiten, und auf die allgemeinen Probleme des zunehmenden Einsatzes riskanter Finanzinstrumente hinweisen. Solche Analysen finden sich gegenwärtig vermehrt in Arbeiten zur Finanzkrise ab 2007. Während die meisten Arbeiten zum Umgang mit Finanzmarktrisiken deskriptiv vorgehen und zumeist die ethischen Probleme im Umgang mit Finanzderivaten als implizite Folgen ökonomischer Defizite behandeln, werden in dieser Arbeit die ethischen Probleme im Umgang mit Derivaten zum Ausgangspunkt einer normativen Diskussion gemacht. Zu diesem Zweck wird ein pragmatisches und induktives Vorgehen gewählt: Zunächst wird Wissen über die Art der Risiken gewonnen, die derivative Finanzinstrumente auf verschiedenen Handlungsebenen generieren, reduzieren und verteilen, um auf dieser Grundlage die Probleme im Umgang mit Finanzmarktrisiken zu identifizieren. Es wird eine makroethische Perspektive verfolgt, die den Blick auf die systemischen Strukturen und Zusammenhänge richtet, die sich aus der Vielzahl von Einzelhandlungen und Wechselwirkungen verschiedener Finanzakteure ergeben. Zur Rekonstruktion des Problemfeldes bezieht sich die Arbeit auf meist von Ökonomen verfasste Texte, um die bisher leitenden normativen Annahmen aufzugreifen, zu reflektieren und zu systematisieren. In diesen Texten wird auf Gefahren und mögliche Fehlentwicklungen auf den Finanzmärkten oder in Zusammenhang mit bestimmten Finanzmarktinstrumenten hingewiesen. Zur Beurteilung von Finanzmarktrisiken, namentlich der Risiken des Derivatehandels, werde ich methodisch an grundlegende Beiträge und Diskussionen zur Ethik des Risikos anknüpfen, um aus ihnen relevante Gesichtspunkte zu gewinnen und diese weiterzuentwickeln. In der Grundlagendiskussion gibt es bereits eine Reihe von wiederkehrenden und plausiblen Unterscheidungen und Kriterien zu dem Problem, wie potenzielle Schäden zu bewerten sind. Eine umfassende Klärung der Grundlagenfragen einer Ethik des verantwortlichen Umgangs mit Risiken ist dabei im Rahmen der Arbeit weder erreichbar noch angestrebt. Die Methode spiegelt sich auch im Aufbau der Arbeit wider: In Teil I skizziere ich zunächst den Finanzderivatehandel in seinen grundlegenden Strukturen und Entwicklungen. Hier werden vor allem die in der Finanztheorie vorherrschenden Annahmen zur Effizienz des Handels und individueller Risikoübernahmen auf Finanzmärkten vorgestellt. In Teil II, dem Hauptteil der Arbeit, beleuchte ich das Spezifikum des Risikoproblems auf Finanzmärkten und diskutiere auf dieser Grundlage eine Reihe von Rechtfertigungsgründen für die Übertragung von Finanzmarktrisiken, die ich mitein- Methode und Aufbau 17 ander in Verbindung setze und auf Finanzderivate anwende. Teil III widmet sich schließlich den systemischen Finanzmarktrisiken als moralischem Problem. In diesem Teil werde ich der Frage nachgehen, anhand welcher risikoethischen Kriterien gezeigt werden kann, dass die Erzeugung und Verteilung systemischer Risiken der Finanzmärkte moralisch inakzeptabel sind. Kapitel 1 liefert den Ausgangspunkt der Untersuchung, indem es eine Zusammenschau der Ausgangsbedingungen, der Entstehung und der aktuellen Gestalt des Derivatehandels aufzeigt. Kapitel 2 führt daraufhin in die basalen Formen konkreter derivativer Instrumente ein, des so genannten Forwards, des Futures, des Swaps und der Option. Im Vordergrund steht die Betrachtung der individuellen Risiken, die einzelne Marktakteure beim Handel mit Finanzderivaten tragen bzw. übergeben. Kapitel 3 beschäftigt sich mit dem Risikobegriff und der Unterscheidung von individuellen und sozialen Risiken. Ausgehend von der Beobachtung, dass menschliches Handeln immer mit Risiken verbunden ist und Risiken neben dem Risikourheber auch andere Personen betreffen können, wird die Grundfrage der Risikoethik gestellt und erläutert: Wie können Risikozumutungen legitimiert werden? Die Überlegungen zur Rechtfertigung von Risikoübertragungen werden in Kapitel 4 vertieft. In diesem Kapitel erarbeite ich einen Risikobegriff für Risiken auf Finanzmärkten und vertrete die These, dass Finanzmarktrisiken als »soziale Risiken« verstanden werden müssen. Unter der allgemeinen Prämisse, dass die Akzeptabilität einer Risikozumutung von der Zustimmung der potenziell Betroffenen abhängig gemacht werden kann, diskutiere ich daraufhin, ob sich das Kriterium der Zustimmung auch auf den Umgang mit Finanzmarktrisiken anwenden lässt. Im Anschluss erarbeite ich die für die Arbeit zentralen Kriterien: das Effizienzkriterium und die Rechte potenziell Betroffener sowie die daraus ableitbaren Rechtfertigungsgründe für die Übertragung von Finanzmarktrisiken. Ziel dieses Kapitels ist es, sowohl die Stärken als auch die Grenzen des Effizienzkriteriums aufzuzeigen und deutlich zu machen, dass ein dauerhaft effizienter Finanzmarkt eine Voraussetzung für den Schutz von Handlungschancen von Personen darstellt. Insofern können die mit Finanzmärkten verbundenen Risiken für Dritte gerechtfertigt sein, als sie zur Aufrechterhaltung effizienter Finanzmärkte beitragen. Allerdings müssen dazu differenzierte Überlegungen angestellt werden. Ich knüpfe dabei u. a. an die Theorie moralischer Rechte von Alan Gewirth und die Ausführungen zur Finanzmarktethik von Klaus Steigleder an. In Kapitel 5 wende ich die erarbeiteten Kriterien auf den Umgang mit Finanzderivaten an und spezifiziere sie, um die Verteilung von Finanzmarktrisiken sowohl aus der Perspektive der allgemeinen Nutzenmaximierung als