Ambivalenz als historische Konstante: Die russische Armenier

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Tessa Hofmann
Ambivalenz als historische Konstante:
Die russische Armenier/npolitik seit dem späten 18. Jahrhundert
[Folie 2: Landkarte] Der Berichtszeitraum meines Vortrags erstreckt sich über mehr als zweieinhalb Jahrhunderte. Es versteht sich also von selbst, dass es innerhalb eines so langen Zeitraums keine einheitliche Politik Russlands gegeben haben kann, weder gegenüber dem Kaukasus, noch dem Osmanischen Reich oder dem Iran. Und es versteht sich ebenso, dass sich
eine Landmacht von der territorialen Größe und der besonderen politisch-administrativen
Verfasstheit Russlands mit konsistenten Politiken besonders schwer tut, was wiederum erklärt, dass einzelne Bereiche der zivilen und militärischen Administration auf lokaler, regionaler und zentraler Ebene gleichzeitig unterschiedliche, ja gegensätzliche Politiken führen.
[Folie 3: Petr I. und Ekaterina] Der Kaukasus und Nahe Osten besaßen für den Begründer des
neuzeitlichen Russland, Peter den Großen, nur nebengeordnete bzw. episodenhafte Bedeutung; sein militärischer Ehrgeiz richtete sich vor allem darauf, Russland in Konkurrenz zu
Schweden den Zugang zur Ostsee zu sichern. Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts
setzte unter der deutschstämmigen Zarin Ekaterina II. eine dauerhafte, aktive Orientpolitik
ein. Sie entstand wiederum gleichsam nebenbei, als Ergebnis der Verfolgung der antirussischen polnischen Adelskonföderation, die im osmanischen Hoheitsgebiet Zuflucht gesucht
hatte. Als russische Truppen auf ihrer Verfolgungsjagd dorthin vordrangen, erklärte das Osmanische Reich Russland 1763 den Krieg. Im Verlauf des Russisch-Türkischen Krieges von
1768 bis 1774 besetzte Russland die Donau-Fürstentümer, Festungen am Schwarzen Meer
und den bisherigen osmanischen Vasallenstaat auf der Krim, die Katharina am 8. April 1783
feierlich zum russischen Besitz „von nun an und für alle Zeiten“ erklärte. [Folie 4: Vertrag
Kücük-Kaynarca] Mit dem Friedensschluss von Küςük-Kaynarca verpflichtete sich die Hohe
Pforte 1774 unter anderem zum Schutz der christlichen Religion im Osmanischen Reich. Die
Osmanen erkannten ferner an, dass Russland zugunsten der Christen intervenieren dürfe.
Russland leitete daraus sein Protektoratsrecht für die orthodoxen Christen im Osmanischen
Reich ab. Für die orientalischen bzw. vor-chalcedonensischen Kirchen übte es diesen Schutzanspruch allerdings nicht durchgehend aus, was sich besonders für die Armenier als verhängnisvoll erweisen sollte.
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[Folie 5: Armenische Kaufleute] Doch die armenisch-russischen Beziehungen entwickelten
sich keineswegs einseitig, denn auch die Armenier betrieben ihrerseits eine Russlandpolitik,
womöglich früher und aktiver als Russland gegenüber den Armeniern. Seit dem Spätmittelalter spielten armenische Handelskolonien am Unterlauf der Wolga eine bedeutende wirtschaftliche und auch kulturelle Rolle. Über die Wolga gelangten armenische Kaufleute von
der Krim und aus dem Südkaukasus in das Chanat von Kasan und weiter bis Moskau und in
das nordwestrussische Nowgorod. Sie prägten diese Handelsroute so stark, dass sie einige
Chronisten als „armenischen Weg“ bezeichneten. Im 17. Jahrhundert erlangte die armenische Handelskompanie von Nor Dschura im Iran herausragende Bedeutung für den internationalen Fern- und Transithandel mit Seide zwischen dem Iran, Russland, Schweden und den
Niederlanden. Zehn Großhandelskaufleute der Kompanie investierten 1660 quasi in das
Bündnis mit dem Moskowitischen Reich, als sie bei einem Besuch in Moskau Zar Alexej Michajlowitsch [Folie 6: Porträt] zahlreiche wertvolle Geschenke machten, darunter einen brillantbesetzten Thron.
Die russländische Privilegierung armenischer Handelskolonien im 17. und 18. Jahrhundert
führte dazu, dass Armenier die merkantilen Interessen Russlands mit ihren eigenen politischen Ambitionen zu verknüpfen begannen. Seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts
versuchten armenische Kaufleute und Fabrikanten gemeinsam mit armenischen Adeligen
und armenisch-apostolischen Kirchenfürsten der Handelskolonien in Astrachan, Moskau und
Madras, in Europa politische oder gar militärische Unterstützung bei der Wiederherstellung
der armenischen Staatlichkeit zu erlangen, zumindest aber russische Schutzzusagen. Ein
Jahrhundert später, 1763, stellte Katharina den Armeniern Astrachans entsprechend eine
besondere Charta aus, die ihnen die Gründung des ersten armenisch-apostolischen Bistums
in Russland gewährte. Zu Beginn des schon erwähnten Russisch-Türkischen Krieges, also
1768, stellte die Zarin außerdem dem Katholikos zu Etschmiadsin Schutzbriefe aus.
Um das seit 1779 unabhängige Krimchanat wirtschaftlich zu schwächen, überredete die Zarin
mit Hilfe des armenischen Bischofs von Astrachan die armenische Bevölkerung der Krim zur
Auswanderung und lud sie zur unbegrenzten Niederlassung im Russischen Reich ein; den
armenischen Zuwanderern wurden dafür weitreichende Privilegien, darunter das Monopol
auf den russländischen Transithandel, in Aussicht gestellt. Die zunächst nur zögernd abwandernden Krim-Armenier gründeten bei Rostow am Don neue Städte und Dörfer, die sie Nor
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Nachitschewan nannten. Nach der Annexion der Krim 1783, für die ein Aufstand der dortigen muslimischen Bevölkerung gegen den russlandhörigen Krim-Chan den Vorwand lieferte,
wurden die Sonderrechte auch auf die auf der Krim verbliebenen Armenier ausgedehnt. Zur
russländischen Privilegierungspolitik gehörte Mitte des 18. Jahrhunderts auch, vor allem in
der armenischen Handelskolonie von Moskau tätige Kaufherren in den Adelsstand zu erheben. [Folie 7: Nobilierte Armenier] Zu den nobilitierten Patriziern zählten die ursprünglich
aus dem Iran übersiedelten Lasarjew (Lazarjan) in Moskau, die Fürsten Abamelek sowie Argutinskij und die Grafen Loris-Melikow. Abkömmlinge dieser Familien wie Graf Mikajel LorisMelikow gestalteten als hochrangige russländische Heerführer und Staatspolitiker auch das
Schicksal des Südkaukasus und angrenzender Regionen.
Die Ambivalenz der russländischen Orient- und Armenienpolitik zeigt sich ab dem späten 18.
Jahrhundert. Zum einen entsteht 1779/82 das „Griechische Projekt“ mit dem Plan der Zerschlagung der osmanischen Balkanherrschaft, der Befreiung Konstantinopels von den Türken
und der Wiederherstellung „des byzantinischen Kaisertums als Sekundogenitur des Hauses
Romanov-Holstein-Gottorp.“1 Katharina ließ mit diesem Hintergedanken ihre Enkel auf griechische Vornamen – Alexander und Konstantin – taufen. Doch gerade besagter Enkel entschied sich als Zar Alexander I. für den Erhalt des Osmanischen Reiches, und sein Nachfolger
Nikolaj I. folgte zwischen 1826 bis zum Krimkrieg dem selben Grundsatz, auch wenn er Gelegenheiten zur Ausdehnung des russischen Einflusses nicht verschmähte: So zwang er die
Türkei mit der Konvention von Akkerman (7.10.1826) zur Anerkennung der russischen Hegemonie im Kaukasus und der Rechte russischer Handelsschiffe in den Meerengen. [Folie 8:
Russisch-Türkischer Krieg 1828-9] Die Zerstörung der osmanischen Flotte bei Navarino durch
Russland, Frankreich und Großbritannien im folgenden Jahr 1827 führt zum nächsten russisch-türkischen Krieg und zum Frieden von Adrianopel 1829. Mit der Defensivallianz von
Hünkar Iskelesi erreichte Russland 1833 den Höhepunkt seines Einflusses auf das Osmanische Reich, dessen Bestand es nun quasi garantiert.
[Folie 9: Grenzen nach Vertrag von Gülistan] Die russisch-iranischen Vormachtkämpfe im
Südkaukasus endeten zunächst 1813 mit dem Friedensvertrag von Golestan (Gülstan; Gülistan), der Russlands Besitz von fast ganz Dagestan, Karabach und Nord-Aserbaidschan bestätigte. Irans Versuch, die Beschlüsse von Golestan durch einen neuerlichen Krieg zu revidie1
Torke, Hans-Joachim: Einführung in die Geschichte Russlands. München: C.H. Beck, 1997, S. 136
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ren, scheiterte. Im Friedensvertrag von Turkmantschaj musste der Iran 1828 auch auf seine
beiden bisherigen armenischen Chanate Jerewan und Nachitschewan verzichten.
Seine Siege über das Osmanische Reich und den Iran verband Russland jeweils mit weitreichenden bevölkerungs- und migrationspolitischen Maßnahmen, die den Anteil christlicher
Bevölkerung im Südkaukasus stärken sollten. So erzwang der Frieden von Turkmantschaj,
dass die armenische Bevölkerung aus dem Nordiran in die nun russisch beherrschten Gebiete nördlich des Arax, der die neue Grenze bildete, einwandern durften; fast 50.000 IranArmenier machten davon in den Jahren 1828 bis 1830 Gebrauch, denn im Grunde handelte
es sich um eine Rückkehr: viele der Immigranten stammten aus Familien, die der Iran Anfang
des 17. Jahrhunderts aus ihrer ursprünglichen Heimat in Nachitschewan und der Araratebene deportiert hatte, einerseits, um den vorrückenden Osmanen eine unbewohnbare, ressourcenlose Region zu hinterlassen, andererseits zur Belebung der iranischen Wirtschaft,
insbesondere des Handwerks. Noch größer war der Zuwachs aus dem osmanisch beherrschten Gebiet: Etwa 90.000 Armenier aus den Ebenen von Erzurum und Alaschkert folgten 1829
der Armee von General Paskjewitsch auf ihrem Rückzug.
[Folie 10: Wappen Armjanskaja Oblast‘] Russland fasste seine armenischen Neuerwerbungen
im Südkaukasus administrativ zu einem „Armenischen Gebiet“ – „Armjanskaja oblast‘“ - zusammen. Es umfasste die vormals iranischen Provinzen Jerewan und Nachitschewan sowie
die Grafschaft von Ordubat. Zwar blieben einige der russisch kontrollierten armenischen
Siedlungsgebiete wie zum Beispiel Karabach außerhalb des „Gebiets“, aber die zeitgenössischen armenischen Wortführer zeigten sich durchaus befriedigt, wurden sie doch an der
Verwaltung beteiligt und besaßen das Recht zur lokalen Selbstverwaltung. Das „Gebiet“
durfte sogar ein offizielles Wappen führen, das an das Königsbanner des mittelalterlichen
Armenien erinnerte. Das nährte bei vielen Armeniern die Hoffnung, dass das „Gebiet“ Ausgangspunkt für die politische Wiederherstellung ganz Armeniens sein werde.
Doch bereits 1840 wurde das „Armenische Gebiet“ im Zuge der Anpassung der südkaukasischen Verwaltungseinteilung an die des übrigen Imperiums aufgelöst. Muslimische Aufstände führten 1844 zur Vereinigung von Nord- und Südkaukasien in eine einzige Gebietskörperschaft (russ.: Namestnitschestwo), deren erster Statthalter, Prinz Woronzow, seinen Amtssitz in Tiflis nahm. Er gelangte allerdings bald zu der Einsicht, dass kleinere Administrativein-
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heiten seine Aufgabe erleichtern würden. So wurde 1846 die Statthalterschaft in die Gouvernements Kutaissi (Westgeorgien), Tiflis (Ostgeorgien), Schemachi und Derbend aufgeteilt.
[Folie 11: Administrativeinteilungen] Das damalige Gouvernement Tiflis schloss die armenischen Bezirke Jerewan, Nachitschewan sowie Alexandropol (das heutige Gjumri in Schirak)
ein, die dann nach drei weiteren Jahren 1849 als Geste der Versöhnung und aus wirtschaftlichen, fiskalischen sowie militärischen Gründen erneut vom Gouvernement Tiflis abgetrennt
und zu einem eigenständigen Gouvernement Jerewan vereint wurden. [Folie 12: Gouvernement Jerewan] Obwohl es nun nicht mehr den Landesnamen Armenien trug, betrachteten
zahlreiche Armenier das Gouvernement Jerewan als Fortsetzung des „Armjanskaja oblast‘“
und zeigten sich über die Neuregelung recht befriedigt, zumal das Gouvernement die Bezirke
von Ordubat, Nachitschewan, Neu-Pajasat (russ.: Nowo-Bajasid) und Alexandropol einschloss. Dieser Bestand blieb allerdings nur bis 1862 erhalten. Dann wurde der Kreis Lori zugunsten des Gouvernements Tiflis abgetrennt. Ober- bzw. Berg-Karabach gelangte 1868 an
das ethnisch und geographisch höchst heterogene Gouvernement Jelisawetpol.
[Folie 13: Armenische Bevölkerungsdichte] Die ethnische Zusammensetzung unterlag im
Verlauf des 17. bis 19. Jahrhunderts starken Schwankungen: Die Deportation der armenischen Bevölkerung in den Iran um das Jahr 1605 hinterließ die Araratebene entvölkert und
von Kriegshandlungen zudem verwüstet. In dieses fast menschenleere Gebiet wanderten
Muslime, vor allem Aserbaidschaner2, ein, die zum Zeitpunkt der russischen Eroberung 1827
die Bevölkerungsmehrheit bildeten, während Armenier nur ein Drittel der Bevölkerung ausmachten. [Folie 14: Armenische Immigranten] Die russische Einwanderungspolitik begünstigte, wie schon erwähnt, die christliche bzw. armenische Bevölkerung, die 1828 über die Hälfte
der insgesamt etwa 157.000 Einwohner der „Armjanskaja Oblast‘“ ausmachte; fast 60.000
Armenier konnten aus dem Iran und dem Osmanischen Reich in die „Armjanskaja Oblast‘“
übersiedeln. Auch in den beiden osmanischen Bezirken bzw. Sandschaks Kars und Ardahan,
die durch den Berliner Friedensvertrag von 1878 an das Russische Reich gelangten, entstand
durch die Abwanderung von 75.000 Muslimen bzw. dem Zuzug von 25.000 osmanischen
Armeniern bald eine knappe relative armenische Mehrheit. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges waren von den ca. 400.000 Einwohnern der „Karsskaja Oblast‘“ 125.000 Armenier,
2
Bis in die Sowjetzeit hinein wurden turksprachige Muslime im offiziellen russischen Sprachgebrauch als Tataren bezeichnet. Die Ethnonyme Aserbaidschaner (für die Staatsnation) bzw. Aseris kamen erst im Verlauf des
20. Jhs. auf.
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78.000 übrige Christen – meist Russen und Griechen -, 120.000 Türken und Aseris sowie
80.000 Kurden.
[Folie 15: Ethnische Zusammensetzung seit 1897] Trotz der Zunahme des armenischen Bevölkerungsanteils seit 1828 blieben die Armenier auch im 19. Jahrhundert diejenige Bevölkerungsgruppe des Südkaukasus, die am verstreutesten siedelte. Denn nur ein Drittel aller südkaukasischen Armenier lebte im Gouvernement Jerewan, wo Christen nur in drei der insgesamt sieben Bezirke eine eindeutige Mehrheit bildeten. Erst 1897 erreichte der armenische
Bevölkerungsanteil mit 53% die knappe Mehrheit; 1916 war er auf 60% gestiegen (= 669.000
von 1.120.000 Einwohnern). Die soziale Schichtung der armenischen Bevölkerung im Südkaukasus glich der im osmanisch beherrschten Westarmenien. Ende des 19. Jahrhunderts lag
der Anteil der Bauernschaft bei 70%, der der Industriearbeiter bei 16,2% und der der Bourgeoisie bei 7,4%. Die rechtliche Stellung der Bauern hatte sich, verglichen mit den Verhältnissen unter iranischer Herrschaft, nicht verbessert, denn der Großteil des Landes befand
sich auch unter russländischer Verwaltung im Besitz kurdischer und aserischer Grundherren
(Chane, Bejs, Aghas). Diese für die armenischen Bauern sehr ungünstigen Verhältnisse wurden durch einen Erlass des russischen Statthalters von 1846 als rechtmäßig anerkannt und
zementiert. Seit 1882 betrieb die russische Verwaltung eine eifrige Mission zugunsten der
russischen Orthodoxie, bei der sie gerade diesen Notstand zu instrumentalisieren versuchte:
Landhungrigen Armeniern im Gouvernement Jerewan, die zur russischen Orthodoxie übertraten, wurde sofort Land zugeteilt. Russisch-orthodoxe Priester suchten in den Gefängnissen Armenier auf und versprachen ihnen Rettung vor einer Verbannung nach Sibirien, falls
sie zum russischen Glauben überträten.
[Folie 16: Ermordung Alexander II] Die Ermordung des als reformatorisch angesehenen Zaren
Alexander II. 1881 durch Mitglieder der sozialrevolutionären Untergrundorganisation
„Narodnaja Wolja“ markiert auch in der Armenien- bzw. Armenierpolitik einen abrupten
Wechsel. Obwohl die Armenier nie die Forderung nach einer völligen Separation Ostarmeniens vom Russischen Reich erhoben hatten, sondern lediglich Reformen im Verwaltungswesen und größere Autonomie in der lokalen Selbstverwaltung wünschten, betrieben die Regierung und Verwaltung fortan eine Russifizierungspolitik, die auf die Schwächung der beiden Hauptträger des geistlich-kulturellen Lebens abzielte: auf die armenisch-apostolische
Nationalkirche, deren Autokephalie aufgehoben werden sollte, und auf die nationalen Schu-
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len. Das Schulwesen war seit dem Anschluss Ostarmeniens an das Russische Imperium der
Aufsicht der armenischen Kirche unterstellt worden, vermutlich in der Hoffnung, dass es der
konservative Klerus zu einem unwirksamen Mittel verkommen lassen würde. Stattdessen
entwickelten sich die Schulen zu Zentren des Widerstands gegen die Russifizierung. Deshalb
wurde ihnen 1884 die Anpassung an russische Lehrpläne abverlangt. Die russländische Regierung versuchte daraufhin, die Aufsicht über die Schulfinanzen an sich zu reißen, stieß aber
auf den heftigen Protest der armenischen Kirche. Daraufhin wurden die armenischen Schulen vorübergehend ganz geschlossen. Als 1886 zumindest die Grundschulen wiedereröffnet
wurden, bestimmte der Kampf gegen die Russifizierung des Lehrprogramms für das folgende
Jahrzehnt die Beziehungen zwischen der armenischen Kirche und dem russischen Staat.
1882 endete auch die bis dahin liberale Einwanderungspolitik Russlands. Das russische Konsulat zu Erzurum stellte nun osmanischen Armeniern keine Visen mehr aus. Dennoch setzte
sich der Zuzug von Westarmeniern in den Südkaukasus unvermindert fort, befördert durch
die osmanischen Massaker der Jahre 1894-96.
[Folie 17: Grigorij S. Golizyn] Im April 1883 wurde das Amt des Kaukasischen Statthalters
durch das eines Vizekönigs bzw. Generalgouverneurs ersetzt, der weitreichende militärische
und zivile Befugnisse erhielt. Der Amtsinhaber Prinz Grigorij Golizyn, der die Armenier zu
„echten Russen“ machen wollte, betrieb schon seit 1898 die Aufhebung der armenischen
Kirchengüter, scheiterte mit seinen Plänen jedoch zunächst am Widerstand diverser Minister, bis er mit Unterstützung des erzkonservativen Innenministers Plehwe den Zaren zum
Handeln überreden konnte. Am 12. Juni 1903 ordnete der Ministerrat die Beschlagnahmung
der Kirchengüter mit der Begründung an, dass die armenische Kirche mit ihrem Vermögen
hauptsächlich revolutionäre Bestrebungen in ihrem Volk unterstütze.3 Das vorhersagbare
Ergebnis war die noch stärkere Solidarisierung der armenischen Bevölkerung mit ihrer Kirche.
[Folie 18: Lobanow-Rostowskij] Außenpolitisch wich der Interventionismus, der die osmanischen Christen zum Anlass für Russlands Kriege benutzt hatte, einer neuen Politik, deren
3
Meißner, Axel: Martin Rades "Christliche Welt" und Armenien: Bausteine für eine internationale Ethik des
Protestantismus. Münster: LIT, 2010, S. 164
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Auswirkungen im Hinblick auf Armenien Fürst Aleksej Lobanow-Rostowskij mit der berüchtigten Formel „Armenien ohne Armenier“ umriss. Als Botschafter (1878–1895) sowie Außenminister (1895–1896) setzte Lobanow-Rostowskij einen deutlich nachgiebigeren Kurs
gegenüber den Osmanen durch, um sie nicht England und Österreich-Ungarn in die Arme zu
treiben.
Nach 1896 wurden die im zaristischen Staatsdienst bis dahin eher überrepräsentierten Armenier in nicht-armenische Bezirke versetzt und neue Bewerber nicht mehr in den Staatsdienst aufgenommen. Ein Quotensystem beschränkte zudem ab 1900 der bildungshungrigen
armenischen Jugend den Zugang zu russländischen Hochschulen, während zugleich die
Gründung einer Universität oder polytechnischen Hochschule im Südkaukasus nicht zugelassen wurde.
Unter dem Eindruck der russischen Sozialrevolution von 1905 begann Zar Nikolaj II. vorübergehend in der Kaukasuspolitik einzulenken: Der allseits verhasste Golizyn wurde abberufen,
das Amt des Statthalters wieder eingeführt und Graf Iwan Woronzow übergeben, der Nikolaj
II. zur Rückgabe der armenischen Kirchengüter und –privilegien geraten hatte, was im August 1905 erfolgte.
[Folie 19: Pogrom in Baku 1905] Dennoch beruhigte sich die Lage im multiethnischen und
krisengeschüttelten Transkaukasus nicht vollständig. Infolge der Gleichgültigkeit oder Voreingenommenheit russischer Beamter und Militärs kam es 1904 und 1905 in den Gouvernements Tiflis, Jerewan und Jelisawetpol zu sich eskalierenden blutigen Zusammenstößen zwischen Aserbaidschanern und Armeniern, in die russische Streitkräfte erst 1906 regulierend
eingriffen.
In der Restaurationsperiode von 1908 bis 1912 wurden Hunderte Armenier wegen angeblicher revolutionärer Umtriebe verhaftet. Aber erst 1912 kam es zu einem großaufgezogenen
„Daschnakenprozess“ gegen 150 Angeklagte, von denen wiederum nur 52 verurteilt wurden.
Der Grund für die Milde lag im Ausbruch neuer türkisch-russischer Spannungen und einer
weiteren Wende in den außenpolitischen Zielen Russlands, was eine Annäherung zwischen
der Regierung und den armenischen Revolutionären beförderte; sie waren wieder nützlich
geworden.
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[Folie 20: Karikatur] Die Armenierpolitik Russlands im Verlauf des 20. Und 21. Jahrhunderts
kann hier aus Zeitgründen nur angedeutet werden. Sie zeigt insgesamt eine ähnliche
Schwankungsbreite bzw. Inkonsistenz sowie Ambivalenz, wie bereits im 19. Jahrhundert. Das
gilt auch für das Verhalten russischer Streitkräfte während des Genozids an den Armeniern:
[Folie 21: Selbstverteidigung in Wan] Der Venezolaner Rafael de Nogales, der im Frühjahr
1915 als Söldner auf osmanischer Seite erfolglos das Armenierviertel von Wan belagerte und
sich vor den anrückenden Russen zurückziehen musste, bezichtigte die russischen Streitkräfte, bei ihrem Abzug die armenische Zivilbevölkerung ihrem Schicksal überlassen zu haben.
[Folie 22: Flucht aus Wan] In seiner Sachverständigenaussage im Berliner Strafprozess gegen
den Attentäter Soġomon T’ehlerean erwähnte Johannes Lepsius, dass zwar annähernd
250.000 Armenier in den osmanischen Grenzgebieten dank der zeitweiligen russischen Besatzung Ostanatoliens überlebt hätten, aber Russland gestattete diesen Flüchtlingen nicht
die Rückkehr, als die russischen Streitkräfte ein zweites Mal in Ostanatolien einmarschierten.
Dem Stabschef des russischen Oberbefehlshabers, General Nikolaj N. Janukowitsch (18681918) zufolge beabsichtigte Russland anstelle der indigenen Armenier Kurden und Kosaken
in Wan anzusiedeln.4
[Folie 23: Lenin-Zitat] Die Oktoberrevolution verhinderte diese Fortsetzung der Politik eines
„Armenien ohne Armenier“. Doch auch Lenins Einstellung war ambivalent bzw. inkonsistent:
Zum einen erkannte er das Recht auf nationale Selbstbestimmung auch für die West- bzw.
osmanischen Armenier an; zum anderen äußerte er Ende 1920, dass Sowjetrussland die Interessen der armenischen Werktätigen auf dem Altar der Weltrevolution opfern müsse. [Folie
24: Sowjetische Gebietsabtretungen] In diesem realpolitischen Sinn machte Sowjetrussland
weitreichende territoriale Zugeständnisse zu Lasten Armeniens, um Aserbaidschan und vor
allem die Türkei unter der Führung des vermeintlich antiimperialistischen Mustafa Kemal an
der Seite Sowjetrusslands zu halten. Die armenischen Siedlungsgebiete Nachitschewan und
Berg-Karabach wurden unter Verletzung gegenteiliger Zusagen Sowjetaserbaidschan unterstellt, das fast ausschließlich armenisch besiedelte Dschawachk Georgien, der Heimat Stalins.
Unter dem Eindruck einer neuerlichen Invasion und der Massaker kemalistischer Truppen in
Ostarmenien hatte die Regierung der unabhängigen ersten Republik Armenien Ende 1920
4
Hofmann, Tessa (Ed.): Der Völkermord an den Armeniern vor Gericht: Der Prozess Talaat Pascha [The Genocide against the Armenians at Trial: The Talaat Pasha Court Proceedings]. 2. Aufl. Göttingen, Wien: Gesellschaft
für bedrohte Völker, 1985, p. 58 f.
10
die Staatsgewalt an ein Revolutionskomitee übergeben, worauf fast unmittelbar das Verbot
der bisherigen Regierungspartei Daschnakzutjun und die Verfolgung echter oder vermeintlicher Anhänger einsetzte. [Folie 25: Elitozid] Nur 22 Jahre nach dem osmanischen Elitozid
erlitt Sowjetarmenien während der so genannten Großen Säuberungen 1936 bis 1939 einen
zweiten Elitozid, dem überproportional Intellektuelle und Parteimitglieder zum Opfer fielen,
die einst aus dem osmanischen Herrschaftsbereich geflüchtet waren; insgesamt fielen
300.000 Menschen in Sowjetarmenien den „Säuberungen“ zum Opfer, darunter etwa 2.000
Geistliche. [Folie 26: Antikirchliche Verfolgung] Mehrfach waren Armenier im Südkaukasus
Deportationen ausgesetzt: Während der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft wurden
25.000 Bauern aus Armenien deportiert. [Folie 27: Deportationen] Es folgten seit 1944 Deportationen der muslimischen Hamschen-Armenier5 aus Georgien nach Kasachstan und Usbekistan sowie 1948 die Deportation von 58.000 weiteren Armeniern, vermeintliche
Daschnaken, und von Griechen. 1947 beschloss der sowjetische Ministerrat einen armenisch-aserbaidschanischen Bevölkerungszwangsaustausch, der 1948-1953 realisiert wurde.
[Folie 28: Antiklerikale Politik] Die antiklerikale Politik der Jahre 1920 bis 1941 übertraf die
zaristischen Maßnahmen gegen die armenische Nationalkirche bei Weitem: Bereits am 17.
Dezember 1920, unmittelbar nach der Sowjetisierung Armeniens, wurden die Kirchenschätze
und die wertvolle Bibliothek des Katholikats Etschmiadsin beschlagnahmt und verweltlicht.
Die sowjetarmenische Verfassung von 1922 trennte Kirche und Staat, verbot schulischen
Religionsunterricht, besiegelte frühere Bodenbeschlagnahmungen und entzog Geistlichen
das aktive sowie passive Wahlrecht. Die Kirche existierte nicht mehr als juristische Person.
Ende der 1920er Jahre wurde die antikirchliche Steuergesetzgebung verschärft; drastische
Steuererhebungen für Geistliche sowie Gemeinden führten zur Verelendung zahlreicher
Geistlicher und ihrer Familien. Von den etwa 800 Kirchen und Klöstern, die Anfang des 20.
Jhs. auf dem Gebiet des späteren Sowjetarmenien bestanden, standen im Frühjahr 1938 nur
noch vier offen. Eine Milderung der antiklerikalen Politik erfolgte erst nach dem deutschen
Angriff auf die UdSSR (22. Juni 1941), als die sowjetische Staats- und Parteiführung die bis
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Das Hauptsiedlungsgebiet der Hamschen-Armenier [Türkisch: Hemsin und Hemsinliler] liegt an der südlichen
und südöstlichen Schwarzmeerküste sowie ihrem Hinterland. Ihre Islamisierung erfolgte schrittweise seit 1630.
Die Hamschen-Armenier bewahrten ihre spezifischen Mundarten des Westarmenischen (Hemsince in der westlichen, Homsenc‘i lizu in der östlichen und hyeren in der nördlichen Mundart) bis ins 19. Jh., als im Gebiet zwischen Rize und Hopa der türkische Schulunterricht intensiviert wurde, um die islamische Gegenmission in dem
Gebiet zu unterstützen.
11
dahin verfolgten Nationalkirchen benötige, um in der sowjetischen Bevölkerung Verteidigungsbereitschaft aufzubauen.
[Folie 29: Repatriierungspolitik] Ambivalent blieb auch die Migrationspolitik. Sowjetarmenien verzeichnete im Zeitraum 1921 bis 1973 einen nichtnatürlichen Bevölkerungszuwachs von
über einer halben Million Menschen, davon etwa die Hälfte Ausländer. Diese in der UdSSR so
genannten Repatrianten waren in der Regel Genozidüberlebende aus Staaten des Nahen
Ostens und des Balkans, die man vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg aufnahm, um die
hohen Kriegsverluste Sowjetarmeniens demographisch und wirtschaftlich auszugleichen. Die
Integration der nichtsowjetischen Zuwanderer gelang nur unvollkommen; viele fanden sich
alsbald in der Verbannung, zu der sie in Schnellverfahren durch sowjetarmenische Gerichte
verurteilt wurden. Diesen Schuldanteil an einem der dunkelsten Kapitel seiner Geschichte
hat das postsowjetische Armenien bis heute nicht aufgearbeitet. Dort überwiegt eine Geschichtswahrnehmung, bei der sich Armenier entweder als fortgesetzte passiv-wehrlose Opfer ihrer dominanten Nachbarstaaten Russland und Türkei sehen, oder aber als vor den Türken Gerettete dank Russlands Gnaden. Zugegebenermaßen ist diese vereinfachende Wahrnehmung mit Blick auf die extrem ungleichen Macht- und Zahlenverhältnisse verlockend,
aber sie ist in ihrer Eindimensionalität auch irreführend und sogar gefährlich.
(Folie 30: Bilanz – Gewalterfahrungen)
Ambivalenz als historische
Konstante:
Die russische Armenier/npolitik seit
dem späten 18. Jahrhundert
Dr. Tessa Hofmann
Ausdehnung der russischen Landmacht
Beginn der russisch-imperialen
Südexpansion
Kaiser Peter I. (Pjotr I.) beginnt den 2.
Russisch-Persischen Krieg (1722/3)
Kaiserin Katharina II. (Jekaterina II.): Unter ihrer Herrschaft
beginnt der „Russisch-Tscherkessische Krieg“ (1763-1864)
und der Russisch-Türkische Krieg (1768-1774)
Friedensschluss von Küςük Kaynarca
(10.-21. Juli 1774)
Osmanische Gebietsverluste
(grün schraffiert); Mitte:
osmanischer Verhandlungsleiter
Ahmed Resmi; rechts:
Gedenkinschrift am
Verhandlungsort
Armenische Handelskarawane
im Südkaukasus (Grigorij Gagarin)
Darstellung eines
armenischen
Kaufmanns (16521718)
Zar Alexej I. Michailowitsch Romanow
(1629-1676)
Armenischer Verdienstadel in
Russland
Links: Gebäude des Instituts für Orientalistik, gestiftet von der Lasarjew-/Lasarjan-Familie (heute
armenische Botschaft zu Moskau); rechts: Graf Michail/Mikail Loris-Melikov (1826-1888)
Russisch-Türkischer Krieg 1827/8
January Suchodolski: Die
Belagerung von Achalziche
(1828)
January Suchodolski: Die
Belagerung von Kars
Grenzziehungen nach Verträgen von Gülistan
(1813) und Turkmantschaj (1828)
Karte und Wappen der Armjanskaja Oblast‘
(1828-1840), bestehend aus vormaligen Chanaten Eriwan und
Nachitschewan); 20.720 км²
Administrativeinheiten des armenischen
Siedlungsgebiet unter osmanischer und russischer
Herrschaft (nach 1878)
Armenische Bevölkerungsdichte im osmanischrussischen Siedlungsgebiet (19. Jh.)
Gouvernement Eriwan
(1849-1917; 27.800 qkm)
Administrativeinteilung und Wappen
Einwanderungspolitik nach 1828
Gesamtbevölkerung des
„Armjanskaja Oblast‘“:
156.637 Personen, davon
82.377 Armeniern,
74.260 Muslime
Übersiedlung von Armeniern aus
dem Iran in die Araratebene (W.
Moschkow)
Erhöhung des armenischen
Bevölkerungsanteils durch
Emigration aus dem Iran und
Osmanischen Reich: 60.000
Bevölkerung und ethnische Zusammensetzung
1886-2001
(Gouvernement Jerewan bzw. Republik Armenien)
Ethnische Zusammensetzung des
Gouvernements Jerewan 1886
Armenier
375.700
Tataren (Aseris)
251.057
Kurden
36.478
Russen
4.152
Assyrer
1.622
Griechen
1.022
Gesamt:
670.031
Vergleichstabelle der armenischen,
aserischen und kurdischen
Bevölkerungsanteile Armeniens 18972001
Gesamtbevölkerung 1897: 829.556
Ermordung des Zaren Alexander II. (1881) und
Hinrichtung der Attentäter
Kaiser Alexander II. (18181881;) regierte seit 1855
Statthalter
Prinz Grigorij
Sergejewitsch
Golizyn
Alexej LobanowRostowskij
(30.12.1824 - 30.8.1896)
Botschafter (1878–1895)
Außenminister (1895–
1896)
„ARMENIEN OHNE
ARMENIER“
Massaker an Armeniern in Baku 1905
Niedergebranntes Wohnhaus der
Familie Lalajan)
Russisch-britische Rivalität
(Karikatur, um 1900)
Mai 1915: Selbstverteidigung des
Armenierviertels in Wan
Massenflucht der Armenier aus Wan
in den Südkaukasus
Lenin, 20.12.1920:
„Wir sind vorübergehend genötigt, die Interessen der
armenischen werktätigen Klasse denjenigen der
Weltrevolution zu opfern. Estland, Lettland und Litauen
sind von uns genauso behandelt worden. […] Alles, was wir
im Augenblick für Armenien tun können, ist, ihm Waren
und Geld zu geben, und, sofern dies möglich ist, auf seinem
Territorium eine solche Truppenmacht zu konzentrieren,
dass Ankaras Haltung versöhnlicher wird; doch vergesst
nicht, Genossen, dass wir Armeniens wegen mit
niemandem kämpfen werden, schon gar nicht mit Kemal
[Atatürk].“
Zitiert nach: Zürrer, Werner: Kaukasien: 1918-1921: Der Kampf der Großmächte um die Landbrücke zwischen Schwarzem
und Kaspischem Meer. Düsseldorf 1978, S. 465
Zerstückelung Ostarmeniens
1920-21
1920: Armenier flüchten aus Kars
Nachitschewan
(5.500 qkm): relative armenische Bevölkerungsmehrheit (40%), Russ.-türk.
Vertrag von Moskau (16.03.1921)
Berg-Karabach
(12.000 qkm): absolute armenische Bevölkerungsmehrheit (über 90%);
Beschluss des Kawbjuro (05.07.1921) entgegen früheren Anschlusszusicherungen
Dschawachk/Dschawacheti
(2.589 qkm): Teilweise absolute armenische
Bevölkerungsmehrheit; historische georgische Ansprüche
Bezirke Kars
und Ardahan; Surmalu: 1878-1918 zum Russischen Reich gehörig (Karskaja
oblastj = Gebiet Kars, mit Bezirken Kars, Ardahan, Olti u. Kaghisman ); März 1918 Einnahme
durch osmanische Truppen; 1918-20 zur Republik zugehörig (nur 1919-Sept. 1920 de facto);
erneute Einnahme während kemalistischen Angriffs auf Republik Armenien (23.09.03.12.1920); durch Moskauer Vertrag (1921) sowjetruss. Verzicht auf diese Gebiete (ratifiziert
am 13.10.1921 in Kars); bilateraler armenisch-türkischer Freundschaftsvertrag v. 13.10.1921:
Anerkennung der Gebietsabtretungen gem. Moskauer Vertrag
 Der Südkaukasus verlor ein Territorium von fast 25.000 qkm (= ein Fünftel des gesamten
Gebiets) mit einer Bevölkerung von 527.000 Menschen, vor allem auf Kosten Armeniens.
Georgien verlor Bezirk Artwin, konnte aber Hafen Batumi für sich retten.
Antikirchliche Verfolgung
Seit 17.12.1920: Erlasse zur Einschränkungen des
Handlungsraums der armenisch-apostolischen Kirche;
Beschlagnahmungen der Kirchenschätze und kostbaren
Bibliothek des Katholikats Etschmiadsin  Verweltlichung;
Grundstock für die Sammlung des Kulturhistorischen
Instituts „Matenadaran“
•04.02.1922: Sowjetarmenische Verfassung  Trennung
von Kirche und Staat bzw. Schule; Besiegelung der
Bodenbeschlagnahmungen, Verbot schulischen
Religionsunterrichts sowie der pädagogischen Tätigkeit von
Klerikern und Mönchen; Geistlichen wird das aktive u.
•
(„Daschnaken-“)Katholikos
Choren I. Muradbekjan (18731938; Katholikos: 1932-38);
Ermordet 1938 (offiziell: Tod
durch Schlaganfall); 2006 zum
Märtyrer erklärt
passive Wahlrecht aberkannt (§ 71d der Verfassung); Kirche
verliert ihren Status als juristische Person  de iure nicht
mehr existent
•Ende der 1920er Jahre (Kollektivierung) Verschärfung
antikirchlicher Steuergesetzgebung; drastische
Steuererhebungen für Geistliche u. Gemeinden;
Verelendung vieler Geistlicher und ihrer Familien
13./14. Juni 1949: Deportation von
Westarmeniern und „Repatrianten“


29.05.1949: Beschluss der Sowjetregierung „Über den
Transport und die Evakuierung der Deportierten aus den
Sowjetrepubliken Georgien, Armenien und Aserbaidschan
sowie von der Schwarzmeerküste und über die
Gewährleistung ihrer Beschäftigung“
In der Nacht vom 13./14. Juni 1949 Deportation von
13.200 vermeintlichen „Daschnaken“ (i.d.R.
„Repatrianten“) und „ehemals türkischen Bürgern“ (=
Westarmeniern) aus dem Südkaukasus in den Altai
(„Daschnaken“) sowie die westsibirische Stadt Tomsk
(Westarmenier)
1920-1941:
Fast vollständige Vernichtung der armenisch-apostolischen Kirche

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

1937: Noch 70 armenisch-apostolische Geistliche am
Kloster Etschmiadsin tätig
1941: Kein einziger Geistlicher mehr in Etschmiadsin
tätig
Von den etwa 800 Kirchen und Klöstern, die Anfang
des 20. Jhs. auf dem Gebiet des späteren
Sowjetarmenien bestanden, standen im Frühjahr
1938 nur noch vier offen.
Ca. 2.000 (sowjet-)armenische Geistliche
deportierte und ermordet (Kirchenhistoriker Hacik
R. Gazer)
„Repatriierung“ und Monoethnisierung
1920-1937: Ansiedlung von 44.000 westarmenischen Flüchtlingen aus
Griechenland, Irak und Istanbul in Sowjetarmenien („Repatriierung“)

1941-1945: 175.000 Gefallene von 450.000 sowjetarmenischen Soldaten im
Zweiten Weltkrieg (insgesamt 600.000 armenischstämmige Sowjetsoldaten als
Kriegsteilnehmer, davon jeder zweite gefallen). Ausgleich der Verluste an
Arbeitnehmern durch

1946-49: Zweite große „Repatriierungswelle“: 100.000 Auslandsarmenier vor
allem aus Balkanstaaten (Griechenland, Bulgarien, Rumänien) und Nahem Osten
(Libanon, Ägypten, Syrien, Iran), ferner Frankreich (5.300) und USA

Insgesamt 1921-1973 Zuwanderung von 246.140 Auslandsarmeniern, danach
starker Rückgang

Zuwanderung von Armeniern aus anderen Sowjetrepubliken („innere
Repatriierung“): Bis Anfang der 1970er Jahre 276.100 Zuwanderer

Zuwanderung 1921-1973 insgesamt (Innere und äußere „Repatriierung“): 522.240
Gegenläufige Tendenzen:

Seit 1975 Rückwanderung westeuropäischer „Repatrianten“ infolge von
Integrationsproblemen (rechtliche Grundlage: Helsinki-Schlussakte und KSZEVertrag)

Arbeitsmigration innerhalb der UdSSR

Massaker, Deportation, Verschleppung, Zwangsarbeit -
Gewalt- und Vernichtungserfahrungen im Südkaukasus
im 20. Jahrhundert
1918-20: Massaker an Armeniern in Aserbaidschan bzw. unter aserbaidschanischer
Herrschaft: 1918 (Baku: ca. 30.000 Tote = 33% der armenischen Gesamtbevölkerung
von 88.000 ), 23.03.1920 (Schuschi: 17.520 Opfer)
 Deportationen aus Sowjetarmenien 1929-1938 (Kollektivierung: 25.000 deportierte
Bauern; stalinistische „Säuberungen“: 300.000 Opfer), 1947 (von „Repatrianten“)
 1941-45: Verschleppung, Zwangsarbeit, Vernichtung in deutscher
Kriegsgefangenschaft
 1944: Deportation von muslimischen Hamschen-Armeniern aus Georgien nach
Kasachstan u. Usbekistan; 1948: 58.000 Griechen und Armenier („Daschnaken“) aus
Georgien nach Kasachstan deportiert
 1948-53: Armenisch-aserbaidschanischer Bevölkerungszwangsaustausch (nach
Beschluss des sowjetischen Ministerrats von 1947)
 1988 u. 1990: Antiarmenische Pogrome in den aserbaidschanischen Städten Sumgait
(Februar 1988), Kirowabad (November 1988), Baku (Januar 1990)  wechselseitige
Vertreibungen ethno-religiöser Minderheiten in Aserbaidschan und Armenien
 30.04.-Aug. 1991: „Operation Ring“ – 23. Sowjetarmee und aserbaidschanische
Zivilsten vertreiben die Einwohner von 23 armenischen Dörfern (5.000-32.000
Menschen, davon 160-170 getötet; ca. 600 Zivilisten als Geiseln verschleppt)

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