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Störungen sozialer Funktionen und andere
Verhaltensstörungen mit Beginn in der
Kindheit – Teil VI
5. Kongress für medizinische Fachangestellte
Praxisfieber Regio
05. April 2014
Köln
Personalia
Dr. med.Thomas Fischbach
Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin
Facharzt für Anaesthesiologie
Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte
Landesverbandsvorsitzender BVKJ Nordrhein
Bundesvorstand
Gliederung
Zugeordnete Krankheitsbilder
Einteilung nach dem Multiaxialen
Klassifikationssystem nach ICD 10
Spezielle Krankheitsbilder Teil 1 (2011)
1. Störungen des Sozialverhaltens (F91.-)
2. Kombinierte Störungen des Sozialverhaltens und der Emotionen (F 92.-)
Gliederung
Spezielle Krankheitsbilder Teil 1I (2012)
1. Emotionale Störungen des Kindesalters
(F 93.-)
Gliederung
Zugeordnete Krankheitsbilder
Einteilung nach dem Multiaxialen Klassifikationssystem nach
ICD 10
Spezielle Krankheitsbilder Teil III (2013)
1. Hyperkinetische Störungen (F90.-)
Spezielle Krankheitsbilder Teil IV (2014)
1. Störungen sozialer Funktionen mit Beginn in der Kindheit
Bindungsstörungen, Mutismus) (F 94.-)
2. Ticstörungen (F 95.-)
3. Andere Verhaltensstörungen mit Beginn in der Kindheit und
Jugend (F 98.-)
- nichtorg. Enuresis und Enkopresis, Stottern, Stereotypien
Multiaxiale Klassifikation
Psychische Störungen wie z.B. ADHS werden nach den
europäischen Standards nicht allein nach dem vorliegen des
klinischen Syndroms (hier also HKS/ ADHS), sondern auf 6
sogenannten "Achsen" beschrieben.
Achse 1: klinisch-psychiatrisches Syndrom
Achse 2: umschriebene Entwicklungsstörungen
Achse 3: Intelligenzniveau
Achse 4: körperliche Symptomatik
Achse 5: aktuelle abnorme psychosoziale Umstände
Achse 6: Globalbeurteilung der psychosozialen Anpassung
Damit soll erreicht werden, dass nicht allein eine
beschreibende Diagnostik eines (oder mehrerer)
psychiatrischer Krankheitsbilder erfolgt, sondern das
Kind und seine Entwicklung, begleitende Erkrankungen
und Lebensumstände erfasst werden.
Gliederung
A. Störungen sozialer Funktionen mit Beginn
in der Kindheit (F 94.-)
1. Bindungsstörungen
2. Mutismus
B. Ticstörungen (F 95.-)
C. Andere Verhaltensstörungen mit Beginn in
der Kindheit und Jugend (F 98.-)
1. Enuresis
2. Enkopresis
3. Stereotypien
4. Stottern
A. Störungen sozialer Funktionen
mit Beginn in der Kindheit
Bindungsstörungen
Mutismus
1. Bindungsstörungen
Die Bindungsforschung geht auf den Arzt und
Psychoanalytiker John Bowlby (1907 – 1990) zurück.
Mutter und Säugling befinden sich hiernach in einem sich
wechselseitig bedingenden und selbstregulierenden
System.
Insofern kann Bindung als ein Teil des komplexen System
der Beziehung verstanden werden.
Die Bindungstheorie befasst sich mit den grund-legenden
frühen Einflüssen auf die emotionale Entwicklung eines
Kindes.
1. Bindungsstörungen -Theorien
Nach dem Lerntheoretischen Konzept kann
Bindung als Form der Abhängigkeit nach dem Prinzip
sekundärer Verstärkung verstanden werden.
Der psychoanalytische Ansatz betont die Mutter als
erstes Liebesobjekt des Kindes, weil sie mit
elementaren Bedürfnissen, wie dem nach Nahrung,
assoziiert wird.
Der ethologische Ansatz hingegen betrachtet eher
den biologischen Kontext, betont also die
phylogenetische Sicht.
1. Bindungsstörungen
Bindung beginnt letztlich bei der Geburt und ist dann
gegeben, wenn sich ein Kind sicher und beschützt fühlt,
wenn es die Umwelt erkundet, selbständig wird und sich
in psychologisch Sinn positiv entwickelt. Eine sichere
Bindung fördert nach den Ergebnissen bisheriger Forschung die soziale Kompetenz, das Selbstvertrauen und
auch die Selbstregulation, also alles Faktoren, die auch
einen Schutz vor aggressivem Verhalten darstellen.
Nach Bowlby stellt Bindung ein primäres, genetisch verankertes motivationales System dar, das zwischen der
Bezugsperson und dem Säugling in gewisser biologischer
Präformiertheit nach der Geburt aktiviert wird und
überlebenssichernde Funktion hat .
1. Bindungsstörungen
- Feinfühligkeit und Bindungsqualität
- Hierarchie der Bindungspersonen
- Entwicklung innerer Modelle des Verhaltens
- Stabilität der Bindung
- Explorationsverhalten und Bindung
1. Bindungsstörungen
Feinfühligkeit und empathisches Verhalten:
- Wahrnehmungsfähigkeit kindlicher Signale
- Fähigkeit der korrekten Interpretation kindlicher Signale
- Fähigkeit der angemessenen und prompten Befriedigung
kindlicher Bedürfnisse
Pathologie: Unsichere Bindung
Hierarchie der Bindungspersonen
- entwickelt sich beim Säugling im 1. Lebensjahr und bedeutet
in welcher Reihenfolge die Bezugspersonen aufgesucht werden.
- Der Rang in der Hierarchie hängt vom Grad der Trennungsangst und dem Maße der Verfügbarkeit ab.
1. Bindungsstörungen
Entwicklung innerer Arbeitsmodelle
- die vielen Interaktionserlebnisse zwischen Mutter und Säugling hinsichtlich Trennung und erneuter Nähe bedingen im
Laufe des 1. LJ. innere Modelle des Verhaltens und der damit
verbundenen Affekte bei Mutter und Kind.
- Dies macht das Verhalten von Mutter und Kind in bestimmten Bindungssituationen vorhersagbar.
- Diese Modelle werden für jede Bindungsperson in der Gesamthierarchie entwickelt.
Stabilität der Bindung
- eine Veränderung der Bindung in eine sichere oder unsichere
Richtung ist im Laufe des Lebens zunehmend schwerer möglich.
1. Bindungsstörungen
Explorationsverhalten und Bindung
- dem Bindungsverhalten steht das Explorationsbedürfnis des
Säuglings gegenüber. Sie stehen wechselseitig in Abhängigkeit voneinander.
- eine sichere Bindung des Säuglings an seine Bezugsperson ist
unbedingte Voraussetzung dafür, dass das Kind sein Explorationsbedürfnis befriedigen und sich damit als selbstwirksam
und handelnd empfinden kann.
- es entsteht im Idealfall ein Gleichgewicht zwischen Raum für
Exploration und Grenzsetzung zugleich.
- Die Mutter muss den von seiner Erkundung zu ihr zurückkehrenden Säugling emotional annehmen (Social Referencing
nach Emde & Sorce, 1983).
1. Bindungsstörungen
Es gibt Hinweise, dass die Qualität der Bindung von der ElternAuf die Kindergeneration weitergegeben wird.
Eine sichere Bindung ist Voraussetzung für prosoziales Verhalten und die Entwicklung einer Resilienz.
Gelingt die Entwicklung einer sicheren Bindung nicht, so
kommt es zu entsprechenden Bindungsstörungen, die erhebliche Auswirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung des
Kindes haben.
1. Bindungsstörungen
Klassifikation der kindlichen Bindungsqualität
- Sichere Bindung („secure“)
- Unsicher-vermeidende Bindung („avoidant“)
- Unsicher – ambivalente Bindung („ambivalent“)
- Desorganisierte Bindung
1. Bindungsstörungen
Sichere Bindung („secure“)
- Kind zeigt deutliches Bindungsverhalten bei Trennung (sucht
nach der Mutter, weint etc.).
- Auf Rückkehr der Mutter reagiert es mit Freude, lässt sich
schnell beruhigen und spielt weiter.
Unsicher – vermeidende Bindung („avoidant“)
- Kind reagiert kaum auf die Trennung von der Mutter und
spielt weiter.
- auf die Rückkehr der Mutter reagiert es mit Ablehnung
und will nicht getröstet werden.
- Körperkontakt wird vermieden.
1. Bindungsstörungen
Unsicher – ambivalente Bindung („ambivalent“)
- Kinder zeigen nach der Trennung den größten Stress und
weinen heftig.
- sie lassen sich kaum beruhigen.
- es dauert lange, bis ein emotional stabiler Zustand erreicht
wird.
- sie suchen einerseits Nähe und Körperkontakt, reagieren daandererseits oftmals aggressiv.
Desorganisierte Bindung
- Zusatzqualifikation zu den genannten Bindungstypen.
- stereotype Verhaltensmuster
- Einfrieren von Bewegungen („Freezing“)
- ungeordnetes Hin- und Herlaufen.
- besonders häufig bei Risikogruppen und Eltern mit PTBS.
1. Bindungsstörungen
Therapie der Bindungsstörungen
1. Elternbezogene Interventionen:
- Paarberatung.
- praktische und kontinuierliche Unterstützung durch das
Hilfesystem (Sozialarbeit und – pädagogik).
- Elterntrainings im Problemlöseverhalten.
2. Kindbezogene Interventionen
- Verbesserung der Sozialkompetenz und des Verhaltens.
- Sensibilisierung für eigene Gefühle und Empathie.
- Erhöhung des Selbstwertgefühls.
3. Fremdplazierung/institutionelle Erziehung bei Hochrisikofamilien nicht immer vermeidbar!
2. Mutismus
Mutismus (lat. mutitas „Stummheit“, mutus „
stumm“; psychogenes Schweigen) ist
eine Kommunikationsstörung, wobei keine
Defekte der Sprechorgane und des Gehörs
vorliegen. Der Mutismus tritt mehrheitlich in
Verbindung mit einer Sozialphobie auf. Im
Jugend- und Erwachsenenalter ist das
Schweigen häufig eingebettet
in Depressionen. Man unterscheidet beim
Mutismus zwischen dem (s)elektiven
Mutismus, dem totalen Mutismus sowie dem
akinetischen Mutismus.
2. Mutismus
- Abgrenzung von Störungen der Sprachentwicklung
erforderlich.
- Emotionale Störung mit sozialer Ängstlichkeit des
des Kindesalters.
- Prävalenz unsicher ( 8 – 190 Fälle/10000 Kinder
im Alter zwischen 4 – 15 Jahren.
- Früher Beginn meist im Vorschulalter, selten nach dem 9. LJ.
- Keine Geschlechterpräferenz
- Hinweise auf vermehrtes Vorkommen bei Migrationshintergrund/Multilingualität.
2. Mutismus
Symptomatik:
- Mischung aus ängstlicher Abwehr und kindlichem
Trotz.
- Nonverbale Kommunikation zumeist möglich.
- anamnestisch häufig Sprachentwicklungs- oder Beziehungsstörungen
- Häufig vergesellschaftet mit Angststörungen, oft Sozialphobie.
- seltener mit ADHS, Enuresis, Enkopresis, Zwangsstörungen.
- Abgrenzung zu einer Störung des Sozialverhaltens mit oppositionell-trotzigem Verhalten erforderlich.
- Abgrenzung von Erkrankungen des Autismusspektrums, posttraumatischen Belastungsstörungen und Depressionen.
- Erfassung und DD durch Fragebögen für Eltern und Lehrer.
2. Mutismus
Therapie:
Die uneinheitliche Ätiologie bedingt verschiedene Therapieansätze:
- Verhaltenstherapie (operantes Konditionieren, Feedback).
- Familientherapie
- Psychopharmaka (in Einzelfällen, kaum Expertise).
Verlauf:
- 50 – 80 % Heilungen werden angegeben.
- oftmals hartnäckige Persistenz
- elektiver Mutismus wird im Erwachsenenalter kaum beobachtet, geht aber oft in Sozialphobien über.
B. Tic - Störungen
B. Ticstörungen
Tics sind plötzliche, unwillkürliche, rasche, sich
wiederholende, nicht rhythmische motorische
Bewegungen.
Sie betreffen umschriebene Muskelgruppen und dienen
keinem Zweck (motorische Tics) oder
Äußern sich in ebenfalls keinem Zweck dienenden
vokalen Produktionen (vokale Tics).
Tics dauern zumeist weniger als eine Sekunde.
Ticstörungen können in ihrer Anzahl, Lokalisation,
Komplexität, Intensität, Häufigkeit und Art sowohl
intraindividuell als auch interindividuell stark variieren.
B. Ticstörungen
Prävalenzraten:
- Vorübergehende Tics: 4 – 12% aller Grundschüler
- Chronische Ticstörungen: 3 – 4 %
- Gilles de la Tourette – Syndrom: 0,05 – 3 %
Nur ein Teil der Ticstörungen ist behandlungs-bedürftig.
Dies hängt vom Grad der psychosozialen Beeinträchtigung ab.
Männer > Frauen (3 – 4,5 : 1)
Es gibt familiäre Häufungen.
B. Ticstörungen
Differentialdiagnose:
- Dystonien (permanent vorhanden, nicht unterdrückbar,
sistieren im Schlaf (z.B. Blepharospasmus).
- Chorea minor Sydenham. Zust. Nach Streptokokkeninfekten mit kontinuierlichen, kurzen und einfachen Bewegungen.
- Chorea major Huntington
- Cerebrale Schädigungen (SHT, CO-Intox, Infarkt, Entzündungen
- Medikamentennebenwirkungen (Neuroleptika)
- Myoklonien Betrifft nicht funktionelle Muskelgruppen und
ist nicht unterdrückbar (z.B. Säuglingsmyoklonien).
B. Ticstörungen
Einfache motorische Tics sind:
- Augenblinzeln
- Kopfwerfen
- Schulterzucken
- Grimassieren
Komplexe motorische Tics
Sind oft langsamer und wirken eher zielgerichtet:
- im Kreis herumwirbeln
- Hüpfen
- in die Hände klatschen
- Faust ballen
- Trippeln
etc.
Motorische Tics betreffen zumeist den Gesichts-, Kopf-, Hals- und
Schulterbereich.
Die zwangsartige Wiederholung von Gesten (Tics) anderer nennt man
Echopraxie, die von obszönen Gesten Kopropraxie.
B. Ticstörungen
Vokale Tics können sein:
- Räuspern
- Bellen
- Grunzen
- Schnüffeln
- Zischen
- Echolalie (Wiederholung bestimmter Worte)
- Koprolalie (Wiederholung obszöner Worte)
- Palilalie ( Wiederholung eigener Laute oder Wörter)
Tics können zuweilen für einen bestimmten Zeitraum unterdrückt werden.
Ticstörungen beginnen zumeist als einfache motorische Tics.
Tics können spontan verschwinden.
Bei Kindern wird das Auftreten von Tics häufig nicht einmal bemerkt.
Etwa ab 10 Jahren bemerken Kinder sensomotorische Phänomene, die
dem Tiv vorausgehen (innere Unruhe, Dranggefühle etc.)
Mit zunehmendem Alter gelingt die Ticbeherrschung zunehmend besser.
B. Ticstörungen
Einteilung nach Chronifizierungsgrad:
Vorübergehende Ticstörungen: < 1 Jahr
- z.B. Grimassieren, Blinzeln, Kopfschütteln
Chronische motorische/vokale Tics: > 1 Jahr
Gilles-de la Tourette-Syndrom: Kombination aus vokalen und motorischen Tics > 1 Jahr lang. Neigt zur
Persistenz und ist für Patienten wie Umgebung sehr
belastend.
Nicht näher bezeichnete Ticstörungen
B. Ticstörungen
Komorbide Störungen:
- Aufmerksamkeitsdefizit-/hyperkinetische Störungen (50-75%)
- Zwangsstörungen (30 – 60 %)
- Affektive, vor allem depressive Störungen (20 – 25 %)
- Angststörungen (15 – 20 %)
- Selbstverletzendes Verhalten (4 – 60 %)
- Schlafstörungen (15 – 40 %)
B. Ticstörungen
Therapieansätze:
1. Verhaltenstherapie
- Selbstbeobachtung
- Kontingenzmanagement (Belohnung)
- massierte negative Übungen
- Entspannungstraining
- Exposition mit Reaktionsverhinderung (Ticimpulse aushalten)
- Kombinationsbehandlung mit Reaktionsumkehr (isometrisches Anspannen der den Ticbewegungen entgegenstehenden
Muskelgruppen.
B. Ticstörungen
Therapieansätze:
2. Pharmakotherapie
- Dopamin – Rezeptor – Antagonisten:
-- Tiaprid (Tiapridex)
-- Risperidon (Risperdal)
-- Sulpirid
-- Pimozid
-- Haloperidol (Haldol)
- Noradrenerge Agonisten:
- Clonidin (Catapresan)
Nebenwirkungen wie Schläfrigkeit, Lustlosigkeit, depressive
Verstimmung, Rückzug und EPS schränken die Anwendung ein.
Tiaprid und Sulpirid gelten als die verträglichsten Pharmaka.
C. Andere Verhaltensstörungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend
Enuresis
Enkopresis
Stereotypien
Stottern
1. Enuresis
Definition:
Unwillkürlicher Harnabgang ab einem Alter von 5
Jahren ohne organische Ursache.
Mindestens 2mal/Woche und 3 aufeinander folgende
Monate (DSM IV).
Typen: nocturna, diurna, diurna et nocturna
Primäre E.: Keine trockene Periode
Sekundäre E.: trockene Periode vorhanden
1. Enuresis
Definition:
Ausschlusskriterien:
körperliche Erkrankungen wie Diabetes insipidus,
Diabetes mellitus, Spina bifida, HOAL, Harnwegsinfekt oder neurogene Blase.
Es gibt je nach Klassifikationsgrundlage (ICD 10
oder DSM IV) graduelle Unterschiede.
1. Enuresis
Prävalenz:
Enuresis nocturna:
2- 3mal häufiger als das Einnässen tagsüber
3-Jährige: 43,2 %; 4-Jährige: 20,2 %; 5-Jährige: 15,7 %
Jugendliche: 1 – 2 %; Erwachsene: 0,3 – 1,7 %
Enuresis diurna:
5-Jährige: 2 %; 6-Jährige: 2,9 %; 7-Jährige: 3,9 %;
10-Jährige: 3 %; Jugendliche: < 1 %.
große transkulturelle Unterschiede
häufigste Form: idiopathische Dranginkontinenz
1. Enuresis
Basics:
Bei solch hoher Prävalenz handelt es sich um ein
reifungsbedingtes Phänomen.
Eine Unterscheidung hinsichtlich des geistigen
Entwicklungsalters ist aus Patienten- und Elternsicht wenig sinnvoll. Auch bei intelligenzgeminderten Patienten sollte ab einem Alter von 5 Jahren
Diagnostik durchgeführt werden.
1. Enuresis
Definition:
Enuresis
Einteilung der Enuresis nocturna in Untergruppen:
- Primäre monosymptomatische (isolierte) PMEN
- Primäre, nicht monosymptomatische (nicht isolierte PNMEN
- Sekundäre Enuresis nocturna (SEN)
1. Enuresis
Primäre monosymptomatische Enuresis nocturna
- nächtliches Einnässen ohne längeres trockenes Intervall
(6 Mo.) und ohne Anzeichen einer Blasenfunktionsstörung.
- das Einnässen stellt das einzige Symptom dar.
- Reifungs- und Regulationsstörung des ZNS.
- Abgang großer Urinmengen („das Bett schwimmt“).
- Kinder haben eine hohe Schlaftiefe.
Primäre nicht – monosymptomatische E. nocturna
- es liegt eine Blasenfunktionsstörung vor, wie diese auch
Kinder mit Tagseinnässen aufweisen.
1. Enuresis
Sekundäre Enuresis nocturna
- Rückfall nach einer längeren trockenen Periode.
- häufig mit psychischen Begleitstörungen verbunden.
- ansonsten identische Symptomatik wie bei der PMEN
Funktionelle Harninkontinenz (Enuresis diurna)
- kann mit nächtlichem Einnässen kombiniert vorkommen.
- Idiopathische Dranginkontinenz:
- ungewollter Harnabgang bei übermäßigem Harndrang
- zumeist angeborene Blasenfunktionsstörung (Blase beginnt sich bereits in der Füllungsphase zu kontrahieren).
- Kinder versuchen dem Harndrang durch Haltemanöver entgegenzuwirken (Drucksen, Hüpfen…)
- Abgang kleiner Urinmengen
- häufig Wundsein und Harnwegsinfekte
1. Enuresis
Funktionelle Harninkontinenz (Enuresis diurna)
Harninkontinenz bei Miktionsaufschub
- Aufschieben des Wasserlassens bis zum Einnässen
- psychogen bedingte und erworbene Störung
- seltene Toilettengänge (Miktionsprotokoll!!)
- Ursachen: Angst etwas zu verpassen, Ekel vor Toiletten..)
- keine Blasenfunktionsstörung
- oft kombiniert mit Störungen des Sozialverhaltens (oppositionelles Verhalten).
1. Enuresis
Funktionelle Harninkontinenz (Enuresis diurna)
Detrusor – Sphinkter – Dyskoordination
- fehlende Erschlaffung und paradoxe Kontraktion des
Blasenschließmuskels beim Wasserlassen.
- Kinder können nicht spontan Wasserlassen und müssen
pressen.
- unterbrochener Harnstrahl
- weitere Diagnostik unbedingt wegen möglicher Komplikationen (VUR; HWI) erforderlich.
1. Enuresis
Differentialdiagnose:
- Psychopathologische DD:
- schwere Deprivation
- Misshandlung
- schwere Störungen der Emotionen/des Sozialverhaltens
- Somatische DD:
- Fehlbildungen/Fehlanlagen des Harntrakts
- neurogene Störungen
- andere medizinische Erkrankungen
1. Enuresis
Komorbide Störungen
- Psychische Störungen:
- Relevanz: liegen in 30 % der Fälle vor
- Externalisierende Verhaltensstörungen
Enkopresis
Emotionale Störungen (uam. belastende Lebensereignisse)
AD(H)S und andere Störungen des Sozialverhaltens
- Somatische Störungen
- Vesiko-ureteraler Reflux
- Harnwegsinfektionen
1. Enuresis
Therapie der Enuresis nocturna
- abhängig vom Enuresistyp, daher sorgfältige Diagnostik!
- Enuresis nocturna hat eine hohe Spontanremissionsrate!
- Leidensdruck der Patienten beachten!!
- immer zunächst das Einnässen am Tage behandeln!
- emotionale Entlastung!!!!
Interventionen:
1. Unspezifische Maßnahmen: Miktionskalender, Motivationssteigerung)
2. Apparative Verhaltenstherapie („Klingelhose“) für 6 – 8 Wo.
Effektivste Therapie (bei 62 % der Patienten erfolgreich und
gute Langzeiteffekte! AVT mit Verstärker: 72 %)
3. Pharmakotherapie mit Desmopressin (20 – 40 µg abends
über 3 Monate, dann ausschleichen. (in 43 % erfolgreich)
4. Kombination aus 2 und 3
1. Enuresis
Therapie
AVT mit Verstärker
- Arousal-Therapie („Token-System“;Verstärkersystem)
Dry – Bed – Training
1. Enuresis
Therapie
der funktionellen Harninkontinenz:
- vorwiegend verhaltenstherapeutische Maßnahmen
- Psychoedukation
- Motivationssteigerung („Token-System“)
- bei der Detrusor-Sphinkter-Dyskoordination spielt das
Biofeedback eine große Rolle. Es werden die dysfunktionalen Abläufe der Blasenentleerung bewusst wahrgenommen.
- Pharmakotherapie der Idiopathischen Draninkontinenz:
- nur wenn verhaltenstherapeutische Maßnahmen versagen.
- Oxybutinin (Dridase): 0,3 mg/KgKG bis max. 15 mg/die in
2 – 3 Dosen.
Propiverin (Mictonorm): max. 0,8 mg/KgKG in 2 Dosen
2. Enkopresis
Definition:
Willkürliches oder unwillkürliches Absetzen von Stuhl
an nicht dafür vorgesehenen Stellen ab einem Alter von
4 Jahren nach Ausschluss organischer Ursachen.
Subtypen:
1. Enkopresis mit Obstipation
2. Enkopresis ohne Obstipation
3. Toilettenverweigerungssyndrom
4. Toilettenphobie
5. Slow – Transit - Constipation
2. Enkopresis
Enkopresis mit Obstipation
- seltener Stuhlgang auf der Toilette
- große Stuhlmengen
- nicht normale Stuhlkonsistenz
- tastbare Skybala
- Schmerzen bei der Defäkation
- Bauchschmerzen
- reduzierter Appetit
- Laxantien therapeutisch hilfreich
- hohe psychische Komorbidität (30 – 50 %)
2. Enkopresis
Enkopresis ohne Obstipation
- täglicher Stuhlgang auf der Toilette
- kleine Stuhlmengen
- normale Stuhlkonsistenz
- selteneres Einkoten
- keine Skybala
- keine Schmerzen
- guter Appetit
- Verschlechterung durch Laxantien
- hohe psychische Komorbidität
2. Enkopresis
Toilettenphobie
- phobische Symptome
Toilettenverweigerungssyndrom
- Kleinkindalter
- Miktion auf der Toilette
- Weigerung, auf der Toilette Stuhl abzusetzen
- Verlangen nach Windel für Defäkation
- Dauer > 1 Monat
- häufig Stuhlretention in der Vorgeschichte
- Risikofaktor für spätere Enkopresis/Obstipation
- oft mit Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem
Verhalten assoziiert
2. Enkopresis
Prävalenz
- abhängig vom Beginn und der Intensität der
Sauberkeitserziehung (in D zwischen 19. – 21.LM).
- 8 – 9 % aller Kinder sind betroffen.
- 7-Jährige: 1,4 % mindestens 1x/Wo; 5,4 % seltener
- im Schulkindalter konstant zwischen 1 – 3 %
- Mädchenwendigkeit (1 : 2-4)
- Häufigkeitsgipfel 2 und 4 – 5 Jahre
2. Enkopresis
Differentialdiagnosen
Psychopathologische DD
- es gibt keine Enkopresis – typische Psychopathologie
- kommt bei allen internalisierenden wie externalisierenden Störungen vor.
- besonders im Rahmen schwerer psychischer Störungen
-- Intelligenzminderung
-- Autismusspektrumkrankheiten
-- Zwangsstörungen
-- Psychosen
-- Anorexia nervosa
-- Deprivationssyndrome
-- schwere emotionale Störung
2. Enkopresis
Differentialdiagnosen
Somatische DD
- Besonders häufig bei Enkopresis mit Obstipation (5 %)!
- Anatomische Ursachen (Fissuren, Rhagaden, Abszesse,
Dermatitis, Analstenose, idiopathisches Megacolon)
- Metabolische Ursachen (Elektrolytverschiebungen, CF,
Zöliakie)
- Endokrine Ursachen (Hypothyreose, Diabetes mellitus)
- Medikamentöse Ursachen (Antiepileptika, Opiate, Eisen,
Anticholinergika, Neuroleptika, Chemotherapeutika..).
- Neurogene Ursachen (CP, Spina bifida, Tethered Cord).
- Neuropathische Ursachen: Morbus Hirschsprung
2. Enkopresis
Therapie
- Unspezifische Maßnahmen: Entlastung von Scham – und
Schuldgefühlen, Steigerung des Selbstwertgefühles, Motivationssteigerung.
- Psychoedukation und Informationsvermittlung („Demystifizierung“), ggf. im Rahmen von Schulungsprogrammen.
- Behandlung komorbider Störungen
- Psychotherapie: Verhaltenstherapeutische, symptomorientierte Interventionen
- Toilettentraining
- Ernährungsumstellung/Trinkmenge!
- Laxantien (nur bei Enkopresis mit Obstipation):
-- Polyethylenglykol (Movicol): 0,2 – 0,8g/KgKG/d in 2 Gaben
-- Laktulose (Milchzucker): 1 – 3 ml/KgKG/d in 1 – 3 Dosen (2. Wahl).
- Desimpaktion
Macrogol 1,5 g/KgKG/d für 3 – 4 Tage
Phosphathaltige Klistiere (30 ml/10 KgKG)
3. Stereotypien
Definition und Prävalenz/Klinisches Bild
Stereotypien sind repetitive, relativ gleichförmige Bewe-gungen des Kopfes,
des Körpers und/oder der Hände.
Sie betreffen i.G. zu Tics zumindest eine gesamte Körperregion i.S. einer willentlichen und zweckgesteuerten Bewegung.
Sie haben einen hohen Grad an Autonomie und kommen
häufig bei selbstverletzendem Verhalten (Automutilation) vor.
Sie manifestieren sich als rhythmische Bewegungen des Kopfes und
oderKörpers (Jaktationen), als Händewedeln, Beißen, Kratzen, Ziehen und
Schlagen am eigenen Körper.
Jaktationen sind bei gesunden Säuglingen keineswegs abnorm und
kommen bei 15 – 20 % der Säuglinge vor.
3. Stereotypien
Definition und Prävalenz/Klinisches Bild
Stereotypien treten besonders häufig bei bestimmten Risikogruppen auf:
- geistig Behinderte
- Blinde
- Psychotikern
- deprivierte Kinder
Bei Patienten der genannten Risikogruppen sind Stereotypien anhaltend, umgebungsunabhängig und teilweise von
bizarrem Erscheinungsbild (selbstverletzend, autoerotisch).
3. Stereotypien
Therapie und Verlauf:
- Anreicherung der Umgebung
- differenzierte Verstärkung alternativen Verhaltens
- Pharmakotherapie (Lithium; Carbamazepin, Naltrexon)
- Aversive Therapieformen der Verhaltenstherapie (z.B.
Elektrostimulation; Ammoniakinhalation).
Die Prognose ist von der Grunderkrankung abhängig.
4. Stottern
Definition, klinisches Bild und Praevalenz
- Störung des Redeflusses mit tonischen, klonischen oder
gemischten Grundformen.
- Die Symptome entstehen durch eine tonische Pressung
von Atmung, Stimme und Artikulation in Form von abnorm langen Lautdehnungen und Blockierungen sowie
eine klonische Unterbrechung mit Wiederholung von
Einzellauten, insbes. am Wortanfang.
- Dies geht oftmals einher mit weiteren Sekundärsymptomen wie Atemverschieben, Schmatzen, Schlucken, Mitbewegungen und vegetativen Symptomen
4. Stottern
Definition, klinisches Bild und Praevalenz
- Etwa 1 % der Bevölkerung stottert, wobei die Symptome
in 4 von 5 Fällen spontan heilen.
- Beginn meist im Vorschulalter
- Knabenwendigkeit ( zwei- bis zehnmal häufiger als Mädchen)
- das sog. Entwicklungsstottern stellt eine mögliche Phase
im Rahmen des Spracherwerbs dar.
- es treten gehäuft psychische Störungen auf (insbesondere
emotionale Störungen mit sozialem Rückzug).
- Differentialdiagnostisch muss eine noch normale Sprechunflüssigkeit sowie das Poltern (Wortwiederholungen ohne
spastische Komponente) abgegrenzt werden.
4. Stottern
Therapie
Festlegung des Therapiezieles, beginnendes oder chronifiziertes Stottern, Leidensdruck bestimmt das Vorgehen:
- Eltern- und Patientenberatung
- Logopädische Übungsverfahren/Sprachheilpädagogik
- Entspannungsverfahren (Muskelrelaxation nach Jacobson,
autogenes Training).
- Konditionierungsverfahren (operantes Konditionieren, Biofeedback).
- Psychotherapie
- Medikamente (z.B. Tiaprid).
Eine Sonderbeschulung sollte möglichst vermieden werden!
Literaturangaben
Brisch, Karl-Heinz: Bindungsstörungen – von der
Bindungstheorie zur Therapie; Klett-Cotta-Verlag, 1999
Döpfner, Manfred et al. ; Tic – Störungen; Hogrefe-Verlag,
2010; in: Leitfaden Kinder- und Jugendpsychotherapie; Band
13: Döpfner, Manfred, Lehmkuhl, Gerd, Petermann, Franz
Steinhausen, Hans-Christoph: Psychische Störungen bei
Kindern und Jugendlichen“; Urban & Fischer, 7. Auflage 2010
Danke für die Aufmerksamkeit!
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