m edi z i n Se ri e K inde rm e dizin in de r Pra xi s - Tei l 2 Nicht beurteilen, Seelische Störungen im Kindes- und Jugendalter verlangen nach verständigen Gesprächspartnern, die es verstehen Brücken zwischen Eltern und Kindern zu bauen. Bindungsstörungen Kinder brauchen eine sichere Basis. Diese wird ihnen von einer nahen Bezugsperson, zumeist von der Mutter, vermittelt. Fehlt diese Basis, so werden Kinder ängstlichklammernd, oder sie verbergen ihre Gefühle so weit, bis sie sie selbst nicht mehr wahrnehmen können. Bindungsstörungen sind relativ leicht zu sehen, aber schwer zu behandeln. Sie entstehen beispielsweise wenn Mutter und Kind schlecht zusammenpassen: Da ist etwa die Mama, die immer füttern will und ein Kind, das wenig isst. Dieses NichtZusammenpassen ergibt sich oft aus der Partnerwahl. Das Kind gerät nach dem Partner, der eben anders ist. Was allerdings bei diesem als Bereicherung erlebt wird, kann beim Kind störend sein. Schwieriger ist es, wenn eine Ablehnung gegenüber dem Kind vorliegt. Hier therapeutisch einzugreifen, bedeutet Tabuzonen zu überschreiten. Denn die Annahme, dass eine Mutter sich auf und über ihr Kind freut, ist so selbstverständlich, dass ein Abweichen gesellschaftlich nicht erlaubt ist. Aber es muss erlaubt sein, will man Mutter und Kind helfen. Direktes Ansprechen und Wiedergabe des eigenen Eindrucks kann hier weiterhelfen. Die Dreimonatskolik ist eine besondere Bindungsproblematik. Das Kind erfährt, dass es erstmalig mit den eigenen körperlichen Sensationen zurande kommen muss. Auf elterlicher Seite merkt man, dass man dem Kind nicht immer helfen kann, was beide Lager zur Verzweiflung bringen kann. Die kinderärztlichen Annahmen 20 (Winde, falsche Ernährung der stillenden Mutter, Lagerung etc.) können oftmals nicht bestätigt werden. Jedes Placebo, also auch die Nahrungsumstellung, hilft jedoch, denn es geht um die erste Vereinzelung des Kindes und das erste Loslassen vonseiten der Mutter. Kinder mit speziellen Bedürfnissen stellen für die Eltern eine besondere Herausforderung dar. Die Anforderungen sind größer und die Erfolge kleiner. Die wichtigste ärztliche Aufgabe ist es, helfend und nicht zu fordernd einzugreifen. So wünschen sich die Eltern die möglichst frühe optimale Förderung. Das Kind hingegen will, so wie es ist, geliebt werden. Essstörungen Ess- und Fütterungsstörungen gehen fast immer auf ein Ungleichgewicht der Erwartungen und Bedürfnisse zurück. Kinder nehmen nicht kontinuierlich zu und Mütter haben nicht jeden Tag entsprechend Milch. Beide befinden sich in einem labilen Abhängigkeitsverhältnis voneinander. Ärzte sollen nicht den Vergleich zwischen Kind und einer Percentilenkurve machen, sondern die Situation der beiden Beteiligten beurteilen. Besonders wichtig ist es, die Fütterungssituation stressarm zu machen und elterliche Ängste ebenso zu beruhigen, wie kindliche Aversionen oder Ekel. Letzteres ist an sich ja eine wichtige Empfindung, hilft er doch einerseits, nicht zu essen, was ekelerregend (also meist ungesund) ist, andererseits wird über Ekel gesellschaftliche Konvention und kulturelle Zugehörigkeit vermittelt (in Österreich werden etwa Hund oder Schlange nicht gegessen; bei Juden und Muslimen ist das Schwein verboten etc.). Ekel besteht auch gegenüber den Ausscheidungsstörungen. Die häufigste ist das nächtliche Einnässen, das zumeist als eine ADH-Sekretionsstörung mittels Desmopressinanaloga behandelt wird. So wie einst nicht alle einnässenden Kinder an seelischen Problemen litten, so haben heute bei weitem nicht alle eine Sekretionsstörung. Da aber die Selbstheilungstendenz enorm ist, kann jedes Verfahren von sich behaupten, dass es hilft. Eine Dosissteigerung des Desmopressin bis hin zur Hypernatriämie muss jedenfalls verhindert werden. Bleibt eine Besserung aus, bedarf es In Kooperation mit der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde (ÖGKJ) anderer Therapieansätze, wie etwa Verhaltens- oder Psychotherapie. Die Enkopresis macht freilich mehr Ekel und Sorgen. Stuhlverhalten rund um das Sauberwerden im dritten Lebensjahr ist häufig und verschwindet bei angemessener Beachtung. Enkopresis entwickelt sich durch fortwährendes Stuhlverhalten aus psychosozialen Gründen. Die Intervention darf sich nicht auf Klysmen reduzieren, sondern muss psychosozial ausgerichtet sein. Lernverweigerung Im Schulalter können Lernprobleme und Lernverweigerung anstehen. Intelligenz und Verhalten spielen hier eine große Rolle. Da niemand dumm sein will und das mitteleuropäische Schulsystem bei Intelligenzminderung ausschließend ist, wird diese sehr kränkend erlebt. Daher ist mit solchen Befunden sehr vorsichtig umzugehen. Die häufigste Störung ist die Schulphobie, bei der Kinder ihre Eltern nicht verlassen können, weil sie sich (zumeist berechtigte) Sorärztemagazin 18/2011 Fotos: carlos 101 – Fotolia.com, Privat P sychiatrische Krankheiten im Kindesund Jugendalter sind selten – deutlich öfter sind psychosomatische Störungen, bei denen Kinder und Jugendliche über körperliche Symptome ihr Unwohlsein ausdrücken. Meist werden die Störungen zu „Krankheiten“ erklärt, wobei das unsinnige Wort „psychogen“ verwendet wird. „Psychogen“ gibt es allerdings nicht (Von wo soll etwas ausgehen?). „Organogen“ wäre hingegen denkbar: Bei Lebererkrankungen kann man etwa ein Durchgangssyndrom erleiden, oder bei Hyperbilirubinämie müde werden. Dies vorausgesetzt, werden folgende Störungen vorgestellt. sondern ­verstehen gen machen. Es sind dies Eltern, die beispielsweise an psychiatrischen Krankheiten leiden, suchtkrank oder gar körperlich schwer behindert sind, so dass das Kind Sorge trägt. Hier werden oft viele Fehler gemacht: Statt das Kind zu bewundern und ihm allenfalls zu helfen, wird verstärkt Druck ausgeübt und gefährdete soziale Systeme belastet. Pubertät „Die Pubertät ist jene Zeit, in der die Kinder wachsen und die Eltern schwierig werden.“ Dieser oft zitierte Satz unbekannter Autorenschaft beschreibt die Interaktionsprobleme dieses Lebensabschnitts treffend. Das Gehirn stellt von Kreativität und Vielfalt auf Struktur und Ordnung um – alles in den Heranwachsenden wehrt sich dagegen. Sie wollen nicht kulturell domestiziert werden, daher die Ausbruchsversuche. Zugleich verlangt die westliche Kultur, dass die Menschen sich selbst entdecken und definieren. Dazu müssen sie sich unterscheiden, neu erfinden und im Gegensatz zu dem Vorgefundenen bestimmen. So kommt es, vor allem, wenn die Eltern selbst eine unsichere Identität haben, zu Auseinandersetzungen. Diese können lebensbestimmend sein, insbesondere, wenn Alkohol, Drogen oder Selbstmordgedanken hinzutreten. Die Selbstmordankündigung eines Jugendlichen ist immer ernst zu nehmen und un- ärztemagazin 18/2011 verblümt zu diskutieren. Es ist die Frage der dynamischen Einengung nach Erwin Ringel anzusprechen: Ist es der Selbstmord, der mir alle Last abnehmen kann? Zieht er mich an? Will ich nicht mehr sein? Sind diese Fragen mit „Ja!“ zu beantworten, so hilft man den Betroffenen durch eine Behandlung ohne eigenes Verlangen nach Unterbringungsgesetz. Scheu und Angst vor der Kinder- und Jugendpsychiatrie müssen in diesen Krisenfällen hintangestellt werden. Sobald der Selbstmordkandidat die akute Lebenskrise überwunden hat, versteht er selbst oft am wenigsten, warum er einst sterben wollte. Lebenskrisen äußern sich auch im Umgang mit den Pflichten des Alltags, mit der Einstellung zu der Welt der Erwachsenen, die manche so nicht annehmen wollen. Ärzte sind oft gute Ansprechpartner, weil sie nicht zu beurteilen haben, sondern zu verstehen. Wie der Autor Franz Grillparzer seine Antigone sagen lässt: „Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da!“ Dieser Wahlspruch eignet sich für fast jedes Gespräch mit einem Jungendlichen in Not und ist auch ausreichend für das Gespräch mit den beunruhigten und in ihrer Sorge bisweilen ungerechten Eltern. Univ.-Prof. Dr. Peter Scheer, Leiter der AG ­ sychosomatik der ÖGKJ und der P ­Psychosomatik & Psychotherapie, Klin. Abt. f. allg. Pädiatrie, Univ.-Klinik f. Kinder- und Jugendheilkunde, Graz 21