Gespiegelt Buchbesprechungen Karl Heinz Brisch (2009). Bindungsstörungen. Von der Bindungstheorie zur Therapie (9., überarbeitete u. erw. Aufl.) Stuttgart (Klett-Cotta). 378 S., € 34,90, ISBN 978-3-608-94 532-4 In den 1950er-Jahren erhielt der englische Psychoanalytiker John Bowlby zwei Aufträge: (1) sollte er für die WHO einen Bericht über die Befindlichkeit von Eltern und heimatlos gewordenen Kindern erstellen und (2) in der Londoner Tavistock-Klinik eine Abteilung für Kinderpsychotherapie aufbauen. Aus diesen Untersuchungen und klinischen Erfahrungen entwickelte er das Konzept der Bindungstheorie. Die Bindung zwischen Therapeut und Patient bzw. Kindern und Eltern ist inzwischen auch in der Psychotherapieforschung als ein zentrales therapeutisches Prinzip akzeptiert. Karl Heinz Brisch gibt uns in der komplett überarbeiteten und erweiterten 9. Auflage der »Bindungsstörungen« einen Überblick über die wichtigsten Aspekte der Bindungstheorie sowie eine Klassifikation der verschiedensten Formen von Bindungsstörungen für unterschiedliche Altersgruppen. Anhand zahlreicher, Familien dynamik lebendig dargestellter Fallbeispiele zeigt er auch, wie ein bindungstheoretischer Ansatz sich in verschiedenen Settings gestalten kann, sei es ambulant, stationär oder in Kooperation mit Kinderarzt und Gynäkologe. Im ersten Abschnitt erläutert der Autor – ausgehend auch von einer wissenschaftshistorischen Betrachtung insbesondere der Arbeiten von John Bowlby und Mary Ainsworth – die Entwicklung der Bindungstheorie. Hier stellt er wesentliche theoretische Konzepte der Bindungstheorie vor, so zur Bedeutung der elterlichen Feinfühligkeit, der kindlichen Bindungsqualitäten (sicher, unsicher-vermeidend, unsicher-ambivalent gebundene Kinder und ein unsicher desorganisiertes Bindungsmuster) und der Bindungsrepräsentation bei Erwachsenen. Dabei diskutiert er auch moderne Erkenntnisse der Neurobiologie und Genetik, wie etwa Fragen einer Gen-Umwelt-Interaktion, Wechselwirkungen mit einer ADHS-Symptomatik, Traumata und die transgenerationale Weitergabe von Bindungsmustern. Im zweiten Abschnitt werden Konzepte von Bindungsstörungen und ihrer Psychopathologie insbesondere in Zusammenhang mit Traumata dargestellt. Dabei beschreibt Brisch eine über das Säuglings- und Kleinkindalter hinausgehende Klassifikation von Bindungsstörungen anhand des beobachteten Bindungsverhaltens (sicher gebunden, d. h. keine Anzeichen einer Bindungsstörung, undifferenziertes, übersteigertes, gehemmtes, aggressives Bindungsverhalten usw.) und stellt diagnostische Möglichkeiten für die verschiedenen Altersstufen einschließlich des Grundschulalters – praxisorientiert auch mithilfe von Fragebogen – dar. Im dritten Abschnitt entwirft Brisch, basierend auf eigenen Untersuchungen und vielen anschaulichen klinischen Beispielen, die Prinzipien einer bindungsorientierten Psychotherapie. Er vermittelt – wiederum altersorientiert, d. h. angepasst an die Bedürfnisse von Kindern, Jugendlichen bzw. Erwachsenen – therapeutische Techniken, grundlegende Herangehensweisen, so auch beim Erstkontakt mit dem Patienten, und geht auf Fragen der Settinggestaltung, der Frequenz von Therapiesitzungen und auch der Übergangsgestaltung zur Beendigung einer Behandlung ein. Im vierten Abschnitt zeigt er Mittel und Möglichkeiten, psychische Störungen aus dem bindungstheoretischen Blickwinkel zu diagnostizieren und zu behandeln – in verschiedenen Settings: ambulant, stationär und in Kooperation mit Kinderärzten und Gynäkologen. Er schildert dabei gerade aus psychoanalytischer Sicht Erfahrungen und psychotherapeutische Anwendungen bindungstheoretischer Konzepte. Das Behandlungsspektrum ist wiederum breit und umfasst die Bindungsangst bei unerfülltem Schwangerschaftswunsch, prä- und postnatalen Bindungsstörungen (klinisch besonders häufig bei schwer depressiven bzw. psychotischen Müttern nach der Geburt), Frühgeburtlichkeit, Bindungsstörungen dann im Kleinkind- und Schulalter (häufig unter Symptomen von Schulangst, Leistungsverweigerung und aggressivem Verhalten verborgen) und in der Adoleszenz mit zusätzlichen Themen wie Suchtentwicklung, dissozialem Verhalten bzw. Delinquenz. Davon grenzt er Behandlungsbeispiele auch in einem weiten Altersspektrum bei Erwachsenen ab mit Angststörungen und depressiven Symptomen (auch als Depression im Alter) einerseits und andererseits Übergängen (die Brisch als verstrickte Störungen mit Störung in der Trennungsfähigkeit bezeichnet) zu Persön- 35. JAHRGANG, HEFT 1/2010 89 G E S P IE G E LT • Systemisches Coaching und Wirtschaftsmediation (SG) • Systemische Beratung und Prozessbegleitung (SG) bzw. • Systemische Beratung und Unternehmensentwicklung (SG) • Systemische Supervision (DGSv und SG) • Ergänzungsweiterbildung Supervision (DGSv) • Systemische Beratung in der Sozialen Arbeit (SG) • Systemische Therapie / Familientherapie (SG) • Systemische Kinder- und Jugendlichentherapie • Seminar:„Changemanagement – Veränderungsprozesse managen” 13./14.03.10 Dozentin: Regina Kipp, Stuttgart BIF – Berliner Institut für Familientherapie e.V. Dudenstraße 10, 10965 Berlin, Tel.: 030 / 2 16 40 28, Fax: 030 / 7 2 15 76 35, E-Mail: [email protected], Internet: www.bif-systemisch.de FoBiS – Systemisches Institut für Bildung, Forschung und Beratung Psychotherapeutische Praxis Mitglied in der Systemischen Gesellschaft Mit systemischen Methoden und Perspektiven die Zukunft erfolgreich gestalten Weiterbildung zum/zur: Systemischen BeraterIn (SG) Systemischen TherapeutIn (SG) Infoabend: 19. April 2010 Fachtag am 26. April 2010 „Wenn das Maß voll ist … Systemisches und lösungsorientiertes Arbeiten mit hoch belasteten Kindern und Jugendlichen“ mit Kathrin Stoltze Fachtag am 14. Juni 2010 „Humor und provokative Herausforderung - professionelle Anwendung in Beratung, Therapie und sozialer Arbeit“ mit Dr. Peter Hain FoBiS 71088 Holzgerlingen Tel: 07031-60 59 88 [email protected] www.fobis-online.de 90 35. JAHRGANG, HEFT 1/2010 lichkeitsstörungen auf Borderlinebzw. narzisstischem Strukturniveau bzw. bis hin zu psychotischen Grenzerfahrungen. Im fünften und letzten Abschnitt werden neue Aspekte der Prävention diskutiert, d. h. die praktischen Möglichkeiten einer frühzeitigen bindungsorientierten Schulung zur Vermeidung späterer psychischer Störungen, die sich insbesondere auch (aber nicht ausschließlich) an Schwangere und junge Mütter mit erhöhten psychosozialen Risiken wendet. Dabei geht Brisch explizit auf das Präventionsprogramm ® SAFE – Sichere Ausbildung für El® tern – und BASE – Babywatching in Kindergarten und Schule – ein. Übergeordnetes Ziel ist es, Eltern möglichst ® früh, d. h. bei SAFE noch während der Schwangerschaft, im erzieherischen und emotionalen Umgang mit ihren Kindern – quasi von Anfang an – durch Psychoedukation einschließlich VideoFeedback zu unterstützen. Während der Schwangerschaft öffnet sich gerade auch bei traumatisierten Müttern ein Fenster therapeutischer Zugänglichkeit. Die Mütter bzw. Eltern sind dann in einem erhöhten Maße motiviert, sich für die Bedürfnisse ihres (ungeborenen) Kindes sensibilisieren zu lassen. Ein zentrales Element all dieser präventiven Ansätze ist die Förderung der elterlichen Feinfühligkeit und damit Sensibilität und Zugewandtheit im Umgang mit ihren Kindern. Es bleibt abzuwarten, inwieweit sich solche präventiven Ansätze flächendeckend in der Schwangerenberatung, Geburtshilfe, in Kindertagesstätten, Vorschulen, Schulen usw. durchsetzen. Die Neuauflage berücksichtigt insgesamt neue Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften, beispielsweise zu den Spiegelneuronen, und aus Längsschnitt- und Therapiestudien, neue Präventionsprogramme wie ® ® SAFE oder BASE in Kindergarten und Schule. Daneben beinhaltet die neue Auflage nun auch einen Fragenkatalog »Adult-Attachment Interview« in deutscher Übersetzung im Anhang. Karl Heinz Brisch entwickelt in dieser vollständig überarbeiteten Ausgabe seines bereits in viele andere Sprachen übersetzten Standardwerkes der »Bindungsstörungen« die schulenübergreifende, integrative therapeutische Praxis ausgehend von John Bowlbys theoretischen Konzepten zu Bindungsstörungen weiter und eröffnet neue Perspektiven auch der Prävention. Brisch ist ein lesenswertes und »in einem Guss« geschriebenes Buch gelungen, das das Zeug hat, sich zu einem Klassiker zu entwickeln, gerade auch für jeden, der Familien und ihre vielfältigen Beziehungs-(Bindungs-)muster vorrangig aus systemischer Sicht betrachtet. Jochen Gehrmann, Ludwigshafen Familien dynamik