Bindungsstörungen bei Kindern im Schulalter Kirsten von Sydow Praxis für Psychotherapie, HH & Universität Hamburg [email protected] 1 Überblick Theoretische Grundlagen Bindungsdiagnostik Bindungsstile Bindungsstörungen Bindungstheorie & Psychopathologie Bindungsorientierte Therapie Fazit Literatur 2 Theoretische Grundlagen 3 Die Bindungstheorie (attachment theory) Begründer: John Bowlby (19071990), brit. Kinderpsychiater & Psychoanalytiker Publikationen: Bowlby, 1969, 1973, 1980 Forschungsinteresse: Beziehungen zwischen kleinen Kindern & Müttern (Vätern); Trennung & Verlust Hintergrund: psychoanalytische Konzepte, Verhaltensforschung, empirische Orientierung (Konflikte mit d. Analytikern seiner Zeit!) 4 Ausgangspunkt Beobachtung: Menschen- & Primaten-Kinder regieren auf Trennungen von ihren Müttern ähnlich & vorhersehbar: Schreien, aktive Suche nach Mutter & Weigerung, sich von anderen Personen beruhigen zu lassen (Protest), passives und traurig wirkendes Verhalten (Verzweiflung) aktive Vermeidung der Mutter bei ihrer Wiederkehr ( detachment ). Komplex von Bindungs-Gefühlen & Verhaltensweisen = Bindungs-System (attachment system). 5 Definition: Bindung / attachment = "die stabile Neigung eines Individuums, die Nähe und den Kontakt zu einer oder mehreren anderen spezifischen Person(en) zu suchen und aufrechtzuerhalten, die dem Betreffenden subjektiv ein Gefühl von physiologischer und/oder psychologischer Sicherheit vermitteln" (Berman & Sperling, 1994, p. 8, eigene Übersetzung) 6 Zentrale Merkmale von Bindung I Nähesuche (einschl. Trennungsprotest) Sichere Basis" Sicherer Hafen" 7 Zentrale Merkmale von Bindung II Spezifität Auf wenige Personen gerichtet Hierarchie von Bindungsbeziehungen Engste Bindung meist bei engstem Kontakt Lange Dauer, z. T. lebenslang Wird in ersten 9 Monaten erworben, dann intensiv Intensität des Ausdrucks nimmt ab ca. 3 Jahren langsam ab, bleibt aber lebenslang bedeutsam! 8 Zentrale Merkmale v. Bindung III Intensive Gefühle Biologische Funktion Bei allen Menschen & Säugetieren Sichert das Überleben von Kindern Lernen Zentral: Fähigkeit, Vertrautes von Fremdem unterscheiden zu können; Belohnung & Bestrafung kaum relevant! Bindung entsteht auch an misshandelnde Elternteile/Bezugspersonen! 9 Def.: innere Arbeitsmodelle (Bowlby) (inner working models / mental models) ="kognitiv-affektiv-motivationale Schemata von Beziehungen, die abgeleitet sind aus den realen Beziehungs-Erfahrungen des Individuums." Berman & Sperling, 1994, p. 8, eigene Übers. 10 11 Stellenwert innerer Arbeitsmodelle = zentraler Bestandteil der Persönlichkeit Fokus: Selbst & andere Unterschiedliche Gedächtnisinhalte beteiligt: Prozedural, semantisch, episodisch Inhalte: Kognitionen, Affekte, Motivationen Funktion: Vorhersage des Verhaltens anderer Organisation des eigenen Verhaltens 12 Bestens gerüstet um die erfahrungsgemäß recht häufigen Abweisungen der Damen mental zu verkraften, machte sich Karl Schiefer auf den Weg zum Tanztee. 13 Zentrale Annahmen (Bowlby, 1973) Das Bedürfnis, emotionale Sicherheit in Beziehungen zu finden, ist angeboren. Reale Beziehungserfahrungen werden in die Persönlichkeit internalisiert (working models) Sensible Perioden: Kindheit & Jugend Bindungssicherheit steht in Zusammenhang mit psychischer Gesundheit. Innere Arbeitsmodelle prägen das Beziehungsverhalten (Wiederholungsneigungen, selbst-erfüllende Prophezeiungen). 14 Eigenschaften / Verhalten einer guten Bindungsperson Zugänglichkeit Verhaltenskonsistenz Feinfühligkeit Respekt für die Bindungswünsche des Kindes Respekt für die Wünsche des Kindes nach Exploration & der allmählichen Ausweitung seiner Beziehungen zu Gleichaltrigen & zu anderen Erwachsenen 15 Diagnostik: Bindungshaltungen 16 Verfahren zur Erfassung der kindl. Bindungssicherheit (Solomon & George, 1999) Verhaltensbeobachtung FST Modifikationen d. FST für ältere Kinder Attachment Q-Sort Maße die auf symb. Repräsentation beruhen Reaktionen auf Bilder Puppen-Spiel Familien-Zeichnungen Klinische Bindungsstörungen Klassifikation nach ICD-10 & DSM-IV Standardisierte Erfassung 17 Fremde Situation Test (FST) 18 Fremde Situation Test (FST) Mary Ainsworth et al., 1978 Laborexperiment Wie reagieren 1jährige Kinder auf eine kurze Trennung von Mutter (Vater)? Videoaufnahme Verhaltensanalyse: Wie reagiert das Kind auf die Rückkehr der Bezugsperson? 19 FST: 4 Typen B sicher: flexibler Wechsel von Bindungsverhalten und Exploration A vermeidend: kaum Bindungs-, viel Explorationsverhalten C ambivalent: hypervigilant bzgl. Bindung, kaum Exploration D desorganisiert: keine erkennbare Strategie 20 Verhaltensbeobachtung (5-7 Jahre; Main-Cassidy) B Sicher: Verhalten bei Wiedervereinigung ist vertrauensvoll, entspannt, offen. A Vermeidend: Kind bleibt affektiv neutral; minimiert subtil Möglichkeiten für Interaktion. C Ambivalent: Erhöhte Intimität mit & Abhängigkeit vom Elternteil. Bei Wiedervereinigung Ambivalenz, subtile Feindseligkeit, übertrieben cute oder babyhaftes Verhalten. D Kontrollierend: Anzeichen von Rollenumkehr: strafend (zurückweisend, demütigend) oder caregiving cheering , rückversichernd, falsch positiv) U unklassifizierbar: unklare Mischung unsicherer Verhaltensweisen 21 Verfahren, die auf symbolischer Repräsentation beruhen Grundannahmen: Die Reaktionen älterer Kinder auf symbolische beziehungsbezogene Anforderungen erlauben Rückschlüsse auf ihre inneren Arbeitsmodelle von Bindung. Projektive Verfahren Reaktionen auf Bilder (4-7 Jahre) Puppen-Spiel (3 Jahre) Familien-Zeichnungen 22 Diagnostik: Klinische Bindungsstörungen 23 ACHTUNG! Bindungsstile Bindungsstörungen Unsicherer Bindungsstil Sicherer Bindungsstil BindungsStörung 24 Klassifikation kindlicher Bindungsstörungen (attachment disorders) ICD-10: F9: Verhaltens- & emotionale Störungen mit Beginn in Kindheit / Jugend F94.1: reaktive Bindungsstörung d. Kindesalters Stark widersprüchliche Reaktionen auf Bezugspersonen (Annäherung, Vermeidung & Widerstand); Apathie, Unglücklichsein oder Furchtsamkeit; Rückzugs- oder aggressive Reaktionen. Fast immer die Folge von massiver Vernachlässigung oder Missbrauch. 0-5 Jahre. F94.2: Bindungsstörung d. KA mit Enthemmung Unübliche Diffusität im selektiven Bindungsverhalten ( sozial promisk ); zunächst wahlloses Anklammerungsverhalten, dann wahllos freundliches, aufmerksamkeitssuchendes Verhalten. 0-5 Jahre. DSM-IV: 313.89 (inhibited / disinhibited type) 25 Standardisierte Erfassung kindlicher Bindungsstörungen 1. stand. Methode: Connor & Rutter et al., 2000 Eltern-Interview über Verhalten des Kindes Ungehemmte Form (3 items, summed score 0-6) Fehlende Differenzierung zwischen Erwachsenen Anzeichen, dass das Kind bereit wäre einfach so mit einem Fremden wegzugehen Fehlendes Absichern checking back ) bei den Eltern in angstauslösenden Situationen Gehemmte Form (1 item, score 0-2) Fehlende emotionale Rektionen in Situationen in denen Bindungs-Verhalten erwartet werden kann 26 Definition Beginn: in den ersten 5 Lebensjahren Ursachen: Vermutlich schwerwiegende Milieuschäden & Deprivation Keine primär organischen Ursachen Ausschlussdiagnose: Tiefgreifende Entwicklungsstörungen Für Reaktive Bindungsstörung: Psychosoziale/körperliche Probleme infolge von sexueller oder körperlicher Misshandlung im Kindesalter (?!) Komorbidität: Umschriebene (kombinierte) Entwicklungsstörungen häufig Wachstums- & Gedeihstörungen: Manchmal Epidemiologie: Bislang keine repräsentativen Daten über die Häufigkeit (Inzidenz, Prävalenz) von Bindungsstörungen. Unter ehemaligen rumänischen Heimkindern mit langer Deprivationsdauer vor einer Adoption in englische Familien lag die Häufigkeit schwerer Bindungsstörungen im Alter von 6 Jahren bei 30%. 27 Reaktive Bindungsstörung des Kindesalters (F94.1) (DSM-IV: "gehemmte Form") Störungen der sozialen Funktionen Abnormes Beziehungsmuster zu Betreuungspersonen mit einer Mischung aus Annäherung, Vermeidung & Widerstand gegen Zuspruch Eingeschränkte Interaktion mit Gleichaltrigen Beeinträchtigung des sozialen Spielens Gegen sich selbst und andere gerichtete Aggressionen. Emotionale Auffälligkeiten Furchtsamkeit, Übervorsichtigkeit, Rückzug (aggressive Reaktion auf) Unglücklichsein, ängstliche Überempfindlichkeit Mangel an emotionaler Ansprechbarkeit, Verlust/Mangel an emotionalen Reaktionen, Apathie Gefrorene Wachsamkeit ("frozen watchfulness ). 28 Bindungsstörung des KA mit Enthemmung (F94.2) (DSM-IV: "ungehemmte Form") Störungen der sozialen Funktionen Abnormes Beziehungsmuster zu Betreuungspersonen mit einer Mischung aus Annäherung, Vermeidung & Widerstand gegen Zuspruch; Inadäquate Reaktionen auf Beziehungsangebote von Bezugspersonen Situationsübergreifend nicht-selektives Bindungsverhalten (z. B. Anklammern, Aufmerksamkeitssuche) mit wahlloser Freundlichkeit & Distanzlosigkeit gegenüber Fremden soziale Promiskuität ) Eingeschränkte Interaktion mit Gleichaltrigen Beeinträchtigung des sozialen Spielens Gegen sich selbst & andere gerichtete Aggressionen. Emotionale Auffälligkeiten: nicht im Vordergrund, aber kommen vor. 29 Untergruppen Reaktive Bindungsstörung (F94.1): Besonders bei jüngeren Kindern Bindungsstörung mit Enthemmung (F94.2) Entwickelt sich in der Regel aus F94.1 im 5. Lebensjahr. 30 Bindungstheorie & Psychopathologie 31 Bindungstheorie & Psychopathologie Bowlbys These: traumatisierende Bindungserfahrungen in der Kindheit -> unsichere innere Arbeitsmodelle -> erhöhtes Risiko für psychopathologische Störungen in Kindheit & Erwachsenenalter Relevante Fragen: Traumatische Bindungserfahrungen -> Bindungsunsicherheit? Traumatische Bindungserfahrungen -> psychische Störungen? Bindungsunsicherheit -> psychische Störungen? Greenberg, 1999; O Connor, Rutter et al., 2000: prospektiv 32 Prognostische Bedeutung von FST-Klassifikationen Ehemals bindungssichere Kinder (FST, Beob. 5-7 Jahre): Werden von Kindergärtnerinnen mehr gemocht Sind sozial kompetenter Komplexeres & kompetenteres Spielverhalten Weniger Trennungsangst mit 6 Jahren Weniger Verhaltensprobleme (externalisierend, internalisierend) in der Schule Prognose späterer klinischer Störungen aus FST: A-B-C Klassifikationen stehen nicht in engem Zusammenhang mit späteren klinischen Störungen (!) D desorganisiert prognostiziert ein erhöhtes Risiko klinischer Auffälligkeit: Z.B. große Feindseligkeit 7jähriger in Schule FST-Befunde halbwegs stabil über 20 Jahre, in high-risk samples weniger stabil Änderungen durch Verluste, Missbrauch, ernste Krankheiten 33 Traumatische Bindungserfahrungen -> Bindungsunsicherheit? Elterndeprivation in den ersten Monaten/Jahren (rumän. Adoptivkinder) -> klinische Bindungsstörungen Körperliche Probleme des Kindes (z.B. Frühgeburtlichkeit) -> kaum Effekte Psychiatrische Störungen der Eltern Schwere mütterl. Depressionen -> 70% der Kinder unsicher, meist desorganisiert! Milde mütterl. Depressionen -> kein Effekt 34 Bindungsunsicherheit (FST) -> psychische Störungen? Effekte schwach bei low-risk samples Effekte deutlich bei high-risk samples Schlechtere peer-Beziehungen Moodiness Depressive Symptome Aggressive Symptome Effekte deutlicher bei Jungen bzgl. externalisierendem Verhalten Interaktionseffekte: Bindung & Intelligenz -> externalisierende Probleme 35 Traumat. Bindungserfahrungen -> Psychische Störungen? Belegt bei Erwachsenen: Früher Tod 1 Elternteils -> Verlassenwerden von Eltern -> Vernachlässigung, Zurückweisung -> Rollenumkehr -> Sexueller Missbrauch -> Körperl. Misshandlung -> schwere Depression leichtere Depression & Wut psychische Störungen Dozier, Stovall & Albus, 1999 36 Erziehung in Institutionen Kinder, die in Heimen aufwuchsen vs. Kinder die in Pflegefamilien aufwuchsen (Roy, Rutter & Pickles, 2004): Im Grundschulalter zeigen 1/5 der Heim-, aber keines der Pflegefamilien-Kinder einen Mangel an selektiven Bindungsbeziehungen mit ihren Bezugspersonen (oder mit Freunden) Diese Bindungsstörung ist eng assoziiert mit Konzentarionsstörungen in der Schule (inattention, overactivity) Risikogruppe: Männliche Heimkinder! 37 Deprivationszirkel Von ihren Eltern vernachlässigte Kinder haben ein erhöhtes Risiko, psychische Störungen zu entwickeln. Diese ehemals vernachlässigten Kinder sind als Erwachsene ihren Kindern gegenüber dann oft selbst auch vernachlässigende Eltern. So werden oft Vernachlässigung & psychische Störungen von einer Generation auf die nächste weitergegeben. Bowlby, 1953: Child care & the growth of love 38 Bindungstheorie & Gewalt I (Bowlby, 1988) Aggressionen sind normal & adaptiv, wenn die Sicherheit zentraler Beziehungen bzw. das Leben wichtiger Menschen in Gefahr scheint. Familiäre Gewalt ist eine verzerrte, übertriebene Version adaptiver Aggressionen. Gewalterfahrungen erschüttern & beeinträchtigen die emotionale Sicherheit von Kindern & Erwachsenen ganz grundlegend. Gewalt von engen Bezugspersonen (z.B. Eltern, Partnern) ist psychisch weitaus belastender als Gewalt von Fremden. 39 Bindungstheorie & Gewalt II (Bowlby, 1988) Gewalt von Bezugspersonen führt zu einem unlösbaren emotionalen Paradox: Kinder brauchen & fürchten den Missbraucher gleichzeitig. Gewaltopfer sind depressiv, passiv, gehemmt, freudlos & gleichzeitig wütend & aggressiv. Innere Arbeitsmodelle sind nach Gewalterfahrungen gleichzeitig auf Hinwendung & auf Flucht eingestellt sie sind also kaum arbeitsfähig. Weder ambivalenzfreie Hinwendung noch klare Abwendung ist möglich. Bindungssystem ist ständig aktiviert es gibt keine Entspannung. Kind zu misshandelndem Elternteil: Kleinkinder zeigen oft widersprüchliches Verhalten zu Elternteil: Z.B. zu ihr/ihm hinlaufen & gleichzeitig den Kopf wegdrehen (FST). Permanente Aufmerksamkeit für den Täter Gefrorene Wachsamkeit (frozen watchfulness) Ständiges Bemühen, Bedürfnisse des Elternteils zu erfüllen. 40 Bindungsorientierte Beratung & Psychotherapie 41 Bindung & Psychotherapie Hypothese: erfolgreiche Therapie -> erhöhte Bindungssicherheit (Strauß & Schmidt, 1997) bisher kaum erforscht LangzeitPT: bei 30-40% erhöhte Bindungssicherheit evtl. differentieller Therapieerfolg je nach Bindungshaltung (stationär: Vermeidende mehr Erfolg als Ambivalente). Es gibt erste spezielle Bindungstherapien in den USA oder ist jede gute Therapie auch Bindungstherapie?! Attachment Based Family Therapy (ABFT; Diamond et al.; s. Sydow et al., im Druck) 42 Implikationen der Bindungstheorie für die Psychotherapie-Praxis 1. 2. TherapeutIn als sichere Basis für Klienten. Exploration der Beziehungen zu Bezugspersonen. § wichtigen Keine Entwertung von Bezugspersonen!!! Überprüfung der therapeutische Beziehung. Fokus auf Zusammenhängen zwischen gegenwärtigen & früheren Beziehungserfahrungen & Überprüfung alter Muster. 5. Unterstützung des Klienten bei der Verarbeitung seiner Affekte. 6. Berücksichtigung von Beziehungs-Traumata 3. 4. § Z. B. Verluste, Gewalt (auch inherited traumata ) Bowlby, 1988; Brisch, 1999; Bräutigam, 1991; Holmes, 1996; Strauß & Schmidt, 1997; Sydow, 2002. 43 Interventionen bei Bindungsstörungen Auswahl des Interventions-Settings Ambulant teilstationär - stationär Je nach Schweregrad der Störung, evtl. Entwicklungsbeeinträchtigungen & Funktionsfähigkeit des psychosozialen Umfeldes. Hierarchie der Behandlungsentscheidungen Hauptziel: Herstellung eines entwicklungsfördernden bindungsstabilen Milieus in Familie, Pflegefamilie, Heim, Kindergarten & Schule (ggf. Herausnahme aus einem deprivierenden Milieu). Weiteres Ziel: Aufarbeitung eventuell bestehender Entwicklungsbeeinträchtigungen. 44 Bindungsstörungen: Ambulante Behandlung Aufklärung & Beratung von Bezugsperson(en) Patient (altersentsprechend) Erziehern & Lehrern (mit Einverständnis des Sorgeberechtigten) Beratung, Psychotherapie & Supervision Familienberatung/-therapie Einzel-/Gruppentherapie des Kindes Supervision (Pflegefamilie, Heim, Kindergarten & Schule) Funktionelle Therapien Krankengymnastik, Logopädie, Ergotherapie (bei umschr. Entwicklungsstör.) Medikamentöse Therapie: selten Verlaufskontrolle hinsichtlich: Zielsymptome, Entwicklungsstörungen, Familie, Schule, Peers 45 Bindungsstörungen: Weitere Behandlungsoptionen Teilstationäre Behandlung Enge Kooperation mit den Bezugspersonen erforderlich, damit Patienten durch den täglichen Milieuwechsel nicht überfordert werden. Stationäre Behandlung Wesentlich: Feste Bezugspersonen in der therapeutischen Institution institutionell bedingten Betreuerwechsel vermeiden! Jugendhilfe- & Rehabilitationsmaßnahmen Wenn entwicklungsförderndes, bindungsstabiles Milieu nicht gegeben ist oder wegen der Symptomatik des Kindes nicht aufrechterhalten werden kann. Maßnahmen im Rahmen der Hilfeplanung nach KJHG. Dauer: In der Regel mehrjährige Betreuung der Patienten. Eventuelle Entwicklungsverzögerungen müssen aufgearbeitet werden. Generell fehlt es an Studien zur Wirksamkeit der verschiedenen Behandlungsmassnahmen. Einschätzung beruht auf Expertenwissen. 46 Fazit 47 Fazit I Die Bindungstheorie befasst sich mit der Wechselwirkung von Beziehungserfahrungen & Persönlichkeitsentwicklung ( innere Arbeitsmodelle ) Das Thema Bindung ist für Menschen lebenslang wichtig: "Attachment behavior [characterizes] human beeings from the cradle to the grave" (Bowlby, 1979, p. 129) 48 Fazit II Sensible Periode: Kindheit Änderungen möglich: doch auch später sind noch Nach Scheidung / Tod der Eltern; neue Bezugsperson / Partnerschaftserfahrungen gelungene Psychotherapie Diagnostik von Bindungshaltungen bei Kindern: Fremde Situation Test (FST; 1-2 Jahre) Weitere Beobachtungs- & projektive Verfahren für ältere Kinder 2 Arten von klinischen Bindungsstörungen Beginn jeweils: 0-5 Jahre Nur ein kleiner Teil der Kinder mit unsicherer Bindungshaltung hat tatsächlich eine Bindungsstörung! 49 Anzeichen für eine mögliche Bindungsstörung Gehemmte Form (Reaktive Bindungsstörung des KA; F94.1) Kein Bindungs-Verrhalten dann wenn Bindungs-Verhalten erwartet werden kann (z. B. Angst, Schmerzen, krank, traurig) Kind zeigt widersprüchliches Bindungsverhalten gegenüber Bezugspersonen (Annäherung, Vermeidung & Widerstand) Ungehemmte Form (Bindungsstörung des KA mit Enthemmung; F94.2) Fehlende Differenzierung zwischen Erwachsenen Anzeichen, dass das Kind bereit wäre einfach so mit einem Fremden wegzugehen Fehlendes Absichern checking back ) bei den Eltern in angstauslösenden Situationen 50 Anzeichen für mögliche BindungsProbleme, keine Bindungsstörung Anzeichen von Rollenumkehr zwischen Kind & Bezugsperson: Kind ist strafend (zurückweisend, demütigend) oder caregiving ( cheering , rückversichernd) 51 Hinweise auf Gewalt/Misshandlung Widersprüchliches Verhalten des Kindes zum Elternteil: Z.B. zu ihr/ihm hinlaufen & gleichzeitig den Kopf wegdrehen Permanente Aufmerksamkeit für Elternteil Gefrorene Wachsamkeit Ständiges Bemühen, Bedürfnisse des Elternteils zu erfüllen ACHTUNG: Traumatisierung des Kindes kann auch daher rühren, dass das Elternteil selbst traumatisiert ist (z. B. durch Todesfall, Gewalt-/ Kriegserfahrungen) Vorsicht vor leichtfertigen Fehlinterpretationen!!! 52 KEIN Anzeichen für eine Bindungsstörung Kind verhält sich nach einer Trennung zum Elternteil scheinbar gleichgültig oder sogar ablehnend Kind scheinbar gleichgültig: Hinweis auf eine unsicher-vermeidende Bindung keine Störung Kind ablehnend: Kind ist ärgerlich über die lange Dauer der Trennung typisches Bindungsverhalten (Phase 3 detachment ) (!) 53 Fazit III Menschen, die Bindungstraumata erlitten haben, haben ein erhöhtes Risiko, psychische Störungen zu entwickeln. Beratung, Therapie & Jugendhilfe sollte immer auf bindungsrelevante Themen eingehen. JEDOCH: Der Kontext, in dem sich Bindungsbeziehungen entwickeln, darf nicht übersehen werden! Ziel: Die Weitergabe gestörten Bindungsverhaltens von einer Generation an die nächste zu durchbrechen. 54 Zitat: Bowlby (1979/1982, S. 173) "Jeder von uns ... neigt [dazu], anderen das anzutun, was ihm angetan wurde. Der tyrannisierende Erwachsene ist das tyrannisierte Kind von gestern . 55 Literatur (Weitere Literaturangaben siehe genannte Arbeiten) Bowlby, J. (1979). The making and breaking of affectional bonds. London: Tavisock. Bowlby, J. (1988). Violence in the family. In J. Bowlby, A secure base (p. 7798). Basic. Brisch, K.H. (1999). Bindungsstörungen: Von der Bindungstheorie zur Therapie. Stuttgart: Klett Cotta. Cassidy, J. & Shaver, P.R. (1999). Handbook of attachment. New York: Guilford. Dt.Ges.f. Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie u.a. (Hrsg.) (2003). Leitlinien zur Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter. Deutscher Ärzte Verlag. (2. überarb. Aufl.) http://www.uni-duesseldorf.de/AWMF/ll/028-024.htm Holmes, J. (2002). John Bowlby und die Bindungstheorie (John Bowlby & attachment theory). München: Ernst-Reinhardt Verlag. Sydow, K. v. (2002). Systemic attachment theory and therapeutic practice: A proposal (Invited Review). Clinical Psychology & Psychotherapy, 9(2), 7790. Sydow, K. v., Beher, S., Retzlaff, R. & Schweitzer-Rothers, J. (im Druck). Die Wirksamkeit von Systemischer Therapie/Familientherapie. Göttingen: Hogrefe. 56