Kleinkindzeit, Eltern-Kind-Bindung und Bindungsstörungen Ute Ziegenhain Besonderheiten in der Entwicklungspsychologie der frühen Kindheit In der frühen Kindheit werden nahezu alle Erfahrungen durch die Eltern vermittelt und gesteuert Säuglinge und Kleinkinder sind gleichermaßen physisch wie psychologisch auf elterliche Fürsorge angewiesen „There is no such a thing as a baby“ (Winnicott,1949) Bindungstheoretische Grundannahmen Alle Kinder entwickeln im Verlauf des ersten Lebensjahres eine oder mehrere enge Bindungen zu nahe stehenden Bezugspersonen Bindungen sind dauerhafte und dyadische Beziehungen das Bindungssystem wird insbesondere in Situationen von Verunsicherung/Angst aktiviert Bedeutung früher Erfahrungen für die Gehirn und Verhaltensentwicklung Funktion und Struktur des sich entwickelnden Gehirns wird positiv oder negativ von sozial-emotionalen Beziehungserfahrungen beeinflusst - emotionale Sicherheit als Puffer gegen Stress - massive neuropsychologische Folgen bei frühem emotionalem Stress/misshandelten Kindern psychobiologische Regulation in der Bindungsbeziehung (Schore, 2001) John Bowlby (1907-1991) Bedeutung früher Erfahrungen für die Gehirn und Verhaltensentwicklung Trennung, unvertraute Situation, (körperliche, emotionale) Überforderung Bindungsperson Belastetheit, Verunsicherung, (HerzfrequenzAnstieg) Entlastung, Interesse an Erkundung (Absinken Herzfrequenz) Mary Ainsworth (1913-1999) Bindungs- Explorations- Balance Bindung Exploration Bindungstheoretische Grundannahmen individuelle Unterschiede in der Organisation von Bindung (Strategien) - sicher (Typ B) - unsicher-vermeidend (Typ A) - unsicher-ambivalent (Typ C) (Anpassungs-) Strategien im Umgang mit Belastung und emotionaler Verunsicherung Ergebnis feinfühligen/wenig feinfühligen elterlichen Verhalten (deWolff & van IJzendoorn, 1997) Bindungsstile und –strategien sicher Ausschöpfen der gesamten Bandbreite unsicher-vermeidend eingeschränkter Zugang zu helfenden Anderen unsicher-ambivalent Einschränkungen in Exploration/Autonomie hochunsicher Risikoindikator für emotionale Vulnerabilität Mary Main (geb. 1943) Bindungstheoretische Grundannahmen hochunsichere Bindung fehlende (Anpassungs-) Strategien bei Kleinkindern (Desorganisation) - Zusammenbruch kindlicher Bewältigungsstrategien - bizarr anmutendes Verhalten gegenüber der Bindungsperson Verhaltensstrategien ohne Anpassungswert bei älteren Kindern - kontrollierende Strategien Hochunsichere Bindung Hochunsichere Bindung Furcht als durchgängige Beziehungserfahrung - Furcht vor der Bindungsperson (direkte ängstigende Interaktionserfahrung) - Furcht der Bindungsperson (indirekte Auswirkung elterlicher traumatischer Beziehungserfahrung) Konflikt zwischen Bedürfnis nach Sicherheit durch die Bindungsperson und Furcht vor ihr Hochunsichere Bindung Versagen der Bindungsperson als Quelle emotionaler Sicherheit und als externe Hilfe zur Regulation Trennung, unvertraute Situation, (körperliche, emotionale) Überforderung Bindungsperson Belastetheit, Verunsicherung, (HerzfrequenzAnstieg) Entlastung, Interesse an Erkundung (Absinken Herzfrequenz) Bindungsstörungen – kinderpsychiatrische Klassifikation vs. entwicklungspsychologisches Bindungskonzept ICD-10 Bindungsforschung sichere Bindung unsichere Bindung hochunsichere Bindung Bindungsstörungen Bindungsforschung und Bindungsstörungen Prävalenz (hoch) unsicherer Bindungen Normalstichproben - unsichere Bindung - hochunsichere (desorganisierte) Bindung 40% 15% psychopathologisch relevante Probleme nicht vorhersagbar bzw. nicht von psychologischen Belastungen im Normalbereich abgrenzbar Prävalenz von Bindungsstörungen keine eindeutigen Angaben ausgegangen wird von einer Prävalenz von weniger als 1 % Prävalenz in Risikogruppen deutlich erhöht (25% -40%) van IJzendoorn, Schuengel & Bakermans-Kranenburg, 1999 Bindungstheoretische Grundannahmen In einem Raum einer kinderpsychiatrischen Ambulanz steht ein zwölf Monate altes Mädchen neben dem Stuhl der Mutter. Die Untersucherin kommt herein und nimmt der Mutter gegenüber am Tisch Platz. Das Mädchen reagiert deutlich verunsichert auf die neue Person. Es schaut ängstlich und stößt einen wimmernden Laut aus. Ohne die Mutter anzusehen, geht es mit ängstlichem Gesichtsausdruck von Mutter und Untersucherin weg und lehnt die Stirn an die Wand die Augen weit aufgerissen. Bindungstheoretische Grundannahmen Ein vierjähriger Junge wird wegen eines Sturzes in die Notaufnahme der Kinderklinik gebracht, dort medizinisch versorgt und zur weiteren Abklärung stationär aufgenommen. Er fügt sich ohne Protest und reagiert nicht auf die Umarmung der Mutter zum Abschied. Auch danach fragt er nicht nach seinen Eltern. Er ist sehr schnell vertraut mit der Krankenschwester, die ihn auf der Station versorgt, umarmt sie und fragt sie, ob sie nun seine Mutter sei. Reaktive Bindungsstörung (F94.1) widersprüchliche oder ambivalente Reaktionen in unterschiedlichen sozialen Situationen emotional belastet und/oder zurückgezogen sowie atypisches interaktives Verhalten (massiv gehemmt, übermäßig wachsam, hoch ambivalent, vermeidend oder aggressiv) Bindungsstörung mit Enthemmung (F94.2) diffuse bzw. mangelnde exklusive Bindungen - Nähe- und Trostsuche unterschiedslos gegenüber vertrauten und fremden Menschen, aggressiv (anklammernd, emotional flach, oberflächlich und wenig emotional bezogen wenig modulierte, distanzlose Interaktionen mit Fremden Mangelnde Diagnosespezifizät Bisher werden die Bindungsstörungsdiagnosen nach ICD-10 in der kinder- und jugendpsychiatrischen Praxis fast ausschließlich auf schwer vernachlässigte früh misshandelte Kinder angewandt Prognose eher ungünstige Prognose insbesondere Bindungsstörung mit Enthemmung persistierende Tendenz (Rushton et al., 1995; O‘Connor, 2002) Bindungsstörung mit Enthemmung häufig Diagnose Persönlichkeitsstörung (spätes Jugendalter oder junges Erwachsenenalter) CAVE: klinische Erfahrungen, unzureichende bzw. fehlende Datenbasis Zentrale Merkmale von Bindungsstörungen kein persönlich bezogenes Bindungsverhalten Verletzung der grundlegenden Organisation des Bindungssystems - keine Nähe und Kontaktsuche zur Bindungsperson in belastenden, ängstigenden Situationen DSM-IV (APA, 1994); ICD-10 (WHO, 2000) Bindungsstörungen (nach ICD-10) Reaktive Bindungsstörung (F94.1) Hemmung von Bindungsverhalten: keine Nähe- und Kontaktsuche bei einer Bezugsperson unter Belastung Störung der sicheren Basis/destruktive Entgleisung einer etablierten Bindungsbeziehung Reaktive Bindungsstörung (F94.1) Kriterien entwickelt aus Beschreibungen über schwer misshandelte/vernachlässigte Kleinkinder - zurückgezogen, wenig ansprechbar, bizarre Trostsuche bei Belastung (Gaensbauer & Sands, 1979; George & Main, 1979; Main & George, 1985; Mueller & Silverman, 1989) Bindungsstörungen vs. hochunsichere Bindung Bindungsstörungen: voll ausgebildete psychische Störung des Kindesalters klinisch: häufig die gleichen Verhaltensweisen bei Kindern mit hochunsicherer Bindung und reaktiver Bindungsstörung (phänotypische Nähe; O’Connor & Zeanah, 2003; Green & Goldwyn, 2002) “frozen watchfulness“, Erstarren oder Einfrieren, „freezing“ aber: hochunsichere Bindung geht nicht notwendigerweise immer mit Symptomen einer reaktiven Bindungsstörung einher (O’Connor, 2002). Bindungsstörungen (nach ICD-10) Reaktive Bindungsstörung (F94.1) Hemmung von Bindungsverhalten: keine Nähe- und Kontaktsuche bei einer Bezugsperson unter Belastung Störung der sicheren Basis/destruktive Entgleisung Bindungsstörung mit Enthemmung (F94.2) - relative Überaktivität des Bindungssystems Unvermögen differenziertes Bindungsverhalten gegenüber einer Bezugsperson zu zeigen keine exklusive Bezugsperson Bindungsstörung mit Enthemmung (F94.2) Kriterien entwickelt aus Forschung über Kleinkinder in Waisenhäusern bzw. Heimen erstaunlich konsistente Beschreibungen der Kernsymptome: - anklammernd, distanzlos, emotional flach, oberflächlich und wenig emotional bezogen oberflächlich warm (Levy, 1937) undifferenziertes Verhalten (Goldfarb, 1943, 1945) exzessives Bedürfnis nach Aufmerksamkeit (Goldfarb, 1943,1945 undifferenzierte Selbstpräsentation (Freud & Burlingham,1946) undifferenziert freundlich (Provence & Lipton, 1962) Rumänische Heimkinder – Einfluss früher und massiver Deprivation O‘Connor, Rutter & the ERA Study Team, 2003 N=165 adoptiert < 6 Monate adoptiert 7 bis 24 Monate UK-adoptiert < 6 Monate (keine Deprivation) Morrison, Chisholm, Ames et al., 1998 N= 76 mind. 8 Monate Waisenhaus < 4 Monate Waisenhaus familienerzogene kanadische Kinder Marcovitch, Goldberg et al., 1997 N=56 6 und mehr Monate Waisenhaus < 6 Monate Waisenhaus Zeanah et al., 2005 N = 95 Kinder in Waisenhäusern in Bukarest (12 bis 31 Monate) Rumänische Heimkinder – Hinweise auf Bindungsstörung Zwei Längsschnittstudien zur Adoption von rumänischen Säuglingen und Kleinkindern: überwiegend Hinweise auf Bindungsstörung mit Enthemmung deutlich mehr Zeichen von Bindungsstörung: Kinder mit längstem Aufenthalt im Waisenhaus Zeichen von Bindungsstörung bestanden auch noch Jahre nach der Adoption (vs. Wachstum, Intelligenz, schulische Leistungen, Verhaltensproblemen) Rumänische Heimkinder – Bindungsqualität Drei Längsschnittstudien zur Adoption von rumänischen Säuglingen und Kleinkindern in englische und kanadische Familien: alle Kinder entwickelten eine Bindungsbeziehung zur Adoptivmutter (4 ½ /4 / 3-5 Jahre) ca. 1/3 der Kinder aus jeder Studie entwickelte eine sichere Bindung aber: zwischen 33% und 40% der Kinder aus jeder Studie entwickelte eine hochunsichere Bindung Diagnostik Anamnese des allgemeinen Entwicklungsverlaufs des Kindes Bindungsverhalten gegenüber seinen Bezugs- und anderen Kontaktpersonen Betreuungsgeschichte Informationsquellen: Familie sowie Dritte, wie z.B. Erzieher, Sozialarbeiter, Kinderärzte oder Hausärzte (Leitlinien der Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 2007) ! kein standardisiertes diagnostisches Verfahren ! Diagnostik klinische Diagnose bei der Beobachtung entscheidend - freies Spiel mit Bezugsperson - Verhalten nach Trennung und Wiedervereinigung - Beziehungsgestaltung zu fremden Personen und neuen Objekten insbesondere: emotionaler Stress des Kindes Trostfindung bei „anderen Personen“ Bevorzugung einer Bezugsperson (Stafford & Zeanah, 2006) Indikatoren gestörter vs. adäquater Bindung (AACAP Practice Parameter, Zeanah et al., 1993) Verhaltenskategorien Anpassung an die Umwelt Indikatoren gestörter vs. adäquater Bindung Positiver Affekt Angepasst Kind zeigt positiven Affekt in vielfältigen Interaktionskontexten Fehlangepasst Kind zeigt Mangel an positivem affektivem Austausch in unterschiedlichen sozialen Settings oder distanzlosen positiven Affekt gegenüber unvertrauten Erwachsenen Angepasst Kind sucht Trost bei einer/einem vertrauten Erwachsenen Fehlangepasst Kind zeigt mangelnde Trostsuche, wenn verletzt, ängstlich oder krank oder sucht Trost in merkwürdiger oder ambivalenter Weise (z.B. erhöhte Verstörung, wenn das Kind keinen Trost sucht) Angepasst Kind sucht bereitwillig Hilfe bei vertrauten Erwachsenen bei schwierigen Problemen, die es nicht alleine lösen kann Fehlangepasst Kind ist exzessiv abhängig von der Bezugsperson oder ist unfähig, die unterstützende Anwesenheit der Bindungsperson zu suchen und sie zu nutzen Angepasst Kind ist überwiegend kooperativ gegenüber der Bezugsperson Fehlangepasst Kind ist ungehorsam bei Bitten und Forderungen der Bezugsperson(durchgehendes Interaktionsmuster) oder ängstlich überangepasst („compulsive compliance“) Angepasst Kind nutzt die Bindungsperson als sichere Basis, von der aus es losziehen und Neues erkunden kann Fehlangepasst Kind versichert sich nicht rück bei der Bindungsperson in unvertrauten Situationen oder weigert sich beinahe gänzlich sich von ihr zu lösen, um zu erkunden Kontrollierendes Verhalten Angepasst Kind gibt wenig Hinweise für kontrollierendes Verhalten gegenüber der Bezugsperson Fehlangepasst übermäßig besorgtes und/oder altersunangemessenes Fürsorgeverhalten gegenüber der Bezugsperson, oder extrem dominantes oder bestrafendes Verhalten des Kindes Verhalten bei Wiedervereinigung mit der Bezugsperson nach Trennung Angepasst Kind sucht Trost bei der Bindungsperson, wenn verstört ist oder initiiert positive emotionale nonverbale oder verbale Kommunikation Fehlangepasst Kind gelingt es nicht, einen interaktiven Austausch zu (re-)etablieren, eingeschlossen aktiv ignorierende/vermeidende Verhaltensweisen, intensiver Ärger, offensichtlicher Mangel an positivem Affekt oder Unvermögen, Verstörung aufgrund der Trennung aufzulösen. Hinweise auf desorganisiertes Bindungsverhalten. Reaktion gegenüber Fremden Angepasst Kind zeigt anfänglich zurückhaltendes soziales Engagement, insbesondere in unvertrauten Situationen Fehlangepasst Kind ist unmittelbar engagiert ohne anfängliche Vorsicht, nimmt extensiv körperlichen Kontakt ohne Rückversicherung mit der Bezugsperson auf, ist bereit die Bezugsperson ohne Protest zu verlassen (und mit der fremden Person zu gehen) Trostsuche Hilfe Suchen Kooperation Explorationsverhalten Therapie emotional zuverlässige und konstante Bindungsperson Förderung der Eltern-Kind-Interaktion, möglichst mit standardisierten Programmen begleitende Elternarbeit weitergehende psychotherapeutische Maßnahmen, wenn eine emotionale Stabilisierung durch die Etablierung einer stabilen Beziehung und begleitender Elternarbeit erreicht CAVE: Bisher kein therapeutisches Vorgehen hinreichend erfolgreich „Es gibt keine großen Entdeckungen und Fortschritte, solange es noch ein unglückliches Kind auf Erden gibt.“ Albert Einstein * 1889 Ulm Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Klinik fü für KinderKinder- und Jugendpsychiatrie / Psychotherapie des Universitä Universitätsklinikums Ulm Steinhövelstraße 5 89075 Ulm www.uniklinikwww.uniklinik-ulm.de/kjpp Ärztlicher Direktor: Prof. Dr. Jörg M. Fegert