Autismus Ulrike M.E. Schulze 03.11.2009 Wiederholung ede o u g Definitionen und Symptome autistischer Störungsbilder Autismus: ut s us Definition e to • ein Grundsymptom der Schizophrenie (Eugen Bleuler,1911) – Rückzug mancher Schizophrener in eine Binnenwelt – erkrankungsassoziierte Reduktion sozialer Kontakte • Leo Kanner (1943): frühkindlicher Autismus - Hans Asperger (1944): Autistische Psychopathie – Beschreibung autistischer Störungsbilder S bei Kindern – o.g. Definition nicht zutreffend: autistische Kinder ziehen sich nicht aktiv in eine Binnenwelt zurück zurück, sondern sind primär (von Geburt an) unfähig bzw. nur eingeschränkt fähig, soziale Kontakte zu entwickeln – tiefgreifende Entwicklungsstörungen: Entwicklung der Kinder von Geburt an erheblich beeinträchtigt, Aufholen der Entwicklungsrückstände in der Regel nicht möglich Frühkindlicher ü d c e Autismus ut s us ((ICD-10): C 0) ge geistige s ge Behinderung e de u g ist s häufig, äu g, HFA = High Functioning Autismus = höheres kognitives Funktionsniveau; ca. 5:10 000 Kinder; m:w = 3,7:1 (Fombonne 1998) • qualitative Beeinträchtigungen wechselseitiger sozialer Aktionen, z.B. unangemessene Einschätzung sozialer und emotionaler ti l Si Signale, l geringer i G Gebrauch b h eigener i Si Signale: l Ablehnen von Berührungen, Zärtlichkeit • qualitative Beeinträchtigungen der Kommunikation, z.B. Fehlen eines sozialen Gebrauchs sprachlicher Fertigkeiten; Mangel an emotionaler Resonanz auf verbale und nonverbale Annäherungen durch andere Menschen; Veränderungen der Sprachmelodie: ca. 50% der Kinder zeigen eine verzögerte oder ausbleibende Sprachentwicklung; Pronominalumkehr, Echolalie, „ich“, grammatikalische Fehler, Wortneubildungen, Stimme Frühkindlicher ü d c e Autismus ut s us II • eingeschränkte Interessen und stereotype Verhaltensmuster ((Augenbohren, g , Fächerbewegungen g g der Hände,, Schlagen g mit den Händen auf die Ohren; zweckentfremdete Verwendung von Spielzeug), z.B. starre Routine hinsichtlich alltäglicher Beschäftigungen; Widerstand gegen Veränderungen: zwanghaftes Bedürfnis nach Gleicherhaltung der dinglichen Umwelt • unspezifische Probleme wie Befürchtungen Phobien, Schlafund Essstörungen, Wutausbrüche, Aggressionen, Selbstverletzungen • Einschränkungen Ei hä k bl bleiben ib üb überwiegend i d auch h iim Erwachsenenalter bestehen • Manifestation vor dem 3 3. Lebensjahr: fehlende Blickreaktion, Blickreaktion Ausbleiben der Lächelreaktion, keine antizipatorischen Bewegungen Asperger-Syndrom spe ge Sy d o ((ICD-10) C 0) ca. 35 : 10 000 Kinder – breites Syndromspektrum • Fehlen einer Sprachentwicklungsverzögerung oder einer Verzögerung der kognitiven Entwicklung Entwicklung. Die Diagnose erfordert erfordert, dass einzelne Wörter im 2. Lebensjahr oder früher verwendet werden (erst sprechen, dann laufen; Spontanrede, Selbstgespräche, Auffälligkeiten in der Sprechstimme Sprechstimme, hohe Fähigkeit zu logischem und abstraktem Denken Denken, Sonderinteressen/Wissensspeicherung, häufig ausgeprägte Aufmerksamkeitsstörung / Ablenkung „nach innen“) • qualitative Beeinträchtigungen der gegenseitigen sozialen Interaktionen (entsprechend den Kriterien des frühkindlichen Autismus): Auffälligkeiten hinsichtlich Gesten, Mimik, Blickkontakt, unzureichende Fähigkeit, emotional zu reagieren; rücksichtslos in der Durchsetzung eigener Wünsche Fähigkeit Wünsche, kein Gefühl für persönliche Distanz, kein Humor, Schadenfreude; aggressive Durchbrüche als hilflose Reaktion auf Unverstandensein • ungewöhnliche und sehr ausgeschriebene umschriebene Interessen (ausgeprägte Sonderinteressen) und stereotype Verhaltensmuster („monoman“) • die di Stö Störung iistt nicht i ht einer i andren d titiefgreifenden f if d Entwicklungsstörung zuzuordnen (motorische Ungeschicklichkeit / Dyspraxie) Atypischer typ sc e Autismus ut s us • keine zuverlässigen epidemiologischen Studien • Kinder erfüllen nicht alle Klassifikationskriterien (z.B. ICD-10) oder g Entwicklung g wird erst ab dem 3. • die abnorme oder beeinträchtigte Lebensalter manifest • häufig: erhebliche Intelligenzminderung Theory eo y o of Mind d = Fähigkeit, ä g e ,d die e Welt e aus de dem Blickwinkel c e des des a anderen de e zu u sehen; Entwicklung normalerweise ab dem Ende des 1. Lebensjahres (Leslie 1987) Diskonnektionssyndrom? Informationsverarbeitungsdefizit aufgrund einer Dysfunktion verschiedener zerebraler, funktionell nur unzureichend miteinander verbundener Regionen • schwierig: g Unterscheidung g zwischen physikalischen und physischen Vorgängen • unzureichendes Verständnis von psychischen hi h V Vorgängen ä • Wörter, die psychische Zustände bezeichnen, können nicht eingeordnet werden • unfähig, „Als-ob-Spiele“ durchzuführen • kein Verständnis von methaphorischen Bedeutungen (Ironie, (Ironie Witze) • eingeschränktes Verständnis für emotionale Situationen • kein Verständnis der Intentionen anderer Personen Theoretische Konzepte und Hirnfunktionen bei autistischen Störungen (nach Remschmidt 2008) Theory of Mind Mentalisierungsschwäche g Empathieschwäche Verständnisschwäche für Methaphorik Verständnisschwäche für soziale Situationen Integrationsdefizit zentraler Funktionen als Konsequenz einer Entwicklungsstörung neuronaler Netze Exekutive Funktionen Zentrale Kohärenz Defizit im Vorausplanen bruchstückhafte Informationsverarbeitung Defizit im zeitlichen Strukturieren Detailorientierung Flexibilitätseinschränkung g Kontexterfassungsschwäche Initiierungsschwäche Sinneserfassungsschwäche Diagnose ag ose und u d Differenzialdiagnose e e a d ag ose des frühkindlichen ü d c e Autismus ut s us • Anamnese • Verhaltensbeobachtung • standardisierte Interviews (Eltern, Bezugspersonen) und • Beobachtungsskalen B b ht k l – ADI-R: Autism Diagnostic Interview (Lord et al. 1994) – ADOS: Autism Diagnostic g Observation Schedule ((Lord et al. 1989,, Rühl et al. 2004)) – Marburger Beurteilungsskala zum Asperger-Syndrom (Kamp-Becker et al. 2005) Differenzialdiagnose: Asperger-Syndrom Rett-Syndrom S (Verlust von Fähigkeiten im Rahmen einer Rückwärtsentwicklung) Sinnesdefekte geistige Behinderungen Schizophrenie p Deprivation Diagnose ag ose und u d Differenzialdiagnose e e a d ag ose des Asperger-Syndroms spe ge Sy d o s • Anamnese („in der Krabbelgruppe schreiend von anderen Babys abgewandt“) • Exploration • Verhaltensbeobachtung (Stimme, Sonderinteressen, soziale Kontakte) • neuropsychologische Prädiktoren: – Defizite in der Feinmotorik, der visuellen Integration, visuellen Raumwahrnehmung, nonverbalen Konzeptbildung, Grobmotorik, des visuellen Gedächtnisses Differenzialdiagnose: High functioning Autismus (HFA) - Prädiktoren: Störung der Artikulation, des verbalen Ausdrucks, der auditiven Wahrnehmung, des Wortschatzes, des verbalen Gedächtnisses Schizoide Persönlichkeitsstörung (umstritten für das Kindesalter) Zwangsstörung (schwierig: zwanghafte Persönlichkeitsstörung) Schizophrene Psychosen (selten: Übergang vom Asperger-Syndrom) Mutismus und Angstsyndrome Differenzialdiagnose: e e a d ag ose Stö Störung u g so sozialer a e Funktionen u t o e mitt Beginn eg in der Kindheit und Jugend … eine heterogene Gruppe von Störungen, mit Auffälligkeiten in den sozialen Funktionen und mit Beginn während des Entwicklungsalters Anders als die tiefgreifenden Entwicklungsalters. Entwicklungsstörungen sind sie nicht primär durch eine offensichtlich konstitutionelle soziale Beeinträchtigung oder ein Defizit f in allen Bereichen sozialer Funktionen charakterisiert. Schwerwiegende Beeinträchtigungen des Milieus oder Deprivationen p sind häufig; g; man nimmt an,, dass sie in vielen Fällen eine entscheidende Rolle in der Ätiologie spielen. Es gibt keinen deutlichen Geschlechtsunterschied. Die Existenz dieser Gruppe der Störungen sozialer Funktionen ist unzweifelhaft, jedoch herrscht Unsicherheit über die konstituierenden diagnostischen Kriterien und Uneinigkeit über die optimale Unterteilung und Klassifikation… Elektiver Mutismus – Bindungsstörungen – andere / nicht näher bezeichnete Störung sozialer Funktionen mit Beginn in der Kindheit 3 Fallberichte a be c te Differenzialdiagnostik auf Station und in der Tagesklinik Fragebogen g g zur Sozialen Kommunikation ADOS: Diagnostische Beobachtungsskala für Autistische Stö Störungen - Modul M d l 3 - fließende fli ß d S Sprache h 1. Konstruktionsaufgabe 2. So-tun-als-ob-Spiel 3. Gemeinsames interaktives Spiel 4. Demonstrationsaufgabe f 5. Beschreibung eines Bildes 6 Erzählen einer Geschichte aus einem Bilderbuch 6. 7. Cartoons 8 Konversation / Bericht 8. 9. Gefühle 10. Soziale Schwierigkeiten / sich gestört fühlen 11. Pause 12. Freundschaft und Ehe 13. Einsamkeit 14. Erfinden einer Geschichte ADI-R: Autismus ut s us – Diagnostisches ag ost sc es Interview te e ((Eltern/Bezugspersonen) e / e ugspe so e ) Derzeitige Sorgen (Benehmen, Entwicklung) Alter ((in Monaten), ), als die Eltern erstmals merkten,, dass etwas nicht stimmt Erste Symptome, über die sich Eltern Sorgen machten Alter (in Monaten), als Eltern erstmals Hilfe suchten Beginn der Symptomatik aus jetziger Sicht (im Nachhinein) S ß ohne Saß h Hilf Hilfe auff ebener b Flä Fläche h Freies Laufen Erlangen der Blasenkontrolle: tagsüber Erlangen der Blasenkontrolle: nachts Erwerb der Kontrolle über die Darmentleerung Benutzen des Körpers einer anderen Person zur Verständigung Alter, in dem die ersten einzelnen Worte (wenn überhaupt) gesprochen wurden Alter, in dem erste Sätze (wenn überhaupt) gesprochen wurden Artikulation / Aussprache ADI-R: II Komplexität nicht echolalischer Äußerungen Soziales Lautieren / „Geplauder“ Unmittelbare Echolalie Stereotype Lautäußerungen und verzögerte Echolalie Einschätzung der Sprachentwicklung insgesamt Wechselseitige Konversation Gespräch, das Interesse an anderen ausdrückt Unpassende Fragen oder Feststellungen Verwechslung von Personalpronomina Neologismen / Ideosynkratische (eigentümliche) Sprache Verbale Rituale Tonfall, Lautstärke, Rhythmus, Geschwindigkeit / Flüssigkeit Stimmliches Ausdrucksvermögen Derzeitige kommunikative Sprache S Spontanes Imitieren von Handlungen Auf etwas deuten, um Interesse zu bekunden… Differenzialdiagnose e e a d ag ose Reaktive ea t e Bindungsstörung du gsstö u g Bindungsstörungen = klinisch relevante und extreme Abweichungen im Bindungsverhalten (kategorial) Reaktive Bindungsstörung (F 94.1) Hemmung von Bindungsverhalten: keine Nähe- und Kontaktsuche bei einer Bezugsperson unter Belastung Bindungsstörung mit Enthemmung (F 94.2) relative Überaktivität des Bindungssystems Unvermögen differenziertes Bindungsverhalten gegenüber einer Bezugsperson zu zeigen F 94.1: insbesondere bei jüngeren Kindern F 94.2: meist Entwicklung aus 94.1 im fünften Lebensjahr Bisher werden die Bindungsstörungsdiagnosen nach ICD-10 in der kinderund jugendpsychiatrischen Praxis fast ausschließlich auf schwer vernachlässigte hlä i t / ffrüh üh misshandelte i h d lt Ki Kinder d angewandt. dt Überlegungen zur Entstehung hochunsicherer Bindung (Solomon & George, 1999) Bestehende bindungsbezogene Ängste beim Kind werden durch zurückweisendes oder ängstigendes Verhalten der Bindungsperson verstärkt - Bedürfnis nach Nähe und Trost wird aktiviert - fehlende Wahrnehmung, g, Fehlinterpretation p kindlichen Verhaltens der Bindungsperson - Unfähigkeit g der Bindungsperson, g p , die Verstörung g und Furcht des Kindes zu beenden Hochunsichere Bindung und Bindungsstörungen: Prävalenz Kinderpsychiatrische Nosologie Bindungsstörungen ca. 1% (extrapoliert Vernachlässigung/Misshandlung) Bindungstheorie hochunsichere Bindung unsichere Bindung 15% 40% psychopathologisch relevante Probleme nicht vorhersagbar bzw. nicht von psychologischen Belastungen im Normalbereich abgrenzbar van Ijzendoorn, Schuengel & Bakermans-Kranenburg, 1999 Bindungsstörung – kinderpsychiatrische Nosologie versus Bindungstheorie ICD-10 Bindungsforschung sichere Bindung unsichere Bindung hochunsichere Bindung Bindungsstörungen g Symptomüberschneidungen ADHD - Bindungsstörungen Bi d tö • Verhaltensstörungen V h lt tö als l mögliches ö li h E Ergebnis b i d der A Anpassung an eine i sozial bedrohliche Umgebung (Crittenden 2000) • Dysregulationen einer bestehenden Beziehungsdynamik im Sinne einer Abweichung vom Gleichgewicht zwischen Bindungs- und Erkundungsbedürfnissen (Downing und Ziegenhain 2001: hochunsichere Bindung) • selbstgefährdendes Risikoverhalten, Bindungsperson wird nicht als sichere Basis genutzt (Lieberman und Zeanah 1995) • reaktive Bindungsstörung: Aggression (selbst, andere) als Reaktion auf das eigene Unglücklichsein (DGKJP, (DGKJP Leitlinien), eingeschränkt sind Interaktion mit Gleichaltrigen und soziales Spiel • Bindungsstörung g g mit Enthemmung: g distanzlose und wenig g modulierte Interaktionen mit unvertrauten Personen, s.o. Risikofaktoren „schwierigesTemperament“ h i i T t“ (Thomas und Chess 1977): enger Zusammenhang zu aggressivem Verhalten, wichtig im Hinblick auf die spätere mögliche Manifestation externalisierenden Verhaltens: Interaktion mit elterlicher Wahrnehmung; Verhältnis von Verhaltensaktivierung ((Neugierverhalten) g ) zu Verhaltenshemmung g (Schadensvermeidung; Cloninger 1987, Schmeck 2004) sozioökonomische Faktoren: mütterliche Depression, soziale Benachteiligung (Taylor et al. 1991) mütterliches unverarbeitetes n erarbeitetes Tra Trauma: ma körperliche kö li h und d psychische Misshandlung elterliche Copingstrategien: Kontrolle, K t ll Emotionalität; Modellverhalten, Verstärkung Klinik für Kinder Kinder- und Jugendpsychiatrie / Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm Steinhövelstraße 5 89075 Ulm www.uniklinik-ulm.de/kjpp Ärztlicher Direktor: Prof. Dr. Jörg M. Fegert