Fachtag der Suchtkrankenhilfe im Caritasverband Paderborn e.V. 22.09.2014 „Die beraterische/ therapeutische Beziehung in der Arbeit mit suchtkranken Menschen unter bindungssensiblen Aspekten“ Sabine Lottermoser Leitende Oberärztin Fachklinik Sankt Vitus Visbek Bindungstheorie Die Bindungsbestrebungen des Menschen mit Bezugspersonen existieren von Geburt an und bedienen das primäre Bedürfnis nach Sicherheit. Zu diesem Zweck ist der Mensch von klein auf mit einem bestimmten Verhaltensrepertoire ausgestattet, das es ihm ermöglicht, die physische und psychische Verfügbarkeit und Nähe der primären Bezugsperson in und außerhalb von belastenden oder gefährden Situation wiederherzustellen oder zu bewahren. Das fürsorgliche Pflegeverhalten der Bezugsperson ist der reziproke Teil des Verhaltensrepertoires und wird generational weitergegeben. John Bowlby (amerikanischer Psychoanalytiker) Aspekte langandauerndes affektives Band an nicht auswechselbare Bezugspersonen Bowlby (1975) definiert Bindung als Kinder, wenn sie sich nicht in einer völlig desorganisierten Umgebung befinden, immer eine Bindung aufbauen (ggf. auch an Personen, die sie schlecht behandeln), weil sie es aufgrund des Bindungsbedürfnisses müssen. Sie benötigen eine „secure base“, eine oder mehrere Personen, die ihnen Sicherheit gibt bzw. geben. Das Kind versucht, zu seinen Bindungspersonen Nähe herzustellen, will von ihnen getröstet und geschützt werden. Das Gegenstück zum Bindungsverhalten des Kindes ist die Feinfühligkeit der Bindungsperson. Es gibt Bedingungen, unter denen Kinder etwa ab dem dritten Lebensjahr auch „detachment“ – also Entbindung - zeigen. Die – dauerhafte – Trennung von einer Bindungsperson löst bei Kindern Protest, Verzweiflung und Resignation, schließlich Lösung - „detachment“ – aus Main (2001) postulierte, dass Frühe Eltern-Kind-Beziehung Subjekt- Kind Geburt Objekt-Eltern gemeinsam eingebunden vital bedürfnisbefriedigend haltgebend antizipierend intentionalJoint-attention kommunikativ affektregulierend zugewandt-interessiert spielerisch-involviert feinfühlig-verstehend verbalisierend objektbedürftig gebunden Sicherheit gebend belohnend Frühe Eltern-Kind-Beziehung Subjekt- Kind Geburt Objekt-Eltern gemeinsam eingebunden vital bedürfnisbefriedigend haltgebend antizipierend intentionalJoint-attention kommunikativ affektregulierend zugewandt-interessiert spielerisch-involviert feinfühlig-verstehend verbalisierend objektbedürftig gebunden Sicherheit gebend belohnend sichere Bindung Sichtweisen Längsschnittstudien heraus, dass Kinder sich an Bindungsverluste nicht „gewöhnen“ können, jede erneute Trennung macht Kinder sensibler, misstrauischer gegen enge Beziehungen und „abgestumpfter gegen neue Bindungsangebote“ Grossmann (2000a) fand in mit der sogenannten “Fremden Situation“ („Strange Situation Test“ 1970-1978) ein Setting zur Erforschung kindlicher Bindungsmuster. Ainsworth stellte mehrere Ausprägungen von Bindungstypen fest, welche sich innerhalb der Interaktion mit der Bindungsperson entwickeln können: sicher, unsicher-vermeidend und unsicher-ambivalent Bei der ersten Gruppe mit „sicherer“ Bindung fand das von Bowlby vorhergesagte ausgewogene Wechselspiel zwischen Nähesuchen und Erkundung statt, wobei die Mutter als „sichere Basis“ diente. Die zweite Gruppe, die Ainsworth als „vermeidend“ bezeichnete, zeigte ein starkes Erkundungs-, aber wenig Bindungsverhalten und schien kaum unter der Trennung zu leiden. Diese Kinder vermieden den Körper- und Blickkontakt zur Mutter. Die „ambivalenten“ Kinder der dritten Gruppe zeigten kaum Erkundungsverhalten, waren stets in der Nähe der Mutter, litten sehr stark unter der Trennung und waren wütend auf die Mutter, wenn sie wieder zurückkam. Mary Ainsworth (1970-1978) entwickelte Bindung • Das Bindungsbedürfnis gehört zu den Grundbedürfnissen von sozial lebenden Tieren, also auch den Menschen. • Alleinlassen von Jungtieren ruft, als Protestaktion, ein typisches Muster von „distress-vocalizations“, motorischer Unruhe und Überwachheit hervor. • Über das Paniksystem werden vermehrt Stresshormone ausgeschüttet. Die das Paniksystem beruhigenden Neuropeptide werden als „prime movers“ zur Herstellung und Erhalt von Bindung angesehen. Bindung • Prime movers wirken auf alle körperlichen und affektiven bindungsfördernden Wahrnehmungen im Gedächtnis - Gerüche, Berührungen, Laute, Anblicke. • Bei Fehlen einer positiven Bindungsbeziehung wird die Bahnung bindungsfördernde Gedächtnisinhalte zu speichern, verhindert. Dann sind Menschen schwerer zu beruhigen. Auch die Beruhigung durch andere ist erschwert. • Die Regulation der Emotionen kann dann nicht über den Austausch mit Beziehungspersonen in SELBSTREGULATION übergehen. Es entwickelt sich eine Störung des zentralen Stressbewältigungssystems. Stressbewältigungssysteme nach Panksepp Paniksystem-Furchtsystem Frontalhirn Gedächtnis „cold memories“ assoziativer Cortex Limbisches System Stress Amygdala „hot memories“ Mesolimbisches Funktionale Lösung Belohnungssystem Paniksystem Furchtsystem Stammhirn Parasympathicus Schreck Ohnmacht Schreie Freezing Vegetative Reaktion Sympathicus Fight and Flight Physische/sexualisierte Gewalt und emotionale Vernachlässigung in der Kindheit Überstimulation (abuse) und Deprivation (neglect) und ihre Folgen • broken home Familien häufig wechselnde Bezugspersonen Peergroup als Familienersatz • mehrgenerationale Suchterkrankungen Copingstrategie Suchtmittelkonsum • Parentifizierung der Kinder Kinder in der Elternrolle • unvorhersehbares Verhalten der Bezugspersonen geringe Stress -und Frustrationstoleranz A keine oder minimale Traumatisierung B moderate Vernachlässigung C schwerer emotionaler Missbrauch D schwere körperliche und emotionale Traumatisierung E schwerer sexueller und emotionaler Missbrauch F schwerer sexueller, körperlicher und emotionaler Missbrauch nach Ingo Schäfer 2011 Bindungsstörung und Sucht • frühe Störungen- strukturelle Defizite • Persönlichkeitsstörungen • Störungen der Stressbewältigung • mehrgenerationale Weitergabe - Epigenetik • geringe Stress -und Frustrationstoleranz • dysfunktionale Bewältigungsstrategien Stressbewältigungssysteme nach Panksepp Paniksystem-Furchtsystem Frontalhirn Gedächtnis „cold memories“ assoziativer Cortex Limbisches System Stress Amygdala „hot memories“ Mesolimbisches Funktionale Lösung Belohnungssystem (Suchtgedächtnis ) dysfunktionale Lösung-Sucht Paniksystem Furchtsystem Stammhirn Parasympathicus Schreck Ohnmacht Schreie Freezing Vegetative Reaktion Sympathicus Fight and Flight Menschen mit Bindungsstörungen können strukturelle Defizite entwickeln • Sie können weniger über sich selbst nachdenken, bleiben sich fremd, verstehen sich nicht • Sie können nur beschreiben, was sie selbst oder andere Menschen tun, aber weniger warum sie es tun • Sie können sich weniger einfühlen, sind weniger oder nicht empathisch • Sie können keine realistische Vorstellung über das Tun des Anderen entwickeln • Sie können Sachebene und Beziehungsebene oft nicht trennen, Konflikte werden dann interpersonell ausgetragen • Bei ihnen wird therapeutische Reflexion zur Interaktion -zum Interagieren- (Heigl u. Heigl- Evers) Eine Bindungsstörung kann zu einer Werkzeugstörung werden! Im Rahmen der persönlichen Entwicklung lernt der Mensch, einen eigenen psychischen Binnenraum zur Verfügung zu haben, Gefühle zu spüren, Erinnerungen zu ordnen, Konflikte auszutragen Ambivalenz auszuhalten, Handlungen vorzubereiten. Ich …die äußere Welt in die innere Welt hinein zunehmen, in Sprache zu fassen und dabei die eigene Position zu bestimmen. Schwierigkeiten bei Klienten/Patienten mit Bindungsstörungen • die therapeutische Arbeitsbeziehung lässt sich nur schwer herstellen, wird vom Patienten ständig „getestet“ und immer wieder hinterfragt • die Mehrzahl der Substanzabhängigen mit Bindungsstörung zeigen zu Beginn eine hohe Non-Compliance und „belasten“ dadurch das „Durchhaltevermögen“/ die Frustrationstoleranz des Therapeuten • durch Ängste, schlechte Erfahrungen, die Bindungsstörung, besteht ein hoher Veränderungswiederstand • es gibt häufig Therapieabbrüche, die eine Behandlung/ Begleitung unmöglich machen Die therapeutische Bindung Die Bindung zwischen Therapeut und Patient ist ein spezifisches emotionales Band, das der Patient mit Hilfe des Therapeuten aufbauen kann, um sich in der Therapie mit seinem Therapeuten sicher zu fühlen. Auf dem Boden dieser Sicherheit kann der Patient stressvolle Erfahrungen verarbeiten. Das Band verbindet die beiden über Raum und Zeit miteinander nach K. H. Brisch München 2012 Aspekte zum Bindungsaufbau • In Beratung und Therapie treffen Menschen mit unterschiedlichen Bindungsmustern aufeinander • Das Bindungssystem des Beraters/ Therapeuten aktiviert das Bindungssystem des KlientenIn/ PatientenIn und kann es stabilisieren • Bei niedriger Ich-Struktur, tiefer Regression, ist es wichtig Signale zu interpretieren und zu „verwörtern“/ ins zu Wort bringen, stellvertretend zu verbalisieren • Wenn durch Exploration die Angst steigt, muss das Bindungssystem wieder beruhigt werden. Die Angst ist Ausdruck der Aktivierung des Bindungssystems, von Bindungsbedürfnissen und Bindungsangst • Es entsteht ein Wechselspiel zwischen Exploration und Sicherung Bindung/ Sicherung Exploration • Die beraterische/ therapeutische Beziehung sichert den Therapieerfolg, nicht die Ausbildung • Aufbau eines Erfahrungsschatzes von sicheren inneren Bindungen bzw Bindungsrepräsentanzen von sichern Bindungen. Darauf können KlientenInnen/ PatientenInnen zurückgreifen • Die Erfahrungen mit dem BeraterIn/ TherapeutIn schaffen Repräsentanzen von Sicherheit in KlientIn/ PatientIn, es entsteht ein inneres Arbeitsmodell Bedeutung für die therapeutische Grundhaltung Akzeptanz der Störung als chronisches Geschehen das Leiden auslöst bei gleichzeitigen Therapiezielen von Veränderung und Aufgabe dysfunktionaler Verhaltensweisen Akzeptanz Veränderung Therapeutische Beziehung im Wandel Funktionelle Beelterung • • • • • • Validierung wohlwollendes Sorgen echte Anteilnahme Authentizität Unterstützung miteinander sein Akzeptanz Coach • • • • • Konfrontation Ziele setzen Fordern Eigenverantwortung vermitteln Selbstwirksamkeit stärken Veränderung Funktionelle Beelterung • • • • • • Validierung wohlwollendes Sorgen echte Anteilnahme Authentizität Unterstützung miteinander sein Akzeptanz Stagnation Coach • • • • • Konfrontation Ziele setzen Fordern Eigenverantwortung vermitteln Selbstwirksamkeit stärken Veränderung Funktionelle Beelterung • • • • • • Validierung wohlwollendes Sorgen echte Anteilnahme Authentizität Unterstützung miteinander sein Akzeptanz Coach • • • • • Konfrontation Ziele setzen Fordern Eigenverantwortung vermitteln Selbstwirksamkeit stärken Veränderung Behandlungsabbruch Therapeutische Beziehung Kein Beziehungsangebot, was nicht gehalten werden kann! • Ansprache des Erwachsenenstate unter Beachtung kindlicher States, die im Hintergrund „aktiv“ sind • ressourcenorientierte Sicht • dialektische Haltung • Wandel der therapeutischen Beziehung im Verlauf der Behandlung von „Nach“-Beelterung zum Coaching durch Validierung, Commitment und Erarbeitung funktionaler Verhaltensmuster Ziele kurzfristig: korrigierende Bindungserfahrung Aufgabe dysfunktionalen Verhaltens langfristig: Stärkung von Selbstvertrauen Selbstwirksamkeit Aufbau einer sicheren inneren Bindung Etablierung funktionaler Verhaltensweisen Im Rahmen der Therapie lernt der betroffene Mensch, einen eigenen psychischen Binnenraum zur Verfügung zu haben, Gefühle zu spüren, Erinnerungen zu ordnen, Konflikte auszutragen Ambivalenz auszuhalten, Handlungen vorzubereiten. Ich …die äußere Welt in die innere Welt hinein zunehmen, in Sprache zu fassen und dabei die eigene Position zu bestimmen. Ein sinnerfülltes Leben ist ein Leben in Beziehung Wilhelm Schmid Danke! [email protected]