Bindungsstörungen Dr Henrik Uebel Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Universität Göttingen Grundlagen • Seit 2 Jahrzehnten eingeführte Kategorie • Wenig empirisch gesichertes Wissen • Entwicklungspsychiatrische Aspekte • Hohes Risiko Entwicklung anderer psychiatrischer Störungen Definition • Unzureichende oder traumatisierende Beziehungen in den ersten Lebensjahren • Symptomatik an Kleinkind- und Vorschulalter gebunden Diagnose Diagnosestellung Pathogene psychosoziale Umstände Nicht nur intrapersonale, sondern auch interpersonelles Bindungsverhalten als Diagnosekriterium Explizit (DSM-IV) Implizit (ICD-10) Diagnose 2 Grundformen (AACAP 2005) 1. Gehemmte Form – Vermeidung – Rückzug 2. Hypervigilanz – Ungehemmte Form – Nicht selektives, distanzlos-diffuses Kontaktverhalten Klassifikation nach ICD-10 Reaktive Bindungsstörung des Kindesalters (F94.1) 1. Beginn vor dem 5. LJ 2. Widersprüchliche soziale Reaktionen in verschiedenen sozialen Situationen 3. Emotionale Störungen Rückzug, Aggressivität, Unglücklichsein, Überempfindlichkeit 4. Nachweis von zeitweiser sozialer Ansprechbarkeit mit gesunden Erwachsenen 5. Keine tiefgreifende Entwicklungsstörung Klassifikation nach ICD-10 Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung (F94.2) 1. Anhaltende diffuse Bindungen in den ersten 5 Lj + Fehlen selektiver Bindungen 2. Wenig modulierte soziale Interaktionen 3. Anklammerndes, Aufmerksamkeit heischendes oder unterschiedslos freundliches (distanzloses) Verhalten 4. Kontakt- und Bindungsverhalten situationsübergreifend Klassifikation nach DSM-IV Reaktive Bindungsstörung im Säuglingsalter oder in der Kindheit (313.89) „inhibited type“ „Disinhibited type“ Nachweis einer pathogenen Umgebung/Fürsorge! Nichtberücksichtigung der grundlegenden emotionalen Bedürfnisse Nichtberücksichtigung der körperlichen Bedürfnisse Häufige Wechsel der Bezugspersonen + Verhinderung stabiler Beziehungen Epidemiologie I Inzidenz und Prävalenz unbekannt Schätzungen: • 1% (Richters et al. 1994) • Prävalenz in Risikogruppen (Kinder aus Institutionen, mißhandelte Kinder, Kinder mit Gedeihstörungen): ca. 40 % (z. B. Zeanah et al. 2004) Epidemiologie II Studie UK rumänische Adoptivkinder (AK) mit unterschiedlicher Deprivationsdauer (O´Connor + Rutter, 2000) Deprivationsdauer > 2 J vor Adoption 30% Bindungsstörung mit 6J Deprivationsdauer < 6 Mon 7% Bindungsstörung mit 6J Epidemiologie III Inanspruchnahmepopulation KJP Berlin 1992 - 2003 3,9% bei einem mittleren Alter von 6,1 J Merkmale Unzureichende elterliche Aufsicht + Steuerung Erziehung, die eine unzureichende Erfahrung vermittelt Psychische Störungen/abweichendes Verhalten eines Elternteils Somatische Begleiterkrankungen Frühkindlich nicht organische Gedeihstörung • Somatisch nicht ausreichend erklärbares Untergewicht und Entwicklungsverzögerungen (Steinhausen 1996) Häufiges Erbrechen Eß-Störungen Rez. Respiratorische Infekte Rumination Somatische Begleiterkrankungen Psychosozialer Kleinwuchs • Enge Assoziation mit emotionaler Deprivation Ausgeprägter Kleinwuchs ohne Untergewicht + Verminderte Wachstumshormonsekretion + Schlafstörungen + Polydipsie + Polyphagie + Schmerzempfindlichkeit ↓ + Psychopatholog. Symptomen + Entwicklungsverzögerungen Beweisend für die Diagnose: Aufholwachstum mit Normalisierung der Hormone Nach Ende der deprivierenden Bedingungen Komorbidität I Fallberichte (Boris et al. 2000, Richters + Volkmar, 1994) • Impulsivität • Depressivität • Angst • Hyperkinetisches Verhalten Systematische Studien fehlen bislang Komorbidität II Grundlegende sozial-emotionale Störung Kinderpsychiatrische Vulnerabilität Verlaufskomorbidität SSV Hyperkinetische Störungen Angststörungen Emotionale Störungen Ca. 70% allgemeine oder umschriebene Entwicklungsverzögerung (Berliner Kollektiv) Ätiologie / Pathogenese I Biographische + Biologische Faktoren (als Vulnerabilität) Leicht irritierbare Neugeborene zeigen höhere Wahrscheinlichkeit für unsichere Bindung (Fremmer-Bombik 1996) Risiko Bindungsstörung ↑ Ätiologie / Pathogenese II Neuronale Entwicklung Bindungserfahrung limbisches System, Frontalhirn z. B. Streek-Fischer+ van der Kolk 2000 Ätiologie / Pathogenese III Tiermodell Deprivation Verhaltensänderung Morphologische + biochemische Veränderungen (z. B.Braun et al., 2000) Ätiologie / Pathogenese III Biographische Ursachen Zusammenhang Deprivationsdauer und Sx einer Bindungsstörung (O´Connor et al. 1999; O´Connor + Rutter 1999 Aber: 70% mit Deprivation keine SX einer Bindungsstörung KOMPLEXE Interaktion pathogener + protektiver Faktoren Multifaktorielles Ätiologiemodell („developmental puzzle“) Diagnostik I Exploration Fremdanamnese Bezugsperson Sonstige Ggf. videogestütze Interaktionsbeobachtung Qualität des Kontaktverhaltens Reaktion auf Trennung Kind Spielbeobachtung Ggf. projektive Testverfahren Diagnostik II Somatische Abklärung – z. B. endokrinologische Untersuchung Entwicklungsneurologische Untersuchung – z. B. ergotherapeutisch – Krankengymnastisch – Pädaudiologisch-logopädisch PsU zu Beginn oft nur eingeschränkt verwertbar (→ Verlaufsbeobachtung) Differentialdiagnosen • Hyperkinetische Störungen • Tiefgreifende Entwicklungsstörungen • Intelligenzminderung • Anpassungsstörungen • Akute Belastungsstörungen Behandlung I Hauptziel (DGKJ, 2007) Herstellung und Sicherung eines entwicklungsfördernden bindungsstabilen Milieus Behandlung I Jugendhilfe Bei Verbleib in der Familie Hilfeplanung nach KJHG (§§27, 35a, 36) Intensive sozialpädagogische Betreuung mit Beratung der Familie Kinderpsychiatr. Verlaufskontrollen Ggf. Einschränkung der elterlichen Sorge nach § 1666 BGB Stat. Kinderpsychiatr. Behandlung Sonderpädagogische Pflegestelle Behandlung II Wenn stationäre / teilstationäre Behandlung in KJP Milieutherapeutisch orientiertes, konstantes Bezugspersonensystem Behandlung III Somatische Maßnahmen Gedeihstörungen ernährungsmedizinische Maßnahmen Psychosozialer Kleinwuchs Pädiatrische Endokrinologie (keine Therapie durch Wachstumshormone) Psychotherapeutische Maßnahmen NUR auf Basis des sozial- und heilpädagogischen Maßnahmen und bei entsprechendem Entwicklungsalter CAVE! Erneute Beziehungsabbrüche Behandlung IV Psychopharmakotherapie In Abhängigkeit der beeinträchtigenden Symptomatik Prävention Primär Verbesserte gesellschaftliche Aufklärung! Bedeutung von Beziehungskonstanz – Schulunterricht – Schwangerenberatung – Beratung von Ärzten Sekundär Verbesserte Früherkennung Langfristig abgesicherte Verlaufskontrollen (nach Intervention) Verlauf I Frühe Auffälligkeiten im Bindungsverhalten Risiko späterer psychischer Auffälligkeiten ↑ bei psychosozialen Hochrisikofamilien (Rutter + Sroufe 200; Greenberg 1999; Dozier et al. 1999) Hohe Stabilität im 4. – 6. Lj (obwohl in Pflegefamilie) (O´Connor + Rutter 2000) Bindungsverhalten ↑ zwischen 6 und 11 Jahren (Kreppner 2004) Verlauf II VERMUTUNG Gehemmte Bindungsstörungen Internalisiernde Störungen Ungehemmte Bindungsstörungen externalisiernde Störungen