Bindung und Beziehung als Motor in der frühkindlichen Entwicklung 19.10.2016 Dr. med. Edelhard Thoms, Leipzig Dr. med. Edelhard Thoms Praxis für Psychotherapie und Psychoanalyse für Babies, Kinder, Jugendliche und Erwachsene, Psychotherapie, Psychoanalyse, Traumatherapeut (DeGPT) Suchtmedizin Supervisor (SPP) Zertifizierter Gutachter (BAG, BKJPP, DGKJP) Vorstand der GAIMH Deutschland Pragerstr. 125, 04317 Leipzig [email protected] • • • • • Einführung Entwicklung Psychosozialer Entwicklungsrahmen Bindung, Beziehung, Bindungsstörung Hilfen, Therapie Zeitungsmitteilung 09.06.16 • Umso wichtiger sei es, sagt Gesundheitsministerin Huml, „schon bei Säuglingen auf mögliche Störungen zu achten“. Das betrifft etwa sogenannte Schreibabys: Exzessives Schreien könne ein Risikofaktor für die Entstehung späterer Verhaltensprobleme sein. Schätzungen zufolge sind allein in Bayern 20 000 Babys pro Jahr betroffen. Tendenz: steigend, natürlich. • • • • • Einführung Entwicklung Psychosozialer Entwicklungsrahmen Bindung, Beziehung, Bindungsstörung Hilfen, Therapie Bedeutung früher Erfahrungen für die Gehirn- und Verhaltensentwicklung Funktion und Struktur des sich entwickelnden Gehirns wird positiv oder negativ von sozial-emotionalen Beziehungserfahrungen beeinflusst - emotionale Sicherheit dient als Puffer gegen Stress - massive neuropsychologische Folgen bei frühem emotionalem Stress/misshandelten Kindern psychobiologische Regulation in der Bindungsbeziehung (Schore, 2001) Das emotionale Erfahrungsgedächtnis wird geformt durch • • • • • Gene Schwangerschaft, Geburt, frühkindliche Entwicklung Traumatisierungen Elternhaus Schule, Freundeskreis und beeinflusst unser Handeln und unterliegt nicht dem freien Willen Zusammenfassung • Serotonin ist ein Neuromodulator und beeinflusst Gene und Epigenetik • Stresshormone prägen das Stresssystem und beeinflussen das Risiko zur Entwicklung seelischer Störungen • Oxytocin fördert das Bindungsverhalten und verbessert die seelische Entwicklung Die Neurowissenschaft verdeutlicht, dass die Qualität früher Beziehungserfahrungen die Gehirnarchitektur prägt und deshalb für die weitere Persönlichkeitsentwicklung von entscheidener Bedeutung ist. Sind pränatale Stresseffekte reversibel • Effekte von pränatalem Stress können durch postpartale Pflege und Zuwendung moderiert werden • Sorgfältige Pflege ist assoziert mit weniger starkem Anstieg oder Dauer oder HHNA Aktivierung bei Kindern im ersten Lebensjahr (Cottrel &Seckl, 2009) • Adoptionsstudien: unterstützende Pflege normalisiert Stresshormonlevel schon nach nur 10 Wochen (Gunnar et al., 2008) • • • • • Einführung Entwicklung Psychosozialer Entwicklungsrahmen Bindung, Beziehung, Bindungsstörung Hilfen, Therapie Seelisch kranke Eltern • Mehr als 3 Millionen Kinder sind betroffen • 740 000 Kinder leben mit einem alkohol- oder drogenabhängigem Elternteil • 270 000 Kinder leben mit einem an Schizophrenie erkranktem Elternteil • 1 230 000 Kinder mit einem an affektiven Störungen erkrankten Elternteil • 1 555 000 Kinder mit einem an Angststörungen erkranktem Elternteil • 21,9% aller Kinder und Jugendlichen haben seelische Störungen (Bella Studie 2007, RKA Studie 2008) KIGGS 2012 = 20,2% (3-17 Jahre) Jungen = 23,4%, Mädchen = 16,9% 12,4% haben deutliche Beeinträchtigungen im sozialen und familiären Alltag • 6% bis 9% aller Kinder und Jugendlichen in Deutschland ( 1 Million) sind psychisch oder psychosomatisch krank und behandlungsbedürftig Bedeutung von Familienbeziehungen für die psychopathologische Entwicklung Bella Studie (Ravens-Sieberer, Wille, Bettge & Erhart, 2007; N=2863) im Rahmen des RKI Survey Risiko der Kinder und Jugendlichen für psychische Auffälligkeiten steigt mit - Familienkonflikten 5x - psychischen Erkrankungen der Eltern 2x - Konflikten der Eltern 3x - Unzufriedenheit in der Partnerschaft 3x - Alleinerziehen 2x - Heimunterbringung verdoppeln das Risiko 2x Was macht extremer Stress mit Kindern ? • Veränderung der Stress-Reaktionssysteme (epigenetische Veränderungen) • Veränderung in Genexpression, Myelinisierung, neuronaler Morphologie, Neurogenese und Synaptogenese • Timing der Schädigung • Schädigung des Neurokortex und limbische System • Schwere psychiatrische Folgen wie PTBS, Suchterkrankungen, Depression usw. • Huber M (2014) Resilienz: Begriffsbestimmung Resilience (englisch) = Spannkraft, Widerstandskraft, Elastizität Fähigkeit eines Menschen, Krisen zu bewältigen und Belastungen zu meistern (Gegenbegriff = Vulnerabilität) Resilienz ist die Fähigkeit, „Krisen im Lebenszyklus unter Rückgriff auf persönliche und sozial vermittelte Ressourcen zu meistern und als Anlass für Entwicklung zu nutzen“ (Welter-Enderlein 2006). Resilienz ist als ein Interaktionsprozess zwischen Individuum und Umwelt zu verstehen, in dem der einzelne Mensch selbstregulierend auf seine Umwelt einwirkt Resilienz ist multidimensional, da verschiedene Faktoren aus verschiedenen Bereichen – biologischen, ökologischen, psychologischen, soziologischen – eine Rolle spielen. Resilienz Einflussfaktoren Familiäre Schutzfaktoren • mindestens eine stabile (elterliche) Bezugsperson • Erziehungskompetenzen der Eltern (autoritativer Erziehungsstil) • positives Familienklima Soziale Schutzfaktoren • soziales Netzwerk familiärer und außerfamiliärer Personen • Unterstützung durch Institutionen, z.B. Kita des Kindes • Inanspruchnahme / positive Erfahrung mit Beratungsangeboten Individuelle Schutzfaktoren des Kindes • körperliche und seelische Gesundheit • freundliches, interaktives Temperament • Freude am Lernen / Intelligenz • hohes Selbstwertempfinden / religiöse Überzeugung • • • • • Einführung Entwicklung Psychosozialer Entwicklungsrahmen Bindung, Beziehung, Bindungsstörung Hilfen, Therapie Bindung Mary Ainsworth (1913-1999) Bindungstheorie (John Bowlby) Kernannahme: Organisation der Emotionen des Säuglings unterstützt durch mütterliche Feinfühligkeit wird zur Basis für die Entwicklung von Selbstwertgefühl und Beziehung zu anderen. Verteilung von Bindungsmustern in Deutschland (13 Studien, Gloger-Tippelt & Vetter, 2000) • sicher gebunden • unsicher vermeidend gebunden • unsicher ambivalent gebunden • desorientiert / desorganisiert gebunden 45,0 % 27,7 % 6,9 % 19,9 % Unverarbeitetes Trauma der Eltern oder des Säuglings / Kleinkinds 75-80% Folgen der Bindungsentwicklung •Sichere Bindung –Schutzfaktor bei Belastungen –Mehr Bewältigungsmöglichkeiten –Sich Hilfe holen –Mehr gemeinschaftliches Verhalten –Empathie für emotionale Situation von anderen Menschen –Mehr Beziehungen –Mehr Kreativität –Mehr Flexibilität und Ausdauer –Mehr Gedächtnisleistungen und Lernen Folgen der Bindungsentwicklung •Un-Sichere Bindung –Risikofaktor bei Belastungen –weniger Bewältigungsmöglichkeiten –Lösungen von Problemen eher alleine –Rückzug aus gemeinschaftlichen Aktivitäten –weniger Beziehungen –Mehr Rigidität im Denken und Handeln –Weniger prosoziale Verhaltensweisen –schlechtere Gedächtnisleistungen und Lernprobleme Bindungsqualitäten desorganisierte Bindung – – – – widersprüchliche Verhaltensweisen von Nähesuchen und Vermeidung Verhaltensstereotypien Einfrieren der Bewegung „Absencen“, dissoziative Zustände Wie kommen Unterschiede in der Bindungssicherheit zustande? • Elterliche Feinfühligkeit • Prompte, angemessene Reaktion auf kindliche Bedürfnisse. • Unsicher ambivalente Kinder haben inkonsistente Mütter. • Unsicher vermeidende Kinder haben indifferente, emotional nicht ansprechbare Mütter. • Desorganisierte Kinder sind ängstlich oder verwirrt durch das Verhalten der Mutter. Wie kommen Unterschiede in der Bindungssicherheit zustande? • Elterliche Feinfühligkeit • Prompte, angemessene Reaktion auf kindliche Bedürfnisse. • Unsicher ambivalente Kinder haben inkonsistente Mütter. • Unsicher vermeidende Kinder haben indifferente, emotional nicht ansprechbare Mütter. • Desorganisierte Kinder sind ängstlich oder verwirrt durch das Verhalten der Mutter. Feinfühligkeit • Die Pflegeperson mit der größten Feinfühligkeit in der Interaktion wird die Hauptbindungsperson für den Säugling • große Feinfühligkeit fördert eine sichere Bindungsentwicklung • Die Bindungsperson muss nicht die leibliche Mutter sein Feinfühligkeit • • • • • Verhalten Sprache Rhythmus Blickkontakt Berührung Feinfühligkeit Die Pflegperson muss die Signale des Säuglings –wahrnehmen –richtig interpretieren –angemessen reagieren –prompt reagieren Sprachliche Interaktion Förderung einer sicheren Bindung durch die Verbalisierung –der „inneren Welt“ der affektiven Zustände –der Handlungszusammenhänge des Säuglings Blickkontakt Blickkontakt mit gelungener Affektabstimmung (Intersubjektivität) zwischen Säugling und Pflegeperson fördert die sichere Bindungsentwicklung Berührung Feinfühlige Berührung und Körperkontakt zwischen Pflegeperson und Säugling fördert die sichere Bindungsentwicklung Entwicklungsrisiko: Unterstimulation • Mangelnde Responsivität • Kindliche Signale werden gar nicht oder nur verzögert aufgenommen • Kind agiert mit negativen oder sogar selbstgefährdenden Verhaltensweisen – Eltern reagieren negativ à negative Kontingenzen können Ausgangspunkt für Misshandlungen werden – Eltern bleiben emotional unerreichbar à Kind zieht sich passiv zurück à frühe Entwicklungsdefizite Entwicklungsrisiko: Überstimulation Interaktionsbeiträge werden nicht über die kindlichen Signale, sondern über ihr eigenes Bedürfnis gesteuert – Übermaß an elterlicher Zuwendung • Kind zieht sich zurück oder protestiert – Zuwendung mit aggressivem Charakter • Kind kann sich Abwendung oder Protest nicht „leisten“ • à „erzwungener Gehorsam“ Was sind Bindungsstörungen? Durch multiple Traumatisierungen – – des Kindes und/oder der Eltern wird die frühe Eltern-Kind-Interaktion gravierend gestört Die Folge ist eine frühe Psychopathologie der Bindungsentwicklung, die wir Bindungsstörung nennen. Ursachen von Bindungsstörungen Multiple unverarbeitete Traumatisierungen von Kindern / und oder Eltern • • • • • Sexuelle Gewalt, körperliche Gewalt Massive Vernachlässigung Häufig wechselnde Bezugssysteme Depressive Mutter Secure Base mangelhaft Folgen von Bindungsstörungen I • Zerstörung der sicheren emotionalen Basis • Verlust von emotionaler Sicherheit und Vertrauen • mangelnde Beziehungsfähigkeit • Hochgradige Verhaltensstörung in bindungsrelevanten Situationen Folgen von Bindungsstörungen II • • • • • psychosomatische Störungen aggressives Verhalten im Konflikt Defizite in den kognitiven Möglichkeiten Störung in der Entwicklung des Gehirns Weitergabe an die nächste Generation • • • • • Einführung Entwicklung Psychosozialer Entwicklungsrahmen Bindung, Beziehung, Bindungsstörung Hilfen, Therapie Das Bild kann nicht angezeigt werden. Dieser Computer verfügt möglicherweise über zu wenig Arbeitsspeicher, um das Bild zu öffnen, oder das Bild ist beschädigt. Starten Sie den Computer neu, und öffnen Sie dann erneut die Datei. Wenn weiterhin das rote x angezeigt wird, müssen Sie das Bild möglicherweise löschen und dann erneut einfügen. Eine Therapie soll erst nach Diagnostik und bei vorliegender Diagnose einer kindlichen Störung und/oder einer Beziehungsstörung erfolgen. Diese umfassen: Eltern-Kind- und Elterntrainings Eltern-Säuglings- und Eltern-Kleinkind-Psychotherapien Einzelpsychotherapien des Kindes Therapie mit Fokus auf die Paar- und Familiendynamik Psychotherapie und psychiatrische Behandlung der Eltern Systemische Familientherapie Tagesklinische und stationäre Behandlungen Die Methoden und Techniken, die Intensität und das Setting der Psychotherapie sollen sich nach Art und Schweregrad der Störung richten. Eigene Studie (2008-2014, N 456) Das Alter der Kinder variiert von 4 bis 36 Monaten. Der Bindungstyp ist überwiegend unsicher ambivalent bis desorganisiert. Die emotionale Verfügbarkeit ist erheblich beeinträchtigt. Das Kind wird von allen überwiegend als Belastung erlebt Diagnosen der Mütter (Vater) 90 80 70 Prozent 60 50 40 30 20 10 0 F32 F33 F43 F48 F50 F53 F60 F94 ICD10 Auffallend ist die häufige PTBS bei den Müttern. Eigene traumatische Erfahrungen werden durch das Kind reaktiviert und bestimmen in Konflikten das Agieren. Auch die Kinder weisen nach ICD 10 gehäuft traumatisch bedingte Störungen auf. Diagnosen der Kinder männlich weiblich 120 100 Prozent 80 60 40 20 0 F43 F50 F51 ICD10 F94 F98 Bindung 60 50 40 30 20 10 0 unsicher verm. uns. Ambivalant desorganisiert Problembeschreibung durch Eltern 2 nicht sprechen 8 nicht spielen 15 Ängste 3 Schreiattacken 28 Unruhe/Unfälle 20 Autoaggression 43 Aggression 31 Essstörung 30 Schlafstörung 0 5 10 15 N 20 25 30 35 40 45 Erwartung der Eltern 12 Paarkonflikt red. 13 selbst ruhiger sein 20 Eigenanteil erkennen 19 Schuldgefühle red. 31 Misshandl. vorbeugen 33 Grenzen setzen 40 Neue Lösungen 43 Red. V. Überforderung N 0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 Stressregulationsstörungen • • • • Eigene Traumatisierung Depression Angst Sucht Beeinträchtigen die Mentalisierungsfähigkeit Das Baby wird als Belastung empfunden, das Mentalisieren ausgeschaltet: Das Schreien wird als Anklage, als Angriff erlebt! Unfähigkeit innere Bilder zu lesen „Er schreit um mich zu ärgern“ „Er brüllt sofort, wenn ich ihn auf den Arm nehme“ „Er lächelt mich nie an“ „Ich weiß nie, was er eigentlich will“ Stress beeinträchtigt die spielerische und reflektierende Aktivität zu Gunsten handlungsorientierter Entscheidungen Therapeutische Strategie • Interesse an den Gefühlen, Konflikten und Ambivalenzen der Mutter • Übernahme der „Alpha Funktion“ (Bion): • Schaffung eines Zustandes für die Mutter, über das, was sie denkt, nach zu denken, dem Anfang der Reflektion • Bedürfnisse des Babys zu denken • Dem Baby eine Stimme verleihen Therapeutische Ziele • Dem Baby einen Platz geben, in den Gedanken und Gefühlen und seiner gegenwärtig zu sein (Winnicott) • Sich auf responsive und sensible Weise dem Baby anzupassen • Mütterliche Repräsentationen zu modifizieren und die Reflexionsfähigkeit zu verbessern • Veränderung der Interaktionsfähigkeit Reflexions- und Mentalisierungsfähigkeit Die Fähigkeit vokale, mimische und körperliche Kommunikationen als Signale der Bedürfnisse des Babys lesen zu können Mit Sprache nicht beobachtbares zu interpretieren, sich der Erlebniswelt des Babys anzupassen „Wenn das Baby meine Stimme nicht mehr hört ist es einsam und weint“ Mütterliche Reflexion ist einseitiges Mentalisieren Das Baby nimmt die Mühe wahr, nicht nur körperlich versorgt zu werden, sondern auch unsichtbare Zustände werden in Worte gefasst „Ich glaube du hast Hunger, bist erschreckt, einsam, aufgeregt.... Innere lust- und unlustvolle Empfindungen werden mit Erfahrungen verknüpft, der andere reagiert, dadurch wird die Erfahrung handhabbar Die innere Landschaft des Babys wird nachempfunden Video Alltagssequenzen: Füttern, Spielen Trösten u.a. „Baby lesen lernen“, die Gefühle bewusst werden lassen: • Gute Sequenzen, später nicht gut abgestimmte Sequenzen: – „Ich frage mich, ob er verstanden hat was sie erwarten? – „Spürt er wie verzweifelt sie waren?“ – „Ist das Baby wirklich absichtlich in der Lage sie zu ärgern?“ • Baby wird müde ,das ist keine Ablehnung • Nationales Zentrum für Frühe Hilfen • • • • • • www.bzga.de www.kinderpsychiater.org • www.gaimh.org www.gaimh.org • www.degpt.de • www.achtung-kinderseele.org www.degpt.de www.parkkrankenhaus-leipzig.de www.achtung-kinderseele.org Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit ! Zeit für Diskussionen