Leseprobe_Klinische Entwicklungspsychologie kompakt

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Leseprobe aus: Heinrichs, Klinische Entwicklungspsychologie, ISBN 978-3-621-27806-5
© 2011 Beltz Verlag, Weinheim Basel
http://www.beltz.de/de/nc/verlagsgruppe-beltz/gesamtprogramm.html?isbn=978-3-621-27806-5
Leseprobe aus: Heinrichs, Klinische Entwicklungspsychologie, ISBN 978-3-621-27806-5
© 2011 Beltz Verlag, Weinheim Basel
6 Störungen mit überwiegendem Beginn
im Säuglings- und Kleinkindalter
Was Sie in diesem Kapitel erwartet
In diesem Kapitel wird ein Überblick gegeben zu Störungen, die überwiegend bereits von Geburt an bestehen bzw. sich in den ersten Lebenswochen, -monaten
und -jahren entwickeln, die sich jedoch weit darüber
hinaus auswirken können. Dazu gehören Regulationsstörungen im Säuglings- und Kleinkindalter, die sich
in exzessivem Weinen in den ersten Lebensmonaten,
in Ein- und Durchschlafstörungen sowie Fütter- und
Gedeihstörungen äußern können. Bereits frühzeitig
können weiterhin Bindungsstörungen auftreten, die
durch gestörte Interaktionen und Kontaktaufnahmen
des Kindes im Umgang mit Bezugspersonen charakterisiert sind. Weitere frühkindliche Probleme beziehen
sich auf Störungen der Ausscheidungskontrolle (Enuresis und Enkopresis). Als besonders gravierende
Formen der frühkindlichen Störung sind weiterhin
die tiefgreifenden Entwicklungsstörungen zu nennen,
die in erheblichem Umfang unterschiedliche Dimensionen des Erlebens und Verhaltens beeinträchtigen.
In dieses Formenspektrum fallen vor allem die autistischen Störungen. Auf die einzelnen Störungsbilder
wird im Folgenden genauer eingegangen.
6.1 Regulationsstörungen im Säuglings- und Kleinkindalter
6.1.1 Darstellung des Störungsbildes und diagnostische Abgrenzung
Definition
Nach den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für
Kinder und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie
(2007) wird unter einer Regulationsstörung eine für
das Alter bzw. den Entwicklungsstand des Säuglings
bzw. Kleinkindes außergewöhnliche Schwierigkeit verstanden, sein Verhalten in einem oder mehreren Entwicklungsbereichen angemessen zu regulieren.
Bei den Regulationsstörungen besonders hervorzuheben sind exzessives Weinen in den ersten
Lebensmonaten, Ein- und Durchschlafstörungen sowie Fütter- und Gedeihstörungen. Auf diese
Bereiche soll im Folgenden ausführlicher eingegangen werden.
Gründe für das Weinen im Säuglingsalter. Betrachtet man das exzessive Weinen, so ist zunächst
darauf hinzuweisen, dass Weinen eines der wichtigsten Signale im Säuglingsalter ist, mit dem
ein Kind schon früh seine Bedürfnisse zum Ausdruck bringen kann. Zu unterscheiden sind
mindestens vier wesentliche Gründe für das Weinen eines Säuglings:
î Hunger
î Schmerz
î Müdigkeit
î Langeweile
Exzessives Weinen. Es kann eine Vielzahl von Bedingungen geben, die die Wahrscheinlichkeit,
dass ein Kind weint, erhöhen. Dabei können sowohl personale Faktoren (wie ein schwieriges
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Temperament, unzureichende physische Reife) als auch situationale Faktoren (wie Schlafmangel) eine Rolle spielen. Wenn hinzukommt, dass die Bezugspersonen sich durch das Weinen
belastet fühlen und unangemessen reagieren, kann sich die Situation weiter verschärfen. Es
kann zu Weinattacken kommen, die sich über längere Zeitabschnitte erstrecken, ohne dass das
Kind zu beruhigen ist. Da häufig auch die Schlaf-Wach-Regulation beeinträchtigt ist und es zu
Einschlafproblemen kommt, finden sich nicht selten verkürzte Tag- und Gesamtschlafzeiten.
Die Übermüdung wiederum ist ein Auslöser für weiteres Weinen und Quengeln, sodass es zu
Aufschaukelungsprozessen kommt. Von einem exzessiven Weinen wird gesprochen, wenn das
Weinen über drei Wochen hinweg an mindestens drei Tagen über jeweils mindestens drei Stunden auftritt. Häufig werden jedoch nicht nur objektive Kriterien herangezogen, da auch die
subjektive Bewertung der Bezugspersonen im Sinne einer wahrgenommenen Belastung von
Bedeutung ist. Das exzessive Weinen tritt vor allem in den ersten sechs Lebensmonaten auf und
nimmt danach in der Regel hinsichtlich Frequenz und Dauer wieder ab.
Ein- und Durchschlafstörungen. Betrachtet man das Ein- und Durchschlafvermögen von Säuglingen, so ist zunächst zu konstatieren, dass der Schlaf-Wach-Rhythmus in den ersten Lebensmonaten relativ unabhängig von den Tag- und Nachtzeiten bei etwa drei bis fünf Stunden liegt.
Ein Durchschlafen in der Nacht findet sich in der Regel frühestens in der zweiten Hälfte des
ersten Lebensjahres. Auch danach wachen viele Kinder noch während der Nacht auf, verfügen
jedoch bereits über Selbstberuhigungsstrategien, um in den Schlaf zurückzufinden. Andere Kinder benötigen jedoch eine Fremdregulation durch Bezugspersonen, um wieder einschlafen zu
können. In diesem Fall wird auch die Bezugsperson aufgeweckt (z. B. durch Weinen) und dem
Kind gelingt es nur durch entsprechende Unterstützungsmaßnahmen (z. B. im Bett der Eltern
schlafen, Hand halten), wieder einzuschlafen (Parritz & Troy, 2011). Als problematisch gilt
dabei, wenn die Einschlafzeit im Durchschnitt mehr als 30 Minuten beträgt und wenn das
Einschlafen nur mit Einschlafhilfen seitens der Bezugspersonen erfolgt. Beim Durchschlafen
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gilt als problematisch, wenn ein Kind in mindestens vier Nächten pro Woche mehr als drei
Mal aufwacht, dabei ohne elterliche Hilfen nicht wieder einschläft und die Aufwachperioden
durchschnittlich mehr als 20 Minuten betragen (Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, 2007).
Fütterprobleme. Vorübergehende Fütterprobleme kommen im Säuglingsalter nicht selten vor
und sind per se kein Anlass zur Beunruhigung. Hervorgerufen werden sie beispielsweise durch
Erkrankungen oder auch durch Nahrungsumstellungen, die für den Säugling ungewohnt sind
und daher abgelehnt werden. Als problematisch gilt nach den Richtlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (2007), wenn das Füttern eines
Kindes über einen Zeitraum von mehr als einem Monat von den Bezugspersonen als subjektiv
belastend erlebt wird. Als objektivierende Kriterien gelten weiterhin, wenn eine Fütterung
durchschnittlich mehr als 45 Minuten in Anspruch nimmt und die Intervalle zwischen den
Fütterungen weniger als zwei Stunden betragen. Weiterhin kann eine Problematik durch einen
Stillstand der Gewichtszunahme oder durch einen Gewichtsrückgang indiziert werden.
Klassifikation
Regulationsstörungen
Da Regulationsstörungen im Säuglings- und Kleinkindalter häufig nur schwer abgrenzbare Störungsbilder darstellen, die vielfach kaum von den Interaktionserfahrungen mit den Bezugspersonen zu trennen
sind, werden sie in Klassifikationssystemen wie der
ICD-10 nicht als eigenständige Störungen mit Krankheitswert geführt. Es gibt jedoch einige Klassifikationsmöglichkeiten, die sich nutzen lassen, wenn eine
Klassifikation erforderlich ist. Hierzu gehören die folgenden Kategorien:
î F 43.2: Anpassungsstörung
î F 51.9: Nicht näher bezeichnete nichtorganische
Schlafstörung
î F 93.8: Sonstige emotionale Störungen des Kindesalters
î F 98.2: Fütterstörungen im frühen Kindesalter
Problematisch ist allerdings, dass die meisten dieser
Kategorien nur jeweils Spezialfälle der Regulationsstörungen umfassen. Auch das Zero-to-Three-Klassifikationssystem (s. Abschn. 3.1.3) erfasst in dieser Hinsicht nur Teilgruppen (Papoušek, 2004), ermöglicht
aber zusätzlich eine Klassifikation der Eltern-Kind-Beziehung, die bei den Regulationsstörungen Beachtung
finden sollte.
Fallbeispiel
Die 15 Monate alte Leonie kann nur einschlafen, wenn ihre Mutter oder ihr Vater neben ihr
auf dem Bett sitzen und ihre Hand halten. Selbst wenn dies geschieht, dauert es immer mindestens eine halbe Stunde, bis sie eingeschlafen ist. Häufig versuchen die Eltern, ihre Hand vorsichtig wegzuziehen, aber sobald Leonie bemerkt, dass die Hand weggezogen wird, protestiert sie
sofort und die Eltern müssen erneut ihre Hand halten. Die Eltern haben zunehmend den
Eindruck, dass Leonie versucht, ein Einschlafen zu verhindern, weil sie dann befürchtet, dass
ihre Eltern sie verlassen. Also versucht sie, möglichst lange wach zu bleiben, um sicherzugehen,
dass ihre Hand weiter gehalten wird. Auch wenn Leonie nachts wieder wach wird, was regelmäßig mindestens einmal, manchmal auch mehrmals pro Nacht vorkommt, ruft sie sofort nach
ihren Eltern. Ein Elternteil kommt dann und hält erneut ihre Hand, bis sie einschläft. Gelegentlich holen die Eltern Leonie in solchen Situationen auch entnervt in ihr Bett, damit Ruhe ist.
Eigentlich möchten sie jedoch, dass Leonie in ihrem eigenen Bett schläft. Wenn Leonie eine
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der Nächte hinter sich hat, in denen sie spät eingeschlafen und mehrfach aufgewacht ist, schlägt
sich dies am Folgetag in Müdigkeit nieder. Leonie wirkt unaufmerksam und quengelt häufig.
6.1.2 Annahmen zur Störungsgenese
Gemeinsamkeiten zwischen den Regulationsstörungen. Auch wenn unter dem Oberbegriff der
Regulationsstörungen sehr unterschiedliche Erscheinungsbilder zusammengefasst werden, so
finden sich dennoch einige auffällige Gemeinsamkeiten. Diese Gemeinsamkeiten werden auch
als Symptomtrias bezeichnet, die sich bei vielfältigen Regulationsstörungen im frühen Kindesalter findet. Sie lassen sich nach Papoušek (2004) wie folgt zusammenfassen:
î Verhaltensauffälligkeiten beim Säugling in einem oder mehreren Entwicklungsbereichen
î Überlastungssyndrom der Bezugsperson(en) beim Umgang mit dem schwierigen Säugling
(möglicherweise verbunden mit weiteren Problemkonstellationen wie beispielsweise Partnerschaftsproblemen)
î Dysfunktionale Interaktionsmuster im Umgang mit den kindlichen Verhaltensproblemen
Aufschaukelungsprozesse. Die Symptomtrias weist darauf hin, dass am Anfang der Entwicklung häufig Verhaltensauffälligkeiten beim Säugling bestehen, die durch besondere Situationen
(wie beispielsweise Erkrankungen) oder besondere Konstitutionen (wie ein schwieriges Temperament) ausgelöst werden. Die Verhaltensauffälligkeiten können in erhöhten Weindauern und
Weinfrequenzen, Ein- und Durchschlafproblemen oder Fütterproblemen bestehen. Wenn sie
mit dysfunktionalen Interaktionsmustern seitens der Bezugspersonen zusammentreffen, können sich die Probleme verstärken. Als Folge können Überlastungsempfindungen auftreten, die
es den Bezugspersonen weiter erschweren, ein angemessenes Verhalten im Umgang mit ihrem
Säugling an den Tag zu legen. Insgesamt kann es zu vielfältigen Aufschaukelungsprozessen
kommen, die bis zu Kindesmisshandlungen führen können, wenn die Eltern sich absolut hilflos
fühlen und die Kontrolle über das Verhalten ihres Kindes und über ihr eigenes Verhalten verlieren (Blanz et al., 2006).
Merke
Vielfach liegt bei Regulationsstörungen im Säuglingsalter keine einfache Ätiologie vor, sondern ein Zusammentreffen mehrerer Risikofaktoren bei mangelnder
Passung zwischen kindlicher Problemlage und elterlichem Erziehungsverhalten.
6.1.3 Epidemiologie
Frühkindliche Regulationsstörungen sind relativ weit verbreitet, wobei allerdings zu bedenken
ist, dass in verschiedenen Studien uneinheitliche Abgrenzungskriterien verwendet werden. Die
Wahrscheinlichkeit, eine Regulationsstörung im Säuglingsalter zu entwickeln, wird von Papoušek (2004) zusammenfassend mit 15 bis 30 Prozent angegeben. Betrachtet man die Störungsbilder im Einzelnen, so findet sich beim exzessiven Weinen nach Wolke (2008) eine Prävalenz
zwischen 9 bis 25 Prozent in den ersten drei Lebensmonaten und danach zwischen ca. 5 bis
10 Prozent. Probleme beim Ein- und Durchschlafen finden sich bei 15 bis 25 Prozent der Kinder
in den ersten drei Lebensjahren, während anhaltende Fütterprobleme mit einer Prävalenz von
4 bis 10 Prozent auftreten. Da Zusammenhänge zwischen den Störungsbildern bestehen, kommen sie nicht selten in Kombination vor (z. B. Schlafstörungen und exzessives Weinen).
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6.1.4 Verlauf und Prognose
!
Viele Regulationsstörungen im Säuglingsalter treten vorübergehend auf und verschwinden nach einiger Zeit,
auch wenn keine umfassende Intervention erfolgt.
Die passagere Natur der Regulationsstörungen wird bereits an der verbreiteten Bezeichnung
des exzessiven Weinens als Drei-Monats-Kolik deutlich. Auch wenn kaum Bezüge des exzessiven
Weinens zu Koliken nachgewiesen sind, weist die Bezeichnung darauf hin, dass das exzessive
Weinen in den ersten Lebenswochen entsteht, um dann mit etwa drei Monaten seinen Höhepunkt zu erreichen. Danach sinken die Raten deutlich ab, obwohl es Kinder gibt, die auch über
diesen Zeitpunkt hinaus exzessives Weinen an den Tag legen. Ähnliches gilt für das Schlaf- und
Essverhalten, bei dem sich häufig ebenfalls im Laufe der Entwicklung eine Normalisierung zeigt.
!
Problematisch ist vielfach weniger das Problemverhalten selbst, sondern es sind vor allem die vielfältigen Konsequenzen, die sich daraus für die Entwicklung der Eltern-Kind-Beziehung ergeben können.
Wenn in den ersten Lebensmonaten vielfältige Probleme zwischen einem Kind und seinen
Bezugspersonen entstehen, kann dies den Beziehungsaufbau beeinträchtigen und darüber vermittelt Folgeprobleme nach sich ziehen. Unmittelbare Probleme können sich weiterhin bei
einem Kontrollverlust der Eltern ergeben, wenn dies beispielsweise zu Misshandlungen führt.
Insofern sollten Regulationsstörungen ernst genommen werden, auch wenn sie möglicherweise
nicht längerfristig bestehen bleiben.
6.1.5 Psychosoziale Belastungen
Exzessives Weinen, Ein- und Durchschlafstörungen sowie Fütterprobleme haben Signalcharakter und weisen auf eine Problemlage beim Säugling bzw. Kleinkind hin. Grundsätzlich sind
dabei physische Probleme auszuschließen, da auch körperliche Probleme (wie z. B. Verdauungsstörungen) mit Signalen wie beispielsweise Weinen oder Nahrungsverweigerung im Zusammenhang stehen können. Da ein Säugling bzw. Kleinkind nur ein eingeschränktes Spektrum zur
Verfügung hat, um bestehende Problemlagen zum Ausdruck zu bringen, ist es also notwendig,
die Ursache für die kindlichen Signale zu verstehen. Erst dadurch ist eine Entlastung sowohl
beim Kind als auch bei seiner sozialen Umgebung, die häufig ebenso stark unter der Problematik leidet, zu erreichen. Bei den Belastungen der sozialen Umgebung ist nicht nur zu bedenken,
dass die Bezugspersonen gegebenenfalls mitleiden, wenn sie die Problematik ihres Kindes sehen.
Häufig nimmt das Kind durch seine Problematik so viel Raum ein, dass die Eltern sich zunehmend eingeschränkt fühlen. Die Eltern-Kind-Interaktion kann dadurch negativ beeinflusst werden und es kann zu negativen bis hin zu aggressiven Gefühlen dem Kind gegenüber kommen.
Gleichzeitig steigt die Wahrscheinlichkeit, dass es zu Aufschaukelungsprozessen kommt.
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6.1.6 Präventions- und Interventionsmöglichkeiten
Prävention. Präventionsmöglichkeiten ergeben sich durch frühzeitige Eltern-Kind-Trainings, die
die Erziehungskompetenzen von Eltern steigern. Es geht dabei darum, dass Eltern lernen, die
Signale ihres Kindes zu erkennen, richtig zu interpretieren sowie prompt und angemessen zu
reagieren (Ainsworth et al., 1974). Beispielsweise sollten Überstimulationen vermieden werden
und Müdigkeitssignale (wie Augenreiben, Gähnen etc.) rechtzeitig ernst genommen werden,
damit das Kind zur angemessenen Zeit schlafen kann. Auch der Aufbau von Ritualen und
Routinen kann hilfreich sein, um die Regulationsfertigkeiten eines kleinen Kindes zu unterstützen. Hinzu kommen Informationen zur kindlichen Entwicklung, um auch dadurch die Eltern
zu entlasten, da viele Verhaltensprobleme im Säuglingsalter vorübergehender Natur sind und
von vielen Eltern erlebt werden. Dies soll dazu führen, dass Eltern mehr Gelassenheit im Umgang mit ihren Säuglingen an den Tag legen, um negative Einflüsse auf die Eltern-Kind-Interaktion und Aufschaukelungsprozesse zu vermeiden.
Intervention. Wenn schon deutliche Probleme eingetreten sind, kann eine wichtige Maßnahme
darin bestehen, die betroffenen Eltern sowohl physisch als auch psychisch zu entlasten. Dies
kann beispielsweise dadurch geschehen, dass ein Kind übergangsweise durch andere Personen
betreut wird, sodass eine Beruhigung bei den Bezugspersonen eintreten kann. Weiterhin können entlastende psychotherapeutische Gespräche von Bedeutung sein, um beispielsweise einseitige Schuldzuweisungen seitens der Eltern zu vermeiden. Weiterhin kann eine entwicklungsorientierte Beratung helfen, um z. B. angemessene Anforderungen an das Kind zu stellen. Auch
die Analyse von Videoaufzeichnungen der Interaktionen zwischen einem Kind und seinen Bezugspersonen kann hilfreich sein, um zu zeigen, welche Signale das Kind zeigt und wie darauf
sinnvoll reagiert werden kann.
6.2 Bindungsstörungen
6.2.1 Darstellung des Störungsbildes und diagnostische Abgrenzung
Zentrale Entwicklungsaufgaben eines Kindes im ersten Lebensjahr. Eine Bindung zu erwerben,
ist eine zentrale Entwicklungsaufgabe im ersten Lebensjahr eines Kindes (und auch der primären Bezugspersonen). In dieser Zeit entwickelt ein Kind ein Gefühl für das eigene Selbst als
unabhängiges Lebewesen ebenso wie ein grundlegendes Verständnis der Welt und anderer Menschen (Parritz & Troy, 2011). Dies beinhaltet den Aufbau von Erwartungen, wie sich primäre
Bezugspersonen verhalten und was in neuen Situationen mit fremden Menschen passiert. Frühere Bindungserfahrungen sind dabei von großer Bedeutung für das Kind, wenn es neuen
Situationen gegenübertritt.
Merke
Der Aufbau einer sicheren Bindung ist eine der Hauptaufgaben im ersten Lebensjahr eines Kindes, sowohl für
das Kind als auch für die Bezugsperson.
Bindung reflektiert das Ausmaß, in dem das Kind sich sicher, geborgen und geliebt fühlt. Unter
diesen Bedingungen gelangen Kinder zu der grundlegenden und wichtigen Überzeugung, dass
die Welt ein sicherer Ort ist, dass sich jemand um sie kümmert und dass sie es wert sind, dass
sich jemand um sie sorgt (Parritz & Troy, 2011). In stressreichen Zeiten (z. B. aufgrund der
6.2 Bindungsstörungen
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Erkrankung eines Elternteils) kann das Kind auf dieses Wissen zurückgreifen und es schützt
das Kind vor möglichen negativen Einflüssen. Bindung wird damit zum Kern der Eltern-KindBeziehung.
!
Eine sichere Bindung ist das Ergebnis einer angemessenen, emotional wärmenden und konsistenten Responsivität der Bezugsperson. Diese Responsivität
kann aufgrund der eigenen Lebensgeschichte und psy-
chischer Probleme der Bezugspersonen zeitweise oder
dauerhaft beeinträchtigt sein und damit die Grundlage für die Ausbildung einer Bindungsstörung bei dem
Kind bilden.
Bindung aus entwicklungspsychopathologischer Sicht: die Bindungsstörungen. Die Bindungsstörungen der ICD sind nicht zu verwechseln mit den unterschiedlichen Bindungstypen (s.
Abschn. 2.1.1). Während es sich bei den im Fremde-Situations-Test erhobenen Bindungstypen
um eine entwicklungspsychologische Typologie handelt, sind die Bindungsstörungen laut ICD10 qualitative Einheiten gestörter Interaktionen und Kontaktaufnahmen seitens des Kindes.
Dementsprechend kommen auch unsichere Bindungen (wie z. B. die unsicher-vermeidende
Bindung) recht häufig vor, wohingegen die Bindungsstörung als psychische Erkrankung selten
vorkommt. Die Bindungsstörungen mögen begünstigt werden durch bestimmte Bindungstypen, sie sind allerdings nicht mit diesen gleichzusetzen. So finden sich beispielsweise Hinweise,
dass eine unsicher-ambivalente Bindung im Kleinkindalter ein Prädiktor für Angststörungen
bei Jugendlichen sein kann oder dass eine unsicher-vermeidende Bindung ein Prädiktor für
internalisierende und externalisierende Probleme im Kindergartenalter sein kann (Carlson,
1998; Muris & Meesters, 2002). Ein spezieller Bezug der Bindungstypologie zu einer spezifischen
(Bindungs-)Störung ist allerdings bisher nicht ausreichend konsistent nachgewiesen.
Klassifikation
Formen von Bindungsstörungen. Es gibt zwei Typen
von Bindungsstörungen, die in der ICD-10 klassifiziert werden können. Sie sind beide in dem Kapitel
über »Störungen sozialer Funktionen mit Beginn in
Kindheit und Jugend« (F 94) beschrieben:
(1) Reaktive Bindungsstörung des Kindesalters
î Tritt innerhalb der ersten 5 Lebensjahre auf
î Ist durch ein abnormes Beziehungsmuster mit
widersprüchlichen oder ambivalenten sozialen
Reaktionen gekennzeichnet
î Wird begleitet von einer emotionalen Störung
(Verlust emotionaler Ansprechbarkeit, sozialer
Rückzug, aggressive Reaktionen, ängstliche
Überempfindlichkeit)
î Häufig mit einer Mischung aus Annäherung,
Vermeidung und Widerstand bei Begegnung
mit Bezugspersonen
90
î Vermutlich als direkte Folge schwerer elterlicher Vernachlässigung und/oder Misshandlung
î Änderung der emotionalen und sozialen Auffälligkeiten in neuer Lebensumgebung
(2) Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung
î Spezifisches abnormes soziales Funktionsmuster, das während der ersten Lebensjahre auftritt
– z. B. diffuses, nicht-selektives Bindungsverhalten, aufmerksamkeitssuchendes und
wahllos freundliches Verhalten (fremde und
vertraute Personen sind in dieser Hinsicht
gleich)
– kaum moduliertes Interaktionsverhalten mit
unvertrauten Personen
î Tendenz zu persistieren, auch bei Wechsel der
Lebensumgebung
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Merke
Die ICD-10 ermöglicht die Unterscheidung von zwei Bindungsstörungen: reaktive Bindungsstörung und Bindungsstörung mit Enthemmung.
Die Bezeichnung »reaktiv« in F 94.1 verdeutlicht die unmittelbare Auswirkung von Deprivationsbedingungen. Betont wird bei dieser Störung, die häufig bei jüngeren Kindern als Diagnose
vergeben wird, der soziale Rückzug im Verhalten (Bindungsverhalten wird hier eher gehemmt).
Bei der zweiten Bindungsstörung steht vor allem die Suche nach unselektiven und oberflächlichen
Bindungen im Vordergrund. Die Kinder haben Schwierigkeiten, sich auf eine (oder wenige)
Person(en) festzulegen, bei der/denen sie Trost suchen (Bindungsverhalten ist hier eher enthemmt). Meist wird diese Störung, die häufig bei älteren Kindern als Diagnose vergeben wird,
konzeptualisiert als weiterreichende Auswirkung von Heimunterbringung und/oder multiplen
Pflegschaften. Beide Störungen zeichnen sich dadurch aus, dass das Verhalten des Kindes nicht
nur in einer Beziehung zu einer bestimmten Bezugsperson auftritt, sondern sich in vielen
sozialen Beziehungen niederschlägt. Dies ist ebenfalls eine wichtige Abgrenzung zu den Bindungstypen: nach der Bindungstypologie kann man gegenüber zwei unterschiedlichen Bezugspersonen zwei unterschiedliche Bindungen aufweisen. Es muss also bei den Bindungstypen kein
kontinuierliches Muster sozialer Beziehungen sein, das sich bei verschiedenen Beziehungen zu
Bezugspersonen wiederfindet.
!
Aspekte, auf die im Bindungsverhalten des Kindes
geachtet werden sollte, wenn der Verdacht einer Bindungsstörung existiert (nach Goodmann et al., 2007)
î Geborgenheit (sucht das Kind bei seelischer Belastung bestimmte Personen aus, an die es sich wendet?)
î Sichere Basis (kehrt das Kind zurück, wenn es exploriert und plötzlich Sicherheit benötigt?)
î Affektive Bindung (zu wenig oder zu viele, wahllose, unselektive Kontakte)
î Selektivität (werden unbekannte erwachsene Personen vorschnell herangezogen, um Trost zu erhalten?)
î Rollenumkehr (Kind kontrolliert erwachsene Umwelt oder verhält sich wie ein Betreuer)
Intergenerationale Transmission von Bindungserfahrungen. Der Schaden, den negative frühkindliche Bindungserfahrungen anrichten können, ist immens, und selbst die gegenwärtig effektiven Formen von Kinderpsychotherapie können vermutlich nicht mehr gut machen, was
einem Kind an negativen Erfahrungen zugestoßen ist. Darüber hinaus werden diese Bindungserfahrungen oft auch an eigene Kinder weitergegeben (intergenerationale Transmission von
ungünstigen Beziehungserfahrungen in der Kindheit; Parritz & Troy, 2011). Daher ist die Prävention solcher Erfahrungen in der Kindheit von außerordentlicher Bedeutung für alle psychosozialen Berufsgruppen.
Merke
Bindungs- und Beziehungserfahrungen in der Kindheit können generationsübergreifend weitergegeben werden.
Fallbeispiel
Kristin ist ein 11 Jahre altes Mädchen niederländischer Herkunft. Sie besucht die 4. Klasse einer
Förderschule für geistig behinderte Kinder und Jugendliche und lebt in einer Einrichtung der
6.2 Bindungsstörungen
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Jugendhilfe. Erste Anzeichen für massive Verhaltensprobleme zeigten sich im Kindergartenalter:
Kristin missachtete Spielregeln, verhielt sich provokativ und biss oder schrie, wenn man ihr
etwas verbot. Wenn andere Kinder sie nicht mitspielen ließen, zerstörte sie die Spielsachen
dieser Kinder. Wenn sie mitspielen durfte, dann musste es nach ihren Regeln geschehen, ansonsten beschimpfte sie die anderen Kinder oder kniff, schubste und schlug ihre Mitspieler. Sie
zeigte hinterher keine Reue und sah die Schuld bei den anderen Kindern. Neben diesen Verhaltensproblemen zeigte Kristin apathische Zustände, in denen sie nicht ansprechbar war. Während der Schulzeit verschlimmerten sich die Konflikte mit anderen Kindern, Lehrern und Bezugspersonen und eine Regelbeschulung war nicht mehr möglich. Mit knapp 8 Jahren wurde
Kristin wegen gravierender Verhaltensprobleme in die Kinder- und Jugendpsychiatrie eingewiesen. Dort zeigte sie starke sexualisierte Verhaltensweisen (sie entblößte sich vor anderen Kindern
und Betreuern, fasste anderen Kindern unvermittelt in den Genitalbereich usw.). Im Spiel beherrschten die Themen Einsperren, Festhalten, Schlagen und Fesseln das Geschehen. Sie zeigt
deutlich ambivalente soziale Reaktionen, ist überempfindlich in sozialen Situationen bei gleichzeitiger sozialer Responsivität. Aus der Lebensgeschichte ergibt sich, dass Kristin wiederholt
wegen unerklärlicher körperlicher Verletzungen bei Ärzten vorgestellt wurde, darunter Verbrühungen an den Fingern mit weniger als einem Jahr, Schürfwunden an der Oberlippe im Alter
von 2 Jahren, Schädelfrakturverdacht mit knapp 3 Jahren, Platzwunden mit 6 Jahren, kreisrunde
Wundmale auf dem Rücken und Verletzungen an Knochen, die das Nachziehen eines Beines
zur Folge hatte, mit 7 Jahren. Nach Meinung des Vaters sind die Verletzungen das Ergebnis des
mütterlichen Verhaltens im Umgang mit Kristin. Darüber hinaus berichtet Kristin mit 8 Jahren,
dass ihr Vater sexuelle Kontakte mit ihr aufgenommen habe. Diese innerfamiliären Misshandlungserfahrungen führten schließlich auch zu ihrer dauerhaften Fremdunterbringung in einer
Einrichtung.1
Welche Diagnose trifft auf Kristin zu? Das Mädchen zeigt eine komplexe Störung des Verhaltens und der Emotionen, die angesichts der innerfamiliären Erfahrungen nicht überrascht. Ihre
Klassifikation ist allerdings sehr schwierig und erfordert die Berücksichtigung unterschiedlicher
Störungskategorien. Da es in diesem Abschnitt um Bindungsstörungen geht, wird auch diese
spezielle Klassifikation hier diskutiert. Es gibt allerdings noch eine Reihe weiterer Störungen,
die es abzuwägen gilt. Der/die interessierte Leser/in wird hier auf die ausführliche Falldarstellung verwiesen (Heinrichs et al., 2010). Es fällt Kristin schwer, eine angemessene und selektive
Bindung einzugehen, sie hat keine Bindung zu ihrer Mutter oder ihrem Vater. Seit sie in
der Einrichtung lebt, bietet eine Bezugsmitarbeiterin eine dauerhafte Erprobungsoption einer
Bindung. Dies fällt ihr sehr schwer, allerdings kann man nach ca. zwei Jahren dieser Erprobungszeit so etwas wie eine Bindung zu der Bezugsmitarbeiterin erkennen; sie lässt sich von
ihr bevorzugt trösten, freut sich, wenn sie in den Raum kommt und es fällt ihr leichter, auf
Anweisungen dieser Person zu reagieren, sofern diese konkret, unverzüglich und konsistent
vermittelt werden. Kristin weist Merkmale beider Subtypen der Bindungsstörung auf, die sich
unter einer gleichbleibend wohlwollenden Umwelt zumindest zum Teil zurückbildet. Allerdings
ist nicht davon auszugehen, dass Kristin eine normale Bindung zu einer anderen Person aufbauen kann.
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Aus: Heinrichs et al. (2010)
6 Störungen mit überwiegendem Beginn im Säuglings- und Kleinkindalter
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6.2.2 Annahmen zur Störungsgenese
Die Bindungsstörungen sind einige der wenigen psychischen Störungen der ICD-10, die bereits
in ihren Kriterien einen Hinweis auf die Ursache enthalten: eine Bindungsstörung kommt häufig unter Deprivationsbedingungen zustande.
Definition
Eine Deprivation ist ein Wegfall notwendiger emotionaler Zuwendung und/oder eine mangelnde Befriedung von Grundbedürfnissen und wird in der Regel
durch primäre Bezugspersonen verursacht. Unzurei-
chende Versorgung, unaufmerksame, inkonsistente
oder intrusive Fürsorge sind verantwortlich für die
Entstehung dieser Störungen.
Es gibt Hinweise darauf, dass manche Kinder stärker von Deprivation betroffen sind als andere
(z. B. solche mit einem schwierigen Temperament, mit neurologischen Auffälligkeiten, Frühgeborene mit zusätzlichen medizinischen Komplikationen). Allerdings gibt es einige Erkenntnisse,
die dafür sprechen, dass diese kindlichen Merkmale nicht die Hauptursache der Bindungsstörungen sind. Hauptursache der Bindungsstörungen ist die primäre (meist elterliche) Bezugsperson, die eine unangemessene Fürsorge für das Kind zeigt.
Wenn ein Kind unter deprivierenden Umständen lebt, dann fehlt ihm eine Umwelt, die eine
emotionale und sozial-kognitiv anregende Funktion übernimmt. Eine der daraus resultierenden
Störungen ist die »frühkindliche Gedeihstörung«, in der die Deprivation so stark ausgeprägt
ist, dass das Kind nicht nur seelisch im Wachstum behindert wird, sondern auch körperliche
Funktionen unterentwickelt sind.
Es gibt unterschiedliche Varianten von Deprivationszuständen (vgl. Steinhausen, 2006). Beispiele sind:
î Verlust der Eltern durch Tod
î Verlust der Eltern durch Trennung/Scheidung
î Krankenhausaufenthalte
î Heimunterbringung
î Vernachlässigung
î Misshandlung
Wovon hängt der Einfluss solcher aversiver Umweltbedingungen ab? Es ist vermutlich ganz
entscheidend, wie alt das Kind zum Zeitpunkt des Einsetzens der Deprivation ist. Je früher
der Beginn, desto ausgeprägter ist die damit verbundene psychische Problematik. In diesem
Zusammenhang ist insbesondere wichtig, ob das Kind vor Einsetzen der Deprivation bereits
die Möglichkeit hatte, eine Bindung zu erwerben (vgl. »sensible Phase« Abschn. 2.2.4). Schließlich sind auch die Form und Intensität der Deprivation entscheidend.
6.2.3 Epidemiologie
Die Bindungsstörungen treten gehäuft in Institutionen auf, in denen Kinder zeitweise oder
dauerhaft untergebracht sind. Auch bei Pflegekindern besteht ein gesteigertes Risiko (Oswald
et al., 2010). Die erhöhten Prävalenzen ergeben sich in der Regel durch die der Fremdunterbringung vorausgegangenen innerfamiliären dysfunktionalen Prozesse (Misshandlung, Vernachlässigung, etc.). In der Gesamtpopulation aller Kinder kommen Bindungsstörungen im Vergleich
zu anderen psychischen Störungen eher selten vor.
6.2 Bindungsstörungen
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