Bindungstheorie 1. Grundlagen der Bindungstheorie - Grundbedürfnisse und Entwicklungsaufgaben 2. Bindungsmuster - Konzept der Feinfühligkeit – Neurobiologische Grundlagen 3. Bedeutung der Bindung in den Altersstufen 4. Von der Emotionsregulation zur Verhaltensstörung 5. Bindungstypologien – klinischer Kontext Bindungstheorie – Entstehung Ziel der heutigen Forschung: 1. Aufzeigen von Stabilität der Bindungsmuster in der Interaktion zur Bindungsperson und in der Organisation von Gefühlen. 2. Zusammenhang zwischen früher Bindungsqualität und altersspezifischer Kompetenzentwicklung vor allem im sozio - emotionalen Bereich Grundzüge der Bindungstheorie John Bowlby • Es müssen nicht nur die physischen, sondern auch die psychischen Grundbedürfnisse befriedigt werden, um die Entwicklungsstufen erfolgreich zu bewältigen. • Das Bindungsbedürfnis eines Menschen ist genauso grundlegend wie sein Bedürfnis nach Nahrung, Erkundung und Sexualität. • Ein Säugling ist genetisch vorprogrammiert, im ersten Jahr eine Bindung an wenige Personen zu entwickeln, die stärker und erfahrener sind und die ihn schützen und versorgen können. Bindungsverhalten zielt darauf ab, die Nähe einer bevorzugten Person zu suchen, um dort Sicherheit zu finden. • • Jedem der Grundbedürfnisse sind Verhaltenssysteme zugeordnet, die bei Mangel aktiviert werden und bei Sättigung ruhen. • Komplementär zum Bindungsverhalten ist das Explorationsverhaltens- system. Grundzüge der Bindungstheorie John Bowlby Bindung und Exploration als phylogenetisch angelegteVerhaltenssysteme, die komplementär sind: Bindungsverhaltenssystem Explorationsverhaltenssystem Grundzüge der Bindungstheorie John Bowlby Unterschiedliche Definitionen des Begriffes „Bindung“: BOWLBY: Bindung ist ein langanhaltendes Band, das sich während der Kindheit entwickelt, dessen Einfluss aber nicht auf diese frühe Entwicklungsphase beschränkt ist, sondern sich auf alle weiteren Lebensabschnitte erstreckt. Somit stellt Bindung eine emotionale Basis während des ganzen Lebens bis ins Alter hinein dar. BECKER-STOLL: Bindung ist ein langanhaltendes, gefühlsmäßiges Band zu einer spezifischen Person, die nicht ausgetauscht werden kann AINSWORTH: Bindungsverhalten ist ein Verhalten, durch das eine differenzierende, gefühlsmäßige Beziehung mit einer Person oder einem Objekt entsteht; es beginnt damit eine Kette von Interaktionen, die dazu dienen, die gefühlsmäßige Beziehung zu festigen. Psychischen Grundbedürfnisse nach Ryan und Deci (1985) Bindung enge zwischenmenschliche Beziehungen eingehen, sich sicher gebunden fühlen, sich selbst als liebesfähig und liebenswert erleben Kompetenz Effektive Interaktion mit Umwelt (positive Ergebnisse erzielen, negative verhindern können) Autonomie Freie Bestimmung des eigenen Handelns, selbstbestimmte Interaktion mit der Umwelt Grundbedürfnisse im sozialen Kontext (Skinner & Wellborn, 1994) Kontext Elterliches Engagement Selbst Verhalten Ergebnis Beziehungsfähigkeit Bindung Struktur Unterstützung Kompetenz Autonomie Förderung Autonomie Engagement vs Rückzug Fertigkeiten und Fähigkeiten Selbstregulation Auseinandersetzung mit der Umwelt und Bewältigung von Entwicklungsaufgaben Entwicklungsaufgaben Jugendalter 6 – 10 Jahre 3 – 6 Jahre 1 – 3 Jahre 6 – 12 Monate 0 – 6 Monate Identität, enge emotionale Beziehungen Körperliche Leistungs- und soziale Kompetenz Impulskontrolle Beziehung zu Peers Sprache, Exploration, Autonomie Bindung, motorische Selbstkontrolle Grundlegende Regulierung Entwicklungsaufgaben • Erwerb und Erhalt altersangemessener Fähigkeiten und Kompetenzen führt zu einer erfolgreichen Bewältigung von altersspezifischen Entwicklungsaufgaben • Die Bewältigung einer Entwicklungsaufgabe stellt die Basis dafür dar, wie nachfolgende Aufgaben gemeistert werden Erfolgreiche Bewältigungen von Entwicklungsaufgaben gelungene Anpassung an Herausforderungen Mangelhafte Bewältigung von Entwicklungsaufgaben Entwicklungsstörungen psychische Fehlentwicklungen Die Fremde Situation Ainsworth, Main u.a Versuch zum Trennungsverhalten von Kindern Die standardisierte fremde Situation: Mutter kommt mit dem Kind in einen Raum mit Spielzeug Fremde Person kommt dazu Mutter verlässt den Raum auf ein Zeichen Fremde Person versucht das Kind zu trösten Mutter kommt wieder und beruhigt das Kind ( Mutter verlässt den Raum, Kind ist alleine Fremde Person kommt, versucht das Kind zu trösten Mutter kommt in den Raum, beruhigt das Kind) Ermittlung der Bindungsqualitäten dieser Kinder Klassifikation der kindlichen Bindungsqualität Sichere Bindung ( ca. 50 - 70 % ) • Ausgewogene Balance zwischen Bindungs- und Explorationsverhalten • Offene Kommunikation auch negativer Gefühle gegenüber der Bindungsperson • Sicherheitsgewinn aus Nähe der Bindungsperson • Das Kind findet genügend Sicherheit um wieder explorieren zu können. Unsicher-vermeidende Bindung (ca. 10 – 40%) • Überwiegen des Explorationsverhaltens auf Kosten des Bindungsverhaltens • Verbergen oder Unterdrücken negativer Gefühle gegenüber der Bindungspersonen • Ablehnung der Bindungsperson, kein Körperkontakt Klassifikation der kindlichen Bindungsqualität Unsicher-ambivalente Bindung (ca. 10 – 20 %) • Überwiegen des Bindungsverhaltens auf Kosten des Explorationsverhaltens • zeigen den größten Stress bei Trennung • Unbeherrschte Mischung aus Angst und Ärger (Aggression) • Untröstbare Verzweiflung bei Trennung, aber auch kaum Beruhigung und kein Sicherheitsgewinn durch Wiedervereinigung Kinder mit desorganisierten Verhaltensmuster • zeigen desorganisiertes Verhalten: Laufen zur Mutter, erstarren im Lauf • stereotype Verhaltens- und Bewegungsmuster in Explorationsphasen • Annahme, dass ein fließender Übergang zu psychopathologischen Verhaltensweisen besteht Klassifikation der kindlichen Bindungsqualität Ainsworth, 1978; Main, 1986 Bindungsverhaltenssystem Sicher gebundene Kinder Unsicher-vermeidend gebundene Kinder Explorationsverhaltenssystem Unsicher-ambivalent gebundene Kinder Kinder mit desorganisiertem Verhaltensmuster Konzept der Feinfühligkeit • Feinfühligkeit der Bindungsperson als Grundlage für die Bindungsqualität • Feinfühliges Pflegeverhalten führt häufiger zu sicheren Bindungen Feinfühliges Pflegeverhalten: Kindliche Signale mit größter Aufmerksamkeit wahrnehmen. Kindliche Signale richtig deuten. Angemessen reagieren. Prompt reagieren. Neurobiologische Grundlagen von Bindung Auswirkung feinfühliger Zuwendung auf das kindliche Gehirn: • Durch die feinfühlige Interaktion mit dem Kind trainiert die Mutter das Gehirn des Kindes • Sie stimuliert Sinnes- und Bewegungszentren, das Limbische System und Regionen im präfrontalen Cortex, die Stimulation dieser drei Hirnregionen führt zu neuen Vernetzungen. • Das gleichzeitige Aktivieren von verschiedenen Nervenzellen führt zu bleibenden Strukturveränderungen. • Frühkindliche Traumata und Stress führen zu Dysfunktionen in der Ausbildung von Synapsen, Störungen der Migration sich entwickelnder Nervenzellen oder fehlerhafter Differenzierung von Neuronenverbänden. Neurobiologische Grundlagen von Bindung Aktuelle Neurobiologische Untersuchungen Dr. Karl Heinz Brisch, Dr. Jürgen Wettig, Dr. Wolf Singer • Messen des Cortisolspiegels in der Fremden Situation • Versuche an Ratten unter Trennungsbedingungen (Brisch) • Frühkindlicher Stress führt dauerhaft zu ähnlichen Schaltkreisen im Gehirn wie bei Panikzuständen und körperlichem Schmerz (Wettig) • Beziehungserfahrungen können fassbare biologische Auswirkungen auf das Gehirn (makroanatomische Strukturen) haben (Singer) Die prägende Wirkung früher emotionaler Erfahrungen Frühe emotionale Erfahrungen Sozio - emotionale Deprivation traumatische Erlebnisse Entwicklung sozialer und intellektueller Fähigkeiten geistiges Zurückbleiben, psychosoziale Störungen Heimkinder ohne Bezugsperson zeigen Defizite in der intellektuellen und emotionalen Kompetenzen. Nur stabile emotionale Beziehung kann helfen. (vgl. Rütter et al. 2001) Auswirkungen der Bindung in der frühen Kindheit • Bereits am Ende des ersten Lebensjahres zeichnen sich sicher gebundene Kinder durch subtilere und vielfältigere Kommunikationsfähigkeiten aus. (Ainsworth&Bell, 1974, Grossmann&Grossmann 1991). • Im Alter von zwei Jahren sind diese Kinder in Problemlösesituationen eher in der Lage, auf soziale Ressourcen, z.B. die Unterstützung durch die Mutter, zurückzugreifen. • Im Kindergarten wurde bei sicher gebundenen Kindern weniger aggressives bzw. feindseliges Verhalten gegenüber anderen Kindern und weniger emotionale Isolation und Abhängigkeit von den Erzieherinnen beobachtet. Sicher gebundene Kinder zeigten mehr Kompetenz im Umgang mit anderen Kindern und eine positivere Wahrnehmung von sozialen Konfliktsituationen und waren sehr viel konzentrierter beim Spiel. Auswirkungen der Bindung in der mittleren Kindheit • Auch im Schulalter zeichnen sich sicher gebundene Kinder durch positive soziale Wahrnehmung, hohe soziale Kompetenz, beziehungsorientiertes Verhalten, bessere Freundschaftsbeziehungen aus. • Sicher gebundene Kinder zeigen häufiger ein hohes Selbstwertgefühl und großes Selbstvertrauen. • Sicher gebundene Kinder verfügen über eine höhere ICH-Flexibilität; sie sind eher in der Lage, die Kontrolle und Modulation von Impulsen, Bedürfnissen und Gefühlen dynamisch an situative Erfordernisse anzupassen. Die Erfassung von Bindung im Jugend-und Erwachsenenalter • Die Bindungstheorie geht davon aus, dass schon kleine Kinder internale Arbeitsmodelle von ihren Bindungsfiguren und von sich selbst aufbauen. • Ihre wichtigste Funktion ist es, das Verhalten eines Partners voraussehen zu können und das eigene Verhalten in einer Beziehung vorausschauend planen zu können. • Je genauer die inneren Arbeitsmodelle der externen Realität entsprechen und je weniger Verzerrungen sie aufweisen, desto besser kann das Individuum sein Verhalten an die gegebenen Anforderungen anpassen. • Zur Erfassung wesentlicher Aspekte von Internalen Arbeitsmodellen von Bindung entwickelten George, Kaplan&Main ein Bindungsinterview, mit dem Erwachsene nach ihren Kindheitserinnerungen, Bindungserfahrungen und insbesondere ihre Beurteilung dieser Erfahrungen für ihre weitere Entwicklung befragt werden. Die Erfassung der Bindungsrepräsentation (Main&Goldwyn, 1985) Sichere Bindungsrepräsentation Unsicher–verwickelte Bindungsrepräsentation Unsicher-distanzierte Bindungsrepräsentation Ungelöst-traumatisierte Bindungsrepräsentation Auswirkungen sicherer/unsicherer Bindungsrepräsentationen im Jugendalter • Jugendliche mit unsicherer Bindungsrepräsentation zeigen weniger Ich-Flexibilität und ein negatives Selbstkonzept, darüber hinaus mehr Hilflosigkeit, Ängstlichkeit und Feindseligkeit. • Jugendliche mit sicherer Bindungsrepräsentation zeigen aktivere, auf soziale Ressourcen ausgerichtete Copingstrategien und einen gelungenen Umgang mit Problemen oder Überforderungssituationen. • Eine sichere Bindungsrepräsentation im Jugendalter geht auch mit einer gelungenen Balance von Autonomie und Verbundenheit in der Beziehung zu den Eltern einher. • Jugendliche mit sicherer Bindungsrepräsentation zeigen in einer Streitgesprächssituation ihren Müttern gegenüber ihre Gefühle offener und zeigen mehr Zuwendung und Interesse. Bindung und Emotionsregulation Das Konzept der inneren Arbeitsmodelle erklärt die Entwicklung von der zunächst externen Emotionsregulation zur autonomen Selbstregulation. Geborgenheit Zugehörigkeit Freude Liebe Verliebt sein Bindungserfahrungen Trauer Schmerz Verzweiflung Ohnmacht Isolation Wut Bindung Inneres ArbeitsModell Regulation negativer Emotionen Selbstbild und Identität Qualität der Beziehungen Trennung Umgang mit Risikofaktoren Vulnerabilität vs. Resilienz Copingmodell für Essstörungen (Skinner & Wellborn 1991 ) belastende Bindungserfahrungen unsichere Bindungsrepräsentation Überforderung durch Entwicklungsaufgaben negative Einschätzung der eigenen Kompetenz Verletzung der Autonomie eingeschränkte AutonomieEntwicklung Rückzug in Esstörung Krankheit als statt Versuch der aktiver Bewältigung Auseinanderund setzung Emotionsmit regulierung der Umwelt Beziehungsfähigkeit Fertigkeiten und Fähigkeiten Selbstregulation Typologie der Bindungsstörungen nach Brisch • Verhaltensweisen sind nicht vorübergehend (stabiles Muster) • diagnostische Beobachtung und Anamnese über 6 Monate • Klassifikation beinhaltet interaktionelle und bindungsrelevante Kriterien • kann im Kindes- und Jugendalter angewandt werden Typologie der Bindungsstörungen nach Brisch 1. Keine Kennzeichen von Bindungsverhalten • zeigen auch in Bedrohungssituationen kein Bindungsverhalten (Abgrenzung unsicher-vermeidend Bind.verh.) • zeigen bei Trennung keinen/undifferenzierten Protest • wenig prosoziales Verhalten, keine Person wird bevorzugt • gehäuft bei Heimkindern, Kindern mit vielen Beziehungsabbrüchen 2. Undifferenziertes Bindungsverhalten • haben keine bevorzugte Bindungsperson (soziale Promiskuität) • hohes Risikoverhalten (Unfall-Risiko-Typ), ‚social-referencingVerhalten‘ fehlt vollkommen • gehäuft bei Heimkindern, Kindern mit vielen Beziehungsabbrüchen und vernachlässigten Kindern Typologie der Bindungsstörungen nach Brisch 3. Übersteigertes Bindungsverhalten • exzessives Klammern, in neuen Umgebungen oder bei unbekannten Personen • übermäßig starkes Reagieren bei Trennung, Bezugsperson vermeidet Trennung • häufig bei Müttern mit extremen Verlustängsten und Angststörungen 4. Gehemmtes Bindungsverhalten • zeigen bei Trennung gar keinen/wenig Widerstand, wirken im Ausdruck des Bindungsverhaltens gehemmt • Anweisungen der Bezugsperson befolgen sie umgehend • bringen Gefühle in Abwesenheit der Bezugsperson freier zum Ausdruck • häufig bei massiver körperlicher Misshandlung, Gewaltandrohungen Typologie der Bindungsstörungen nach Brisch 5. Aggressives Bindungsverhalten • gestalten Bindung durch vorzugsweise körperliche und/oder verbale Aggression, werden häufig abgelehnt • fallen in Kindergarten und Schule durch aggressives Verhalten auf • verbale Interaktion in der Familie ist häufig durch Aggression gekennzeichnet, Zurückweisung von primären Bindungsbedürfnissen 6. Bindungsverhalten mit Rollenumkehrung • Umkehrung der Rollen zwischen Bezugsperson und Kind • eigenes Erkunden und Lernen ist daher eingeschränkt • Angst um realen Verlust ihrer Bindungsperson (Suiziddrohung, Scheidung) Typologie der Bindungsstörungen nach Brisch 7. Psychosomatische Symptomatik • Wachstumsretardierung auf Grund emotionaler und körperlicher Verwahrlosung (frühkindliche Deprivation, Hospitalismus) • Eß-, Schrei-, Schlafstörungen im Säuglingsalter bei psychiatrisch erkrankten Müttern Literatur Wettig, Jürgen: Eltern-Kind-Bindung: Kindheit bestimmt das Leben in Deutsches Ärzteblatt, Ausgabe Oktober 2006 Grossmann, K./ Grossmann, K. (Hrsg.): Bindung und menschliche Entwicklung. Stuttgart 2003 Becker-Stoll, Fabienne: Bindung und Pathologie im Jugendalter. In: Strauß,B. et al (Hrsg.), Klinische Bindungsforschnung, Schattauer Verlag, Stuttgart 2001 Brisch, Karl Heinz: Bindungsstörungen. Von der Bindungstheorie zur Therapie. Klett-Cotta, Stuttgart 2001 Glober-Tippelt, Gabriele (Hrsg.): Bindung im Erwachsenenalter, Verlag Hans Huber, Bern 2001