Westfälische Wilhelms- Universität Münster Sommersemester 2008 Seminar: Klinische Sozialpsychologie Dozent: Dipl. Psych. M. Fischer Referentinnen: Julia Michalewski, Birte Vina Stapperfend, Elisa Remde ___________________________________________________________________________ Die Bindungstheorie 1. Einführung - Menschen haben allgemeines Bedürfnis, sich anderen anzuschließen und verbringen großen Teil ihres Lebens in Gesellschaft anderer Menschen Mit Affiliation ist die Neigung gemeint, die Gesellschaft anderer zu suchen, selbst wenn wir uns ihnen nicht nahe fühlen Der Mensch hat einen Affiliationstrieb, er sucht je nach Empfinden Einsamkeit oder Gesellschaft um sein optimales Affiliationsniveau zu erreichen 2. Bindung und Bindungsverhalten - Bindung wird als Neigung des Menschen verstanden, enge, von intensiven Gefühlen getragene Beziehungen zu anderen zu entwickeln - Dieses gefühlsgetragene Band bleibt über Raum und Zeit hinweg erhalten - Dieses Band ist sehr spezifisch, denn keine der Bindungsfiguren kann ausgetauscht werden die Bindung wird neben der Nahrungsaufnahme und der Sexualität als primäres angeborenes menschliches Grundbedürfnis gesehen, da dem Säugling Nähe, Zuwendung und Schutz einer vertrauten Person geboten werden - Bindungsverhalten (zeigt sich bis zum 3. Lebensjahr sehr häufig und regelmäßig): fühlt sich der Säugling z.B. müde, unsicher oder allein so aktiviert er seine angeborenen Verhaltensweisen wie Schreien, Klammern oder Lachen um die Nähe seiner Bindungsperson herzustellen und um mit ihr zu kommunizieren - Wichtige Bindungsphase ist zwischen dem 6. Monat und dem 5. Lebensjahr - Das Bindungsverhalten ist Voraussetzung für das Explorationsverhalten, d.h. nur wenn das Kind die Bindung als sichere Grundlage hat, dann fängt es in Anwesenheit seiner Bindungsfigur an, seine Umgebung zu erkunden - Kommt es in der Phase des Bindungsaufbaus zu Störungen, beeinflusst dies das Explorationsverhalten - Beide sind wiederum Voraussetzung für die Partnerfindung und das erfolgreiche Reproduktionsverhalten 3. Bindungstheorie - - Die Theorie nimmt an, dass die Entwicklung einer sicheren Bindung zwischen Kleinkind und Betreuungsperson in der Kindheit die Grundlage für die Fähigkeit ist, stabile und intime Beziehungen im Erwachsenenalter aufrechtzuerhalten Laut Bowlby haben tatsächliche Erfahrungen eines Kindes innerhalb der Familie weitreichende Auswirkungen auf seine Persönlichkeitsentwicklung Kinder bauen beginnend mit den ersten Monaten in ihrer Beziehung zu den Bezugspersonen ein sog. „Arbeitsmodell“ darüber auf, wie sich Bindungspersonen wahrscheinlich verhalten werden - In ihrem restlichen Leben werden Erwartungen der Kinder gegenüber anderen Personen auf diesem Modell beruhen 4. Fremde Situation - - Untersuchungsmethode zur Qualität der Bindung Qualität der Bindung bei 1- 1 ½ jährigen Kindern an der Reaktion auf die kurze Trennung von der Mutter und, vor allem, an der Reaktion auf die Rückkehr der Mutter abzulesen 8 mal 3 min. Episoden 1. Episode: 2. Episode: 3. Episode: 4. Episode: 5. Episode: 6. Episode: 7. Episode: 8. Episode: - Mutter/Vater und Kind werden vom Versuchsleiter begrüßt und in einen Untersuchungsraum, geführt (Spielzeug, 2 Stühle, Kameras) - Mutter und Kind sind allein im Raum - Kind beginnt etwas zu explorieren - fremde Person betritt den Raum, setzt sich erst schweigend und plaudert dann mit der Mutter - fremde Person versucht dann Kontaktaufnahme zum Kind - Mutter verlässt unauffällig den Raum - Mutter kehrt zurück - fremde Person verlässt den Raum - Mutter ist mit Kind alleine - Mutter verlässt erneut den Raum - Kind ist alleine - fremde Person betritt den Raum und macht dem Kind Spiel- und Tröstangebote - Mutter kommt zurück - fremde Person verlässt den Raum → Reaktion des Kindes auf die Wiederkehr der Mutter (Episode 5 u. 8) ist der b maßgebliche Indikator für die Bindungsqualität 5. Vier typische Bindungsstile in diesen Situationen erkennbar: sicher gebundene Kinder: zeigen Zeichen von Kummer unterbrechen das Spiel und suchen gelegentlich aktiv nach der Mutter lassen sich von fremder Person ungern trösten nach der Rückkehr suchen sie Nähe und Körperkontakt zur Mutter begrüßen sie freudig beginnen nach kurzer Zeit wieder mit dem Spiel unsicher vermeidend gebundene Kinder: ignorieren den Weggang der Mutter setzen das Spiel fort, wie als wenn nichts passiert wäre spielen mit der fremden Person oft lebhafter als mit der Mutter nach der Rückkehr ignorieren sie die Mutter und vermeiden Blickkontakt begrüßen sie nicht oder nur flüchtig, suchen kaum ihre Nähe wirken äußerlich ruhig aber physiologische Messungen zeigen, dass sie stark unter Stress stehen unsicher ambivalent gebundene Kinder: werden unsicher und weinen beim Weggang der Mutter lassen sich nicht trösten nach der Rückkehr begrüßen sie die Mutter und suchen ihre Nähe zeigen aber gleichermaßen Verärgerung - beruhigen sich kaum klammern sich an die Mutter- werden aber dadurch nicht beruhigt und wollen im nächsten Moment wieder losgelassen werden desorganisiert/desorientierte Kinder: haben keine konsistente Bindungsstrategie nähern sich Mutter drehen dabei aber den Kopf zur Seite haben einen unberuhigbaren Kummer weinen plötzlich auf dem Schoß der Mutter fallen bei Annäherung plötzlich hin zeigen starkes Konfliktverhalten haben teilweise Furcht vor der Bindungsperson → 80 % misshandelter Kinder zeigen diese Verhaltensweisen Mütterliche Feinfühligkeit in Bezug auf die Signale des Kindes = entscheidender Faktor für die Qualität der Bindung - Wahrnehmen der Verhaltensweisen des Säuglings Zutreffende Interpretation promte Reaktion darauf Angemessenheit der Reaktion Mutter die inkonsistent reagiert → unsicher ambivalent gebundene Kinder Mutter die Bindungsbedürfnisse zurückweist → unsicher vermeidend gebundene Kinder 6. Bindungsstörung Bindungsstörungen äußern sich auf unterschiedliche Weise: 1. Kein Bindungsverhalten: in bedrohlichen Situationen wendet sich das Kind an keine Bezugsperson, bei Trennung zeigt es keinen Trennungsprotest 2. undifferentiertes Bindungsverhalten: Kind zeigt undifferentierte Freundlichkeit gegenüber allen Personen; es sucht zwar Trost, aber bevorzugt keine bestimmte Bindungsperson 3. Unfallrisikoverhalten: in Gefahrensituationen sucht das Kind nicht seine Bindungsperson auf, sondern zeigt Risikoverhalten und begibt sich in unfallträchtige Situationen 4. übermäßiges Klammern: Kind ist nur in direkter Nähe seiner Bezugsperson ruhig und zufrieden; Kind ist dadurch in seiner Erkundung der Umwelt eingeschränkt, wirkt ängstlich und kann sich nicht von seiner Bindungsperson trennen 5. Rollenumkehr: das Kind muss seinen Eltern emotionale Sicherheit geben, wenn diese z.B. an Depressionen leiden; Folge: Ablösungsentwicklung wird gehemmt und Entwicklung einer Angstbindung an die Bindungsperson 7. Deprivation und die Folgen - - Man spricht von Deprivation, wenn ein Kind keine Wärme, Intimität oder eine kontinuierliche Beziehung zur Mutter erfährt Trennung: Protestverhalten → Kummerverhalten → Rückzug Dieser Rückzug entspricht depressivem Verhalten Unterschiedliche Reaktionen auf bindungsschädigende frühkindliche Bedingungen sind abhängig von den sozialen Verhältnissen, die vor und nach einer Trennungserfahrung erlebt werden Auch Geschlecht hat Einfluss: Jungen reagieren eher mit Aggressivität, während Mädchen klammern und ängstlich sind - - Erlebnis des drohenden Verlustes begünstigt die Entstehung von phobischen Störungen und Angststörungen; drohende Trennung oder eine gestörte Interaktion mit der Bindungsfigur in der frühen Kindheit können zu diffuser Ängstlichkeit, Schulphobie oder Agoraphobie (Platzangst) führen Wird das Bindungsverhalten aufgrund von Trennung bzw. Verlusterlebnissen deaktiviert, begünstigt dies die Entstehung von Depressionen 8. Deprivationsvarianten - - - 1. quantitativ ungenügende Interaktion Bindungsfigur steht nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung Eine extreme Variante ist Unterversorgung und Vernachlässigung Folgen: Retardierung der körperlichen, emotionalen, sozialen und kognitiven Entwicklung, Verhaltensstörungen (keine bleibenden schweren Schädigungen) Berufstätigkeit der Mutter kann zur quantitativ ungenügenden Interaktion führen, maßgeblich ist aber die Qualität der Betreuung Auch Zufriedenheit der Mutter und soziale und ökonomische Verhältnisse sind Faktoren, die Einfluss auf die Entwicklung einer Störung haben Berufstätigkeit der Mutter muss sich also nicht auf die emotionale und soziale Entwicklung des Kindes störend auswirken, wenn das Kind gut betreut wird 2. qualitativ gestörte Interaktion Ablehnung der Kinder, ambivalente Zuwendung Zerrüttete Familienverhältnisse begünstigen die Entwicklung von psychischen Störungen; störungsfördernder als Trennungserlebnisse Die meisten Folgen einer gestörten Interaktion bringt die physische, psychische und sexuelle Kindesmisshandlung mit sich Kurzzeitige Folgen: Retardierung verschiedener Entwicklungsbereiche, Schlafstörungen, Ängstlichkeit oder Aggressivität Spätfolgen („sleeper effects“) hängen von protektiven Faktoren ab 80% der vernachlässigten Kinder gehören zum Typ D Langzeitfolgen von sexueller Misshandlung: Depressionen, Beeinträchtigungen des Selbstwertgefühls, Verhaltensstörungen und Störungen des Sexualverhaltens 3. Diskontinuität Alle Arten von kürzeren, längeren oder dauerhaften Trennungen Jede Trennung von der Mutter ist für das Kind belastend, wenn es eine Bindung zu ihr aufgebaut hat und eine Trennungszeit kognitiv noch nicht überbrücken kann Kinder, die keine feste Bezugsperson haben, werden in der Entwicklung des Bindungsverhaltens gehemmt Trennungsgründe: Scheidung Scheidung ist hohe Belastung für alle Beteiligten Jungen reagieren eher externalisierend (Lernschwierigkeiten, Verhaltensstörungungen, Schulängste, Wiederholen); Mädchen dagegen eher internalisierend Es ist aber nicht erwiesen, dass Scheidung mit der Entwicklung von persisiterenden (anhaltenden) Störungen zusammenhängt -> hängt von Kofaktoren wie erhöhte Vulnerabilität oder ungünstige Pflegeverhältnisse nach der Scheidung ab Langzeiteffekte von Diskontinuität: Frauen haben doppelt so hohes Risiko an Depressionen zu erkranken, wenn sie ihre Mutter bis zu ihrem elften Lebensjahr verloren haben (Männer in der Studie nicht untersucht) Verlust der Bindungsfigur in der Kindheit ist ein Risikofaktor für psychische Störungen, hängt aber immer auch von protekiven Faktoren ab Befristete Trennung führt meist nicht zu längeren Störungen aufgrund der Robustheit der Säuglinge und Kleinkinder Stärkere und häufigere Trennungen können stärkere Störungen zur Folge haben 9. Bindungstheorie in der Psychotherapie - Bowlby hat Bindungstheorie bereits in der psychotherapeutischen Praxis angewendet zur Behandlung von Angststörungen, Depressionen und Phobien Reale Erfahrungen sind dabei von Bedeutung Ziel: inneres Arbeitsmodell aufspüren und neu strukturieren Literaturangaben 1. Jonas, K./Stroebe, W./Hewstone, M.(Hrsg.) (2007): Sozialpsychologie. Eine Einführung. Heidelberg: Springer, 5. Aufl. 2. Endres, M./Hauser, S. (2000): Bindungstheorie in der Psychotherapie. München und Basel: Ernst Reinhardt Verlag 3. Perrez, M./Baumann, U. (2005): Lehrbuch klinische Psychologie-Psychotherapie. Bern: Huber, 3. Aufl. 4. http://www.unibielefeld.de/paedagogik/Seminare/moeller02/07bindung2/sub/index2.html [Recherche am: 30.4.2008, Uhrzeit: 14:27h ]