§ 5 Die politischen Parteien I. Die Funktion der politischen Parteien in der parlamentarischen Demokratie Fall 8: Der Südschleswigsche Wählerverband (SSW), die politische Organisation der dänischen Minderheit in Schleswig-Holstein, hat sich an den Bundestagswahlen 2002 nicht beteiligt. Im schleswig-holsteinischen Landtag ist der SSW mit zwei Mandaten vertreten. In einzelnen kommunalen Vertretungskörperschaften Südschleswigs besetzt der SSW mehrere Sitze. Welche Folgen hätte es gehabt, wenn der SSW bei den Landtagswahlen 2005 erfolglos geblieben wäre und sich an den Bundestagswahlen weiterhin nicht beteiligte? 142 1. Begriff der »politischen Partei« Art. 21 GG, der im Gegensatz zur insoweit unergiebigen Weimarer Reichsverfassung 143 die politischen Parteien als für die Demokratie essentiell anerkennt und ihre Funktion bekräftigt,1 enthält selbst keine Definition des Parteienbegriffs, sondern setzt sie voraus. § 2 Abs. 1 PartG2 definiert die politischen Parteien als »Vereinigungen von Bürgern, die dauernd oder für längere Zeit für den Bereich des Bundes oder eines Landes auf die politische Willensbildung Einfluss nehmen und an der Vertretung des Volkes im Deutschen Bundestag oder einem Landtag mitwirken wollen, wenn sie nach dem Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse, insbesondere nach Umfang und Festigkeit ihrer Organisation, nach der Zahl ihrer Mitglieder und nach ihrem Hervortreten in der Öffentlichkeit eine ausreichende Gewähr für die Ernsthaftigkeit dieser Zielsetzung bieten.« Die einfach-gesetzliche Definition des Parteibegriffs ist zwar nicht maßgeblich für 144 den in der Verfassung gebrauchten; das BVerfG hat jedoch die Auffassung vertreten, dass in Art. 21 Abs. 1 GG der Begriff der »politischen Parteien« mit eben diesem Inhalt verwandt worden ist.3 Entscheidend kommt es dabei auf die Dauerhaftigkeit und die Zielsetzung an, in einem Parlament vertreten zu sein. Die Dauerhaftigkeit unterscheidet die politischen Parteien von Bürgerinitiativen oder ähnlichen politischen Bewegungen, die einen partikulären Zweck verfolgen, sich hierin aber auch erschöpfen. Die Dauerhaftigkeit allein soll andererseits dem Parteienbegriff des Art. 21 Abs. 1 GG nicht genügen, sofern nicht Macht oder Machtanteile auf Bundesoder Landesebene angestrebt werden.4 Folgerichtig fallen Wählervereinigungen auf kommunaler Ebene (»Rathausparteien«), deren Engagement sich in der »örtlichen Gemeinschaft« (Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG) erschöpft, nicht unter den Parteienbegriff. Diese – vom BVerfG gebilligte5 – Verengung durch § 2 PartG bedarf erneuter Diskussion.6 § 2 Abs. 1 PartG widerspricht überdies Art. 10 Abs. 4 EUV, der politische Parteien auf europäischer Ebene als wichtigen Integrationsfaktor in der Union bezeichnet. Nach dem Wortlaut des § 2 Abs. 1 PartG würden politische Gruppierun1 2 3 4 5 6 Vgl. hierzu J. Ipsen, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 21 Rn. 1 ff. Sartorius I Nr. 58 = Nomos ÖffR Nr. 9. BVerfGE 24, 260 (263 f.); 24, 300 (361); 47, 198 (222); st. Rspr. Krit. hierzu J. Ipsen, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 21 Rn. 19 f.; ders., in: ders., PartG, § 2 Rn. 10 f. Vgl. BVerfGE 69, 92 (104); 78, 350 (357 ff.). Vgl. R. Streinz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, Art. 21 Rn. 47; M. Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. II, Art. 21 Rn. 36 (»verfassungswidrig«); krit. ebenfalls: J. Ipsen, in: ders., PartG, § 2 Rn. 7 f. 45 § 5 Die politischen Parteien gen, die nur für das Europäische Parlament kandidieren – »Europaparteien« – aus dem Parteienbegriff herausfallen.7 145 Entscheidendes Begriffsmerkmal des verfassungsrechtlichen Parteibegriffs ist die Ernsthaftigkeit. Nicht jede Gruppierung, die vorgibt, auf die politische Willensbildung in Bund oder Land Einfluss nehmen zu wollen, kann schon um dessentwillen als »politische Partei« angesehen werden. Ob der Parteibegriff des Art. 21 GG im Einzelfall erfüllt ist, lässt sich nur anhand weiterer Tatsachen entscheiden, die in § 2 Abs. 1 PartG beispielhaft aufgezählt sind. Nicht erforderlich ist es, dass die Parteien sich mit Landeslisten an der Bundestagswahl beteiligen. Das BVerfG sieht es zwar als wesentlich an, dass Parteien an Bundes- oder Landtagswahlen teilnehmen; für Bundestagswahlen soll es jedoch ausreichen, wenn Kreiswahlvorschläge gemacht werden.8 146 In unserem Ausgangsbeispiel nimmt der SSW weiterhin (wenn auch erfolglos) an den schleswigholsteinischen Landtagswahlen teil. Seine Zielsetzung ist es folglich, in einem Parlament (und nicht nur in einer Gemeindevertretung) vertreten zu sein. Diese Beteiligung reicht aus; eine Beteiligung an den Bundestagswahlen ist nicht begriffsnotwendig. Der SSW würde nicht schon dann seinen Parteienstatus verlieren, wenn er nur vorübergehend auf die Beteiligung an Landtagswahlen verzichtete. Der Verzicht, in einem Parlament vertreten zu sein, muss definitiv sein. Nach § 2 Abs. 2 PartG verliert eine Vereinigung ihre Rechtsstellung als Partei, wenn sie sich sechs Jahre lang weder an Bundestags- noch an Landtagswahlen beteiligt hat. 2. Gründungsfreiheit und innere Ordnung der Parteien 147 Im Gegensatz zur Beteiligung an Wahlen, bei der die Landeslisten durch den Landeswahlausschuss zugelassen werden müssen (§ 28 BWahlG), gibt es bei der Gründung von Parteien keinerlei staatliche Mitwirkungsakte. Ein irgendwie geartetes Zulassungs- oder Genehmigungsverfahren für politische Parteien wäre in einem demokratischen Staat ein schwer erträglicher Widerspruch. 148 Die Gründung einer Partei ist zunächst ein Rechtsgeschäft des bürgerlichen Rechts. Parteien werden traditionell als nichtrechtsfähige Vereine gegründet. Ohne Rücksicht darauf, ob eine Partei als juristische Person des Privatrechts (eingetragener Verein) gegründet worden ist, kann sie unter ihrem Namen klagen und verklagt werden (§ 3 PartG). 149 Die Parteien sind in ihrer inneren Ordnung auf die demokratischen Grundsätze verpflichtet (Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG). Das Parteiengesetz enthält in den §§ 6 ff. eine Fülle von Vorschriften, die dieses Verfassungsgebot konkretisieren. Die Parteien sind in der Wahl ihrer Organisationsform insofern durch Verfassung und Gesetz eingeengt. Art. 21 Abs. 1 GG beugt dem Widerspruch vor, dass sich undemokratisch (etwa nach dem »Führerprinzip«) organisierte Parteien am Prozess demokratischer Willensbildung beteiligen.9 150 Verfassung und Parteiengesetz können die »innerparteiliche Demokratie« nur in förmlicher Hinsicht gewährleisten. Wie sich die Willensbildung innerhalb von Parteien im Einzelnen vollzieht, ist rechtlich nur begrenzt regelbar. Als Grundsatz hat zu gelten, dass die Willensbildung »von unten nach oben« und nicht »von oben nach unten« 7 Vgl. J. Ipsen, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 21 Rn. 20; M. Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, Bd. II, Art. 21 Rn. 36; R. Streinz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, Art. 21 Rn. 47, 59, jew. m. w. N. 8 So BVerfGE 24, 260 (265). 9 Vgl. J. Ipsen, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 21 Rn. 53. 46 I. Die Funktion der politischen Parteien in der parlamentarischen Demokratie erfolgen muss. Gelegentlich ist die Frage aufgeworfen worden, ob das Parteiengesetz in seinen Bestimmungen hinter dem Verfassungsgebot des Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG zurückbleibt. Verstöße gegen das Verfassungsgebot demokratischer innerer Ordnung haben nicht zur Folge, dass eine politische Partei ihren Status verliert.10 Die (tatsächlich praktizierte) innere Ordnung einer Partei ist aber wesentlich für die Frage, ob sie gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung verstößt (Art. 21 Abs. 2 GG). Detaillierterer Regelung und eingehenderer Überprüfung ist die parteiinterne Wil- 151 lensbildung im Vorfeld von Wahlen unterworfen. Das Aufstellungsverfahren für Vertreter und (Wahlkreis- und Listen-)Kandidaten ist in §§ 21 ff. BWahlG geregelt. Die Aufstellungsverfahren sind von den Wahlorganen bei der Zulassung von Wahlvorschlägen auf Mängel zu überprüfen und ggf. zurückzuweisen.11 Gesetzes- (nicht aber Satzungs-)Verstöße sind grundsätzlich als »Wahlfehler« zu qualifizieren, die auch im Wahlprüfungsverfahren Bedeutung erlangen können. Das BVerfG hat in seiner Rechtsprechung die Voraussetzungen für einen wirksamen Minderheitenschutz bei der innerparteilichen Willensbildung geschaffen.12 3. Mitwirkung bei der »politischen Willensbildung des Volkes« Fall 9: K hat an seinem Briefkasten einen Zettel angebracht, der den Text trägt »Einwurf kommerzieller und politischer Werbung untersagt«. Gleichwohl muss er feststellen, dass insbesondere anlässlich von Wahlkämpfen wiederholt Werbeschriften von Parteien in den Briefkasten eingeworfen werden. 152 153 Das Grundgesetz erkennt durch Art. 21 Abs. 1 an, »dass die Parteien an der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken, und hebt sie damit aus dem Bereich des Politisch-Soziologischen in den Rang einer verfassungsrechtlichen Institution.«13 Das BVerfG hat mit dieser Feststellung das für die Weimarer Verfassung beklagte 154 Defizit »ausgeglichen« und den Parteien einen festen Standort innerhalb des Verfassungsrechts gesichert. Angesichts des (unumstrittenen) verfassungsrechtlichen Status der politischen Parteien stellt sich gegenwärtig in erster Linie die Frage, wo die Grenzen parteipolitischen Einflusses auf die Willensbildung im Staat zu suchen sind. Trotz der Anerkennung durch Art. 21 GG bleiben die politischen Parteien »frei gebildete, im gesellschaftlich-politischen Bereich wurzelnde Gruppen« und haben nicht die Qualität oberster Staatsorgane.14 Die Mitwirkung der Parteien an der Willensbildung des Volkes vollzieht sich natur- 155 gemäß am intensivsten bei Wahlen. Bundes-, Landtags- und Europawahlen sind (unbeschadet der Kandidatur einzelner parteiloser Bewerber bei ersteren) Parteiwahlen. Das Listenprivileg (§ 27 Abs. 1 BWahlG) bekräftigt diese nahezu monopolartige Stellung der Parteien im Bereich der Bundestagswahlen. Dem Versuch, dieses Monopol auf die Kommunalwahlen auszudehnen und auch hier 156 ein Listenprivileg für politische Parteien einzuführen, ist das BVerfG frühzeitig entgegengetreten.15 Die »Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft« (Art. 28 Abs. 2 10 Vgl. R. Streinz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, Art. 21 Rn. 170. 11 Vgl. BVerfGE 89, 243. 12 Vgl. J. Ipsen, ZParl 1994, S. 239 f.; vgl. ausführlich: J. Ipsen, in: ders., PartG, § 17 Rn. 8 ff. 13 So BVerfGE 2, 1 (73). 14 So BVerfGE 20, 56 (101 f.). 15 Vgl. BVerfGE 11, 266; 11, 351. 47 § 5 Die politischen Parteien S. 1 GG) verlangen nach Organisationsformen und Möglichkeiten der Willensbildung auch außerhalb der politischen Parteien, weil das Eintreten für örtlich begrenzte Ziele nicht notwendig das Engagement für eine bestimmte politische Richtung bedeuten muss. 157 Die Einwirkung der politischen Parteien auf den Staat erschöpft sich nicht in der Teilnahme an Wahlen, sondern erstreckt sich auf alle denkbaren Bereiche und wirkt sich insbesondere bei der Vergabe von Ämtern aus. Die von den Parteien betriebene »Ämterpatronage« ist für eine parteienstaatliche Demokratie ebenso typisch wie ärgerlich.16 Sieht man von den politischen Führungsämtern ab,17 so erweist sich der Parteieneinfluss bereits auf der darunter liegenden Ebene als problematisch. Aus der Sicht der in Bund oder Ländern jeweils regierenden Parteien mag es folgerichtig sein, möglichst viele Ämter mit Parteimitgliedern zu besetzen, weil dadurch die Durchsetzung politischer Programmatik erleichtert wird, andererseits die Partei für potentielles Führungspersonal an Attraktivität gewinnt. Gleichwohl ist die Praxis der Vergabe von Staatsämtern nach Parteigesichtspunkten unterhalb der politischen Führungsebene mit dem Grundgesetz nicht zu vereinbaren (Art. 33 Abs. 2 GG).18 158 Die Allgegenwart und das Machtbewusstsein der Parteien werden im Begriff des »Parteienstaates« eingefangen.19 Dieser Begriff trifft die verfassungsrechtliche Situation nur insoweit, als eine Willensbildung im demokratischen Staat ohne politische Parteien undenkbar ist.20 Soweit mit diesem Begriff die Instrumentalisierung des Staates durch die Parteien angedeutet wird, handelt es sich um einen von Art. 21 GG nicht gedeckten, verfassungswidrigen Zustand.21 Neben den Parteien gibt es eine Vielzahl gesellschaftlicher Gruppierungen, nicht zuletzt Presse und öffentliche Meinung, die ebenfalls an der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken.22 Es wäre an der Zeit, dass das BVerfG diese Grenzen bestimmt und in seiner Rechtsprechung verdeutlicht, dass Staat und Parteien zwei einander bedingenden und ineinander verwobenen, letztlich aber zu trennenden Sphären angehören. 159 Die in Art. 21 Abs. 1 GG umschriebene Funktion der Parteien verpflichtet den Bürger nicht, Erklärungen der Parteien zur Kenntnis zu nehmen.23 Werbesendungen sind keine »Lebensäußerungen« der Parteien, die wie »liturgisches Glockengeläute« der Kirchen geduldet werden müssten.24 K kann deshalb das Einwerfen von Werbematerialien der Parteien in seinem Briefkasten untersagen25 und dieses Recht notfalls im Klagewege durchsetzen, zumal hierdurch weder Parteienwerbung als solche noch die besondere Methode der Briefkastenwerbung in Frage gestellt wird. 16 Nachw. bei M. Stolleis, VVDStRL 44 (1986), S. 23; R. Wassermann, NJW 1999, S. 2330. 17 Vgl. § 54 Abs. 1 BBG mit der Aufzählung der sog. »politischen« Beamten (Staatssekretäre, Ministerialdirektoren, Beamte des höheren auswärtigen Dienstes usw.). 18 Vgl. R. Streinz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, Art. 21 Rn. 92 ff. 19 So bereits BVerfGE 1, 208 (225) (»der moderne demokratische Parteienstaat«). 20 Vgl. R. Streinz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, Art. 21 Rn. 5; J. Ipsen, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 21 Rn. 7. 21 So J. Ipsen, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 21 Rn. 14. 22 Vgl. R. Streinz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, Art. 21 Rn. 76 ff. 23 Vgl. OLG Bremen, NJW 1990, S. 2140; W. Fuchs/C. Simanski, NJW 1990, S. 2983 f. 24 So aber M. Löwisch, NJW 1990, S. 438. 25 Str. ist, inwieweit dies auch für Postwurfsendungen gilt; vgl. BVerfG, NJW 1991, S. 910; OLG Bremen, NJW 1990, S. 2140; VGH Mannheim, NJW 1990, S. 2145; KG, NJW 1990, S. 2142. 48 II. Die Chancengleichheit der Parteien II. Die Chancengleichheit der Parteien Fall 10: Die Arbeitsgemeinschaft der Rundfunkanstalten Deutschlands (ARD) und das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) beabsichtigten, am Abend des 8. 9. 2002 – zwei Wochen vor den Bundestagswahlen – eine Fernsehsendung »TV-Duell der Kanzlerkandidaten« auszustrahlen. In dieser Sendung sollten der Bundeskanzler und der Ministerpräsident des Freistaates Bayern als von ihren Parteien für das Amt des Bundeskanzlers nominierte Kandidaten von zwei Moderatorinnen für die Dauer von 75 Minuten zu Themen des Wahlkampfs befragt werden. Die FDP, die ihren Bundesvorsitzenden ebenfalls als »Kanzlerkandidaten« nominiert hatte, versuchte dessen Teilnahme durch eine einstweilige Anordnung zu erwirken. Nachdem entsprechende Anträge vor den Verwaltungsgerichten erfolglos blieben, erhob die FDP Verfassungsbeschwerde. 160 (BVerfG – 2. Kammer des Zweiten Senats –, NJW 2002, S. 2939) 1. Materialer und formaler Gleichheitssatz Der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit (Art. 38 Abs. 1 GG) ist »formal« zu 161 verstehen, lässt also prinzipiell keine Ausnahmen zu.26 Er steht damit im Gegensatz zum allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG), der nach dem vorherrschenden »materialen« (inhaltlichen) Verständnis die Gleichbehandlung ungleicher Tatbestände und die Ungleichbehandlung gleicher Tatbestände nur dann verbietet, wenn hierfür kein sachgerechter Grund vorliegt, sie also willkürlich wäre.27 Ein formales Verständnis des Gleichheitssatzes schneidet derartige Differenzierungen schlechthin ab: Eine Ungleichbehandlung ist hiernach schon dann verboten, wenn äußerlich (der Form nach) gleiche Tatbestände vorliegen. Die Suche nach inhaltlichen (materialen) Differenzierungskriterien ist unstatthaft. Für den Wettbewerb der Parteien untereinander, im Ergebnis aber auch für das Parteiensystem (die »Parteienlandschaft«) ist die Frage schlechthin entscheidend, ob staatliche Maßnahmen, die die Parteien betreffen, am formalen oder am materialen Gleichheitssatz zu messen sind.28 Die Frage ist deshalb so prekär, weil die die Parlamentsmehrheit stellenden Parteien dazu tendieren, ihre Wettbewerbschancen durch gesetzliche Regelungen zu verbessern.29 Ob solche »Prämien« auf den Besitz der Macht verfassungsrechtlich zulässig sind, ist ein Problem des – formalen oder materialen – Gleichheitsverständnisses.30 Das BVerfG hat in seiner Rechtsprechung die Chancengleichheit der Parteien nicht in 162 Art. 3 Abs. 1 GG,31 auch nicht (außer bei Wahlen) in Art. 38 Abs. 1 GG, sondern in Art. 21 Abs. 1 GG angesiedelt.32 Damit ist der Grundsatz der Chancengleichheit »zwischen« dem materialen Gleichheitssatz und der Wahlrechtsgleichheit zu verorten.33 Art. 38 Abs. 1 GG wirkt sich insofern auf die Chancengleichheit der Parteien aus, als diese ebenfalls formal gleichbehandelt werden müssen, für eine Ungleichbe26 Vgl. BVerfGE 11, 266 (272); 95, 408 (417); 99, 69 (77 f.); st. Rspr. 27 Vgl. BVerfGE 1, 14 (52); 83, 1 (23); 89, 132 (141); st. Rspr. 28 Vgl. H. H. v. Arnim, DÖV 1984, S. 85. 29 Dazu M. Stolleis, VVDStRL 44 (1986), S. 26 ff. 30 Vgl. R. Streinz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, Art. 21 Rn. 123 f. 31 Gelegentlich ist eine Verbindung zwischen Art. 3 I und Art. 21 I GG hergestellt worden: vgl. BVerfGE 7, 99 (107). 32 So BVerfGE 6, 273 (280); 73, 40 (65); 91, 262 (269); st. Rspr. 33 Vgl. J. Ipsen, JZ 1984, S. 1063; ders., in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 21 Rn. 33. 49 § 5 Die politischen Parteien handlung also zwingende Gründe erforderlich sind.34 Der Gesetzgeber ist jedoch nicht verpflichtet, vorgegebene und sich aus den tatsächlichen Verhältnissen ergebende Unterschiede in den Wettbewerbschancen der Parteien auszugleichen.35 Eine Ausnahme besteht nur im Falle einer nachhaltigen Veränderung außerhalb der Einflussmöglichkeiten der Parteien liegender (insbesondere rechtlicher) Gegebenheiten, die den Gesetzgeber zum Gegensteuern zwingen können.36 163 Im Ausgangsfall kommt es zunächst darauf an, ob das »TV-Duell der Kanzlerkandidaten« überhaupt am Maßstab der »Chancengleichheit« zu prüfen ist. Sollte dies der Fall sein, wäre eine Verletzung dieses Grundsatzes jeweils dann ausgeschlossen, wenn »zwingende Gründe« für die Ungleichbehandlung der Parteien sprächen, die immerhin darin liegen könnten, dass es für einen »Kanzlerkandidaten« nicht auf die Nominierung durch die betreffende Partei, sondern auf die tatsächlichen Wahlchancen ankommt. 2. Ausformung der Chancengleichheit durch das Parteiengesetz 164 Der Staat oder andere Träger öffentlicher Gewalt sind von Verfassungs wegen nicht verpflichtet, den Parteien öffentliche Einrichtungen zur Verfügung zu stellen oder Leistungen zu gewähren. Ansprüche auf Teilhabe an öffentlichen Gewährungen entstehen erst, wenn überhaupt Leistungen erbracht werden. Dieser Grundsatz wird in § 5 Abs. 1 S. 1 PartG folgendermaßen umschrieben: »Wenn ein Träger öffentlicher Gewalt den Parteien Einrichtungen zur Verfügung stellt oder andere öffentliche Leistungen gewährt, sollen alle Parteien gleichbehandelt werden.« 165 Bliebe es bei diesem Grundsatz, so wäre auch einem formalen Verständnis der Chancengleichheit Genüge getan. Nach § 5 Abs. 1 S. 2 PartG kann jedoch der Umfang der Gewährung »nach der Bedeutung der Parteien« bis zu dem für die Erreichung ihres Zweckes erforderlichen Mindestmaß »abgestuft werden«. Die Bedeutung der Parteien wird insbesondere auch nach den Ergebnissen vorangegangener Wahlen bemessen (§ 5 Abs. 1 S. 3 PartG). Sofern eine Partei im Bundestag in Fraktionsstärke vertreten ist, muss der »Umfang der Gewährung« mindestens halb so groß wie für jede andere Partei sein (§ 5 Abs. 1 S. 4 PartG). 166 § 5 PartG findet vor allem Anwendung, wenn politischen Parteien Sendezeiten von öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten gewährt werden. Nach den Bestimmungen der Landesrundfunkgesetze sind auch die privaten Veranstalter von Rundfunksendungen verpflichtet, § 5 PartG entsprechend anzuwenden.37 Auch soweit kommunale Einrichtungen zur Verfügung gestellt werden (Stadthallen, Marktplätze, Fußgängerzonen, Plakatwände), können sich die Parteien auf § 5 Abs. 1 PartG berufen. 167 Die in § 5 Abs. 1 S. 2 PartG vorgenommene Differenzierung ist mit dem Prinzip der Chancengleichheit nicht mehr vereinbar. Die vom BVerfG für die Ungleichbehandlung geforderten »zwingenden Gründe« könnten allenfalls darin liegen, dass Bundestagswahlen eine regierungsfähige Mehrheit erbringen sollen und die Bekämpfung von 34 Vgl. BVerfGE 8, 51 (64 f.); 82, 322 (337 f.); 85, 264 (297). 35 Vgl. BVerfGE 8, 51 (66 f.); 85, 264 (297). 36 So BVerfGE 82, 322 (341 f.). 37 Ausdrücklich auf das Parteiengesetz verweisen §§ 5 Abs. 3 LMedienG Bad.-Württ.; § 30 Abs. 2 Hess. PRG; § 22 Abs. 1 NMedienG; § 36 Abs. 2 LMG Nordrh.-Westf.; § 19 Abs. 2 LRG Rh.-Pf.; § 19 Abs. 2 Saarl. MedienG; § 22 Abs. 1 Sächs. PRG; § 29 Abs. 1 LMedienG Sachs.-Anh.; § 33 Abs. 1 LRG Schl.-Holst.; § 26 Abs. 2 Thür. LMedienG. Vgl. ferner Art. 4 Bay. MedienG; § 19 Abs. 1 MStV Berl.-Bbg.; § 22 LRG Meckl.-Vorp. 50