Rosskastanie - Aesculus hippocastanum LinnÉ

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Rosskastanie - Aesculus hippocastanum LinnÉ - Pferde-, Mottenfutter und Biergartenherrlichkeit
Was in der Überschrift zunächst wie ein Rätsel daherkommt, umschreibt beim
näheren Hinsehen einige Seiten des beliebtesten Park-, Garten- und Straßenbaums
Mitteleuropas. Die Rede ist von der Roßkastanie oder lateinisch Aesculus hippocastanum L., die noch im Mittelalter ausschließlich an wenigen Stellen in Griechenland, Mazedonien und Albanien vorkam. Dort, in den Schluchten des Balkans, finden sich auch heute noch ihre Naturstandorte (siehe Karte). Dieses Vorkommen
wurde erst im 19. Jahrhundert endeckt und beschrieben. Hier konnte die Rosskastanie, die ursprünglich in ganz Europa verbreitet war, die Eiszeiten überdauern. Erst
durch die Osmanen fand dieser Baum wieder mehr Beachtung, da dessen Samen
als Pferdefutter geschätzt war. Nach Mitteleuropa gelangte die Rosskastanie durch
einen Gesandten Kaiser Ferdinands I., der im Jahr 1561 von Sultan Süleyman I.
Früchte der Roßkastanie als Geschenk erhielt und diese dem belgischen Botaniker
Clusius weitergab. Auf Clusius ist letztendlich die Einführung der Rosskastanie in
Mitteleuropa zurückzuführen.
Oft wurde die Rosskastanie auch von Brauereibesitzern über ihren Bierkellern angepflanzt, um durch die Beschattung während der Sommermonate eine Erwärmung
der unterirdischen Bierlager zu verhindern. Daraus entwickelten sich schließlich im
19. Jahrhundert - insbesondere in Bayern - die beliebten Biergärten. Diese Tradition hat sich bis in unsere Tage erhalten: Die Rosskastanie gilt auch heute noch als
der Biergartenbaum schlechthin. Ein Pforzheimer Beipiel ist der „Kastaniengarten“
beim Stadtmuseum in Brötzingen.
Mit der Ess- oder Edelkastanie (Castanea sativa) hat die Rosskastanie übrigens
nichts zu tun: die Edelkastanie gehört zur Familie der Buchengewächse, die Rosskastanie ist demgegenüber ein Seifenbaumgewächs.
Augenfällige Schäden an Kastanienblättern durch die Rosskastanien-Miniermotte
haben in den letzten Jahren in der Bevölkerung und den zuständigen Gartenämtern
für große Aufruhr gesorgt. Die Larven dieses Kleinschmetterlings minieren in den
Blättern der Kastanie, was bei starkem Befall zu einem völligen Verbraunen und
vorzeitigen Abwurf der Blätter führen kann. Cameraria ohridella, so der zoologische
Name dieser „Balkan-Killermotte“ (Bildzeitung), tauchte zuerst in Südosteuropa auf
und hat in den letzten zehn Jahren ihrem Weg über Mazedonien, Österreich bis
nach Deutschland gefunden. In der Zwischenzeit ist in die Diskussion um die Schäden eher wieder Ruhe eingekehrt. Die Blattschäden – so neuere Untersuchungen
- wirken sich auf die Vitalität der Roßkastanie weitaus geringer aus als zunächst angenommen. Letztendlich dürften die Blattschäden an den Kastanien unserer Städte
v.a. ein ästhetisches Problem darstellen. Eine chemische Behandlung ist damit aber
nicht zu rechtfertigen.
Traurige Berühmtheit erlangte eine Kastanie in einem Innenhof in Amsterdam,
der als „Anne-Frank-Baum“ bekannt wurde. Dieser Baum wird in den Tagebüchern
der Anne Frank ausführlich geschildert und stellte für das Mädchen die einzige Verbindung zur Außenwelt und zu einem kleinen Stückchen Natur dar, während sie
und ihre Familie sich vor den Nazi-Schergen und linientreuen Nachbarn in einem
kleinen Hinterhaus in Amsterdam verstecken mussten. Der Baum wurde in den
letzten Jahren stark von Pilzen und Insekten befallen. Eine Bürgerinitiative konnte
die Fällung verhindern. Eine eigens zur Rettung dieser inzwischen über 160 Jahre
alten Kastanie gegründeten Stiftung ließ eine Stützkonstruktion anbringen, die Betreuung übernahm ein internationales Team von Baumexperten. Am 23. August
2010 warf ein Sturm den Baum um. Über Setzlinge vermehrt wurden aber schon
seit 2005 viele Nachkommen dieser Kastanie in Amsterdam und weltweit gepflanzt.
Text & Fotos:
Hilligardt
Verbreitung von Aesculus hippocastanum L. an ihren Naturstandorten im
Balkan - nach Polunin (1980) und Schmidt & Rohloff (2006)); Grundkarte aus wikipedia.de - balkan topo de.jpg
Steckbrief Rosskastanie
Die Gattung Aesculus umfasst etwa 25 Arten Baum- und
Strauchgehölze, die Rosskastanie ist der einzige europ. Vertreter.
Daneben gibt es zahlreiche Züchtungen.
Höhe: bis zu 30m
Alter: Höchstalter 200, selten 300 Jahre
Wurzelsystem: die anfänglich entwickelte Pfahlwurzel bildet sich
zurück und wird durch kräftige Seitenwurzeln ersetzt
Knospen: bis zu 2 cm groß, klebrig (= Schutz vor Tierfraß)
Blätter: fünffach gefingert, groß
Krone: dichtlaubig mit hohem Schatteneffekt (Biergartenbaum)
Blüten: der kerzenartige, aus zahlreichen Einzelblüten bestehende
Blütenstand entwickelt sich mit dem Blattaustrieb im Frühjahr.
Blütenökologie: Bienen- und Hummelbestäubung; Die Blüten zeigen
„Saftmale“, die je nach Entwicklung der Blüte gelb, orange bis
rot gefärbt sind und den Nektarvorrat der Blüten
kennzeichnen. Gelbgefärbte Saftmale bedeuten hohe, rot
gefärbte demgegenüber geringe Nektarvorräte.
Früchte: Nur ein geringer Teil der Blüten erreicht die Fruchtreife, da
der Baum bei Vollertrag durch das Gewicht der Einzelfrüchte
zu sehr belastet würde. Im September/Oktober reifen die
kugeligen Spaltkapseln mit Stacheloberfläche. Nach DÜLL &
KUTZELINGG (2005) handelt es sich um sog. „Plumps“früchte,
deren Stacheln und die weiche Fruchthülle den Aufprall auf
dem Boden abdämpfen und somit die freiwerdenden
braunen Samen (= die eigentlichen Kastanien) schützen.
Stamm:häufig kommt Drehwuchs vor, d.h. eine innere Verdrillung
des
Stammes,
was
als
Verbesserung
der
Standfestigkeit insbesondere an windexponierten Stellen
gewertet wird („Seileffekt“). Ursachen hierfür sind in der
Genetik
in
Kombination
mit
spezifischen
Standortbedingungen (Windhöffigkeit) zu suchen. Die
esoterisch-geomantischen Erklärungsversuche für den
Drehwuchs (Erdstrahlen, Störzonen, u.ä.) sind rein spekulativ
und können als seriöse Deutung dieses Naturphänomens
nicht herangezogen werden (s.a. www.gwup.org/).
Illustation aus Thomé, O.W. (1885): Flora von Deutschland, Österreich und der Schweiz
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