Substanzmissbrauch / Stoffgebundene Süchte 27.05.2014 Henning Ide-Schwarz (Dipl. Päd.) Überblick • • • • • Fallbeispiel Substanzklasen: Uppers und Downers Zum Beispiel: Alkohol… Wechselwirkungen – Komorbidität Therapie Phänomenologie der Sucht • • • • • • Stoffgebundene Süchte: Alkohol, Opioide, Cannabis etc. pp. Alltagssüchte: Koffein, Nikotin, Alkohol Tablettenmissbrauch PC- und Internetabhängigkeit Spielsucht Zwanghaft-süchtiges Verhalten, z.B. im Bereich Selbstverletzungen, Sexualität… Fließende Übergänge zu Essstörungen, Zwangsstörungen, Borderline- u.a. Persönlichkeitsstörungen • Fließende Übergänge zu jugendlichem Probierverhalten Fallbeispiel Marc • • • • • • • • 15 J, Bruder + 7, schon aus dem Haus (Hoch)Problematische Schulkarriere: Mehrere U-Ausschlüsse in E-Schule Impulskontrollschwach, unbeherrscht, sozial isoliert Ständiges Kiffen, Verherrlichung des Themas Beide Eltern wirken einschlägig vorbelastet (Mutter hat Reibeisenstimme, Vater in Reha nach Magen-OP). Eltern setzen keine Grenzen, bagatellisieren die sozialen Probleme, erwarten aber die Einschränkung des Konsums und sind in großer Sorge wg. Schullaufbahn 1. Anlauf scheitert (Drgenentzug und Motivationstherapie in Spezialeinrichtung JADE/Weinsberg): Eltern legen sich nicht fest, scheuen Trennung vom Sohn (Mutter: „Ich halte das nicht aus!“) Familie focussiert auf anstehenden Lehrerwechsel in E-Schule H. Ide-Schwarz (Dipl. Päd.), Zentrum für seelische Gesundheit - Klinik für KJPP Fallbeispiel Marc • • • • • • • • Ca. ¾ J später neuer Anlauf auf Duck von Schule und Jugendamt Marc habe Cannabis-Konsum deutlich reduziert, gibt sich geläutert, keine Verherrlichung des Themas mehr Wunsch Tagesklinik: Abmachung: „Probezeit“, unangemeldete Urinkontrollen, strikte Regeleinhaltung, Eltern regelmäßige Gespräche (diese bisher unzuverlässig) Kann sich einlassen und abstinent bleiben Deutlich werden: ständige ängstliche Anspannung, diffuse Fehlwahrnehmungen und paranoide Gedanken Drogeninduzierte Psychose oder „psychose-induzierter Drogenkonsum“? Auch am Ende der 4-monatigen Behandlung schillerndes Bild Ursprüngliches Ziel (Überleitung in Wohngruppe) gescheitert, von Fam. abgelehnt. Überleitung an amb. Beratungsstelle, die v.a. Eltern berät und anleitet. H. Ide-Schwarz (Dipl. Päd.), Zentrum für seelische Gesundheit - Klinik für KJPP Substanzklasssen „Uppers“ „Downers“ LSD , Speed Ecstasy Inhalantien Kokain Crystal Nikotin Alkohol . Liquid Ecstasy Droge Opiate . (Heroin, Codein, Morphin) . Cannabis Benzodiazepine/ Tranquilizer . Kapitel F1 (ICD 10) : Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen F10._ F11._ F12._ F13._ F14._ F15._ F16._ F17._ F18._ F19._ Psychische und Verhaltensstörungen durch Alkohol durch Opioide durch Cannabinoide durch Sedativa oder Hypnotika durch Kokain durch andere Stimulanzien, einschließlich Koffein durch Halluzinogene durch Tabak durch flüchtige Lösungsmittel durch multiplen Substanzgebrauch und Konsum anderer psychotroper Substanzen 4. Stelle .0 Akute Intoxikation .1 Schädlicher Gebrauch .2 Abhängigkeitssyndrom .3 Entzugssyndrom .4 Entzugssyndrom mit Delir .5 Psychotische Störung .6 Amnestisches Syndrom .7 Restzustand und verzögert auftretende psychotische Störung .8 Sonstige psychische und Verhaltensstörungen .9 Nicht näher bezeichnete psychische und Verhaltensstörung F55 Missbrauch von nichtabhängkeitserzeugenden Substanzen F63.0 Pathologisches Spielen Quelle z.B. www.dimdi.de Zum Beispiel… Alkohol Epidemiologie • Lebenszeitrisiko, an Alkoholismus zu erkranken 5% (Erw. 4%, Jgdl. 5-6%) • Anteil behandlungsbedürftiger Alkoholiker 2 Mio. (= ca. 5% männliche und 2% weibl. Gesamtbevölkerung) • Anteil Alkoholiker im Allgemeinkrankenhs. 10 - 15%, in psychiatrischen Kliniken 20 – 35% • Höchste Alkoholikerrate unter Männern: Selbstständige, Freiberufler, ungelernte/angelernte Arbeiter • Höchste Alkoholikerrate unter Frauen: Frauen aus oberen sozialen Schichten. H. Ide-Schwarz (Dipl. Päd.), Zentrum für seelische Gesundheit - Klinik für KJPP Trinken bis zum Kollaps H. Ide-Schwarz (Dipl. Päd.), Zentrum für seelische Gesundheit - Klinik für KJPP Alkoholgehalt verschiedener Getränke Quelle: Möller et al. 2005 Alkoholentzugssyndrom Bei mindestens 3 der folgenden 10 Kriterien : • Tachykardie oder Hypertonie • Schwitzen • Tremor (zu testen an der ausgestreckten Hand mit gespreizten Fingern) • Angst + innere Unruhe • Übelkeit, Würgen + Erbrechen • Kopfschmerzen • Schlaflosigkeit • Psychomotorische Unruhe • Krampfanfall • Halluzinationen, vor allem visuelle H. Ide-Schwarz (Dipl. Päd.), Zentrum für seelische Gesundheit - Klinik für KJPP Stufenmodell der Entwicklung des Alkoholismus Quelle: Möller et al. 2005 Alkoholikertypen nach Jellinek Quelle: Möller et al. 2005 Körperliche Folgen der Alkoholabhängigkeit Quelle: Brunnhuber et al. 2005 Psychosoziale Folgen des Alkoholkonsums Quelle: Möller et al. 2005 Modellvorstellungen zur Entstehung von Sucht Es gibt keine prädisponierende „Alkoholikerpersönlichkeit“ Bei hoher biologischer Disposition genügen geringe pathogene Umwelteinflüsse Bei ungünstigen Umweltbedingungen genügt niedrige biologische Disposition (z.B. genetische Belastung) Quelle: Möller et al. 2005 Psychiatrische Komorbidität bei Substanzmissbrauch Störungen des Sozialverhaltens, Dissozialität Substanzmissbrauch Hyperkinetik, Impulsivität Substanzmissbrauch Depressive Störungen Substanzmissbrauch Bulimie Substanzmissbrauch Psychosen Substanzmissbrauch Borderline-Störungen Substanzmissbrauch Angststörungen Substanzmissbrauch Suizidalität Substanzmissbrauch Schädlicher Gebrauch oder manifeste Abhängigkeit? • Bei schädlichem Gebrauch -> stationäre Psychotherapie mit „Probezeit“ und Option „disziplinarische Entlassung“ bei Rückfall, Entzugsbehandlung entfällt i.d.R. • Bei manifester Abhängigkeit -> Spezialisierung innerhalb der Versorgungslandschaft, weil strukturellen Rahmenbedingungen gegenläufig zu sonstigen Regeln der Psychotherapie (strenge Kontrollen versus Verselbständigung) – JADE Weinsberg – CleanKick/Cleankids Ravensburg Entzug/Entgiftung bei Alkoholabhängigkeit • • • • • • Häufige Entzugssymptome, wenn Blutalkoholspiegel unter 1,0 Promille sinkt: Puls + Blutdruck , Schweiß, innere Unruhe, Tremor, Übelkeit, Schlafstörungen Medikamentöse Therapie mit Clomethiazol (=Distraneurin) oder Diazepam angezeigt. Nachteil von Clomethiazol und Diazepam: hohes Suchtpotential Wichtig: Patient beobachten! viele Patienten bekommen trotz hoher Alkoholmengen keine Entzugssymptome. Alle Patienten bekommen zur Prophylaxe der Wernike-Enzephalopathie und Polyneuropathie Vitamin B1 (+B6). Bei Auftreten eines Alkoholentzugsdelir (Leitsymptome: Desorientiertheit, Halluzinationen, meist visuell): Clomethiazol/Diazepamgabe + Haldol (2-5 mg initial, Dosis je nach Symptomatik, z.B. 4 x 2-5mg) und Verlegung auf eine Intensivstation (ggf. fürsorgliche Zurückhaltung). H. Ide-Schwarz (Dipl. Päd.), Zentrum für seelische Gesundheit - Klinik für KJPP Therapeutische Ansatzpunkte beim Thema Sucht • Leidensdruck Jugendliche/r? • Leidensdruck Eltern? Durchsetzungsvermögen? • Jugendgerichtliche Auflagen? Zwangsbehandlung nach § 1631b BGB? • Co-Abhängigkeiten? • Sucht-“Dynastie“? (-> systemische Therapie zur Entflechtung der verdeckten Abhängigkeiten) • Entgiftung notwendig? (-> Spezialeinrichtungen) H. Ide-Schwarz (Dipl. Päd.), Zentrum für seelische Gesundheit - Klinik für KJPP Seite 20 Zu guter Letzt • Aufpassen: Suchtverlagerung • Prinzipiell kann man von allem abhängig werden, auch nicht stoffgebundenen Dingen! (z. B. Internetsucht, Spielsucht, Kaufsucht) • "Alle Ding' sind Gift und nichts ohn' Gift; allein die Dosis macht, das ein Ding kein Gift ist." Paracelsus Literatur Brunnhuber, S., Frauenknecht, S., Lieb, K.: Intensivkurs Psychiatrie und Psychotherapie. Verlag Urban und Fischer, München 2005 Möller, H.J., Laux, G., Deister, A.: Psychiatrie und Psychotherapie. Thieme-Verlag, Stuttgart 2005 H. Ide-Schwarz (Dipl. Päd.), Zentrum für seelische Gesundheit - Klinik für KJPP Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!