A. Münchau, A. Danek Chorea ISBN 978-3-17-024489-4 Kapitel I7 aus T. Brandt, H.C. Diener, C. Gerloff (Hrsg.) Therapie und Verlauf neurologischer Erkrankungen 6., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage 2012 Kohlhammer BDG_neu.book Seite 1063 Mittwoch, 15. August 2012 9:16 09 I7 Chorea von A. Münchau und A. Danek* I 7.1 Klinik und Differentialdiagnose Die Chorea ist gekennzeichnet durch rasche, plötzlich und unvorhersagbar auftretende, meist fließende unwillkürliche Bewegungen. Beim Gehen führt die Chorea oft zu tanzartigen Bewegungsabläufen. Als Ballismus werden proximal betonte ausfahrende großamplitudige choreatische Bewegungen bezeichnet. Nur sehr selten ist eine Chorea/ Ballismus das einzige klinische Zeichen. Meist finden sich bei der neurologischen Untersuchung andere Auffälligkeiten, insbesondere andere Bewegungsstörungen, neuropsychiatrische Defizite oder Störungen der Okulomotorik. Die Chorea kann Leitsymptom oder untergeordnetes Zeichen bei sehr unterschiedlichen Krankheiten sein. Bewährt hat sich eine ätiologische Einteilung in genetisch und nicht-genetisch. Die wichtigsten Chorea Erkrankungen bei Erwachsenen sind der M. Huntington, dem M. Huntington ähnliche und immunologische Erkrankungen sowie die Medikamenten-induzierte Chorea, bei Kindern sind es die Sydenham Chorea, die benigne hereditäre Chorea und andere immunologische Krankheiten (Tab. I 7.1). I 7.2 Morbus Huntington I 7.2.1 Klinik und Diagnostik Der Morbus Huntington (Huntington’s disease, HD) ist eine autosomal-dominant vererbte progrediente Erkrankung, die durch die Expansion einer instabilen CAG-Trinukleotidrepeatsequenz in einem Gen auf dem kurzen Arm von Chromosom 4, das »Huntingtin«, ein zytoplasmatisches Protein, kodiert, verursacht wird (Huntington’s Disease Collaborative Research Group 1993). Pathologisch ist die HD durch eine fortschreitende Degeneration vor allem der kleinen und mittelgroßen striatalen GABAergen Projektionsneurone (medium spiny neurons) charakterisiert (Reiner et al 1988). Klinisch handelt es sich um eine komplexe neuropsychiatrische Störung mit einer unterschiedlichen, oft stadienabhängigen Kombination aus Bewegungsstörung, Auffälligkeiten der Okulomotorik, kognitiven/ neuropsychologischen und psychiatrischen Störungen. Leitsymptom ist bei Erwachsenen eine meist generalisierte Chorea mit Beteiligung der Zungen-, Schlund- und Zwerchfellmuskulatur. Die Patienten fallen durch eine Bewegungsunruhe auf, können kaum still sitzen, nicht längere Zeit die Zunge tonisch herausstrecken (sog. »Chamäleonzunge«) oder einen kontinuierlichen Händedruck aufrechterhalten (»Melkergriff«). Die Gesichtsmuskulatur ist oft betroffen. Die Patienten versuchen, choreatische Bewegungen in Willkürbewegungen umzulenken, indem sie sich z. B. am Kopf kratzen oder andere »Verlegenheitsgesten« ausführen. Die Chorea führt zu einer Störung des flüssigen Ganges und einer Beeinträchtigung der Stellreflexe. Sie nimmt bei Anspannung und Aufregung zu und sistiert im Schlaf. Neben der Chorea bestehen oft eine axiale Hypokinese, Extremitäten-Bradykinese sowie dystone Fehlhaltungen, v. a. der zervikalen Muskulatur und der Arme, eine Dysarthrie und Dysphagie. Seltener treten auch Myoklonien und Tics auf (Cardoso 2009). Charakteristisch sind Blickhalteschwäche, langsame, hypometrische Sakkaden, eine verminderte Suppression antizipatorischer Sakkaden und eine verlängerte Latenz oder Fehler bei der Generierung von Anti-Sakkaden. Verschiedene kognitive Domänen sind beeinträchtigt. Es kommt zu Störungen des Kurzzeitgedächtnisses, zu Wortfindungsstörungen, Störungen der visuell-räumlichen Verarbeitung, einer ideomotorischen Apraxie und frontalen Funktionseinbußen, insbesondere Störungen des Antriebs, der Impulskontrolle, planerischer Fähigkeiten, der mentalen Flexibilität und der sozialen Interaktion. Die Patienten sind einerseits oft vermehrt ablenkbar, haften andererseits an vertrauten Abläufen, beschäftigen sich über die Maßen mit immer gleichen Dingen und können sich schlecht auf Neues einstellen. Die Persönlichkeit ändert sich häufig. Zuvor gesellige Patienten ziehen sich zurück, sonst eher zurückhaltende verlieren die Scheu vor anderen, mitunter in unangemessener Weise. Die HD kann sich auch mit psychiatrischen Störungen, v. a. Psychose, Depression, Zwangsstörungen und Sucht manifestieren (Rosenblatt 2007). Das Allgemeinbefinden ist nicht selten beeinträchtigt, eine Gewichtsabnahme, die nicht allein über einer verminderte Nahrungsaufnahme zu erklären ist, ein häufiges Problem (Pratley et al. 2000). Mutiertes Huntingtin wird in vielen Organen exprimiert, was erklären könnte, warum es bei HDPatienten neben den neuro-psychiatrischen Kardinalsymptomen und dem Gewichtsverlust auch zu Muskel- und Hodenatrophie, Herzschwäche, Osteoporose und Infektanfälligkeit kommt (van der Burg et al. 2009). * Autoren dieses Kapitels in der 5. Auflage: T. Gasser und A. Danek. 1063 I 7 BDG_neu.book Seite 1064 Mittwoch, 15. August 2012 9:16 09 Bewegungsstörungen Tab. I 7.1: Differentialdiagnose der Chorea Genetisch Nicht genetisch M. Huntington Neuroakanthozytose McLeod-Syndrom HDL 1 HDL 2 Benigne hereditäre Chorea (K) M. Wilson (K) Dentato-rubro-pallido-lysiale Atrophie (K) Autosomal-dominante spinozerebelläre Ataxien (v. a. SCA 1,3, 17) Autosomal-rezessive Ataxien Friedreich-Ataxie (K) Ataxia telangiectasia (K) Ataxie mit okulomotorischer Apraxie Typ 1 und 2 (K) Kreatin-Mangel-Erkrankungen (K) Lipidspeichererkrankungen Neuronale Zeroidlipofuszinose (K) Sphingolipidosen GM1-Gangliosidose (K) GM2-Gangliosidose (K) Lesh-Nyhan Syndrom (K) Organoazidurien Glutarazidurie Typ 1 (K) Phenylketonurie (K) Störungen des Harnstoffzyklus Ornithin-Transcarbamylase-Mangel (K) Galaktosämie (K) Neuroferritinopathie (K) Eisenspeichererkrankungen (NBIA) (K) Mitochondriopathien (K) Infantile Zerebralparese (K) Infektionen Bakteriell (z. B. Borrelien) Viral (Echovirus, Herpes simplex, HIV, EBV, Parvovirus B19, Japanische B Enzephalitis Masern, Prionen (Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung; v. a. neue Variante) Parasiten (Malaria, Zystizerkose) parainfektiös/immunologisch Sydenham Chorea (K) PANDAS (K) Paraneoplastisch NMDA-Rezeptor AK CV2/CRMP5 AK Antiphospholipid-AK-Syndrom M. Behçet Lupus erythematodes Multiple Sklerose Metabolisch Kernikterus (K) Hypo-/Hyperglykämie Hypo-/Hypernatriämie Hypo-/Hyperparathyreodismus Hypokalzämie SD-Stoffwechselstörung Vitamin B12-Mangel Vaskulär, hypoxisch Schlaganfall Zerebrale Vaskulitis Moya-Moya (K) nach Herz-Operationen mit Lungenbypass (K) Bronchopulmonale Dysplasie (K) Traumatisch Raumforderungen Intoxikationen CO, Mangan Kokain Medikamente L-Dopa, Dopaminagonisten Amantadin Dopamin-Antagonisten Methylphenidat Amphetamine Sympathomimetika Theophyllin Antikonvulsiva (z. B. Phenytoin) Steroide Kontrazeptiva Antihistamine Cimetidine Digoxin Flunarizin INH Lithium Trizyklische Antidepressiva K= HDL = NBIA = PANDAS = SD = üblicherweise im Kindesalter beginnende Chorea Huntington disease like illness Neurodegeneration with Brain Iron Accumulation Pediatric Autoimmunological Neuropsychiatric Disorder Associated with Streptococcal Infection Schilddrüse Bei über 98 % der Patienten mit typischer Klinik und autosomal-dominantem Erbgang wird die Erkrankung durch eine Mutation im HuntingtinGen verursacht (Kremer et al. 1994). Differentialdiagnostisch kommen einige andere Erkrankungen, die sog. HD like illnesses (HDL) infrage (Schneider et al. 2007, Wild und Tabrizi 2007; siehe Abschnitt 7.2). 1064 Bei der krankheitsverursachenden Mutation handelt es sich um eine pathologische Verlängerung eines repetitiven CAG-Basentripletts innerhalb der kodierenden Sequenz des Huntingtin-Gens (Huntington’s Disease Collaborative Research Group 1993). Nahe dem 5’-Ende dieses Gens ist bei gesunden Individuen das Triplett CAG, das für die Aminosäure Glutamin kodiert, 5- bis 26-mal wiederholt. BDG_neu.book Seite 1065 Mittwoch, 15. August 2012 9:16 09 Chorea Bei einer Verlängerung der Triplettsequenz auf 27 bis 35 Kopien (»intermediate allels«) besteht kein Risiko, an einer HD zu erkranken, allerdings kann es durch eine Instabilität dieser Allele bei den Nachkommen zu einer Verlängerung in den krankheitsauslösenden Bereich kommen. Man spricht daher bei diesen Allel-Größen von 27–35 auch von sog. »mutable alleles« (Potter et al. 2004). Liegen 36–39 Kopien vor, besteht ein geringes Risiko zu erkranken. Eine Verlängerung dieser Triplettsequenz auf über 39 Kopien führt über einen noch nicht genau bekannten Mechanismus zum »Zugewinn einer toxischen Funktion« des Proteins (»gain of function«) und damit zur Neurodegeneration und Erkrankung (zur Chorea-Genetik s. a. Kapitel N 1 »Molekulargenetische Diagnostik und Gentherapie«). Die verlängerte Triplettsequenz ist »instabil«, d. h. die Zahl der Tripletteinheiten nimmt häufig bei der Weitergabe von einer Generation zur nächsten zu. Dadurch erklärt sich das bereits vor vielen Jahren beschriebene Phänomen der »Antizipation«: das Manifestationsalter nimmt in nachfolgenden Generationen ab. Die pathologische Verlängerung der Triplettsequenz kann bei Mutationsträgern durch die PolymeraseKettenreaktion nachgewiesen werden (direkte DNA-Diagnostik). Vor einer genetischen Testung ist eine umfassende Beratung der zu testenden Person erforderlich. Diese sollte gemäß den internatonal gültigen Richtlinien durchgeführt werden (International Huntington Association and the World Federation of Neurology Research Group on Huntington’s Chorea 1994). Das Suizid- und DepressionsRisiko ist in der Phase der genetischen Testung hoch (Paulsen et al. 2005). Von einer Testung Minderjähriger wird generell abgeraten. Die Mitteilung des Testergebnisses sollte immer mündlich in einem persönlichen Gespräch mit einem in der HD-Behandlung erfahrenen Arzt erfolgen. I 7.2.2 Epidemiologie und Verlauf Die HD kommt weltweit mit einer Prävalenz von 3 bis 7/100 000 vor, wobei deutliche regionale Häufigkeitsunterschiede (»Cluster«) (Conneally 1984) bestehen. Auch gibt es Indizien dafür, dass die Prävalenz, zumindest in Europa, angesichts einer hohen Dunkelziffer etwa doppelt so hoch sein könnte (Spinney 2010). Die HD manifestiert sich typischerweise zwischen dem 35. und 44. Lebensjahr, die mittlere Überlebenszeit beträgt 15–18 Jahre (Bates et al. 2002). Bei etwa 2/3 der Patienten stehen zu Beginn der Erkrankung neurologische Symptome im Vordergrund. Typischerweise beginnt die Chorea mit einer leichten Bewegungsunruhe in den Fingern, an den Zehen, in der Gesichtsmuskulatur und am Rumpf. In Gesprächen mit Angehörigen lassen sich oft schon in Frühstadien Änderungen der psychosozialen Interaktion, v. a. Rückzugstendenzen, Interessenverarmung, Apathie, Ängste und Stimmungsschwankungen sowie eine vermehrte Reizbarkeit erfragen, die dem Auftreten der Bewegungsstörung um Jahre vorausgehen können. Bei etwa 1/3 der Patienten stehen zu Beginn psychiatrische Symptome (Wahn, Halluzinationen, Depression) ganz im Vordergrund. Insbesondere in der frühen Phase der Er- krankung sind Suizide und Suizidversuche häufig (Robins Wahlin et al. 2000). Im Verlauf der Erkrankung nimmt die Schwere der Chorea zunächst zu, Bradykinese, Dystonie und Gangstörungen treten jedoch ebenso wie Dysarthrie, Dysphagie stärker in den Vordergrund. Dies gilt auch für die Gedächtnisstörungen, frontale Störungen, räumlich-konstruktiven Fähigkeiten und Verhaltensänderungen. Die Patienten werden zunehmend reizbar, aufbrausend; psychosoziale Probleme nehmen zu, die körperliche Pflege wird vernachlässigt. Im Spätstadium sind die Patienten bettlägerig und inkontinent. Rigor, Bradykinese und Dystonie dominieren das Bild, während die Chorea meist abflaut. Das Sprechvermögen nimmt immer weiter ab, die Schluckstörungen zu, die Patienten verlieren an Gewicht. Durch die zunehmende Immobilisierung, Inkontinenz, die katabole Stoffwechsellage und eine Immunschwäche neigen die Patienten zu Infekten. Wegen der Schluckstörungen besteht die Gefahr einer Aspirationspneumonie. An diesen Komplikationen und häufig auch einer Herzinsuffizienz, die mit einer Ablagerung von Huntingtin im Herzmuskel zusammenhängen könnte, versterben die meisten Patienten (Lanska et al. 1988, van der Burg et al. 2009). Bei etwa 10 % der Patienten beginnt die Erkrankung vor dem 20. Lebensjahr (juveniler HD) (Bruyn und Went 1986). In diesen Fällen stehen ein hypokinetisch-rigides Syndrom und Dystonie, nicht die Chorea, im Vordergrund (Westphal-Variante). Daneben finden sich ebenfalls kognitive Störungen und Verhaltensauffälligkeiten. Auch zerebelläre Symptome, Myoklonus, epileptische Anfälle und Pyramidenbahnzeichen können auftreten. Die Okulomotorik ist bereits früh stark beeinträchtigt, wobei die Art der Störungen der erwachsener Patienten ähnelt. Bei Kindern mit juveniler HD liegt wesentlich häufiger eine paternale als eine maternale Vererbung vor (Went et al. 1984). Die CAG-Sequenzen der betroffenen Kinder sind oft wesentlich länger als die der Eltern (Rasmussen et al. 2000). Kinder können vor den Eltern erkranken, die das Gen tragen. Etwa ebenfalls 10 % der Patienten sind bei Erkrankungsbeginn bereits älter als 55 Jahre. Klinisch stehen Chorea und Gangstörung im Vordergrund, die kognitiven Einschränkungen sind geringer ausgeprägt. Bei diesen Patienten ist mit einem langsameren Fortschreiten der Erkrankung zu rechnen. Mutationsanalysen haben gezeigt, dass einige, aber nicht alle Fälle von »seniler Chorea«, die durch choreatische Bewegungsstörungen im höheren Lebensalter ohne deutliche kognitive Einbußen charakterisiert ist, ebenfalls durch eine Mutation im Huntingtin-Gen verursacht werden (Britton et al. 1995). Der größte Teil der Varianz von Erkrankungsalter und Verlauf wird durch das Ausmaß der Expansion des CAG-Tripletts im Huntington-Gen erklärt. Die Zahl der Tripletts zeigt eine umgekehrte Korrelation mit dem Erkrankungsalter (Duyao et al. 1993). Allerdings variiert das Manifestationsalter in einzel1065 I 7 BDG_neu.book Seite 1066 Mittwoch, 15. August 2012 9:16 09 Bewegungsstörungen Mithilfe klinischer, kognitiver und motorischer Tests, struktureller und funktioneller MRT und transkranieller Magnetstimulation lassen sich auch bei prä-symptomatischen Huntingtin Mutationsträgern, im Vergleich mit gesunden Kontrollprobanden phänotypische Muster identifizieren, die zukünftig als Verlaufsparameter bei Studien zur Neuroprotektion erheblich an Bedeutung gewinnen dürften (Kloppel et al. 2009, Schippling et al. 2009, Tabrizi et al. 2011). pie vermitteln diese genetische Beratung, psychosoziale Unterstützung der Familien und sozialmedizinische Hilfestellung. Die HD schneidet in alle Lebensbereiche ein und führt zu einem schmerzlichen Autonomieverlust, der umfangreiche Maßnahmen der sozialen Sicherungssysteme erfordert. Hilfestellung bei der Einleitung pflegerischer Maßnahmen und gegebenenfalls bei einer vormundschaftlichen Betreuung ist in der Behandlung eines Patienten mit HD oft wichtiger als die medikamentöse Therapie. Eine hochkalorische Diät ist in vielen Fällen erforderlich. Eine große Bedeutung kommen einer frühzeitigen Physio- und Logopädie zu. In späten Stadien ist es oft sinnvoll, eine PEG-Sonde zu legen. I 7.2.3 I 7.2.4.2 nen Individuen für eine gegebene Zahl von Tripletts zum Teil um mehr als 20 bis 30 Jahre, sodass eine Vorhersage des Erkrankungsalters im Einzelfall nicht möglich ist. Therapeutische Prinzipien Bislang gibt es keine Möglichkeit, den degenerativen Prozess der HD medikamentös zu beeinflussen. Die Therapie ist rein symptomatisch. Es gibt nur wenige randomisierte, kontrollierte Studien (Bonelli et al. 2006), in denen meist die Wirksamkeit von Neuroleptika untersucht wurde. Diese sind jedoch nur bei stark einschränkender Chorea angezeigt, da die den Neuroleptika assoziierten Nebenwirkungen gravierend sein können. Psychiatrische Symptome, insbesondere Depression und Impulskontrollstörung, lassen sich medikamentös oft gut beeinflussen, kognitive Störungen und Persönlichkeitsveränderungen hingegen nicht. I 7.2.3.1 Experimentelle Therapieverfahren, Neuroprotektion Derzeit gibt es keine wirksame neuroprotektive oder neurorestaurative Therapie. Verschiedene therapeutische Strategien werden in klinischen Studien überprüft. Das die Mitochondrienmembran stabilisierende Latrepirdin (Dimebon) () hat in einer ersten klinischen Studie zu verbesserten kognitiven Leistungen geführt (Kieburtz et al. 2010), eine größere multizentrische placebokontrollierte Studie findet gegenwärtig statt. Die Transplantation fetalen Gewebes in das geschädigte Striatum wurde in tierexperimentellen Modellen getestet () (Dunnett et al. 2004). Erste Studien zeigten zwar ein langjähriges Überleben dieses Gewebes im Gehirn von Patienten, jedoch nur sehr begrenzte klinische Effekte (Bachoud-Levi et al. 2006), was, zumindest teilweise, auf die fehlende Vernetzung der implantierten Zellen mit striatalen Zellen zurückgeführt wurde (Ross und Tabrizi 2011). Anlass zur Hoffnung geben Therapieansätze, die darauf zielen, krankheitsauslösende Allele abzuschalten bzw. die Produktion ihrer Genprodukte zu verringern (Johnson und Davidson 2010). Die tiefe Hirnstimulation () ist bislang erst bei wenigen HD-Patienten erprobt worden. Es werden vornehmlich Dopamin-Antagonisten eingesetzt (Tab. I 7.2). Trotz unbefriedigender Studienlage gilt der D2-Antagonist Tiaprid (, A) in Deutschland als Medikament der ersten Wahl. Alternativ bietet sich das mittlerweile in Deutschland zur Behandlung der HD zugelassene Tetrabenazin (, A) an (Huntington Study Group 2006), nach einer jüngeren Cochrane Analyse das einzige erwiesenermaßen gegen eine Chorea wirksame Medikament (Mestre et al. 2009). Hierunter kommt es allerdings nicht selten zu einer klinisch bedeutsamen Depression, zu Angst und Schlafstörungen sowie zur Verschlechterung des Gangs oder zum Auftreten bzw. zur Verschlechterung von Parkinson Symptomen. Bei unzureichender Wirkung kann auch eine Behandlung mit Sulpirid (, B) erwogen werden (Quinn und Marsden 1984), da dies nicht nur zu einer Verbesserung der Chorea führen kann, sondern auch antidepressiv und gelegentlich gut gegen Zwangsverhalten wirkt. An weiteren Neuroleptika bieten sich Haloperidol (, C), Pimozid (, C) und Olanzapin (, B) an (Bonelli et al. 2002, 2006). Letzteres kann sich auch günstig auf eine Impulskontrollstörung auswirken. Aripiprazol (, C), ein partieller D2-Agonist, war in einer kleineren Studie dem Tetrabenazin nicht unterlegen, rief jedoch weniger Müdigkeit hervor (Brusa et al. 2009). In fortgeschrittenen Stadien, wenn trotz Behandlung mit Dopamin-Antagonisten die Chorea sehr stark ausgeprägt ist und die Patienten psychomotorisch sehr unruhig sind, kann eine Kombination mit Benzodiazepinen (B) nützlich sein (Shoulson et al. 1986). I 7.2.4.3 Pragmatische Therapie I 7.2.4.1 Allgemeine Maßnahmen Entscheidende Schnittstelle bei der Betreuung sind HD-Spezialsprechstunden, von denen die meisten in das europäische HD-Netzwerk eingebunden sind (Adresse s. u.). Neben der medikamentösen Thera1066 Behandlung akinetisch-rigider Symptome Bei akinetisch rigiden Verlaufsformen kann ein Therapieversuch mit L-Dopa (, B) unternommen werden. Allerdings ist das »therapeutische Fenster« in der Regel klein. I 7.2.4.4 I 7.2.4 Behandlung der Chorea Behandlung von psychiatrischen Symptomen und kognitiven Störungen Bei Depression bietet sich Sulpirid (, B) an, das oft auch zu einer Verbesserung der Chorea führt. Da es aufgrund der anticholinergen Wirkung von trizyklischen Antidepressiva zu einer Exazerbation der Chorea und der kognitiven Störungen