MEDIZINETHISCHE MATERIALIEN GERIATRISCHE FORSCHUNG UND ETHIK IN DER MEDIZIN Heft 69 Hans-Martin Sass September 1991 1 GERIATRISCHE FORSCHUNG UND ETHIK IN DER MEDIZIN Medizinischer Fortschritt ist etwas großartiges: technisch und kulturell, medizinisch und ethisch. Wissenschaft, Werkzeuge und Maschinen sind die Bedingung der Möglichkeit unserer modernen Zivilisation und Kultur, auch der Medizin. Forschung hat uns von den Launen der Natur unabhängiger gemacht, auch von viel Not, Last und Krankheit. Der Fortschritt ist ethisch gut, aber je leistungsfähiger Technik und Wissenschaft werden, umso mehr bedürfen sie einer ethischen, kulturellen und gesellschaftlichen Rechtfertigung, auch einer Diskussion um ihre Grenzen. Technikfolgenabschätzung ist die Bedingung der Möglichkeit verantwortlichen Technikeinsatzes und verantwortlicher Technikforschung; das geht nicht ohne Ethik. Technische Expertise ohne Ethik ist blind, weil sie oft die Ziele nicht identifizieren kann; Ethik ohne technische Expertise ist stumpf, weil ihr die Mittel fehlen, dem Mitmenschen, vor allem dem leidenden, dem alten und dem hilfsbedürftigen, zu helfen. Ethik und Expertise gehören zusammen; das gilt auch in der Medizin und beim Ausmessen des Fortschritts der medizinischen Wissenschaften. Das Bündnis mit den Naturwissenschaften hat den Fortschritt der Medizin in den letzten 100 Jahren geprägt. Von heutigen Stand des medizinischen Könnens ausgehend, möchte ich die These vertreten, dass das Design künftiger Forschung in der Geriatrie in eben dem Maße von der Integration der geistes- und wertwissenschaftlichen Forschung in die Medizin abhängen wird, wie der Fortschritt der Medizin, auch die Autorität des ärztlichen Handelns, in den letzten 100 Jahren von der Integration der naturwissenschaftlichen Forschung geprägt war. ETHISCHE WÜRDIGUNG DER MEDIZINISCHEN FORSCHUNG UND DES TECHNISCHEN FORTSCHRITTS Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Ich gehöre nicht zu denen, die den technischen Fortschritt pauschal kritisieren. Im Gegenteil! Jahrtausendelang haben Mitmenschen vergeblich gehofft und gebetet, von Schmerzen und Krankheiten befreit zu werden, die zu heilen oder lindern uns heute ein leichtes ist. Jahrtausendelang haben Ärzte an ihrer Unfähigkeit und Hilflosigkeit gelitten, Krankheiten nicht immer erkennen, Infektionen nicht kontrollieren oder Geschwüre nicht operieren zu können. Was bedeutet beispielsweise die Möglichkeit des Gelenkersatzes für die Mobilität und die Schmerzfreiheit, also insgesamt die Bereicherung der Lebensqualität von älteren Mitbürgern? Und es gibt noch vieles zu tun. Wer um die Grenzen des medizinisch und technisch Machbaren weiß, in der Onkologie und in der Psychiatrie, um die Grenzen der Intervention bei der Demenz und Multimorbidität älterer Patienten, der ist zurückhaltend in der pauschalen Forderung nach Behinderungen, 1 Retardierungen oder gar Verboten medizinischer Forschungen. ,,Loosing One Million Minds": wir verlieren eine Million Köpfe, ist der Titel der erschütternden Studie des Office of Technology Assessment des US Kongresses über den Stand der Forschungen zum Morbus Alzheimer. Das sind eine Million Einzelschicksale, Familienschicksale; der Forschungsbedarf ist unübersehbar. Wir haben in der Tat dankbar zu sein, dass die Medizin heute auf so vielen Gebieten helfen kann. Anästhesie und Antibiotika, diese beiden Durchbrüche allein haben Millionen von Menschenleben gerettet, Millionen von Siechtum und Schmerzen befreit, ihnen zu längerem Leben und besserer Lebensqualität verholfen. In Thomas Mann's ,,Zauberberg“ können wir noch nachlesen, wie die Reichen in den Schweizer Sanatorien in Luxus an Tuberkulose dahinsiechten, während die Armen in ihren Hütten zuhause starben und ihre Familienmitglieder ansteckten; heute beseitigen schon ein paar Röhrchen Antibiotika nicht nur diesen Unterschied zwischen Arm und Reich, sondern bringen völlige Heilung denen, die bis dahin einen sicheren und scheußlichen Tod zu erwarten hatten. Zusammen mit besseren Lebensverhältnissen, besserer Bildung, besserer Nahrung und gesünderen Arbeitsplätzen hat sich die Lebenserwartung seit dem 19. Jahrhundert fast verdoppelt. Menschen leben länger, aber sie können nicht ewig leben. Und hier ist die Medizin, auch die medizinische Forschung gefragt Schwerpunktsetzungen angesichts ihrer bisherigen Erfolge neu zu konzipieren. Die ewige Jugend ist und bleibt ein Traum, auch wenn unsere heutige Kultur das verdrängen will. Deshalb ist es sicher nicht die höchste und heiligste Aufgabe der Medizin, den Patienten im technischen Sinne so lange wie möglich am Leben zu halten, wohl aber fordert die Ethik in der Medizin, den Menschen so lange wie möglich im Leben zu halten, ihre oder seine Lebenswürde zu achten, Lebensqualität zu erhalten und zu helfen, dass Lebensfreude, auch soziale Integration erhalten bleiben können, altersspezifisch und auch angesichts von Grenzen des medizinisch-technisch Machbaren. Und das bringt uns zu einer differenzierteren ethischen Diskussion der Fortschritte von Geriatrie und geriatrischer Forschung. ETHISCHE HERAUSFORDERUNGEN IN DER GERIATRIE Klinische Geriatrie und Altersforschung sind erst ein Ergebnis der erwähnten großartigen medizinischen und sozialen Fortschritte in unserem Jahrhundert. Geriatrische Medizin in größerem Umfang und in größerer Subspezialisierung werden erst möglich und notwendig seit sich der Anteil der über 65 Jahre alten Mitbürger von 4,4 % im Jahre 1871 auf 15,3 % im Jahre 1987 erhöht hat. Heute haben wir in der Bundesrepublik Deutschland über 12 Millionen älterer Mitbürger mit einem besonders schnell wachsenden Anteil der Älteren 2 und sehr Alten. Das hat Konsequenzen für die Veränderung des Versorgungs- und Forschungsbedarfs. Der Anteil der multimorbiden und dementen Patienten steigt prozentual und in echten Zahlen. Die Häufigkeit von Demenz verdoppelt sich vom siebten zum achten Lebensjahrzehnt von 5 % auf 10 % und vom achten zum neunten Jahrzehnt abermals vom 10 % auf 20 % aller Fälle; bei den Mitbürgern in den Neunzigern liegt er, wie Sie wissen, bei über 30 %. Wo liegt die ethische Herausforderung in der Geriatrie heute und bei Identifizierung der Forschungsschwerpunkte für die Zukunft? Die Weltgesundheitsorganisation formuliert in der Präambel zu ihrer Satzung, dass Gesundheit nicht einfach die Abwesenheit von Krankheit sondern ein Zustand völligen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens sei. Richtig an diesem sehr hohen Anspruch bei der Definition von Gesundheit ist das ganzheitliche, individualisierte und humanistische Verständnis von der Gesundheitsmündigkeit des Bürgers und der Aufgabe des Arztes, die Krankheit nicht als schlichte Betriebstörung zu begreifen und die medizinische Intervention nicht auf die gleiche Stufe wie den Service eines Ölwechsels herabzustufen. Kritisch ist aber anzumerken, dass die WHO den Gesundheitsbegriff nicht alterspezifisch differenziert. Ebenso wenig wie die Unbekümmertheit des spielerischen Wohlbefindens eines Kindes der Maßstab für Wohlbefindenskriterien beim verantwortungspflichtigen und auf dem Höhepunkt seiner körperlichen und geistigen Belastbarkeit stehenden Erwachsenen ist, dürfen wir einen undifferenzierten Wohlbefindensbegriff für das Alter gelten lassen. Wir sollten darauf bestehen, dass das Alter nicht durch reduzierte, sondern durch modifizierte Formen von Lebensqualität gekennzeichnet ist. Dieser Unterschied zwischen Reduktion und Modifikation von Bedürfnissen, Fähigkeiten und Interessen ist aber heute nicht so leicht einsehbar. Unsere Zeit hat nicht nur die Ehrfurcht vor dem Alter verloren, sie hat auch das Verständnis für die altersspezifischen Tugenden und Lebensleistungen der Reife, der Erfahrung und der Güte verloren und misst das Alter zu Unrecht an den körperlichen Leistungen der Dreißig- und Vierzigjährigen. Der Verlust des Verständnisses der individuellen und medizinischen Eigenständigkeit und Eigenwertigkeit ist kulturbedingt; er ist kein Fehler der Medizin. Wir alle leiden darunter, ethisch, gesellschaftlich, auch ökonomisch, auch bei den falschen Ansprüchen und bei falschen Rezepturen einer altersgerechten Medizin und Pflege. Aber kulturelle Moden und Vorlieben ändern sich nur langsam und schwerfällig. Ich denke, hier hat die klinische Geriatrie auch eine öffentliche, eine aufklärerische und gegensteuernde Funktion angesichts der kulturellen Modepräferenzen unserer Zeit. Wer rastet, der rostet, sagt der Volksmund. Zur Kunst des Lebens gehört auch die Kunst alt werden 3 zu können; und zur mitmenschlichen Solidarität in unserer Gesellschaft gehört, unsere älteren Mitbürger in Würde alt sein zu lassen. Die Arbeit an einer alterspezifischen Modifikation und Differenzierung des undifferenzierten Gesundheitsbegriffs der WHO ist ein wichtiges Forschungsdesiderat, das eine Integration der Wertwissenschaften in die geriatrische Forschung nötig macht. Was wäre der Inhalt eines neuen differenzierten Begleitkonzepts für den älteren Mitbürger, ein Pflege- und Begleitkonzept, das Differentialdiagnose und Differentialethik integriert? Ich sage absichtlich Begleitkonzept und nicht Therapiekonzept, weil es sich bei Vorliegen von Demenz und Multimorbidität nicht um die völlige Wiederherstellung körperlicher oder geistiger Funktionen, um Heilung, handeln kann. Gehört zu dieser Begleitung unter der Verantwortung des klinischen Geriaters nicht auch das alterspezifische und an den Interessen des Patienten orientierte Training der Plastizität körperlichbiologischer, vor allem auch mentaler und sozialer Fähigkeiten: Befriedigung der Neugierde, Freude an der Diskussion oder am Basteln, Hören von Musik, Sehen von Farben und Bewegungen, aktive Begegnung mit anderen Menschen, mit Kindern, mit der Natur, mit Tieren, auch die dankbare Anerkennung erbrachter Leistungen und übernommener Pflichten, und seien sie noch so unbedeutend und noch so schlecht durchgeführt. Wo Gesundmachen nicht mehr geht im Sinne der uns in der hochtechnisierten Medizin inzwischen geläufig gewordenen akuten Krisenintervention mit Rehabilitationserfolg, da transformiert sich der medizinische Auftrag zum Heilen in die treuhänderische und gütige Begleitung und in die mitmenschliche Zuwendung, Schwerpunktsetzungen von in die Unterstützung Lebensqualität und individuell Lebensfreude, von verschiedener Mobilität und Kommunikation. Solche Fragen werden im Zentrum künftiger interdisziplinärer und patientenorientierter geriatrischer Forschung stehen werden. INTEGRATION MEDIZINISCHER ETHIK UND EXPERTISE Wir haben im Bochumer Zentrum für Medizinische Ethik im Rahmen eines interdisziplinären Projektes zur Verbesserung einer patientenorientierten Diagnostik und Therapie den inzwischen in mehr als ein halbes Dutzend Weltsprachen übersetzten Bochumer Arbeitsbogen für die medizinethische Praxis entwickelt und vielfältig getestet. Dieser Bochumer Arbeitsbogen ist ein diagnostisches Instrument für die Hand des Arztes, eine weltanschaulich offene Frageliste, die aber in bezug auf den verpflichtenden Charakter der in ihm aufgenommenen ethischen Prinzipien ethisch nicht neutral ist. Wir gehen bei der Integration von technischer und ethischer Diagnostik in der Behandlung des Einzelfalls in drei 4 Schritten vor. Zunächst unterscheiden wir ausdrücklich zwischen der Erhebung der ethischen und der technischen Fakten und stellen die Befunde der Differentialdiagnose und der Differentialethik in einem ersten und zweiten Schritt parallel nebeneinander. Für die ethische Diagnose wird vor allem die Beachtung der Kriterien: Gesundheit und Wohlbefinden, Selbstbestimmung des Patienten und ärztliche Verantwortung gefordert. In einem dritten Schritt werden dann die Behandlungsoptionen unter technischen wie ethischen Aspekten diskutiert; dabei wird den ethischen Aspekten ein letztes Wort eingeräumt. Optimierung der Entscheidungsfindung durch die Beiziehung von ethischen Beratern, wie das ja bei technischen Fragestellungen in der Medizin völlig geläufig ist, wird ebenso diskutiert wie die Frage einer Überweisung des Patienten aus technischen oder ethischen Gründen. Weiterhin werden im einzelnen die Pflichten der Beteiligten und die technischen und ethischen Voraussetzungen für eine Intervention diskutiert. Eine letzte Fragengruppe gilt dann Überprüfung und Erhärtung der Entscheidung und der Sicherstellung ihrer periodischen Überprüfung. Da ethische wie technische Daten sich in Laufe einer Krankheitsgeschichte ändern, sind auch die ethischen Kriterien periodisch oder ad hoc bei Veränderungen von ethischer Relevanz neu zu überprüfen. Das Verfahren der einmaligen Beratung von generellen ethischen Problemen in einer Ethikkommission für die forschende Medizin zur Bewertung des ethischen Designs und der ethischen Risiken des Versuchsmodells beispielsweise lässt sich auf die aktuelle Patientenbetreuung kaum anwenden, weil hier eine ständige Integration der ethischen in die laufenden und sich ändernden klinische Entscheidungen, kein einmaliges Plazet gefordert ist. Durchgehend verlangt der Arbeitsbogen, dass die benutzten Begriffe detailliert und differenziert, klar und präzise sind, - eine Forderung, die in der medizinischtechnischen Differentialdiagnose selbstverständlich, in der medizinisch-ethischen Diagnose aber oft zu wünschen übrig lässt. WERTANAMNESE UND PATIENTENORIENTIERTE QUALITÄTSKONTROLLE MEDIZINISCHER INTERVENTIONSKONZEPTE Diese standardisierte Frageliste lässt sich auch in der Geriatrie gut anwenden; wir haben vor zwei Jahren ein erstes Symposium dazu durchgeführt. Solange ein sinnvolles Gespräch mit dem Patienten möglich ist über ihre oder seine individuelle Konzeption von Lebensqualität und Interventionszielen, solange ist die differentialethische Befunderhebung in Partnerschaft mit dem Patienten gerade angesichts der eingeschränkten Interventionsmöglichkeiten in der Altersmedizin unerlässlich, auch angesichts der Notwendigkeit, die Intervention an Lebensqualitätskriterien des Patienten differenziert zu 5 orientieren und nicht einfach isoliert das Kniegelenk oder die Niere, den Diabetes mellitus oder den Bluthochdruck, beginnende Angst- oder Depressionszustände zu behandeln. In ein patientenzentriertes Interventionskonzept gehört auch die Abwägung bevorzugter Interventionen für individuell geprägte Lebensqualitäten. Es mag sein, dass Patienten bisherige Interessen und Aktivitäten nur mit Schwierigkeiten und verminderter Leistung wahrnehmen können, das Klavierspielen bei fortschreitender Arthrose beispielsweise. In diesem Fall würde die Wertanamnese eine bevorzugte Intervention bei der Bekämpfung der Arthrose nahe legen, die mit der hier indizierten Aggressivität bei einem anderen Fall nicht begründet werden könnte und daher auch nicht zu verantworten wäre. Die weitgehende Ermöglichung der Realisierung von Inhalten von Lebensqualität, die dem Persönlichkeitsprofil des älteren Mitbürgers und seinem oder ihrem Wunsch entsprechen, ist ohne diese Integration differentialethischer Kriterien in eine umfassendere, nicht nur medizinisch-technisch ausgerichtete Differentialdiagnose und Prognose nicht möglich. Das gilt im Falle einer sich anbahnenden Depression auch für die. Umleitung von beginnenden resignativen Verhaltensweisen in Formen von konstruktiver Resignation, oder auch die Aufgabe des Klavierspiels und die Intensivierung des Musikhörens, die Teilnahme an einer Bastelgruppe oder die Leitung und Gründung einer Kleingruppe von Musikliebhabern Auch Formen der Angst und der Suizidalität lassen sich in einem solchen umfassenden, den Patienten als werte- und interessenbezogener Persönlichkeit ansprechenden integrierten Begleit- und Therapiekonzept behandeln. Aber die direkte Anwendung des Bochumer Arbeitsbogens versagt bei einem harten Kern von geriatrischen Fällen, dazu gehören viele gerontopsychiatrische Fälle. Weitere naturwissenschaftlich konzipierte Forschungen in der Neurologie und Neuroendokrinologie sind daher ganz unerlässlich, auch auf dem Gebiet der Demenz, beim Alzheimer und beim Parkinson. Aber selbst sensationelle Forschungserfolge auf dem Gebiet des Verstehens und Beeinflussens des Hirnstoffwechsels wurden weder Morbidität und Multimorbidität noch Mortalität von uns Menschen beseitigen können. Was geschieht mit den von unserem Bochumer Arbeitsbogen so sorgfältig aufgestellten medizinethischen Prinzipien, wenn die Kommunikation mit dem Patienten nicht mehr möglich oder verzerrt ist, wenn sie nur noch in Zuständen von Angst, Aggression oder Depression oder bei zerbröckelndem oder verzerrtem Raum- und Zeitbewusstsein auch großem körperlichen Unwohlseins und geistiger Müdigkeit erfolgt, wenn also der Grundpfeiler des partnerschaftlich von Arzt und Patient gemeinsam zu erstellenden Therapie- und Begleitkonzepts abbricht. Dann sind wir als Mediziner und Ethiker mit der Spannung zwischen Heteronomie und Autonomie, zwischen Bevormundung und 6 Selbstbestimmung konfrontiert. Immanuel Kant hat die heteronome Bevormundung als sittlich unakzeptabel kritisiert, weil sie der Wurde der selbstverantwortlichen, sowohl verantwortungsfähigen wie auch verantwortungspflichtigen Persönlichkeit widerspreche. Mit gutem Recht und mit großem emanzipatorischen Engagement kritisieren wir Gesellschaften, in denen Selbstbestimmung (Autonomie) mit Fußen getreten und durch das fremde Gesetz (Heteronomie) ersetzt wird. Wir sind auch faszinierte Beobachter der Tatsache, dass totalitäre Systemen, die auf Heteronomie aufgebaut waren, zu Staub zerbröseln und in sich zusammenfallen wie morsche Bäume ohne inneres Leben. In der medizinischen Ethik sind wir stolz auf die Ersetzung von bevormundenden paternalistischen Modellen im ArztPatienten Verhältnis durch die einer partnerschaftlichen und auf der Gesundheitsmündigkeit des Bürgers auch in der Rolle des Patienten basierende Kommunikation zwischen Arzt und Patient. Für die Auflösung der Spannung zwischen Autonomie und Heteronomie in der geriatrischen Medizin sehe ich keinen Königsweg, keine wasserdichte ethische Ideallösung, kein Patentrezept. Aber ich sehe einige schmale Wege die ethisch und medizinisch wenig akzeptablen Formen eines nur technischen Umgangs mit dem sehr alten und sehr dementen Mitbürger zu verändern. Lassen Sie mich abschließend drei solcher Wege einer verantwortlichen Fremdbestimmung kurz erwähnen: (1) die selbstverständliche Integration von differential-ethischen Aspekten in die Diagnose des Einzelfalls, in die Planung und Durchführung klinischer Forschungen und in den medizinischen Unterricht und die Fortbildung; (2) die Entwicklung von stationsinternen Formen ethischer Qualitätssicherung medizinischtechnischer Interventionen, die Einrichtung von stationsinternen Ethikkommissionen oder routinemäßigen Mitarbeiterbesprechungen, (3) die Erstellung und Fortschreibung von Wertanamnesen gemeinsam mit dem Patienten schon bei nichtakuten Vorsorgeuntersuchungen und Routinearztbesuchen, die dann später hilfsweise für Interventionsentscheidungen herangezogen werden könnte. Für den ersten Punkt wäre eine möglichst verbindliche Integration von praxis- und patientenorientierter medizinischer Ethik in den medizinischen Unterricht und in die medizinische Fortbildung wichtig; das ist auch schon vielfach gefordert worden. Und was den zweiten Punkt, die stationsinterne Ethikkommission betrifft, die nicht Forschungsprojekte akzeptieren, sondern Patientenbetreuung optimieren soll, so glaube ich, dass diese in informeller Form heute schon verbreiteter sind, als wir meinen; die Diskussionen in den Stationsküchen und bei offiziellen und inoffiziellen Teambesprechungen gehören dazu, auch wenn wir dafür nicht den hochtrabenden Namen „Ethik“-Kommission benutzen. Ich kann mir 7 auf problemintensiven und stressintensiven Stationen, zu denen auch viele in der Geriatrie gehören, keine verantwortliche Führung vorstellen, die nicht auch zur Qualitätssicherung von Behandlung und zur Motivation der Mitarbeiter beiträgt durch die differentialethische Fallanalyse und die Diskussion über die nichttechnischen, die wert- und persönlichkeitsbezogenen Kriterien der Stationsarbeit. Gerade wo uns keine Hinweise des Patienten oder der Familie über die dem Patienten angemessenste Intervention vorliegen, ist die klinische Qualitätskontrolle, welche die Differentialethik mit integriert, der einzige Weg, den Patienten als Person und Mitmenschen ernst zu nehmen und ihn in seiner oder ihrer Menschenwürde zu respektieren. Was den dritten Punkt, die Wertanamnese, betrifft, so haben wir am Bochumer Zentrum für Medizinische Ethik ein Projekt begonnen, das Modelle einer nichtakuten partnerschaftlichen Aufstellung und Fortschreibung solcher Hilfsmittel erarbeiten soll. Der effektivste Ort für die Aufstellung solcher Wertanamnesen wären Vorsorgeuntersuchungen, die ja Risikofaktoren erkennen und prospektiv und präventiv Konsequenzen daraus diskutieren sollen. Aber keiner der mir bekannten Bögen für diese Untersuchungen hat Platz für lebensstilrelevante und wertorientierte Informationen, die festzuhalten und fortzuschreiben wären und auf die wir in der akuten Situation beim komatösen Unfallopfer oder in späten Stadien von degenerativen Erkrankungen hilfsweise zurückgreifen könnten. Einige der partnerschaftlich mit dem Patienten aufzustellenden Wertanamnesen werden über die Jahre stark schwanken, dann sind sie von geringerem prognostischen Wert. Andere werden relativ stabil sein und bekommen damit eine stärkere Autorität. Für die Not- und Unfallsituation konzipiert, sind diese Wertanamnesen auch in der Geriatrie nutzbar, vor allem bei Multimorbidität und fortgeschrittener Demenz. Nicht nur die Einstellung des Patienten zu intensivmedizinischen und reanimierenden Interventionen, sondern auch zu Fragen der Zwangsernährung in der geriatrischen Psychiatrie, des Interesses an aggressiver und intensiver Intervention bei zu erwartender fortgeschrittener Multimorbidität und hochgradiger Demenz werden benutzbar sein zum Entwerfen individuell formulierter Pflege-, Begleit- und Therapieprogramme. GERIATRISCHE ETHIK: 6 REGELN FÜR DEN ARZT UND 6 REGELN FÜR DEN PATIENTEN Ich fasse das vorgestellte Konzept einer patientenorientierten geriatrischen Versorgung und Pflege und einer zukunftsorientierten geriatrischen Forschung zusammen, indem ich 8 12 Regeln der geriatrischen Ethik zur Diskussion stelle; sie bedürfen einer Überprüfung in der klinischen Praxis. SECHS REGELN FÜR DEN ARZT: 1. Behandele Deinen Patienten stets so, dass die Maximen Deines Handelns sich an den Maximen und an den Kriterien von Lebensqualität orientieren, die Dein Patient formuliert. 2. Verwende in der Diagnose die gleiche Sorgfalt zur Ermittlung des „Wertbildes“ Deines Patienten wie es Dir bei der Ermittlung des „Blutbildes“ selbstverständlich ist. 3. Entscheide partnerschaftlich mit dem Patienten nach einem einheitlichen, individualisierten, patientenorientierten Konzept über Einsatz oder Verzicht spezieller Interventionen. 4. Hilf Deinem Patienten beim Aufstellen von Wertanamnesen, aus denen sich auch allgemeine oder differenzierte Regeln für Interventionen bei Demenz oder Multimorbidität ableiten lassen. 5. Berücksichtige bei der Behandlung von nicht mehr geschäftsfähigen Patienten vorliegende Wertanamnesen und Informationen aus der Familie und dem Freundeskreis über Lebensgeschichte und Wertvorstellungen des Patienten. 6. Wenn Du direkt oder indirekt den Behandlungswunsch des Patienten nicht erkennst, dann sichere eine Pflege, auch nach Konsultation von Kollegen oder klinischen Ethikkommissionen, bei der Kriterien wie Schmerzfreiheit und Kommunikation Vorrang vor dem Einsatz aller möglichen lebensverlängernden Maßnahmen haben. SECHS REGELN FÜR DEN PATIENTEN: 1. Verstehe und erfahre, dass das Alter sich nicht durch eine reduzierte, sondern durch eine modifizierte Lebensqualität von früheren Lebensstufen unterscheidet. 2. Finde Deine eigenen Kriterien für eine erfüllte Lebensqualität im Alter, die Deinen Bedürfnissen, Anlagen, Interessen und Möglichkeiten entsprechen; wer rastet, der rostet. 3. Informiere Dich über die Möglichkeiten und die Grenzen geriatrischer Medizin, speziell über diejenigen Hilfen, die es Dir erlauben, eigene Interessen und Bedürfnisse zu erfüllen. 4. Diskutiere mit Familie und Freunden Deine Vorstellungen für ein erfülltes Alter. Führe Gespräche mit Deinem Arzt zur Erstellung langfristiger Interventionsmodelle, die Deinen Bedürfnissen und Wertvorstellungen entsprechen. 9 5. Erwarte von der Geriatrie Hilfe bei der Sicherung individuell gestalteter altersspezifischer Lebensqualität, aber nicht die ewige Jugend. 6. Erwarte von der Geriatrie Pflege und Beistand im Alter und im Sterben, aber nicht den Sieg über Gebrechlichkeit und Tod. Die Probleme der medizinischen und menschlichen Pflege unserer älteren Mitbürger sind komplexer und schwieriger als uns das die aktuelle Diskussion um die Pflegefinanzierung glauben machen lässt. Geld ist nicht alles; mehr Geld kann konzeptionelle Überlegungen nicht ersetzen, manchmal sogar verhindern, weil es ihre Dringlichkeit verschleiern hilft. Bei der Entwicklung eines umfassenden geriatrischen Forschungs- und Behandlungskonzept erscheint die philosophische und theologische Ethik nicht als die Königin der Wissenschaft, welche schon die fertigen Antworten hat, nicht die regina medicinae, sondern als eine Servicedisziplin, die dem Fachmann, dem geriatrischen Internisten, dem geriatrischen Psychiater und Endokrinonolgen und Chirurgen hilft, die richtigen und die immer besseren Fragen zu stellen; die medizinische Ethik ist die ancilla medicinae. Fortschritte in der Ethik, wie in allen Wissenschaften, auch in der Medizin, bestehen zunächst einmal im Fragenstellen und Fragenkönnen. VERHALTENSREGELN IN DER GERIATRISCHEN ETHIK FÜR DEN ARZT 1. Behandele Deinen Patienten stets so, dass die Maximen Deines Handelns sich an den Maximen und an den Kriterien von Lebensqualität orientieren, die Dein Patient formuliert. 2. Verwende in der Diagnose die gleiche Sorgfalt zur Ermittlung des „Wertbildes“ Deines Patienten wie es Dir bei der Ermittlung des „Blutbildes“ selbstverständlich ist. 3. Entscheide partnerschaftlich mit dem Patienten nach einem einheitlichen, individualisierten patientenorientierten Konzept über Einsatz oder Verzicht spezieller Interventionen. 4. Hilf Deinem Patienten beim Aufstellen von Wertanamnesen, aus denen sich auch allgemeine oder differenzierte Regeln für Interventionen bei Demenz oder Multimorbidität ableiten lassen. 5. Berücksichtige bei der Behandlung von nicht mehr geschäftsfähigen Patienten vorliegende Wertanamnesen und Informationen aus der Familie und dem Freundeskreis über Lebensgeschichte und Wertvorstellungen des Patienten. 10 6. Wenn Du direkt oder indirekt den Behandlungswunsch des Patienten nicht erkennst, dann sichere eine Pflege, auch nach Konsultation von Kollegen oder klinischen Ethikkommissionen, bei der Kriterien wie Schmerzfreiheit und Kommunikation Vorrang vor dem Einsatz aller möglichen lebensverlängernden Maßnahmen haben. FÜR DEN PATIENTEN 1. Verstehe und erfahre, dass das Alter sich nicht durch eine reduzierte, sondern durch eine modifizierte Lebensqualität von früheren Lebensstufen unterscheidet 2. Finde Deine eigenen Kriterien für eine erfüllte Lebensqualität im Alter, die Deinen Bedürfnissen, Anlagen, Interessen und Möglichkeiten entsprechen; wer rastet, der rostet. 3. Informiere Dich über die Möglichkeiten und die Grenzen geriatrischer Medizin, speziell über diejenigen Hilfen, die es Dir erlauben, eigene Interessen und Bedürfnisse zu erfüllen. 4. Diskutiere mit Familie und Freunden Deine Vorstellungen für ein erfülltes Alter. Führe Gespräche mit Deinem Arzt zur Erstellung langfristiger Interventionsmodelle, die Deinen Bedürfnissen und Wertvorstellungen entsprechen. 5. Erwarte von der Geriatrie Hilfe bei der Sicherung individuell gestalteter altersspezifischer Lebensqualität, aber nicht die ewige Jugend. 6. Erwarte von der Geriatrie Pflege und Beistand im Alter und im Sterben, aber nicht den Sieg über Gebrechlichkeit und Tod. 11 ZUSAMMENFASSUNG: Fortschritte in der Medizinischen Forschung, vor allem auch in der Geriatrie sind von hohem ethischen Wert; es wird die These vertreten, dass künftig die Wertwissenschaften in der medizinischen Forschung eine ähnlich einflussreiche Rolle zu spielen haben, wie das für die Naturwissenschaften in den letzten 100 Jahren galt. Ein patientenorientiertes und geriatrisches Konzept wird gefordert, in das Regeln geriatrischer Ethik integriert sind; es werden sechs Regeln für den Arzt und sechs Regeln für den Patienten vorgestellt. 12