Brief für Korrespondenz - IV-Stellen

Werbung
IV-STELLEN-KONFERENZ  CONFERENCE DES OFFICES AI  CONFERENZA DEGLI UFFICI AI  CONFERENZA DILS UFFIZIS AI
Das Kreuz mit psychiatrischen Diagnosen
Prof. Dr. Wulf Rössler, Universität Zürich
In der Bevölkerung gibt es ein tief verwurzeltes Misstrauen nicht nur gegenüber psychisch Kranken
sondern auch gegenüber den Diensten und Einrichtungen, die psychisch kranke Menschen
betreuen und behandeln. Zusätzlich befürchten viele Menschen, dass normales Verhalten
vorschnell pathologisiert wird.
Wie tief dieses Misstrauen sitzt, wurde kürzlich deutlich, als eine Revision des amerikanischen
Klassifikationssystems DSM 5 vorgestellt wurde, wo teilweise neue psychiatrische Diagnosen
eingeführt oder die diagnostische Schwelle für einige Diagnosen abgesenkt wurde. Die öffentliche
Empörung fand ihren Ausdruck in zahlreichen Artikeln und Stellungnahmen in den Massenmedien
ob der zu erwartenden Inflation psychiatrischer Diagnosen und der damit einhergehenden
Psychiatrisierung der Bevölkerung.
Bei oberflächlicher Betrachtung hat tatsächlich in den letzten Jahrzehnten die Zahl psychiatrischer
Diagnosen enorm zugenommen. Zugegeben, es besteht eine gewisse Willkür der psychiatrischen
Experten. Psychiatrische Diagnosen haben i.d.R. kein somatisches Substrat. Demzufolge gibt es
auch keine Labortests, die eine Diagnose verifizieren. Alle neurowissenschaftlichen oder sonstigen
differentialdiagnostischen Erkenntnisse beruhen auf Gruppenunterschieden mit einer breiten
Überlappung zwischen gesund und krank. Eine präzise Zuordnung zu den Kategorien „gesund“ oder
„krank“ ist nicht möglich. Psychiatrische Diagnosen werden deshalb bis heute ausschliesslich
klinisch gestellt.
Was aber in den vergangenen Jahrzehnten versucht wurde, war, gestörtes Verhalten präziser zu
beschreiben, was eine Unterteilung bestehender Diagnosen zur Folge hatte. Damit war die
Vorstellung verknüpft, dass sich präziser beschriebene Krankheitsbilder auch zielgenauer
behandeln lassen. Diese Hoffnungen haben sich nur teilweise erfüllt.
Jedenfalls lässt sich menschliches Verhalten nicht einfach erfinden und mit neuen psychiatrischen
Diagnosen etikettieren. Hingegen ist die Grenze zwischen gesund und krank Gegenstand
fortdauernder Diskussionen, nicht viel anders als in der Körpermedizin. Ab welchen Werten genau
sprechen wir von einem Hypertonus oder einem Diabetes? Auch in der Körpermedizin ist die
Grenzziehung bei vielen Krankheitsbildern nicht sehr trennscharf und Gegenstand fachspezifischer
Diskussionen. Also kein Anlass auf die Psychiatrie herabzuschauen!
Was die vorgenannte Revision des DSM 5 betrifft, war das Hauptanliegen, psychische Störungen
möglichst frühzeitig zu erkennen und zu behandeln. Es gehört mittlerweile zum medizinischen
Grundwissen, dass vorbeugen besser ist als heilen und Anfangsstadien einer Erkrankung eine
bessere Prognose haben als chronische Erkrankungen. Das gilt mittlerweile auch für die
Psychiatrie.
Aber mit das Wichtigste einer psychiatrischen Diagnose ist, inwieweit Symptome die
Funktionsfähigkeit der Patienten beeinträchtigen. Jedenfalls sind es häufig weniger die einzelnen
Symptome einer psychiatrischen Störung als die daraus resultierende gestörte Funktionsfähigkeit
und das damit verbundene subjektive Leiden, weswegen Patienten im Gesundheitswesen Rat und
Hilfe suchen. Der Zeitpunkt, ab wann die Betroffenen nicht mehr richtig ihre Aufgaben erfüllen
können, kann allerdings subjektiv sehr unterschiedlich empfunden werden. Deswegen ist
vorschnelles Diagnostizieren und Behandeln eigentlich weniger ein Problem der Fachleute sondern
eher der Patienten selbst, die Behandlung suchen und wünschen, wo die Diagnosekriterien (noch)
nicht erfüllt sind.
Landenbergstrasse 39 6005 Luzern Telefon 041 369 08 08 Fax 041 369 08 10 www.ivsk.ch www.coai.ch
IV-STELLEN-KONFERENZ  CONFERENCE DES OFFICES AI  CONFERENZA DEGLI UFFICI AI  CONFERENZA DILS UFFIZIS AI
Wahrscheinlich ist die angestiegene Bereitschaft der Bevölkerung bereits wegen leichterer
psychischer Probleme bei Ärzten Rat und Hilfe zu suchen, der Hauptgrund für den Anstieg
psychiatrischer Diagnosen und nachfolgender Behandlungen im Gesundheitswesen. Sollten wir
Patienten zurückweisen, weil sie ggfs. die Diagnosekriterien (noch) nicht erfüllen? Der Arzt, der nie
Patienten behandelt, die nicht alle Diagnosekriterien erfüllen, werfe den ersten Stein.
Eine Diagnose, die es in den Klassifikationssystem der Psychiatrie als eigenständige Diagnose gar
nicht gibt, hat eine bemerkenswerte Karriere gemacht: das Burnout Syndrom – ein Begriff aus der
Arbeits--‐ und Organisationspsychologie. Das Burnout Syndrom repräsentiert das Lebensgefühl
einer gestressten modernen Gesellschaft. Der Begriff ist sozusagen vom Volk in die Medizin
getragen worden und besitzt als solcher eine hohe Akzeptanz. Der Begriff „Burnout“ wird aber heute
nicht nur von Betroffenen benutzt, um alle möglichen subjektiven Leidenszustände zu
kennzeichnen, sondern auch gerne von Ärzten, die eine Stigmatisierung durch psychiatrische
Diagnosen vermeiden wollen.
Aber für Burnout gilt das Gleiche, wie für psychiatrische Diagnosen: es ist nicht nur eine Frage, ob
die Schwelle zu einer Diagnose erreicht wird, sondern auch die Dauer der Störung und der damit
einhergehenden Funktionseinschränkungen. Ob die „Funktionen“ eingeschränkt sind, hängt
natürlich auch von den Anforderungen der Arbeitsumgebung ab. Bei steigenden Anforderungen
steigt auch das Risiko für Funktionsstörungen. Nebenbei bemerkt tragen circa 60% der Schweizer
Bevölkerung eine Brille --‐ mit steigender Tendenz. Das ist weniger auf das geschickte Marketing
der Brillenglassindustrie zurückzuführen, sondern den gestiegenen Anforderungen an unsere
Lesefähigkeiten, dem wachsenden Anteil an Computerarbeit oder der Mobilität mit
Individualverkehrsmitteln geschuldet.
Ähnliches gilt für die Diskussion um das ADHD. Würden wir in Mitteleuropa noch im Wald leben und
als Jäger und Sammler unseren Lebensunterhalt sicherstellen, gäbe es dieses Störungsbild
mutmasslich nicht bzw. würde nicht als Störung interpretiert. Aber in unserer heutigen
Bildungsgesellschaft mit langen Ausbildungszeiten ist es ein Muss für Kinder und Jugendliche
bestimmte Zeitstrecken ruhig sitzen und sich konzentrieren zu können. Wer vorschlägt, unruhige
Kinder mehrere Stunden am Tag im Freien zu beschäftigen, benachteiligt diese Kinder in ihren
Lebenschancen. Und weiterführend: eine niedrigere Bildung erhöht das Risiko für psychische
Störungen lebenslang.
Menschen mit psychischen Erkrankungen haben ein beträchtliches Beschäftigungsrisiko. Je nach
Schwere der Erkrankung sind bis zu 80% arbeitslos. Sind sie einmal arbeitslos, verlaufen ihre
psychischen Erkrankungen chronischer mit einer Tendenz zur Verschlechterung. Sind sie in
Beschäftigung, ist ihr Einkommen deutlich unterdurchschnittlich. Krankheitsabwesenheiten sind
deutlich häufiger und v.a. Menschen mit psychischen Erkrankungen sind inzwischen die
Hauptgruppe derer, die frühberentet werden.
Es ist nicht Gegenstand dieses Vortrags sich damit auseinander zu setzen, ob Frühberentungen ein
unabänderliches Schicksal sind – wohl eher nicht, wie viele Integrationsmassnahmen zeigen.
Ausserdem ist es keine exklusive Aufgabe der Invalidenversicherung. Viele der
Krankheitsabwesenheiten und nachfolgenden Frühberentungen stehen im Zusammenhang mit
organisatorischen Mängeln in der Arbeitsumgebung. Während die Arbeitsmedizin ein scharfes Auge
auf die physische Umwelt der Beschäftigten hat, steckt die Analyse der psycho--‐sozialen
Arbeitsumwelt der Beschäftigten noch in den Kinderschuhen.
Viele Beschäftigte ziehen den Status der Arbeitsunfähigkeit den der (drohenden) Arbeitslosigkeit
vor. Ausserdem haben viele Arbeitnehmer in höherem Alter das Gefühl, genug geleistet zu haben.
Mit ihren Ärzten verbindet sie ein therapeutisches Bündnis, die sie nachvollziehbar in ihren Anliegen
unterstützen.
Für die Sozialleistungsversicherungen bleibt es ihrerseits ein verständliches Anliegen, eine
Behinderung von allgemeinem Elend und persönlichem Leid unterscheiden zu können. Also, was
macht eine Behinderung wegen einer psychischen Erkrankung aus und rechtfertigt ggfs. eine
nachfolgende Berentung? Wenn es nicht unbedingt die Diagnose ist, sind es mindestens drei
2/3
IV-STELLEN-KONFERENZ  CONFERENCE DES OFFICES AI  CONFERENZA DEGLI UFFICI AI  CONFERENZA DILS UFFIZIS AI
Faktoren, die wesentlich Einfluss nehmen: die Chronizität einer Erkrankung, komorbide
Erkrankungen (i.d.R. eine psychische Störung, die mit einer körperlichen Erkrankung zusammen
vorliegt) und die Persönlichkeit der Betroffenen.
Die meisten Nicht-Fachleute sind sich zumeist nicht bewusst, dass viele psychische Störungen auf
dem Boden einer vorbestehenden Vulnerabilität entstehen. Diese Vulnerabilität hat viele Ursachen,
meist eine Mischung aus individuell--‐genetischen und umgebungsbedingten Einflussfaktoren
während der Kindheit und Jugend. Wie wir die Welt wahrnehmen und interpretieren macht dann im
Erwachsenenalter unsere Persönlichkeit aus. Die Persönlichkeit beeinflusst dann auch wesentlich
unseren Umgang mit (psychischen) Erkrankungen. Wesentlichen Einfluss auf das Risiko der
Chronifizierung und damit auf das Risiko einer Behinderung zu entwickeln, haben auch komorbide
Erkrankungen, z.B. Herz--‐Kreislauferkrankungen oder Diabetes. Wenn sich im Rahmen einer
somatischen Erkrankung eine Depression entwickelt, stehen die Chancen für eine Rückkehr ins
Arbeitsleben nicht gut.
Die Invalidenversicherung steht am Ende einer langen Reihe von Versäumnissen. Der berühmte
Ökonom Richard Layard hat erst kürzlich festgestellt, dass wir nicht zu viel sondern entschieden zu
wenig für die Therapie psychischer Erkrankungen ausgeben.
Korrespondenzadresse:
Prof. Dr. med. Dipl.‐Psych. Wulf Rössler
Militärstrasse 8
CH--‐8021 Zürich
[email protected]
3/3
Herunterladen