Michael Wolffsohn - Juden und Christen – ungleiche Geschwister

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Inhalt
1 Zwei Kopernikanische Wenden: 29/70 und 1945/48 n. Chr. . . . . . .
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2 Wie das Christentum »jüdisch« wurde und das
Judentum »christlich«: Entjesuanisierung als Etatisierung . . . . . . . 15
3 Die Bergpredigt Jesu als Militärgeschichte und
die jüdische Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
4 Gewalt und Krieg im Alten und Neuen Judentum:
Macht-Wunsch-Träume der Ohnmächtigen und die Geschichte . . 53
5 Aristokratisches Christentum und bürgerliches Judentum . . . . . . 69
6 Rivalität: Pessach und Ostern, Moses und Jesus . . . . . . . . . . . . . . . 81
7 »Alttestamentarisch«? Jüdisch-christliche »Symmetrien«
oder »jüdisches Christentum« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
8 »Du sollst dir kein Bildnis machen.«
Christen- und Judenbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135
9 Nostra Aetate: Die »Judenerklärung« des
Zweiten Vatikanischen Konzils – oder Dialog ohne Zukunft? . . . . 161
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Zwei Kopernikanische Wenden:
29/70 und 1945/48 n.Chr.
David hat Goliath besiegt, aber kein neuer David kann Deutschlands
Geistes-Riesen niederstrecken. Deshalb wissen Riesen ebenso wie Liliputaner: Der »jüdische Gott« wäre »zornig«, brutal und rachsüchtig,
»alttestamentarisch« eben; »liebe deinen Nächsten wie dich selbst« – das
wäre das Neue Testament.
Oskar Lafontaine brachte es auf den Punkt: »Wird es im Heiligen Land
Ruhe geben?«, fragte er bang in der »Bild«-Zeitung im August 2001 unter
der Überschrift »Auge um Auge, Zahn um Zahn«1 und beantwortete
selbst die gestellte Frage: »Noch regiert das Alte Testament: Wer einen
Menschen erschlägt, wird mit Tod bestraft … Leben für Leben … Auge
um Auge … Zahn um Zahn. Den Weg zum Frieden weist das Neue Testament. Dort steht: ›Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.‹«2 Der bedeutende deutsche Theologe hatte offensichtlich im 3. Buch Mose, Levitikus,
19,18 überlesen: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.«
Johann Wolfgang von Goethe konnte nachtragend sein und dabei richtete er sich nicht zuletzt »nach dem erhabenen Beispiel des Judengottes«,
der seinen »Zorn bis in die 4te Generation behalte«.3
»Jehovas Donner« schreckte auch Hölderlin in seinem Gedicht »Die
Unsterblichkeit der Seele«:
»Und drohte nicht Jehovas Donner,
Niederzuschmettern die stolze Eiche?«
Dass Christen das Alte Testament »abstoßen« sollten, hatte als erster vehement Marcion im 2. Jahrhundert verlangt. Mit diesem Mann der Antike
und auch mit modernen Liberalen, die letztlich Ähnliches empfahlen,
rechnet Joseph Ratzinger als publizierender Papst Benedikt XVI. mit sanften Worten, aber unzweideutig ab: »Es ist nicht zufällig, dass Harnack als
führender Vertreter der liberalen Theologie verlangte, nun endlich das
Erbe Marcions zu vollstrecken und die Christenheit von der Last des Alten
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Testaments zu befreien.«4 Der »liberale Theologe« Adolf von Harnack
(1851–1930), der sich durchaus auch politisch betätigte, war nicht »liberaler« als der liberale Historiker und Politiker Theodor Mommsen (1817–
1903), der zwar im »Berliner Antisemitismusstreit« 1879/80 die Antisemitismen seines Kollegen Heinrich von Treitschke vehement und mutig
bekämpfte, letztlich von den Juden aber doch erwartete, sich vom Judentum zu lösen. Diese Liberalität kann man überspitzt auf diese Formel
bringen: »Antisemitismus nein, Judentum nein«.5
Mit Nietzsche-Zitaten über den jüdischen Rachegott könnte man die
Leser bombardieren,6 und kaum sanfter bezeichnete Max Weber das
antike Judentum als »Vergeltungsreligiosität«.7
»Alttestamentarisch« ist auch für den Nobelpreisliteraten Günter Grass
ein Negativ-Adjektiv: »Darauf trank der junge Gryphius seinen Becher
Würzwein leer, starrte auf Nelke und Muskatblüte, die im Bodensatz blieben, verfinsterte sich alttestamentarisch …« 8
In seiner Dankesrede für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001 schlug Jürgen Habermas die Brücke von US-Präsident George
W. Bush zum Gott des Alten Testaments: »Und die Sprache der Vergeltung, in der nicht nur der amerikanische Präsident auf das Unfassbare
(den Terroranschlag gegen das New Yorker World Trade Center und das
Pentagon am 11. September 2001; MW) reagierte, erhielt einen alttestamentarischen Klang.«9 Der »liberale« Bogen lässt sich mühelos von Habermas zu Theodor Mommsen und Adolf von Harnack (zurück)schlagen.
Die vermeintlich unduldsame, geradezu totalitäre Weltsicht des Judentums schilderte Matthias Schulz in der Weihnachts-Titelgeschichte des
»Spiegel« 2006.10
Kein Zweifel, trotz aller christlich-jüdischen Sonntagsreden und
»Wochen der Brüderlichkeit«, das Heiligste Buch der Juden – und damit
»das Judentum« – genießen in der deutschen Hoch- und Volkskultur keinen guten, menschenfreundlichen Ruf – keine sonderlich tragfähige
Grundlage für den »Dialog der Religionen«. Wohlgemerkt, nicht von
»Antisemitismus« bzw. »Judenfeindschaft«, also Feindschaft gegen Juden,
ist die Rede, sondern von mangelnder Wertschätzung des Judentums, der
Jüdischen Religion. Jenseits der christlich-jüdischen Reizthemen, wie zum
Beispiel das der vermeintlichen »Gottesmörder«, stoßen wir auf mangelnde Akzeptanz der jüdischen Substanz; nicht irgendeiner Substanz,
sondern der jüdischen Substanz schlechthin: der Hebräischen Bibel.
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Lichtjahre trennen solche Einstellungen von Goethes »Maximen und
Reflexionen«. Toleranz reiche nicht, Akzeptanz sei anzustreben, meinte
dort der Meister.
Bis in die späten 1970-er Jahre fand man in bundesdeutschen Schulbüchern meistens drei »Schablonen«. Die erste: »Das Judentum ist
schlecht …, das Christentum ist gut.« Oder die zweite, freundlichere:
»Das Judentum ist gut, das Christentum ist besser.« Und die dritte, sanftgutmeinende: »Was am Judentum gut ist, ist ins Christentum übergegangen.« 11
Diese intellektuelle (Schul-)Kindernahrung wirkte nachhaltig bei den
künftigen Erwachsenen: Ende 2002 meinten 35 Prozent der Deutschen,
»dass Rache und Vergeltung im Handeln von Juden eine größere Rolle
spielen als bei anderen Menschen«.12
»Es gibt bei uns ja auch kritische Meinungen über Juden. Woran nehmen Sie wohl Anstoß?«, fragte im Jahre 2003 tns-emnid »die« Deutschen,
die Juden und Israel unreflektiert miteinander gleichsetzten. Am meisten,
65 Prozent, stießen sich die Befragten an der »Politik Israels in den besetzten Gebieten«: am wenigsten, immerhin 19 Prozent, »am jüdischen Glauben«.13
Das bedeutet(e): Die Deutschen Michels (männlich wie weiblich) verinnerlichten, was sie von den deutschen Geistes-Goliaths immer wieder
direkt oder indirekt, wissentlich oder unwissentlich, vernommen hatten.
Nicht nur die Deutschen Michels taten dies. Das uralte Judenklischee
wurde global auf Israel übertragen. Weltweit verabscheuen Herr und Frau
Jedermann das heutige Israel, das von ihnen offensichtlich mit alten Bildern vom Judentum gleichgesetzt wird. Der Jüdische Staat verkörpert in
ihren Augen das abzulehnende (und so oft angewandte) Prinzip »Gewaltanwendung«. Eine in 27 Staaten im November und Dezember 2006 erhobene BBC-Umfrage ergab, dass es auf der Erde kein Gemeinwesen gibt,
dessen »Einfluss« häufiger als »vor allem negativ« bewertet wurde: Israel
56 %, Iran 54 %, USA 51 %, Nord-Korea 48 %.14
Beim Stichwort »Christentum« denken 71 Prozent der Deutschen
dagegen an »die Achtung der Menschenrechte, ebenso viele an Wohltätigkeit. 65 Prozent bescheinigen Friedfertigkeit, immerhin 42 Prozent Toleranz und 36 Prozent Selbstbewusstsein. Alle diese Eigenschaften werden
dem Christentum heute deutlich häufiger zugeordnet als noch im Jahr
2004, und zwar ohne dass der Anteil der gläubigen Christen an der deut9
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schen Bevölkerung zugenommen hätte«, resümierten Elisabeth Noelle
und Thomas Petersen im Mai 2006.15
Fast 2000 Jahre lang verstieß »die« Christenheit (nicht selten im
Namen Jesu als des Christus, des Erlösers) gegen die jesuanischen Normen von Liebe, Toleranz, Achtung der Menschenrechte oder Friedfertigkeit, und trotzdem wird »das Christentum« mit genau diesen hehren Werten assoziiert, während das beinahe ständig in seiner Existenz bedrohte
Judentum gedanklich eher mit brutalen Verfolgern verbunden wird. Eine
gute Grundlage für einen freundschaftlichen Dialog zwischen Christen
und Juden wird man dies nicht nennen wollen.
Pointiert ausgedrückt: Sowohl Jesus als auch das Judentum wurden in
der »Christlichen Welt« von den Füßen auf den Kopf gestellt.
Meine These lautet: »Der« Deutschen (gar »der« Christen?) Bild vom
Judentum und Christentum ist falsch. Eher gilt, wenngleich mit Ausnahmen, und verkürzt: Was sie für »typisch jüdisch« bzw. »alttestamentarisch« halten (sie meinen dabei »alttestamentlich« und wählen das objektiv – nicht unbedingt und immer subjektiv gewollt – diskriminierende
Adjektiv »alttestamentarisch«), findet man eher in der nach-jesuanischen
Kirche, die sozusagen »jüdisch« wurde, weil und indem sie sich – als Antithese, versteht sich – am Alten, tempelbezogenen Judentum orientierte.
Umgekehrt gilt: Was als »typisch christlich«, im Sinne von »jesuanisch«, wahrgenommen wird, findet man eher im Neuen bzw. Rabbinischen Judentum. Dieses entwickelte sich nach der Zerstörung des Zweiten
Tempels (70 n. Chr.) und zugleich als Reaktion auf Jesus. Es schöpft aus
denselben altjüdischen Quellen wie zuvor Jesus und entwickelte sie
weiter. Das geschah ungefähr gleichzeitig: Die Ent-Jesuanierung bzw. die
Verkirchlichung des Christentums setzte allmählich nach der Kreuzigung
Jesu (29? n. Chr.) ein, das Neue, sozusagen »jesuanische« Judentum, formierte sich rund vierzig Jahre später. Die kirchenchristliche Theologie
wandte sich immer mehr von Jesu Lehre ab.
Überspitzt formuliert, doch alles andere als falsch: Das kirchlich
geprägte Christentum entsprach nach und trotz Jesus eher dem Klischee
vom »Typisch-Jüdischen«: Hart und furchteinflößend. Das Neue Judentum, nach der Zerstörung des Zweiten Tempels entstanden, entsprach von
diesem Zeitpunkt an bis zur Gründung des Staates Israel eher dem christlichen Klischee vom unschuldig Leidenden, vom »Agnus Dei«, dem
Opferlamm.
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Theologie, auch Ideologie, Liturgie und Ethik, Soziologie und (damit
zusammenhängend) Ökonomie des neuen, talmudischen, »bürgerlich«rabbinischen Nach-Tempel-Judentums, des »Neuen Judentums«, unterschied sich grundlegend vom Alten Judentum der Zweit-Tempel-Epoche,
in dem die Priester-»Aristokratie« dominiert hatte. An ausgewählten
Beispielen werde ich diesen Wandel beschreiben. Und ebenso beschreibe
ich den Wandel des Christentums: sein Sich-Abwenden von Jesus und
(sofern nicht völlig verweltlicht) sein Sich-Rückwenden zu Jesus. Keine
Konkurrenz zur etablierten Theologie ist dabei beabsichtigt, eher ist eine
neue historische Interpretation bekannter Fakten präsentiert. Dabei müssen manche an die Fakten erinnert, andere auch in die Fakten eingeführt
werden, zumal in einer Zeit, in der fast jedermann, vom Politiker bis zum
Schriftsteller und Soziologen, sich zum Hobby-Theologen berufen fühlen
kann.
Wie die Juden Christen und die Christen Juden wurden, sei in diesem
Buch an ausgewählten Themen dargestellt. Heinrich Heine hat diesen historischen Paradigmenwechsel, die Kopernikanische Wenden von Judentum und Christentum sowie den beginnenden »Rückfall« des Neuen zum
Alten Judentum, (fast prophetisch?) unübertroffen ironisiert, wenngleich
theologisch verkannt, denn Durst auf Judenblut widersprach auch der
ent-jesuanisierten christlichen Theologie fundamental.
An Edom
Ein Jahrtausend schon und länger,
Dulden wir uns brüderlich,
Du, du duldest, dass ich atme,
Dass du rasest, dulde ich.
Manchmal nur, in dunklen Zeiten,
Ward dir wunderlich zu Mut,
Und die liebefrommen Tätzchen
Färbtest du mit meinem Blut!
Jetzt wird unsre Freundschaft fester,
Und noch täglich nimmt sie zu;
Denn ich selbst begann zu rasen,
Und ich werde fast wie Du.16
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»Seit Auschwitz ist der Auftrag des Versöhnens und des Annehmens in
seiner ganzen Unabweisbarkeit vor uns hingetreten«,17 stellte Kardinal
Joseph Ratzinger fest und benannte (mit anderen Worten) die Kopernikanische Wende des Christentums gegenüber dem Judentum. Ihr
widmen wir uns auch.
Nach dem ersten sei der zweite, ebenfalls weitgehend gleichzeitige
Paradigmenwechsel beschrieben: Wie sich das Christentum – nach Weltkriegen und Holocaust (die es nicht verursachte,18 aber, weil in der zunehmend säkularisierten, Kirche und Staat trennenden Welt viel zu schwach,
leider nicht verhinderte) wieder stärker auf Jesus besann, und wie »das«
Judentum im Zuge des Zionismus (seit 1897) und der Staatlichkeit in und
für Israel, ab 1948, »altjüdisch«, also »militanter« wurde, scheinbar den
alttestamentlich-jüdischen Staaten ähnlich. Aufrichtig reumütig hat »das«
Christentum seine Lehren aus der Geschichte gezogen – auch die Jüdische
Welt zog ihre Lehren als Folge der ihr von der Christlichen erteilten »Lektionen«. Der vermeintliche »Rückfall« ins Alte Judentum ist eher die
Folge »christlicher« »Lehren« als jüdischer Lehre.
Diese Einschätzung ist keineswegs »kirchenfeindlich«. Kardinal Ratzinger, später Papst Benedikt XVI., schreibt in anderem Zusammenhang
letztlich Ähnliches: Das heutige »Lebensmodell« des Christentums »überzeugt nicht. Es scheint den Menschen rundum einzuengen, ihm die
Freude am Leben zu versauern; ihm seine köstliche Freiheit zu beschneiden, ihn nicht – wie die Psalmen sagen – ins Weite, sondern ins Enge und
Kleinliche zu führen.«19 War Jesus nicht auch erschienen, um die Menschen aus der vermeintlich jüdisch-»alttestamentarischen« Enge und
Härte herauszuführen? Das heutige Kirchenoberhaupt umschreibt mit
anderen Worten somit die »Judaisierung« des Christentums durch die
Kirche.
Wir können von zwei »Paradigmenwechseln«, »Umkehrungen« der
»Entwicklungsströme« oder auch zwei »Kopernikanischen Wenden« sprechen. Sie kehren das herkömmliche Bild vom Juden- und Christentum
um. Der eine Entwicklungsstrom reichte von Kreuzigung und Tempelzerstörung (1. Jahrhundert) bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs und der
Gründung des Staates Israel (1945/48). Befinden wir uns nun seit rund
einem halben Jahrhundert im zweiten Entwicklungsstrom? Werden die
Christen jesuanisch, die Juden, zumindest in Israel, »typisch jüdisch«?
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