Wahlen 2014: die allgemeinen politischen Einsätze Jean FANIEL Ein Artikel der Online-Zeitschrift www.dautresreperes.be Äußerungen, wiedergegeben durch Frédéric Tihon auf Grund eines Exposés, vorgestellt am 11. Februar 2014 im Rahmen der Fortbildung des 3. Niveaus der Stiftung Form'Action André Renard Am 25. Mai 2014 werden die belgischen Wähler zu den Urnen gehen, um die verschiedenen Parlamente direkt oder indirekt zu erneuern. Es wird also eine mehrfache Wahl geben. Die Belgier werden direkt die europäischen Abgeordneten, die Abgeordneten der Kammer (föderale Wahl) und die Abgeordneten der Regionen und / oder Gemeinschaften wählen. In den Augen mancher Leute handelt es sich um eine Wahl, wie es sie noch nie gegeben hat. Dies stimmt nicht. Aber diese Wahlen sind doch entscheidend, sie beeinflussen möglicherweise die Zukunft unserer Region und unseres Landes entscheidend. Rückblick auf die allgemeinen politischen Einsätze dieser Vielfachwahl mit Jean Faniel, Generaldirektor des CRISP, dem Zentrum für sozio-politische Forschung und Information. Sicher wird die Wahl vom 25. Mai 2014 sehr wichtig sein. Jeder belgische Wähler wird so im Besitz von drei Wahlzetteln sein (sogar vier für die Wähler der deutschsprachigen Gemeinden und den Brüsselern, die für eine niederländisch sprachige Liste bei der Regionalwahl stimmen). Es ist jedoch nicht das erste Mal, dass wir eine Mehrfachwahl erleben. 1999 hatten wir sogar noch einen zusätzlichen Wahlzettel, weil wir noch einen Teil der Mitglieder des Senats direkt wählten. Dies ist heute nicht mehr der Fall. Es ist dies eine Konsequenz der 6. Staatsreform. Die Art der Bezeichnung der Senatoren wurde abgeändert. Die neuen Senatoren werden nur noch Gewählte aus den anderen Gremien sein - aus dem flämischen Parlament, dem Parlament der französischen Gemeinschaft, dem Parlament der deutschsprachigen Gemeinschaft, dem Brüsseler Parlament und dem wallonischen Parlament - oder kooptierte Senatoren. Und im Verhältnis der Wahlergebnisse in jedem dieser Parlamente wird man die genaue Zusammenstellung des Senats bestimmen. Diese wird also vom Willen des Wählers auf diesen Ebenen abhängen. Die Parteien werden jedoch bestimmen, welche Persönlichkeiten tatsächlich im Senat sitzen werden. Es wird also keine direkt gewählten Senatoren mehr geben, und die Mitglieder der königlichen Familie, die Senatoren von Rechts wegen waren, werden ebenfalls nicht mehr zu diesem Gremium gehören. 2014, eine historische Wahl? Aus Sicht ihrer Tragweite aus den Wahlen von 2014 eine historische Abstimmung zu machen, ist also übertrieben, weil die von 1999 noch breiter waren. Aber dennoch werden die kommenden Wahlen sehr wichtig sein. Wie die von 1999, aber in anderer Hinsicht. So war 1999 die wichtigste Frage zu wissen, welche traditionelle politische Familie an die Macht kam (die Sozialisten, die Christlich-Sozialen oder die Liberalen). Was heute gegen 1999 geändert hat, ist die beeindruckende Steigerung der Macht der N-VA in Flandern. Bei den Föderalwahlen von 2010 und den Kommunal- und Provinzialwahlen von 2012 hatte die N-VA bereits große Ergebnisse erzielt. Aber hier, 2014, handelt es sich auch um eine breite Abstimmung. Es sind also gleichzeitig die Tragweite der Wahlen, und mehr noch die Wichtigkeit ihrer Einsätze, die ihr einen noch nie da gewesenen Charakter verleihen. Mindestens in einem Punkt ist die N-VA keine Partei wie die anderen, denn es handelt sich um eine offen separatistische Organisation. Man weiß, was sie aus Belgien machen will, aber die seit einiger Zeit sich wiederholende Frage ist, zu wissen, welche Reformen sie auf Grund ihrer Wahlergebnisse durchsetzen kann: einige kleinere Änderungen? Eine neue Staatsreform? Die Unabhängigkeit Flanderns und die Aufspaltung des Landes? Es wird also keine direkt gewählten Senatoren mehr geben, und die Mitglieder der königlichen Familie, die Senatoren von Rechts wegen waren, werden auch nicht mehr zu diesem Gremium gehören. Entscheidende Wahlen Diese Wahl von Mai 2014 ist also deswegen so wichtig, weil die Wähler entscheidende Auswahlen treffen müssen. Diese sind im Einzelnen dreifach: 1. Das europäische Parlament wird vollkommen erneuert. Dies wird Konsequenzen für das Aussehen der zukünftigen europäischen Kommission haben1. Der europäische Rat (der die Staats- und Regierungschefs vereint) wird ebenfalls verändert. Wenigstens teilweise, weil mehrere Mitgliedsstaaten, insbesondere Belgien, am gleichen Tag Wahlen abhalten, welche die Zusammenstellung der verschiedenen Regierungen ändern. Weil diese Regierungen ändern, werden auch die Minister, welche diese Länder im Ministerrat vertreten, wechseln. Also werden in unterschiedlichen Graden die drei Entscheidungsinstanzen der europäischen Union (das Parlament, die Kommission, der europäische Rat und die Räte) vollständig oder teilweise erneuert. 2. Die belgieneigenen Wahlen (föderale, regionale und gemeinschaftliche) sind die ersten seit der 6. institutionellen Reform. Eine Reform, die eine ganze Reihe neuer Zuständigkeiten von der föderalen Ebene zu den Gliedstaaten verschiebt. Und Finanzmittel, selbst wenn sie den Kompetenzen nicht ganz entsprechen. Die föderale Ebene muss so ihre Funktionsweise mit den Zuständigkeiten und Mitteln, die ihr bleiben, anpassen, während die Gliedstaaten (Regionen und Gemeinschaften) entscheiden müssen, was sie mit den neuen Zuständigkeiten anfangen und mit den Mitteln, die sie dazu aufwenden. 3. Für einige Zeit sind diese Wahlen die letzten. War man in Belgien daran gewöhnt, alle Jahre oder anderthalb Jahre zu wählen, werden dies die letzten Wahlen sein vor den Gemeinde- und Provinzialwahlen im Oktober 2018. Und die nächsten, mit der heutigen vergleichbaren Wahlen werden 2019 sein, also in 5 Jahren. Die Gremien, die wir im kommenden Mai wählen werden, werden die politischen Kräfteverhältnisse bestimmen, die während dieser ganzen Zeit vorherrschen werden, außer bei vorzeitiger Auflösung der Abgeordnetenkammer. Man sieht, die zukünftige Zusammensetzung der föderalen, föderierten und europäischen Gremien stellt also einen großen Einsatz dar. Aber von wo kommen wir? Und wie sind diese Gremien heute zusammengesetzt? Man sieht, die zukünftige Zusammensetzung der föderalen, föderierten und europäischen Gremien stellt einen großen Einsatz dar. Das Erscheinungsbild der ausscheidenden Gremien Die letzten regionalen und Gemeinschaftswahlen fanden 2009 statt. Nachstehend eine kurze Synthese und Analyse der Ergebnisse: 1. Auf Ebene des wallonischen Parlaments sind im Augenblick 4 Parteien vertreten: PS, MR, Ecolo und CDH (in absteigender Größenordnung). Dem Gremium gehört auch ein Abgeordneter an, der parteilos ist: Bernard Wesphael hat Ecolo 2012 verlassen. Was das Kräfteverhältnis angeht, zählt das wallonische Parlament eine große Partei (die PS), eine mittlere Partei (die MR) und zwei kleinere Parteien (Ecolo und CDH). Die Regierungsmehrheit wird gebildet aus PS, Ecolo und CDH. Das gleiche gilt für die französische Gemeinschaft. Betrachtet man die Kräfteverhältnisse in der Anzahl Sitze oder dem Prozentsatz Stimmen, stellt man fest, dass CDH und Ecolo zusammen ungefähr so stark sind wie die PS allein. In diesen Regierungen gibt es gewissermaßen vier Viertel: eine Partei (die PS) stellt zwei Viertel dar, und die beiden anderen, Ecolo und CDH jeweils ein Viertel. Dies bedeutet, dass Ecolo und CDH ihre Prioritäten nicht so durchsetzen können wie die PS, aber dass die PS nichts alleine machen kann, weil sie nicht die Mehrheit im wallonischen Parlament hat. Auf 75 Sitze hat die PS 29, weit weg von der Mehrheit, die bei 38 Sitzen liegt. Wenn auch die PS eindeutig die erste Partei der Wallonie ist, kann man nicht behaupten, sie sei dort allmächtig. 2. Innerhalb des aktuellen flämischen Parlaments ist die N-VA weit davon entfernt, am besten vertreten zu sein. 2009 hatte sie nur 13% der abgegebenen Stimmen erhalten. Gewiss gehört sie zur flämischen Regierungsmannschaft, mit CD&V und SP.A, aber sie ist nicht beherrschend. Diese Rolle steht der CD&V zu. Die N-VA ist nach wie vor der kleine Däumling. Selbst wenn seit ihrer Steigerung sich die Sache psychologisch geändert hat. Aber was die Kräfteverhältnisse der Wahl angeht, ist die N-VA eine kleine Partei innerhalb des aktuellen flämischen Parlaments. 3. Auf Ebene des Brüsseler Parlaments ist die MR in 2009 wieder erste Partei geworden, was nicht der Fall für die vorherige Legislaturperiode war. Trotzdem ist die MR in der Opposition geblieben. Im September 2011 hat sie sich aufgeteilt, weil die Gewählten der FDF die Gruppe MR verlassen haben. Der französischsprachige Flügel des Brüsseler Parlaments wird gebildet aus PS, Ecolo und CDH. Im niederländisch sprachigen Flügel findet man Open VLD (die erste flämische Partei in Brüssel), die CD&V und Groen. Ein Jahr nach den regionalen und Gemeinschaftswahlen fiel die föderale Regierung und es kam zu vorgezogenen Föderalwahlen. Und hier, was man davon behalten muss. In der Wallonie ist die PS stark angestiegen, von 32 auf 37%. Im Gegenzug kannte die MR einen deutlichen Rückgang, während die Ergebnisse von CDH und Ecolo ziemlich stabil blieben. Die Wahl von 2010, mehr noch als die von 2009, hat den Einsturz der extremen Rechten auf frankophoner Seite gezeigt. Auf der anderen Seite des politischen Schachbretts stellt man eine gewisse Erhöhung der PTB in der Wallonie fest (1,9%, also + 1,2%). Dies ist auch der Fall in Flandern, aber in begrenzterem Maße (1,4%, + 0,5%) In Brüssel blieben die Kräfteverhältnisse zwischen der MR (zu der damals die Kandidaten und Mitglieder der FDF gehörten) an der Spitze und der PS. Auf niederländischsprachiger Seite hat die N-VA einige Fortschritte in Brüssel gemacht, wo sie weniger verankert ist als in der flämischen Region. Der Vlaams Belang ist stark zurückgegangen. In Flandern hat die N-VA klar die Wahlen gewonnen, da sie erste Partei geworden ist, weit vor der CD&V und den anderen traditionellen Parteien, die alle drei rückläufig sind. Außer der N-VA hat nur Groen einen kleinen Fortschritt gemacht. In der Anzahl Sitze ist die N-VA die erste Partei Belgiens geworden (27 Sitze in der Kammer). Dahinter findet man die PS (26 Sitze), die MR (18 Sitze, daraus wurden 15 nach der Scheidung von der FDF). Danach folgen die traditionellen flämischen Parteien: CD&V, SP.A und Open VLD. Nach einer langen institutionellen Krise (mehr als 500 Tage) konnte eine Regierungsmehrheit gefunden werden und eine Regierung auf die Beine gestellt werden. Sie umfasst die PS, die MR und die CDH auf frankophoner Seite und auf flämischer Seite die CD&V, die SP.A und Open VLD. Zu bemerken, dass die drei flämischen Parteien nicht die Sitzmehrheit in der niederländischen Sprachengruppe in der Kammer haben. Was die Verfassung im Übrigen nicht verlangt. Erforderlich ist die Mehrheit in der gesamten Kammer, also 76 Sitze auf 150. Letzter Wahlgang nach Datum: die Gemeinderats- und Provinzialwahlen von 2012. Um Analyseelemente daraus zu ziehen basieren wir uns auf der Provinzialwahl, denn im Gegensatz zu den Kommunalwahlen hinterlegen die Parteien hier Listen auf ihren eigenen Namen. In der Wallonie hat es für die vier traditionellen Parteien wenige Veränderungen gegeben. Zu bemerken die erste Beteiligung der FDF, die 2,4% der Wählerstimmen einfährt. Die PTB hat 2,8% erreicht, und einen deutlichen Aufschwung erlebt. PTB ebenso wie FDF haben Gewählte in den Provinzialrat entsandt, was bisher nicht der Fall war. In Flandern ist der Vergleich schwieriger. Aus verschiedenen Gründen. Zuerst, weil 2006 die CD&V und die N-VA als Kartell auftraten, was 2012 nicht mehr der Fall war. Außerdem, weil 2012 SP.A und Groen gemeinsam in einer Provinz auftraten. Was man als Lehre aus diesem Wahlgang ziehen kann ist der bestätigte Rückgang der flämischen Liberalen. Sowie der noch deutlichere des Vlaams Belang. Von den Provinzialwahlen 2012 zur Regionalwahl 2014 Auf Basis der beobachteten Ergebnisse der letzten Provinzialwahlen kann man eine Extrapolation versuchen, um das Gesicht der zukünftigen wallonischen Regierung zu beschreiben. Diese Übung ist natürlich fiktiv, da sie voraussetzt, dass die Ergebnisse von 2014 identisch mit denen von 2012 sein werden, was natürlich wenig plausibel erscheint. Auf Ebene der wallonischen Region stellt man fest, dass nur die vier Parteien, die augenblicklich in dem regionalen Gremium vertreten sind, dies bleiben würden. Aber die Kräfteverhältnisse zwischen ihnen würden deutlich verändert. Während heute die Sitzverteilung 29 für die PS, 19 für die MR, 14 für Ecolo und 13 für die CDH beträgt, würde die PS (26 Gewählte) nur noch einen Sitz Vorsprung vor der MR (25) haben, während die CDH einen Sitz gewönne und Ecolo (10) überflügeln würde. Konzentriert man sich auf die Provinz Lüttich (also die Wahlkreise Lüttich, Verviers und Huy Waremme) käme man 2014 für das wallonische Parlament auf folgende Sitzverteilung: 8 Sitze für die PS (- 1), 7 für die MR (+ 1), 4 für Ecolo (-1) und 4 für die CDH (+1). Auf Basis der Provinzialwahlen von 2012 hätte die PTB keinen Gewählten, weil sie nicht 5% der Stimmen auf Provinzebene erreicht und ihr etwa 3.500 im Kreis Lüttich fehlen würde. Wenn die Listen PTB-GO! dieses Resultat verbessern würden, wie die Sondierungen es vorhersagen, und sie einen Sitz als wallonischer Abgeordneter in Lüttich erreichten, wem würden sie ihn wegnehmen? Immer auf Basis der Extrapolation der Ergebnisse von 2012 kann man sagen, dass der letzte zuerkannte Sitz an Ecolo ginge, und der vorletzte an die MR. Dass also der Sitz, den die PTB erringen könnte, nicht der PS "weggenommen" würde. Eine solche Projektion durchzuführen erlaubt es, die Entwicklung der Wählerschaft zwischen 2009 - 2010 und heute zu beobachten, das heißt zwischen den Abstimmungen, welche die Gremien gebildet haben, die bald zur Wahl gestellt werden und der einzigen seitherigen zwischenzeitlichen Wahl (Provinzialwahl). Die Umfragen zeigen jedoch, dass die Realität sehr in Bewegung ist und die Kräfteverhältnisse sich seit Oktober 2012 wahrscheinlich weiter entwickelt haben. Bis zum 25. Mai 2014 ermöglicht es der Wahlkampf noch, begrenzte oder größere Veränderungen im vorliegenden Kräfteverhältnis hervorzurufen. Die Zusammenstellung der Listen, die durch die neuen Regeln beeinflusst wird, wird ohne Zweifel die Entscheidung der Wähler beeinflussen. Die 6. Staatsreform hat auch neben der Streichung der Direktwahl des Senats das Verbot für einen Kandidaten vorgesehen, am gleichen Tag auf unterschiedlichen Listen zu stehen, sowie Kandidat auf zwei verschiedenen Plätzen auf einer Liste zu sein. Konkret bedeutet dies, dass ein Kandidat beispielsweise nicht gleichzeitig auf der regionalen und der europäischen Liste stehen darf. Der gleiche Kandidat darf auch nicht effektiver und Ersatzkandidat auf der gleichen Liste sein. Diese Veränderungen ziehen eine Reihe neuer Berechnungen in der Zusammenstellung der Listen nach sich, da die "Listendrücker" nur noch ein einziges Mal erscheinen dürfen. Die Entwicklung der Kräfteverhältnisse am 25. Mai 2014 ist also sehr schwierig vorherzusagen. Wie es auch sei, die kommende Mehrfachwahl wird wichtige Konsequenzen haben für das Gesicht der politischen Landschaft in Belgien, auf föderaler Ebene wie auch innerhalb eines jeden Gliedstaates. Sie wird auch das tägliche Leben der Bewohner dieses Landes beeinflussen2. Fußnoten 1 Vaïa DEMERTZIS, "Vers une véritable élection du président de la Commission européenne par le Parlement européen?" Die online - Analysen des CRISP, 4. November 2013, www.crisp.be 2 Siehe "Elections 2014: les enjeux pour les citoyens", D'Autres Repères, März 2014