1. Symphoniekonzert S ai s o n 2 01 4 2 015 Christian Thielemann Dirigent Gidon Kremer Violine IHRE PREMIERE BESUCHEN SIE DEN ORT, AN DEM AUTOMOBILBAU EINER PERFEKTEN KOMPOSITION FOLGT: DIE GL ÄSERNE MANUFAKTUR VON VOLKSWAGEN IN DRESDEN. 1. Symphoniekonzert Sa i s o n 2 01 4 2015 Christian Thielemann Dirigent Gidon Kremer Violine PA R T N E R D E R S TA AT S K A P E L L E D R E S D E N + 49 351 420 44 11 W W W.G L A E S E R N E M A N U FA K T U R . D E 1. Symphoniekonzert S onntag 31. 8 .14 11 U hr M ontag 1.9.14 2 0 U hr D ienstag 2.9.14 2 0 U hr PROGRAMM S emperoper D resden Christian Thielemann Sofia Gubaidulina (*1931) Dirigent »In tempus praesens« Gidon Kremer Konzert für Violine und Orchester Nr. 2 (in einem Satz) Violine P a use Anton Bruckner (1824-1896) Symphonie Nr. 9 d-Moll 1. Feierlich, Misterioso 2. Scherzo. Bewegt, lebhaft – Trio. Schnell 3. Adagio. Langsam, feierlich Musik des Augenblicks Mit ihrem zweiten Violinkonzert »In tempus praesens« erwies Sofia Gubaidulina, in dieser Spielzeit Capell-Compositrice der Sächsischen Staatskapelle, ihrer göttlichen Namensgenossin die Reverenz: der heiligen Sophia, Personifikation der Weisheit, aber auch der schöpferischen Kraft. Ebenfalls von tiefer religiöser Überzeugung getragen ist das Schaffen Anton Bruckners, mit dessen unvollendeter Neunter Chris­ tian Thielemann seinen Bruckner-Zyklus am Kapell-Pult fortsetzt. Kostenlose Konzerteinführungen jeweils 45 Minuten vor Beginn im Foyer des 3. Ranges der Semperoper 2 3 MDR Figaro überträgt das Konzert am 1. September ab 20.05 Uhr live für das ARD Radiofestival und den Radiosommer der Europäischen Rundfunk­union. Angeschlossen sind die Kulturradios der ARD sowie Rundfunk­a nstalten in Dänemark, Griechenland, Lettland, Litauen, Polen, Portugal, Rumänien, Serbien und Spanien. 1. SYMPHONIEKONZERT Christian Thielemann C he f diri g ent der S ä chsischen S ta atsk a pe l l e D resden D ie aktuelle Saison ist Christian Thielemanns dritte Spielzeit als Chefdirigent der Sächsischen Staatskapelle. Er begann seine Karriere 1978 als Korrepetitor an der Deutschen Oper Berlin, Engagements in Gelsenkirchen, Karlsruhe und Han­nover schlossen sich an. 1985 wurde er Erster Kapellmeister in Düsseldorf, 1988 Generalmusikdirektor in Nürnberg. Später kehrte der gebürtige Berliner in seine Heimatstadt als Generalmusikdirektor der Deutschen Oper Berlin zurück ­(1997-2004), ehe er dasselbe Amt bei den Münchner Philharmonikern übernahm (2004-2011). Neben seiner Dresdner Chefposition ist er seit 2013 Künstlerischer Leiter der Osterfestspiele Salzburg, deren Residenzorchester seither die Staatskapelle ist. Dem großen Komponisten-Jubilar dieses Jahres Richard Strauss widmete sich Christian Thielemann am Kapell-Pult in einer Reihe von Konzerten, dazu leitete er umjubelte Neuproduktionen der »Elektra« und »Arabella« in Dresden bzw. Salzburg. In wenigen Wochen wird er in der Semperoper Vorstellungen der neuen »Arabella«, von »Capriccio« und dem »Rosenkavalier« dirigieren. Für Thielemanns Interpretation der »Frau ohne Schatten« bei den Salzburger Festspielen 2011 hatte ihn das Fachmagazin »Opernwelt« zum »Dirigenten des Jahres« gewählt. Eine enge Zusammenarbeit verbindet Christian Thielemann mit den Berliner und Wiener Philharmonikern sowie mit den Bayreuther Festspielen, die er seit seinem Debüt im Sommer 2000 (»Die Meister­singer von Nürnberg«) alljährlich durch maßstabsetzende Interpretatio­nen prägt; seit 2010 ist er auch musikalischer Berater auf dem »Grünen Hügel«. Im Zuge seiner vielfältigen Konzerttätigkeit folgte er Einladungen u.a. der großen Orches­ter in Amsterdam, London, New York, Chicago und Philadelphia, ebenso gastierte er in Israel, Japan und China. Christian Thielemanns Diskografie als Exklusivkünstler der UNITEL ist umfangreich. Im Rahmen seiner zahlreichen Aufnahmen mit der Sächsischen Staatskapelle erschien jüngst die gemeinsame Einspielung der Strauss’schen »Elektra«. Mit den Wiener Philharmonikern legte er eine Gesamtaufnahme der Symphonien Beethovens auf CD und DVD vor. Er ist Ehrenmitglied der Royal Academy of Music in London sowie Ehrendoktor der Hochschule für Musik »Franz Liszt« Weimar und der Katholischen Universität Leuven (Belgien). 4 5 1. SYMPHONIEKONZERT Sofia Gubaidulina C a pe l l - C ompositrice 2 0 1 4 / 2 0 1 5 D er S ä chsischen S ta atsk a pe l l e D resden S ie gilt als eine der großen »Stimmen« in der zeitgenössischen Musik: Sofia Gubaidulina, in dieser Saison Capell-Compositrice der Sächsischen Staatskapelle. Ihre Ausnahmestellung ist an den unzähligen Kompositionsaufträgen durch namhafte Institutionen, an den vielen Einspielungen ihrer Musik durch renommierte Künstler und an der schier endlosen Reihe von Ehrungen ablesbar – eine beeindruckende Karriere, die auch die äußeren Widerstände und Restriktionen in den Anfangsjahren ihres Schaffens nicht aufhalten konnten. Die sowjetische Kritik begegnete der jungen Sofia Gubaidulina mit Skepsis, Musikfunktionäre tadelten ihre Musik, weil ihr die gesellschaftliche Relevanz fehle. Dies bedeutete nicht nur lange Zeit Ruhm hinter vorgehaltener Hand, sondern auch Diffamierungen, Ausreise- und Aufführungsverbote. Offizielle Anerkennung und öffentliches Interesse blieben der am 24. Oktober 1931 in Tschistopol in der Tatarischen Republik geborenen Künstlerin vorerst versagt. Der internationale Durchbruch gelang 1981 mit der Uraufführung ihres ersten Violinkonzerts »Offertorium« in Wien durch Gidon Kremer – nicht zuletzt dank seines Einsatzes hielten ihre Werke rasch Einzug in die Konzertprogram­me weltweit. 2011 wurde die Komponistin anlässlich ihres 80. Geburtstags rund um den Globus geehrt: von Moskau bis New York einschließ­lich eines mehrtägigen Festivals in Hannover. Typisch für Sofia Gubaidulina ist, dass es in ihren Werken fast immer etwas gibt, das über das rein Musikalische hinausgeht: einen dichterischen Text, ein Ritual, eine instrumentale »Aktion«. In ihre Partituren flossen Elemente östlicher Philosophie ein, sie vertonte alt­ägyptische und persische Dichter, aber auch Lyrik des 20. Jahrhunderts. Ihre tiefe Verbundenheit mit der deutschen Kultur wirkt sich ebenso auf ihr Schaffen aus wie ihre Religiosität – das Komponieren ist für sie ein sakraler Akt. Eine besondere Affinität besitzt sie zur Musik Bachs, was sich in ihrem Sinn für musikalische Formen und Proportionen, in ihrer Vorliebe für Zahlenspiele und -symbolik spiegelt. »Den größten Einfluss auf meine Arbeit«, bekennt Sofia Gubaidulina indes, »hatten Dmitri Schos­ takowitsch und Anton Webern. Obwohl dieser Einfluss in meiner Musik scheinbar keine Spuren hinterlassen hat, ist es doch so, dass mich diese beiden Komponisten das Wichtigste gelehrt haben: ich selbst zu sein.« 6 7 1. SYMPHONIEKONZERT PREISE UND AUSZEICHNUNGEN Für Sofia Gubaidulina (Auswahl) 1974 Preis beim Internationalen Kompositionswettbewerb in Rom 1987 Prix de Monaco 1989Koussevitzky International Record Award für die CD-Einspielung des ersten Violinkonzerts »Offertorium« 1991Premio Franco Abbiati Heidelberger Künstlerinnenpreis 1992 Russischer Staatspreis, Moskau 1994Koussevitzky International Record Award für die CD-Einspielung der Symphonie »Stimmen ... verstummen ...« 1995 Louis Spohr Musikpreis der Stadt Braunschweig 1997 Kulturpreis des Kreises Pinneberg 1998 Praemium Imperiale des japanischen Kaiserhauses, Tokio 1999Léonie Sonning Musikpreis, Kopenhagen Preis der Stiftung Bibel und Kultur, Stuttgart Aufnahme in den Orden »Pour le Mérite« für Wissenschaften und Künste, Bonn 2000 Ehrenmedaille der Stockholmer Konzerthausstiftung in Gold 2001 Goethe-Medaille des Goethe-Instituts, Weimar Ehrenprofessorin des Konservatoriums in Kasan Silenzio-Preis, Moskau 2002 Großes Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland Polar-Musikpreis, Stockholm 2003 Ehrung als »Living Composer of the Year« im Rahmen der Cannes Classical Awards 2005 Europäischer Kulturpreis, Basel Ehrenprofessorin der Konservatorien in Beijing und Tianjin 2006Auszeichnung als »Persönlichkeit des Jahres« durch die Moskauer Musikzeitschrift »Musykalnoje obosrenije« 8 9 2007 Bach-Preis der Freien und Hansestadt Hamburg Kulturpreis »Triumph«, Moskau 2009Großes Verdienstkreuz mit Stern des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland Ehrendoktorin der Yale University, New Haven / Connecticut Preis der Europäischen Kirchenmusik, Schwäbisch Gmünd Premio Nuovi Eventi Musicali, Florenz 2010 Aleksandr-Men-Preis der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart 2011 Ehrendoktorin der University of Chicago Ehrenmitglied der International Society for Contemporary Music 2012 Ehrenprofessorin der Musikakademie in Kiew 2013 Goldener Löwe für das Lebenswerk bei der Biennale di Venezia Plakette der Freien Akademie der Künste in Hamburg 1. SYMPHONIEKONZERT Gidon Kremer C a pe l l - V irtuos 2 0 1 4 / 2 0 1 5 D er S ä chsischen S ta atsk a pe l l e D resden M it Gidon Kremer wächst die erlesene Riege der Instrumentalisten, die seit 2010 als Capell-Virtuosen bei der Sächsischen Staatskapelle zu Gast waren, um eine weitere herausragende Musikerpersönlichkeit an. Geboren in Riga, war er Meisterschüler von David Oistrach und gewann zu Beginn seiner Karriere u.a. den Tschaikowskyund den Paganini-Wettbewerb. Es dürfte kein renommiertes Orchester in Europa und den USA, keinen namhaften Dirigenten geben, mit dem Gidon Kremer nicht zusammengearbeitet hat, keinen Konzertsaal von internationaler Geltung, in dem er nicht aufgetreten ist. Seinen Einstand bei der Staatskapelle feierte er 1976, eine erste gemeinsame Tournee mit dem Orchester führte 2011 nach Wien, Luxembourg, Paris und Brüssel. Das Repertoire Gidon Kremers erstreckt sich von der traditio­nel­len Literatur bis in die musikalische Gegenwart. Als Uraufführungs­ interpret adelte er zahllose Werke der Neuen Musik, viele von ihnen sind ihm gewidmet. Führenden zeitgenössischen Komponisten wie Alfred Schnittke, Arvo Pärt, Luigi Nono, Gija Kantscheli, Aribert Reimann, John Adams, Astor Piazzolla und nicht zuletzt Sofia Gubaidulina, der aktuellen Capell-Compositrice, lässt er besondere Aufmerksamkeit zuteilwerden. Nachdem Gidon Kremer 1981 das legendäre Kammermusikfest im österreichischen Lockenhaus gegründet hatte, rief er 1997 die Kremerata Baltica ins Leben – ein aus jungen baltischen Musikerinnen und Musikern bestehendes erstklassiges Kammerorchester, mit dem er in den Konzertzentren weltweit gastiert. Auch im Rahmen seiner Dresdner Residenz ist er zusammen mit diesem Ensemble zu erleben, um das Programm »All about Gidon« zu präsentieren. Darüber hinaus ist er als Solist in den Symphoniekonzerten der Staatskapelle zu hören und reist mit Christian Thielemann und dem Orchester nach Berlin, Frankfurt, Köln und Dortmund sowie nach Wien und Baden-Baden. Zu den Schostakowitsch-Tagen in Gohrisch, die er 2012 erstmals beehrte, kehrt er als diesjähriger Träger des Schostakowitsch-Preises zurück. Lang ist die Liste der Ehrungen und Auszeichnungen des Weltklassemusikers, darunter der Ernst von Siemens Musikpreis, das Bundesverdienstkreuz, der UNESCO-Preis, der Grammy und der ECHO Klassik. Gidon Kremer spielt auf einer »Nicola Amati« aus dem Jahr 1641. 10 11 1. SYMPHONIEKONZERT Sofia Gubaidulina * 24. Oktober 1931 in Tschistopol, Tatarische Republik »In tempus praesens« »Und niemand weiss mehr, was die Wahrheit ist« Sofia Gubaidulinas »In tempus praesens« Konzert für Violine und Orchester Nr. 2 (in einem Satz) E E ntstehun g B esetzun g 2006 / 2007 im Auftrag der Paul Sacher Stiftung Basel Violine solo, Piccoloflöte, 3 Flö­ten, 3 Oboen, 3 Klarinetten, Bassklari­nette, 3 Fagotte, Kontrafagott, 3 Hörner, 3 Wagnertuben (auch 4.-6. Horn), 3 Trompeten, 4 Posaunen, Tuba, Pauken, Schlagzeug, 2 Harfen, Celesta, Klavier, Cembalo, Streicher (ohne Violinen) W idmun g Anne-Sophie Mutter U r au f f ü hrun g am 30. August 2007 beim Lucerne Festival durch die Berliner Philharmoniker unter der Leitung von Sir Simon Rattle, Solistin: AnneSophie Mutter 12 13 Dauer ca. 33 Minuten in Violinkonzert, ihr erstes Violinkonzert »Offertorium«, stand vor 30 Jahren am Beginn von Sofia Gubaidulinas Weltkarriere. Als Gidon Kremer dieses Werk am 30. Mai 1981 im Rahmen der Wiener Festwochen aus der Taufe hob, kannte im Westen noch so gut wie keiner den Namen dieser Komponistin aus der Sowjetunion – dabei befand sie sich damals immerhin schon in ihrem 50. Lebensjahr. Doch hätte man Musikfreunde aus Moskau oder Leningrad seinerzeit nach Sofia Gubaidulina gefragt, wäre die Reaktion vermutlich auch nur Kopfschütteln und Ratlosigkeit gewesen. Sofia Gubaidulina schien im offiziellen Musikleben ihres Landes nicht zu existieren: Der sowjetische Komponistenverband lehnte ihre Werke ab, verdammte sie zum Schweigen. Sicher, die Funktionäre wussten, dass diese Komponistin ein perfektes Handwerk besaß, und so ließ man sie etliche Filmmusiken anfertigen, Gebrauchsware, mit der sie sich ihren Lebensunterhalt verdiente. Aber das, was ihr wirklich wichtig war, was ihr nicht als Brotarbeit, sondern als Kunstwerk galt, das schrieb sie einzig und allein für die Schublade. Auf dem »falschen« Weg Neu und besonders erschien Sofia Gubaidulina diese Situation allerdings nicht. 1931 wurde sie als Tochter eines Ingenieurs in Tschistopol geboren, in der tatarischen Sowjetrepublik. Damals überzog der Diktator Stalin das Land mit einer ersten Welle sogenannter »Säuberungen«, die auch vor der Musik nicht Halt machte. Wer für andere Werte stritt als für die Maximen des »sozialistischen Realismus«, dem drohten Verfolgung, Inhaftierung oder gar der Tod. Als Sofia Gubaidulina Ende der 1940er Jahre ihr Kompositionsstudium in Kasan begann, holten Stalins Schergen gerade zu einem neuen Schlag gegen die Kunst aus. Alles, 1. SYMPHONIEKONZERT was die 17-jährige Sofia Gubaidulina großartig fand in der Musik, Sergej Prokofjew zum Beispiel oder Dmitri Schostakowitsch, wurde verdammt und als »formalistisch« oder »westlich-dekadent« gebrandmarkt. Sie musste erleben, dass es in ihrem Studentenwohnheim zu Durchsuchun­gen kam, und bei wem etwas Verdächtiges gefunden wurde – inkriminierte Werke oder zeitgenössische Musik aus dem Westen –, der wurde exmatrikuliert. Sofia Gubaidulina aber wollte sich nicht verbiegen lassen. Und erst recht nicht sich anbiedern mit eingängigen oder volkstümlichen Weisen. Als sie 1959 vier Partituren für ihr Abschlussexamen einreichte, warf ihr die Prüfungskommission vor, das melodiöse Element zu vernachlässigen und stattdessen zwanghaft nach neuen Mitteln des Ausdrucks zu suchen. Dmitri Schostakowitsch, der für sie Stellung bezog, gab ihr damals den entscheidenden Rat: »Haben Sie keine Angst, seien Sie Sie-selbst«, sagte er ihr. Und: »Ich wünsche Ihnen, dass Sie auf Ihrem eigenen ›falschen‹ Weg weitergehen!« Eine Taxifahrt mit Gidon Kremer Sofia Gubaidulina ist zeitlebens Schostakowitschs Maxime gefolgt. Auch wenn sie dadurch erdulden musste, dass ihre Kompositionen lange nur in privatem Rahmen zu hören waren oder allenfalls im Moskauer Jugend-Musik-Club, gespielt von befreundeten Musikern. In diesem Club traf sie im Winter 1977 / 1978 auch auf Gidon Kremer, mit dem sie sich auf dem Nachhauseweg ein Taxi teilte. Beide waren angeregter Stimmung, und so kam es, dass Kremer sie direkt fragte: »Wollen Sie nicht einmal ein Violinkonzert für mich schreiben?« Er wusste nicht, was er damit ausgelöst hatte! Sofia Gubaidulina schätzte Kremers Kunst über die Maßen und schwärmte von seiner Tongebung. Wenn seine Finger die Saiten berührten, so glaubte sie, ströme seine ganze Energie in den Ton – ein Moment der völligen Entäußerung. »Ich begann zu begreifen, dass Kremers Thema das Opfer-Thema ist, die Opferung des Musikers in seiner Selbstaufgabe an den Ton«, erklärte sie. Ein Violinkonzert für Gidon Kremer – das musste folglich ein musikalisches Opfer werden: ein heiliger Akt, die Bereitung einer Gabe, ein Offertorium. Und noch ein anderes »Musikalisches Opfer« kam ihr dabei in den Sinn, acht kurze Takte, über die eines ihrer großen Vorbilder, Johann Sebastian Bach, ein wahres Wunderwerk der Variationskunst und Kontrapunktik geschaffen hatte: Dieses »Thema regium«, das Bach 1747 während seines Besuchs am Potsdamer Königshof von Friedrich dem Großen vorgelegt worden war, um spontan darüber zu improvisieren, wurde nun zur Keimzelle ihres ersten Violinkonzerts. Und zur Initialzündung ihres Weltruhms, der bald nach der Uraufführung einsetzte, ihr zahlreiche neue Aufträge, 14 15 »Ein schöpferischer Akt ist ein sakraler Akt«: Sofia Gubaidulina 1. SYMPHONIEKONZERT vor allem aber 1986 die Reisefreiheit einbrachte und der 1991 dazu führte, dass sie nach Deutschland übersiedelte, wo sie heute in der Nähe von Hamburg lebt. Im Namen der Weisheit Knapp 25 Jahre nach der folgenreichen Premiere des »Offertoriums« erhielt Sofia Gubaidulina von der Paul Sacher Stiftung in Basel den Auftrag, ein zweites Violinkonzert zu schreiben, das sie 2007 vollendete und mit dem Titel »In tempus praesens« versah. Wieder war es die Kunst des für die Uraufführung vorgesehenen Interpreten, die ihre Inspiration in Gang setzte: diesmal eine Frau, die deutsche Geigerin Anne-Sophie Mutter. Dass der Vorname der Virtuosin zumindest teilidentisch mit ihrem eigenen ist, stach Sofia Gubaidulina als Erstes ins Auge – Sophie und Sofia. Doch kam der gläubigen Komponistin dabei eine weitere Namensvetterin in den Sinn: Sie dachte an die heilige Sophia der russisch-orthodoxen Tradition, an die Personifikation der Weisheit, ohne die jede kreative und geistige Entwicklung, ja die gesamte schöpferische Entfaltung des Menschen, die Vielfalt unseres Denkens und Schaffens, nicht möglich wären. Das Leitbild der Heiligen begleitete sie dann auch während der Komposition und bereitete den spirituellen Nährboden. Einen sehr viel konkreteren Bezugspunkt bildete indessen Sofia Gubaidulinas und Anne-Sophie Mutters gemeinsame Liebe zu Johann Sebas­ ti­an Bach, der ähnlich wie im »Offertorium« auch bei diesem Konzert Pate steht. Für den Hörer leicht nachzuvollziehen ist die chromatische Melodik, die bereits in den eröffnenden Takten der Solovioline erklingt und an die tönende Chiffre B-A-C-H erinnern mag – notengetreu scheint sie allerdings nie auf. Dass Sofia Gubaidulina darüber hinaus den Na­men Bachs in eine Zahlenreihe übertrug und daraus Dauern und Proportionen errechnete, die der formalen Anlage des Violinkonzerts zugrunde liegen, wird erst durch ein genaues Studium der Partitur offenbar. »Der Sieger hat ausgedient« »Die Dramaturgie eines Solokonzerts hat sich seit dem 19. Jahrhundert wesentlich geändert«, erläutert Sofia Gubaidulina ihren Standpunkt, was das Zusammenwirken zwischen Solo und Tutti anbetrifft. »Vor allem die Vorstellung, dass der Solist einen Helden verkörpere, ist heute nicht mehr aktuell. Denn dieser Held musste doch ein Sieger sein, ein außerordentliches Individuum, das den ungleichen Wettbewerb gewinnt. Deshalb musste dieser Held auch die absolute Wahrheit kennen und zum Anführer des Orchesters werden, das die Masse darstellt und zu ihm in einem 16 17 Sofia Gubaidulina mit Gidon Kremer, der ihr seit Anfang der 1980er Jahre mit seinen Auftritten zum internationalen Durchbruch verhalf und dafür sorgte, ihre Musik in den westlichen Konzertsälen bekannt zu machen Verhältnis steht wie die Armee zu einem General oder die Gemeinde zu ihrem Vorbeter. Im 20. Jahrhundert sind diese Ideen unwichtig und anachronistisch geworden, der Sieger hat ausgedient, der Held hat in jeder Hinsicht enttäuscht, und niemand weiß mehr, was die Wahrheit ist. Zeitgenössische Komponisten müssen deshalb nach neuen Wegen suchen, um das Verhältnis zwischen dem Solisten und dem Orchester zu ordnen. Auch ich bin auf der Suche.« Ein Orchester ohne Violinen Wenn die Solovioline, ganz ohne orchestrale Begleitung, die ersten Takte von »In tempus praesens« intoniert, dann geschieht dies tastend, zögernd, offen. Hier gibt in der Tat kein General den Marschbefehl – 1. SYMPHONIEKONZERT dem Hörer begegnet vielmehr ein suchendes Individuum, das nach und nach zu seiner Stimme und seinem Ich findet, das sich aufschwingt in die Höhen der exponierten Lagen und später auch hinabsteigt in dunkle Niederungen, dies im Dialog mit den tiefen Instrumenten des Orchesters, den Posaunen, der Tuba oder dem Kontrafagott. Bei diesem Orchester fällt zunächst einmal auf, dass es ganz ohne Violinen auskommt – Sofia Gubaidulina ging es darum, das Soloinstrument stärker vom Tutti abzuheben, als es gemeinhin der Fall ist, und lieber die Kombination mit dem gestimmten Schlagzeug oder den Holz- und Blechbläsern zu suchen. Obwohl die Komponistin eine stattliche Orchestergröße vorschreibt mit vierfach besetztem Holz, sechs Hörnern bzw. Wagnertuben und vier Posaunen, ist der Klang niemals massiv; stattdessen erzielt sie phantas­ tische, surreale Farbeffekte, wenn sie die Solovioline etwa raffiniert mit Flöten, Klarinetten, Harfen, Celesta und dem hohen Schlagwerk mischt und mit diesen sinnlich glitzernden Klängen an himmlische Sphären zu rühren scheint. Oder wenn sie aus dem Orchester vier Solobratschen in verschiedenen Koppelungen, etwa mit Flöten, Cembalo und Becken, herauslöst und zu einer Art Concertino formt. Mit dem filigranen Klanggespinst, das Sofia Gubaidulina auf diese Weise webt, korreliert auf der anderen Seite eine zuweilen elementare, erdhafte Rhythmik, deren energischer Charakter von der Solovioline aufgegriffen wird. Die Metapher der Gegenwärtigkeit Obwohl Sofia Gubaidulinas zweites Violinkonzert nur einen einzigen, großangelegten, sich über gut 30 Minuten erstreckenden Satz umfasst, ist es doch in fünf Formteile gegliedert. Der vielleicht berührendste Moment ereignet sich am Ende der vierten dieser Episoden, nach der Kadenz der Solovioline: Die über das gesamte Werk minutiös ausdifferenzierte Textur mit ihrer Verästelung der verschiedenen Stimmen und ihrer »Sprachenvielfalt« der Instrumente, rhythmischen Floskeln, motivischen Strukturen findet hier zu einer Einheit, zu einem Unisono-Zusammenklang auf dem zweigestrichenen E: »Dieses Unisono wird zur Metapher der Gegenwärtigkeit, die es nur noch in der Kunst und da vor allem in der Musik gibt«, betont Sofia Gubaidulina. »Denn im alltäglichen Leben haben wir niemals echte Zeit – nur den Übergang von der Vergangenheit in die Zukunft.« Der Titel ihres Konzerts, »In tempus praesens«, wird unter diesen Vorzeichen zur Verheißung: Er kündet vom seltenen Glück, die Gegenwart auskosten zu dürfen, den unwiederholbaren Augenblick. Der Musik sei Dank. 18 S us a nne S tä hr 19 »Wir fragten sie nach Saiten« In den Tagebuchauszügen, die er in seinem Buch »Kindheitssplitter« veröffentlichte, berichtet Gidon Kremer, wie er 1963 in Riga als junger Student erstmals mit der Staatskapelle Dresden in Kontakt kam (…) Am 29.1. lernten wir die Musiker der Dresdner Staatskapelle kennen. Das war so: Um zwölf Uhr befreien wir uns von der Schule. Felik, Ljuda, Soja und ich gehen zur Universität. Dort sollen die Deutschen Probe haben. Wir sprechen mit ihnen, fragen, ob sie Saiten haben. Sie erzählen von ihrem Leben, wir auch. Ich erzähle von Opas Geige. Sie interessieren sich sehr. Wollen uns alle unbedingt hören. Wir gehen in ein Plattengeschäft, und sie kaufen etwas. Die ganze Zeit schaute ich, ob man uns nicht verfolgt, aber ich merkte nichts. Ich machte den Dolmetscher. Zum Konzert gehen wir wegen Karten- und Zeitmangel nicht. Aber nach dem Konzert treffen wir uns (…) und gehen ins Hotel (Anm.: das Hotel »Riga«). Sie wollen mit uns sitzen. Wir gehen in die Halle rein, wollen aber nicht in das Restaurant gehen. Schweinik (Anm.: Philipp Schweinik, Direktor der Lettischen Philharmonie) kommt: »Was macht ihr hier – ihr müßt lernen – Marsch nach Hause, sonst telefoniere ich mit der Direktorin.« Wir versuchen es im »Astoria«. Es glückt uns. Wir trinken Tee und sprechen viel über Musik und Leben (Antisemitismus, Reisefreiheit usw.). Am 30. Januar treffen wir unsere Bekannten im Hotel. Dann gehe ich mit ihnen zu mir nach Hause. Sie schauen meine (Opas) Geige an, ich spiele ihnen vor, und sie hören eine Platte. (Sie sagen, daß der beste Geiger der UdSSR Oistrach und der Welt Szeryng ist.) Dann wieder im Hotel, wo Felik und die anderen auf uns warten. Wir spielen alle vor. Es ging ziemlich gut. (…) Gidon K remer : » K indheitssp l itter « , erschienen bei P iper 1. SYMPHONIEKONZERT radikales Spätwerk Anton Bruckner * 4. September 1824 in Ansfelden (Oberösterreich) † 11. Oktober 1896 in Wien Anton Bruckners Neunte Symphonie Nr. 9 d-Moll 1. Feierlich, Misterioso 2. Scherzo. Bewegt, lebhaft – Trio. Schnell 3. Adagio. Langsam, feierlich E ntstehun g B esetzun g der ersten drei Sätze zwischen 1887 und 1894, Finale ab dem 24. Mai 1895 (unvollendet) 3 Flöten, 3 Oboen, 3 Klarinetten, 3 Fagotte, 8 Hörner (5.-8. auch Wagnertuben), 3 Trompeten, 3 Posaunen, Tuba, Pauken, Streicher U r au f f ü hrun g der vollendeten Sätze am 11. Februar 1903 im Großen Musikvereinssaal in Wien in einer Bearbeitung von Ferdinand Löwe durch das von ihm geleitete »Wiener Concertvereinsorchester« (die späteren Wiener Symphoniker); Original­ fassung am 2. April 1932 in der Tonhalle in München durch die Münchner Philharmoniker unter der Leitung von Siegmund von Hausegger 20 21 D Dauer ca. 60 Minuten as Komponieren von Symphonien war Anton Bruckners Lebensziel. Und er war bereit, dafür alle nur erdenklichen Anstrengungen zu unternehmen, alle zur Verfügung stehenden Kräfte aufzubieten. Bezeichnend für seine innere Einstellung ist eine Begebenheit im Herbst 1891, als Bruckner von der Wiener Universität das lang ersehnte Ehrendoktorat erhalten sollte. Die Arbeiten an der neunten Symphonie waren bereits begonnen. Schriftlich versicherte sich Bruckner, dass in der EhrendoktorUrkunde »der Ausdruck ›als Symphoniker‹ nicht vergessen werde, weil darin stets mein Lebensberuf bestand«. Dass sich Bruckner ausgerechnet das Feld der Symphonie ausgewählt hatte, um seinem »Lebensberuf«, seiner »Berufung« nachzugehen, war allerdings alles andere als selbstverständlich. Denn die Symphonie war seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, als Bruckner im Alter von immerhin fast 40 Jahren mit der Symphoniekomposition begann, aus dem musikalischen Alltag weithin verdrängt: Franz Liszt hatte mit seinen Symphonischen Dichtungen eine Gattung etabliert, die der »reinen« Symphonie rasch den Rang ablief. Auch Bruckners »Vorbild« Richard Wagner hatte die Symphonie für überwunden erklärt, um im gleichen Atemzug das Musikdrama mit seiner Verbindung von Musik, Bühne, Tanz und Dichtung als rechtmäßigen Nachfolger auszurufen. Bruckners Festhalten an der Symphonie war auch insofern erstaunlich, als man von einem tief gläubigen Komponisten wie ihm wohl am ehesten hätte erwarten können, die geistliche Musik in den Mittelpunkt seines Schaffens zu stellen. Bruckner selbst hatte seine Religiosität stets unverstellt nach außen getragen, etwa wenn er seine Vorlesungen an der Universität für das Gebet beim Angelusläuten unterbrach. Schnell setzte sich in der Öffentlichkeit das Bild von Bruckner als »Musikant Gottes« durch, dessen Wirken durch den Glauben inspiriert war. Zwar ist Bruckners geistliches Werk in der Tat keineswegs gering zu schätzen. Es umfasst unzählige kleinere Stücke wie Motetten und Psalmen bis hin zum großen »Te Deum« und den Messen. Schwerpunkt für Bruckner, sein gedanklicher »Fixpunkt«, war und blieb jedoch unverrückbar die »weltliche« Symphonie – eine Gattung des Konzertsaals, nicht der Kirche. 1. SYMPHONIEKONZERT »Wissenschaftlich-kontrapunktische Grundlagen« Bruckners Fixierung auf die Symphonie dürfte verschiedenste Gründe haben. Sie liegen in seiner Ausbildung, aber auch in seiner Persönlichkeit, orientierte sich Bruckner doch zeitlebens stark an Traditionen, an traditionellen Mustern, die er nur ungern aufzugeben gewillt war. Auch stand einer Beschäftigung mit der »modernen« Symphonischen Dichtung oder dem Musikdrama sicherlich sein mangelndes Interesse an literarischen Stoffen entgegen. Und noch ein weiterer Aspekt dürfte eine entscheidende Rolle gespielt haben. Denn Bruckner konnte gerade in der altehrwürdigen, historisch stetig weiterentwickelten Symphonie eine Idee verwirklichen, die ihn mehr und mehr gefesselt hatte: die Idee nämlich, das eigene Komponieren auf anerkannte theoretische Grundsätze und auf »wissenschaftlich-kontrapunktische Grundlagen«, wie er es ausdrückte, zu stellen. Bruckner sah in Wissenschaft und Künstlertum keine Gegensätze, sondern zwei Seiten desselben Gegenstands, und die in der Musiktheorie vielfach beschriebene Gattung der Symphonie war bestens dazu geeignet, diese Vorstellung in die Tat umzusetzen. Der wohl wichtigste Aspekt aber dürfte gewesen sein, dass die Symphonie Bruckner ein enormes Spektrum an Ausdrucksmöglichkeiten bot – und zugleich sein Streben nach musikalischer Monumentalität zu tragen vermochte. Genau dies sind die zentralen Merkmale der BrucknerSymphonie: Sie ist vielschichtig, weiträumig, in ihren gewaltigen Dimensionen haben die gegensätzlichsten Charaktere ihren Platz. Gustav Mah­ler, der Bruckners Vorlesungen an der Wiener Universität besuchte und sich zu dessen Schülern rechnete, äußerte sich später über seine eige­ nen kompositorischen Absichten in einer Weise, die ähnlich auch für Bruckner gültig gewesen sein dürfte: »Aber Symphonie«, erläuterte Mahler, »heißt mir eben: mit allen Mitteln der vorhandenen Technik eine Welt aufbauen.« Auch Bruckner »baute« in seinen Symphonien »Welten«: In ihnen begegnet man dem hohen symphoni­schen Stil ebenso wie dem rustikalen Tanz, sie kennen sakrale Anklänge ebenso wie das Mo­ment des Bizarren und Dämonischen, strömende Melodik ebenso wie die Kunst des Kontrapunkts oder harmonische Kühnheiten, elementare Kraftausbrüche ebenso wie äußerste, kammermusikalische Zurücknahme. Ein Vermächtnis: Bruckners Neunte Dies gilt nicht zuletzt für Bruckners Neunte – und doch ist in diesem Werk vieles anders als in den vorausgegangenen Symphonien. Bruckner begann mit den Arbeiten wohl unmittelbar nach Fertigstellung der achten Symphonie im Sommer 1887. Doch wurde der Kompositionsprozess 22 23 Meister der Monumentalsymphonie: Anton Bruckner in seinen späten Jahren 1. SYMPHONIEKONZERT Das vorletzte Bild zu Lebzeiten: Anton Bruckner vor seiner Wohnung im »Kustodenstöckl« im Wiener Schloss Belvedere, fotografiert vermutlich am 17. Juli 1896. V.l.n.r.: der Arzt Richard Heller, die langjährige Haus-­ hälterin Katharina Kachelmaier (»Frau Kathi«), Anton und sein jüngerer Bruder Ignaz Bruckner sowie der Arzt Leopold Schrötter (durch ihn verdeckt wahrscheinlich Katharina Kachelmaiers Tochter Ludovika) mehrfach unterbrochen: Die Überarbeitung anderer Symphonien sowie die Komposition großer Chorwerke (der »150. Psalm« und »Helgoland«) sorgten dafür, dass Bruckners neuestes Werk immer wieder liegen blieb. Auch die nochmals gestiegenen Erwartungen des Komponisten an sich selbst und nicht zuletzt der sich verschlechternde Gesundheitszustand Bruckners verlangsamten die Arbeiten. Die Vollendung der Symphonie, die Bruckner bis zuletzt fest im Blick hatte, blieb ihm versagt, trotzdem war die Komposition weit fortgeschritten, als er am 11. Oktober 1896 starb. Die ersten drei Sätze sind vollständig ausgearbeitet, und auch das Finale lag weit mehr als nur in Grundzügen vor. Bruckner hatte den Schlusssatz aller Wahrscheinlichkeit nach komplett entworfen, der ausnotierte Orchestersatz ist bis zur Durchführung gediehen. Es ist auf den fahrlässigen Umgang mit dem Nachlass zurückzuführen, dass viele Manuskriptseiten des Finales – oft wohl als Souvenir zweckentfremdet – nach dem Tode des Komponisten verloren gingen. Kaum abzuschätzen ist, wie viel Zeit Bruckner noch benötigt hätte, um den Schlusssatz fertigzustellen. Dass er auch noch an den ersten drei Sätzen gefeilt hätte, wie es für seine Arbeitsweise so typisch war, ist durchaus vorstellbar. 24 25 Was schon im ersten Moment an der Neunten auffällt, ist ihr eigenwilliger Charakter, ihr ganz eigener »Ton«. Ein Spätwerk im umfassenden, tieferen Sinn des Wortes, präsentiert sich die Symphonie ungemein herb und spröde im Klang, in weiten Teilen mutet sie karg und schroff an ihrer Oberfläche an, das Satzgeschehen ist innerlich konzentriert. Diese Art der Gestaltung hatte sich schon in den zeitlich benachbarten Neufassungen der dritten und ersten Symphonie angekündigt, in der Neunten aber tritt Bruckners späte »Klangsprache« gänzlich ungeschminkt hervor. Damit einher geht, dass die inneren Kontraste in diesem Werk in sprichwörtlich »unerhörte« Extreme getrieben sind, die selbst die Bruckner’sche Symphonik noch nicht kannte. Ein eindrückliches Beispiel hierfür ist der Beginn des ersten Satzes: So elementar und zerklüftet sich der eröffnende Hauptgedanke gibt, so ausgeprägt melodisch-gesanglich ist das in sich kreisende zweite Thema, das, zumal nach dem vorausgehenden, mächtigen Hauptthemenausbruch, geradezu berückend wirkt in seiner kaum fassbaren Schönheit und Vollendung. Fundamentaler könnte ein Gegensatz kaum sein, und dass sich beim Hören trotzdem das Gefühl einstellt, es entfalte sich ein einheitliches Geschehen, zählt zu den faszinierenden Geheimnissen der Bruckner’schen Musik. Ebenso bemerkenswert ist das Scherzo: Die Melodik ist in diesem Satz weitgehend reduziert, stattdessen beherrschen mechanisch stampfende, unerbittliche, fast schon gewaltsame Rhythmen die Szenerie. Solche Musik, in dieser Radikalität, hatte es bis dahin nicht gegeben. Neue Ausdrucksbereiche erschloss Bruckner, zumindest mit Blick auf sein eigenes Schaffen, auch im Trio. Das Stück gleicht einem »Geisterreigen«: ein unwirkliches, unheimliches Stück, das die Sphäre des Phantastischen streift und wie eine Verzerrung des Mendelssohn’schen »Sommernachtstraums« anmutet. »Abschied vom Leben« Den Höhepunkt des unvollendeten Werkes liefert jedoch das Adagio. Schon der anfängliche, schneidende »Gesang« der ersten Violinen auf der G-Saite mit seinen unmelodischen Intervallsprüngen verweigert sich den gängigen Erwartungen an einen langsamen Symphoniesatz. Der allmählich einsetzende, Stufe für Stufe erklommene, hymnische Steigerungsprozess zielt in letzter Konsequenz auf eine Entladung, die schier ungeheure Ausmaße annimmt: eine dissonante Akkordballung, die wie ein »Schmerzensschrei« nur ein Verstummen der Musik nach sich ziehen kann. Als die Musik dann doch von Neuem ansetzt, bleibt ihre Erschütterung bis in die letzten Takte hinein spürbar. Das Finale der Neunten hätte, dies zeigen die überlieferten Partiturseiten, diese Span- 1. SYMPHONIEKONZERT 4 . S eptember 2 014 München, Philharmonie am Gasteig 5 . S eptember 2 014 Berlin, Philharmonie 7. S eptember 2 014 Frankfurt am Main, Alte Oper 9. S eptember 2 014 Köln, Philharmonie 10 . S eptember 2 014 Dortmund, Konzerthaus »Bruckner’s Ankunft im Himmel«, Silhouette von Otto Böhler, 1896. Bruckner (links) wird von Liszt und Wagner begrüßt, es folgen Schubert, Schumann, Weber, Mozart, Beethoven, Gluck, Haydn, Händel und Bach. nung aufgenommen und wieder nach außen gekehrt: im Rahmen eines überaus kantigen, sperrigen Themengebildes. Darf man den Zeitgenossen Bruckners Glauben schenken, widmete der Komponist die Neunte »dem lieben Gott«. Richard Heller, der letzte Arzt Bruckners, berichtete sogar, dass Bruckner die Symphonie mit einem »Lob- und Preislied an den lieben Gott« enden lassen wollte, und dem befreundeten Josef Kluger verriet Bruckner angeblich, dass er die Symphonie als eine »Huldigung vor der göttlichen Majestät« verstanden wissen wollte. Ob dies den tatsächlichen Gegebenheiten entspricht, lässt sich heute weder beweisen noch widerlegen. In der Neunten finden sich nicht mehr konkrete Anspielungen an die religiö­se Sphäre als in ihren Vorgängerinnen. Und doch ist der metaphysische Ausdruck des Werkes nicht zu überhören, man denke nur an das erdenferne Hauptthema des ersten Satzes. Max Auer, einer der frühen Bruckner-Biografen, meinte, das Scherzo der Neunten erscheine »wie die Halluzination eines dem Tod Geweihten«. Eben dieser Eindruck mag einen das gesamte Werk über nicht loslassen – Bruckners Neunte ist ein »jenseitiges« Werk, und es verwundert nicht, dass es als künstlerisches »Vermächtnis«, als »Abschied vom Leben« bezeichnet wurde. 26 T orsten B l a ich 27 Deutschland-Tournee Christian Thielemann Dirigent Gidon Kremer Violine Daniil Trifonov Klavier P ro g r a mme Sofia Gubaidulina Violinkonzert Nr. 2 »In tempus praesens« Anton Bruckner Symphonie Nr. 9 d-Moll Ludwig van Beethoven Klavierkonzert Nr. 1 C-Dur op. 15 Anton Bruckner Symphonie Nr. 9 d-Moll PA R T N E R D E R S TA AT S K A P E L L E D R E S D E N 1. Symphoniekonzert 2014 | 2015 Orchesterbesetzung 1. Violinen Roland Straumer / 1. Konzertmeister Jörg Faßmann Federico Kasik Volker Dietzsch Johanna Mittag Jörg Kettmann Susanne Branny Birgit Jahn Wieland Heinze Henrik Woll Anja Krauß Anett Baumann Roland Knauth Anselm Telle Franz Schubert Renate Peuckert 2. Violinen Reinhard Krauß / Konzertmeister Annette Thiem Holger Grohs Stephan Drechsel Jens Metzner Ulrike Scobel Olaf-Torsten Spies Alexander Ernst Beate Prasse Mechthild von Ryssel Emanuel Held Martin Fraustadt Paige Kearl Frank Other* Bratschen Sebastian Herberg / Solo Andreas Schreiber Anya Muminovich Michael Horwath Uwe Jahn Ralf Dietze Wolfgang Grabner Zsuzsanna Schmidt-Antal Claudia Briesenick Juliane Böcking Ekaterina Zubkova Elizaveta Zolotova Violoncelli Norbert Anger / Konzertmeister Friedwart Christian Dittmann / Solo Tom Höhnerbach Uwe Kroggel Andreas Priebst Bernward Gruner Johann-Christoph Schulze Jörg Hassenrück Jakob Andert Anke Heyn Titus Maack Stefano Cucuzzella ** Kontrabässe Andreas Wylezol / Solo Martin Knauer Torsten Hoppe Helmut Branny Fred Weiche Reimond Püschel Thomas Grosche Johannes Nalepa Marco-Vieri Giovenzana Flöten Sabine Kittel / Solo Bernhard Kury Cordula Bräuer Dóra Varga Oboen Bernd Schober / Solo Sibylle Schreiber Florian Hanspach ** Klarinetten Robert Oberaigner / Solo Dietmar Hedrich Jan Seifert Christian Dollfuß Fagotte Erik Reike / Solo Hannes Schirlitz Andreas Börtitz Tilmann Baumgartl * Hörner Erich Markwart / Solo Jochen Ubbelohde / Solo Andreas Langosch David Harloff Manfred Riedl Miklós Takács Eberhard Kaiser Klaus Gayer Trompeten Mathias Schmutzler / Solo Tobias Willner / Solo Siegfried Schneider Gerd Graner Posaunen Uwe Voigt / Solo Guido Ulfig Lars Zobel Frank van Nooy Tuba Hans-Werner Liemen / Solo Pauken Manuel Westermann * / Solo Schlagzeug Bernhard Schmidt Christian Langer Jürgen May Stefan Seidl Simon Lauer* Jongyong Na* Harfen Vicky Müller / Solo Markus Thalheimer ** Klavier / Celesta Johannes Wulff-Woesten Cembalo Jobst Schneiderat * als Gast ** als Akademist/in 28 29 1. SYMPHONIEKONZERT Vorschau Gustav Mahler Jugendorchester Auf Einladung der Sächsischen Staatskapelle Dresden M ittwoch 3.9.14 2 0 U H R S E M P ER O P ER dresden Christoph Eschenbach Dirigent Tzimon Barto Klavier .9. 1 2 – . 9 1 Olivier Messiaen »Les Offrandes oubliées«, Symphonische Meditation Wolfgang Rihm Klavierkonzert Nr. 2 (2014) Anton Bruckner Symphonie Nr. 7 E-Dur 2 014 E l a n at i o H C S T I W O K A T S O H C S ta g e H C S I R GOH r e t n i 5. n k aya in n it s n n a V m t s o v, A , a B a lt ic ha Ne e r ata r t e t t, J a s c u s ik e r d e r Krem , a M r , u t e q t m e h uart n Kre t r e ic , G id o r e s d n e r S -S ta in e r -Q e n u .v.a . n a j a s D u sd i, l Kar z o w s k d e n, J a c o b p e l l e D r e Is a b e r p l at il J u r s at s k a h e at e T a t M ic h a n c e r t D r e m S a n Co ache is c h e 6 Vocal Sächs in k e lw / 6616 er Sch ter 035021 d in n n g e .d e e u a t -t r ie h a K sow w it s c s ta k o si k ermu .s c h o w K a m m r e sd e n w d w D it e r e on m a p e ll p e r ati a ats k In K o o si sc h e n St ch d e r Sä Kammermusik der Sächsischen Staatskapelle Dresden Gegründet 1854 als Tonkünstler-Verein zu Dresden Verantwortlich: Friedwart Christian Dittmann, Ulrike Scobel und Christoph Bechstein 1. Aufführungsabend M ittwoch 17.9.14 2 0 U H R S E M P ER O P ER dresden , Omer Meir Wellber Dirigent Norbert Anger Violoncello Antonín Dvořák Serenade für Streicher E-Dur op. 22 Joseph Haydn Violoncellokonzert D-Dur Hob. VIIb:2 Symphonie Es-Dur Hob. I:103 »Mit dem Paukenwirbel« 1. SYMPHONIEKONZERT I mpressum Sächsische Staatskapelle Dresden Künstlerische Leitung/ Orchesterdirektion Sächsische Staatskapelle Dresden Chefdirigent Christian Thielemann Spielzeit 2014 | 2015 H er aus g eber Sächsische Staatstheater – Semperoper Dresden © August 2014 R eda ktion Dr. Torsten Blaich Gesta ltun g und L ayout schech.net Strategie. Kommunikation. Design. D ruck Union Druckerei Dresden GmbH Anzei g envertrieb Christian Thielemann Chefdirigent Juliane Stansch Persönliche Referentin von Christian Thielemann Jan Nast Orchesterdirektor Tobias Niederschlag Konzertdramaturg, Künstlerische Planung Matthias Claudi PR und Marketing Agnes Monreal Assistentin des Orchesterdirektors EVENT MODULE DRESDEN GmbH Telefon: 0351/25 00 670 e-Mail: [email protected] www.kulturwerbung-dresden.de Sarah Niebergall Orchesterdisponentin B i l dn achweis Agnes Thiel Mathias Ludewig Dieter Rettig Notenbibliothek Matthias Creutziger (S. 4); Priska Ketterer (S. 7, 15); Sikorski Musikverlage, Hamburg (S. 9); Kasskara / ECM Records (S. 10, 19); Privatarchiv Gidon Kremer (S. 17); Leopold Nowak: Anton Bruckner. Musik und Leben, Linz 1973 (S. 23); Renate Grasberger: Bruckner-Ikonographie, Band 1, Graz 1990 (S. 24); Otto Böhler: Dr. Otto Böhler’s Schattenbilder, Wien 1914 (S. 26). Matthias Gries Orchesterinspizient 3. 9. 2014 Gustav Mahler JUGENDORCHESTER Christoph Eschenbach Tzimon Barto Olivier Messiaen »Les Offrandes oubliées«, Symphonische Meditation Der Einführungstext von Susanne Stähr erschien erstmals in den Programmheften der Münchner Philharmoniker in der Saison 2010 / 2011. Der Text von Dr. Torsten Blaich wurde in den Programmheften der Sächsischen Staatskapelle Dresden in der Spielzeit 2006 / 2007 erstveröffentlicht. Quelle für die Liste der Preise und Auszeichnungen von Sofia Gubaidulina (S. 8 / 9): Sikorski Musikverlage, Hamburg. Wolfgang Rihm Klavierkonzert Nr. 2 (2014) Anton Bruckner Symphonie Nr. 7 E-Dur Urheber, die nicht ermittelt oder erreicht werden konnten, werden wegen nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten. 32 Semperoper · 20 Uhr Klavier T e x tn achweis Private Bild- und Tonaufnahmen sind aus urheberrechtlichen Gründen nicht gestattet. Tick ets 1 erm6 € .8€ Dr. Torsten Blaich Programmheftredaktion, Konzerteinführungen PA R T N E R D E R S TA AT S K A P E L L E D R E S D E N www. sta atsk a pe l l e - dresden . de Dirigent PA R T N E R D E R S TA AT S K A P E L L E D R E S D E N