ADHS im Jugendalter

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Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie, 58 (1), 2010, 23–34
Z. Psychiatr., Psychol. Psychother. 58 (1) © 2010 L.
by Tischler
V erlag Hans
et al.:
Huber,
ADHS
Hogrefe
im Jugendalter
AG , Bern
Themenschwerpunkt
ADHS im Jugendalter
Symptomwandel und Konsequenzen
für Forschung und klinische Praxis
Lars Tischler, Sören Schmidt, Franz Petermann und Ute Koglin
Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation, Universität Bremen
Zusammenfassung. Ausgehend von der Betrachtung der ADHS als Lebensspannenerkrankung geht die vorliegende Studie der Frage
nach, inwieweit Symptome einer adulten Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bereits im Jugendalter auftreten und
Folgen für die klinische Praxis haben. Auf der Basis einer Repräsentativdatenerhebung wurde eine Stichprobe von N = 140 Jungen und
Mädchen im Alter zwischen 14 und 19 Jahren erhoben. Mittels der eingesetzten Verfahren ADHS-E, SF-12, SWLS und PHQ-15 und
PHQ-9 wurden Zusammenhänge zwischen den ADHS-Symptomen im Erwachsenenalter und Lebenszufriedenheit bzw. Lebensqualität
über psychische und körperliche Symptome bei Heranwachsenden untersucht. Dabei konnte die ADHS als ein wesentlicher Faktor für
die Beeinträchtigung der Lebenszufriedenheit und Begünstigung von Depressivität in der Adoleszenz ausgemacht werden. Für die klinische Praxis ergibt sich daraus ein veränderter Blickwinkel auf die Lebenszufriedenheit von Jugendlichen im Allgemeinen und auf zusätzliche psychische Belastungen im Rahmen einer adoleszenten Form der ADHS im Besonderen.
Schlüsselwörter: ADHS, Jugendalter, Lebenszufriedenheit, Entwicklungspsychopathologie, Komorbidität
ADHD in Adolescence – Change of Symptoms and Consequences for Research and Clinical Practice
Abstract. The study presented examines whether symptoms of an adult ADHD play a role for adolescents affected by ADHD and
therefore in consequence for clinical practice if ADHD is considered as a life-span disorder. A sample of N = 140 boys and girls aged
between 14 to 19 years was collected from representative data. Connections between ADHD symptoms of adults and life satisfaction
and quality of life physical and mental symptoms of adolescents were examined with the questionnaires ADHS-E, SF-12, SWLS and
PHQ-15 and PHQ-9. The study demonstrated that ADHD impairs life satisfaction and promotes depression in adolescents. Thus, for
clinical practice a new perspective of life satisfaction of adolescents in general and additional mental strains for the adolescent form of
ADHD in particular was shown.
Keywords: ADHD, adolescence, life satisfaction, developmental psychopathology, comorbidity
In den letzten Jahren sind in der Erforschung und Behandlung der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) wesentliche Fortschritte erzielt worden.
Es wurde erkannt, dass die Kriterien einer ADHS im Kindes- und Jugendalter in Teilen auch auf Erwachsene anwendbar sind. In diesem Zusammenhang rücken Symptomveränderungen und -verschiebungen in den Fokus der
Betrachtung. Es ist zu vermuten, dass sich nicht nur die
ursprünglichen Symptome aus Kindheit und Jugend in
verwandelter, abgeschwächter oder veränderter Form im
Erwachsenenalter zeigen, sondern dass den der ADHS im
Erwachsenenalter zugeordneten Symptomen auch Erscheinungsformen vorausgehen, die in der Diagnostik
der Kindheit und Jugend bisher keine, eine nur geringe
oder falsch interpretierte Rolle gespielt haben. Hier liegt
unser Augenmerk insbesondere auf Symptomen aus den
Bereichen Affekt und Emotion, die sich zusätzlich negaDOI 10.1024/1661-4747.a000003
tiv auf das subjektive Wohlbefinden der Betroffenen auswirken.
Diagnosekriterien nach ICD-10 und
DSM-IV
Die Kardinalsymptome einer hyperkinetischen Störung
bilden laut ICD-10 und DSM-IV Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität (entscheidend in beiden Klassifikationssystemen ist, dass die störungsspezifischen
Symptome gesichert bereits vor dem siebten Lebensjahr
auftreten). Sie wird in der ICD-10 auf der ersten Achse
«Klinisch-psychiatrisches Syndrom» als F90.0 «Einfache
Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung» kodiert. Unter
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L. Tischler et al.: ADHS im Jugendalter
F98.8 «Sonstige andere Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend» kann eine
Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität kodiert werden. Bei vorheriger, im Erwachsenenalter jedoch nicht
mehr nachweisbarer hyperkinetischer Störung ist die Folgestörung und nicht die anamnestisch bekannte zu verschlüsseln.
Das DSM-IV-TR bietet neben der weiteren Einteilung
der ADHS in Subtypen zusätzlich die Möglichkeit, bei Jugendlichen und Erwachsenen, die nicht mehr alle Symptome der ADHS in voller Ausprägung aufweisen, eine residuale oder abgeschwächte Form als «teilremittiert» zu diagnostizieren. Bei Personen, die zwar die Symptome einer
ADHS zeigen, bei Beginn jedoch sieben Jahre und älter
waren, kann die «Nicht näher bezeichnete Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung» diagnostiziert werden (314.9 DSM-IV). Allerdings bietet das DSM-IV-TR
nicht wie die ICD-10 die Möglichkeit einer Kombinationsdiagnose (etwa F90.1 «Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens»). Dies ist insbesondere unter entwicklungspsychopathologischem Gesichtspunkt von Bedeutung, da
im weiteren Verlauf einer ADHS des Kindes- und Jugendalters ins Erwachsenenalter hinein diagnostisch geklärt
werden muss, ob etwaige Fehlentwicklungen im Lebenslauf ursächlich einer ADHS oder einer Störung des Sozialverhaltens (312.8 DSM-IV) zugeordnet werden müssen
(Rösler & Retz, 2008).
Entwicklungspsychopathologie und
Symptomwandel der ADHS im
Erwachsenenalter
Die Entwicklungspsychopathologie (vgl. Petermann &
Noeker, 2008) betrachtet anhand erstellter Entwicklungsmodelle psychische Störungen über die gesamte Lebensspanne (Cicchetti, 2006). Hierbei liegt besonderes Augenmerk auf dem Vergleich normaler und abweichender Entwicklung in verschiedenen Bereichen wie etwa
Säuglingsforschung (Petermann, Petermann & Damm,
2008), externalisierendes Verhalten (Koglin & Petermann,
2004, 2008), Persönlichkeitsstörungen (Resch, Parzer &
Brunner, 2008) und weitere biopsychosoziale Faktoren.
Mehrere Studien haben die lange Zeit vorherrschende Vorstellung widerlegen können, bei der ADHS handele es sich
um ein Störungsbild, welches lediglich bei Kindern und
Jugendlichen anzutreffen und zu diagnostizieren sei (Baud,
2008; Biederman et al., 2006; Manuzza, Klein, Bessler,
Malloy & La Padula, 1993; Rasmussen & Gillberg, 2000;
Weiss, Hechtman, Milroy & Perlman, 1985). Folglich kann
die ADHS als chronische Störung mit klinischer Relevanz
in Kindheit, Jugend und auch Erwachsenenalter angesehen
werden (Sobanski et al., 2008). Ein insbesondere für die
differenzialdiagnostische Abgrenzung notwendiges
(Schulte-Körne, 2008) entwicklungspsychopathologisches
Modell der ADHS liefern Schmidt und Petermann (2008,
2009a,b).
Der Verlauf einer ADHS über die Lebensspanne ist gekennzeichnet durch Symptomwandel bzw. -verschiebung
und ein hohes Risiko, an komorbiden Störungen zu erkranken. Die Verlaufsformen einer ADHS vom Kindes- und Jugend- bis ins Erwachsenenalter lassen sich demgemäß in
drei Typen einteilen (vgl. Sobanski & Alm, 2004):
– Remission in der Adoleszenz,
– sukzessive Abnahme der Hyperaktivität bei Fortbestehen der inneren Unruhe (Heßlinger, Philipsen, Richter
& Ebert, 2003) und gestörten Aufmerksamkeitsleistungen (Aufmerksamkeitssteuerung und Aufmerksamkeitsintensität; vgl. Sturm, 2005), sowie Beeinträchtigungen
der Exekutivfunktionen, des Arbeitsgedächtnis und der
Impulskontrolle,
– Persistenz des klinisch relevanten Vollbildes bei Ausbildung komorbider Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen wie Delinquenz und Suchterkrankung.
Grundsätzlich bleiben die Kardinalsymptome Unaufmerksamkeit, Impulsivität und Hyperaktivität erhalten (Rösler
& Retz, 2006); die im Kindesalter häufig im Vordergrund
stehende Hyperaktivität nimmt im Verlauf der ADHS jedoch meist deutlich ab (Biederman et al., 2006; Spencer,
Biederman & Mick, 2007). Im Erwachsenenalter macht
sich diese eher bemerkbar als häufiges Wippen mit den Füßen, Fingertrommeln, Herumspielen an Stiften etc. (vgl.
Krause & Krause, 2009; Weiss, Hechtman & Weiss, 1999;
Wender, 1995) und persistierende innere Unruhe (Kohn &
Esser, 2008). Die Defizite in Konzentration und Aufmerksamkeitsleistung hingegen bleiben oftmals bestehen
(Adam, Döpfner & Lehmkuhl, 2002). Die auffälligsten und
für die Betroffenen sowohl in Beruf- als auch Privatleben
folgenreichsten Schwierigkeiten ergeben sich aus einer
grundlegenden Unstrukturiertheit und Unorganisiertheit
des Alltags. Erwachsene Patienten neigen zu (scheinbarer)
Vergesslichkeit und verpassen wichtige private und geschäftliche Termine. Sie halten sich nicht an Absprachen,
verlegen und verlieren wichtige Dokumente, verstricken
sich in Nebensächlichkeiten und imponieren im Allgemeinen als unzuverlässig und in ihrer Lebensführung chaotisch. Die Fähigkeit zur Handlungsplanung und damit zum
langfristigen Verfolgen und Erreichen persönlicher und beruflicher Ziele ist beeinträchtigt. Oftmals führen Betroffene
aufgrund impulsiver und riskanter Entscheidungen ein unstetes Leben und es kommt zu Schwierigkeiten in persönlichen Beziehungen (vgl. Goodman, 2007; Rösler & Retz,
2006; Schmidt & Petermann, 2008; Trott, 2006). Tabelle 1
gibt einen Überblick über das gewandelte Erscheinungsbild der ADHS im Erwachsenenalter im Vergleich zu den
Diagnosekriterien im Kindes- und Jugendalter.
Es wird deutlich, dass sich viele Symptome aus Kindheit
und Jugend im Laufe der Jahre in ihrer Manifestation abschwächen und verändern. Erwachsenen ist es partiell
möglich, ihr Leben der ADHS durch adaptives Verhalten
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Tabelle 1
ADHS-Symptome im Vergleich: Kindheit/Jugend und Erwachsenenalter (nach Adler, 2007)
Symptome nach DSM-IV
Symptome im Erwachsenenalter
Unaufmerksamkeit
– Schwierigkeiten, Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten
– nicht zuhören können
– Schwierigkeiten, Aufgaben
zu Ende zu führen
– mangelndes Organisationsvermögen
– Verlieren von wichtigen Gegenständen und Dokumenten
– leicht ablenkbar und vergesslich
– schlechtes Zeitmanagement
– Schwierigkeiten, Aufgaben zu
beginnen und zu Ende zu führen,
auf andere Aufgaben umzuschwenken, sich auf mehrere Dinge gleichzeitig zu konzentrieren
– Prokrastination
– Vermeidung von Aufgaben, die
Konzentration und erhöhte Aufmerksamkeit erfordern
– adaptives Verhalten (delegieren,
Spezialisierung im Nischenberuf
usw.)
Hyperaktivität
– motorische Unruhe, Zappelig- – adaptives Verhalten (pausenloses
keit
Arbeiten, viele Aktivitäten in Be– nicht sitzen bleiben können ruf und Freizeit)
– exzessives Rennen und Klet- – Belastung des Familienlebens
tern
durch permanente Unrast
– Unvermögen, ruhig zu spie- – Vermeidung vermeintlich langlen und zu arbeiten
weiliger und bewegungsarmer Ar– immer «auf dem Sprung»
beiten und Situationen
sein, wie getrieben wirken
– Symptome äußern sich eher auf
– exzessives Reden
Gefühls- als Verhaltensebene (innere Unruhe)
Impulsivität
– mit Antworten herausplatzen
– nicht abwarten können, bis
man an der Reihe ist
– andere stören und unterbrechen
– geringe Frustrationstoleranz
(Kündigungen, Beziehungen beenden, Beherrschung verlieren, zu
schnelles Autofahren)
– übereilte Entscheidungen treffen
– andere und Tätigkeiten unterbrechen
und Coping-Strategien in Beruf und Freizeit anzupassen.
Ein gesteigertes Aktivitätsbedürfnis etwa lässt sich in gesellschaftlich akzeptierten, aktiven Berufen und Freizeitbeschäftigungen ausleben. Umgekehrt sind die Auswirkungen impulsiver Fehlentscheidungen und unangepassten
Verhaltens im Erwachsenenalter meist sehr viel umfassender als in der Kindheit und Jugend. Die Aufkündigung von
Arbeitsverhältnissen oder persönlichen Beziehungen aus
einem Impuls/mangelnder Frustrationstoleranz heraus
kann schnell unabsehbare soziale und wirtschaftliche
Zwangslagen nach sich ziehen.
Auch wenn die Symptomveränderung in der adulten
ADHS eine Diagnose nach den Kriterien der ICD-10 oder
des DSM-IV nur bedingt ermöglicht (teilremittiert, DSMIV), ist sie aufgrund regelmäßig komorbid auftretender, klinisch relevanter Störungsbilder eindeutig behandlungswürdig (Gerlach, Deckert, Rothenberger & Warnke, 2008)
und sollte ebenso zu diagnostizieren sein. Hier ist die Aussagekraft des DSM-IV begrenzt (McGough & Barkley,
2004). Auch das Festhalten an einem Störungsbeginn vor
dem siebten Lebensjahr wird diskutiert. Faraone et al.
25
(2006) befassten sich in ihrer Studie mit diesem Alterskriterium und der obligatorischen Anzahl erfüllter Diagnosekriterien des DSM-IV. Ihre Stichprobe umfasste 127 Personen, die den DSM-IV-Kriterien voll entsprachen, 79 Personen mit ADHS-Symptomatik und nicht belegtem
Störungsbeginn < 7 Jahre, 123 Normalgesunde und 41 Erwachsene mit leichter ADHS-Symptomatik bei unzureichender Anzahl erfüllter Kriterien. Die ersten beiden Gruppen wiesen ähnliche Muster psychiatrischer Komorbidität,
funktioneller Beeinträchtigung und familiärer Bedingungen auf. Dabei war bei 83 % der zweiten Gruppe ein Störungsbeginn vor dem 12. Lebensjahr belegt. Folglich empfehlen die Autoren einen Grenzwert von mindestens zwölf
Jahren. Auch McGough und McCracken (2006) sprechen
sich dafür aus, das Alterskriterium auf zwölf Jahre anzuheben oder fallen zu lassen. Dopheide und Pliszka (2009)
stellen fest, dass die medikamentöse Behandlung von
ADHD ebenso für die adulte Form mit Störungsbeginn >
7 geeignet ist, was wiederum für eine Gleichstellung < 7
und > 7 spricht. Stefanatos und Baron (2007) kritisieren,
dass die existierenden Diagnosekriterien häufig nicht das
gesamte Spektrum des Störungsbildes abdecken und oftmals keine alternativen diagnostischen Möglichkeiten aufzeigen. Es bleibt abzuwarten, inwieweit DSM-V und ICD11 hier Klärung bringen.
Prävalenz und Persistenz
Circa ein bis zwei Drittel der von ADHS betroffenen Kinder zeigen auch im Erwachsenenalter noch Symptome einer ADHS. Dies entspricht einer Prävalenz von 1 bis 6 %
in der erwachsenen Gesamtbevölkerung (Wender, Wolf &
Wasserstein, 2001). Schmidt und Petermann (2008) geben
in ihrer Übersicht eine Persistenz der Verhaltensprobleme
in 40 bis 60 % der Fälle und eine Prävalenzrate von 1 bis
4 % an. Lara et al. (2009) kommen zu einer durchschnittlichen Persistenz von 50 % bei einer Schwankung über verschiedene Länder von 32.8 bis 84.1 %. Hierbei persistierten
die Symptome des Mischtypus (314.01 DSM-IV) deutlich
stärker als die des vorwiegend hyperaktiv-impulsiven Typus (314.01 DSM-IV). Fayyad et al. (2007) geben die Prävalenz adulter ADHS mit 3.4 % an. Dabei steigen die Prävalenzraten von Ländern mit höheren Einkommen im Vergleich zu Ländern mit niedrigerem Einkommen an (bis
7.3 %). In einer Metaanalyse von Simon, Czobor, Balint,
Meszaros und Bitter (2009) liegt die Prävalenzrate von
ADHS im Erwachsenenalter bei 2.5 %. Dieses Ergebnis bezieht sich auf Studien, die die DSM-IV-Diagnosekriterien
für eine ADHS zugrunde gelegt haben. Andere Studien,
deren heterogene diagnostische Kriterien ein «Pooling»
ausschließen, kommen auf Prävalenzraten, die zwischen
2.5 und 42.3 % variieren. Dies zeigt die fehlende Einheitlichkeit alternativer Ansätze und macht deutlich, wie sehr
Maßstäbe für ein allgemein verbindliches diagnostisches
Vorgehen erforderlich sind.
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L. Tischler et al.: ADHS im Jugendalter
Tabelle 2
Komorbiditätsraten psychiatrischer Störungen in % bei Erwachsenen mit und ohne ADHS modifiziert nach Kessler et al.
(2006)
Prävalenz anderer Störungen
bei ADHS in %
(Standardfehler)
ohne ADHS in %
(Standardfehler)
Prävalenz von ADHS
bei anderen Störungen ohne andere Störungen
in % (Standardfehler) in % (Standardfehler)
Affektive Störungen
Major Depression
18.6 (4.2)
7.8 (0.4)
9.4 (2.3)
3.7 (0.5)
Dysthymia
12.8 (3.4)
1.9 (0.2)
22.6 (5.8)
3.7 (0.5)
Bipolare Störung
19.4 (5.5)
3.1 (0.3)
21.2 (3.9)
3.5 (0.5)
Alle Affektiven Störungen
38.3 (5.5)
11.1 (0.6)
13.1 (2.3)
2.9 (0.5)
8.0 (2.5)
2.6 (0.3)
11. 9 (3.9)
4.0 (0.5)
Angststörungen
Generalisierte Angststörung
Posttraumatische Belastungsstörung
Panikstörung
Agoraphobie
11.9 (3.0)
3.3 (0.4)
13.4 (3.4)
3.8 (0.5)
8.9 (2.5)
3.1 (0.3
11.1 (3.9)
3.9 (0.5)
4.0 (2.0)
0.7 (0.1)
19.1 (9.0)
Spezifische Phobie
22.7 (4.2)
9.5 (0.6)
9.4 (1.9)
Soziale Phobie
29.3 (4.3)
7.8 (0.5)
14.0 (2.5)
3.2 (0.5)
Zwangsstörung
2.7 (2.0)
1.3 (0.4)
6.5 (5.2)
4.2 (0.5)
47.1 (5.0)
19.5 (0.7)
9.5 (1.4)
2.8 (0.5)
Alkoholabusus
5.9 (2.5)
2.4 (0.2)
9.5 (4.2)
4.0 (0.5)
Alkoholabhängigkeit
5.8 (2.9)
2.0 (0.4)
11.1 (5.9)
4.0 (0.5)
Drogenabusus
2.4 (2.3)
1.4 (0.2)
7.2 (6.6)
4.1 (0.5)
Drogenabhängigkeit
4.4 (2.3)
0.6 (0.1)
25.4 (11.7)
4.0 (0.5)
15.2 (4.8)
5.6 (0.6)
10.8 (3.6)
3.8 (0.5)
19.6 (3.8)
6.1 (0.5)
12.3 (2.5)
3.6 (0.5)
Alle Angststörungen
(0.5)
3.6 (0.5)
Substanzmissbrauch
Alle Formen von Substanzmissbrauch
Störung der Impulskontrolle
Intermittierende explosive Störung (IED)
Komorbidität
Eine besondere Rolle bei der adulten Form der ADHS
spielt das häufige Auftreten komorbider Störungen. Diese
erschweren im Hinblick auf die unterschiedlichen Symptome im Vergleich zur ADHS in Kindheit und Jugend häufig
eine exakte Diagnosestellung im Erwachsenenalter (Babcock & Ornstein, 2009; Schmidt, Brücher & Petermann,
2006; Sobanski, 2006). So stellen sich Erwachsene bspw.
wegen einer Depression ihrem behandelnden Arzt vor, weil
die augenscheinlichen Symptome eine tatsächlich ursächliche ADHS im Erwachsenenalter verdecken (McIntosh et
al., 2009). 65 bis 89 % aller Erwachsenen mit ADHS leiden
an mindestens einer weiteren psychiatrischen Erkrankung,
vor allem Affektiven Störungen, Angststörungen, Substanzmissbrauch und Persönlichkeitsstörungen. Es besteht
ein deutlich erhöhtes Risiko zur Ausbildung einer Antisozialen Persönlichkeitsstörung und Delinquenz (Miller et
al., 2008; Rösler & Retz, 2008). So entwickeln ca. 50 %
der Kinder mit ADHS im späteren Leben eine so genannte
Conduct Disorder; bei 20 bis 25 % kommt es zur Ausbildung einer Antisozialen Persönlichkeitsstörung (Rösler &
Retz, 2008). Für die Ausbildung einer Bipolaren Störung
scheint das Vorhandensein einer ADHS im Kindesalter und
nicht ihre Persistenz ins Erwachsenenalter hinein ausschlaggebend zu sein (Rydén et al., 2009).
Kessler et al. (2006) ermittelten in einer groß angelegten
Studie (N = 3199) unter 18- bis 44-jährigen englischsprachigen Personen die Komorbiditätsraten psychiatrischer
Störungen bei 154 ADHS-Betroffenen im Vergleich zu
Nichtbetroffenen. Im Mittel über die verschiedenen Störungskategorien wiesen ADHS-Betroffene 3.7-mal häufiger Affektive Störungen (Major Depression, Dysthymia,
Bipolare Störung etc.), 2.7-mal häufiger Angststörungen
(Generalisierte Angststörung, Posttraumatische Belastungsstörung, spezifische Phobien etc.) und 2.8-mal häufiger Substanzmittelmissbrauch (Alkohol- und Drogenabhängigkeit und -sucht etc.) auf als Nichtbetroffene (s. Tabelle 2).
Komorbidität und Differenzialdiagnose
Differenzialdiagnostisch problematisch ist, dass ADHS
häufig mit anderen komorbiden Störungen einhergeht. In
der Regel kommt es zu Symptomüberschneidungen, die ei-
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L. Tischler et al.: ADHS im Jugendalter
ne eindeutige diagnostische Abgrenzung erheblich erschweren. Im Kindesalter finden sich neben den Symptomen Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität
häufig Störungen des Sozialverhaltens, oppositionelles
Verhalten (Achse I ICD-10), umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten und sonstige Entwicklungsstörungen (Achse II ICD-10; vgl. Jacobs, Tischler &
Petermann, 2009).
Im Erwachsenenalter hingegen liegt der Schwerpunkt
auf Affektiven Störungen, Angst- und Persönlichkeitsstörungen. Erschwerend kommt hinzu, dass im Erwachsenenalter die ADHS-Symptomatik oftmals nur als Teilsyndrom
bestehen bleibt und komorbide Erkrankungen in den Vordergrund treten. Dies kann irreführend sein und konfligiert
mit den Ergebnissen zum entwicklungspsychopathologischen Charakter der ADHS. Wie oben bereits geschildert,
bietet das DSM-IV die Möglichkeit, ADHS als teilremittiert zu diagnostizieren, und wird so dem Wandel der
Symptomatik im Erwachsenenalter in Ansätzen gerecht.
Eine Kombinationsdiagnose ist jedoch nicht möglich. Für
eine angemessene Diagnose muss hier mehrfach kodiert
werden.
In der Praxis werden in der Folge häufig erweiterte, über
ICD-10 und DSM-IV hinausgehende diagnostische Maßstäbe angesetzt, die sich auch auf die typischen Symptome
aus den Bereichen Affekt und Emotion beziehen.
Lebenszufriedenheit und ADHS im
Jugendalter
Das Wohlbefinden in der Jugend wird beeinflusst neben
den allgemein steigenden Anforderungen in Schule, Freizeit und Familie (Seiffge-Krenke, 2008) auch durch die
Veränderung und Neubewertung des körperlichen Selbstkonzeptes in der Pubertät und den geringer werdenden elterlichen Einfluss auf die Lebensführung und Gesundheit
der Heranwachsenden (Nitzko & Seiffge-Krenke, 2009).
Eine solche Standortbestimmung bei gleichzeitig abnehmender Fremdstrukturierung birgt immer auch das Risiko
von Fehlentwicklungen, Versagensangst und Unsicherheit
in Fremd- und Selbstwahrnehmung und sozialen Beziehungen in sich. Hier kommt vor allem der Schule als vielschichtigem Bezugsrahmen eine außerordentliche Stellung
zu (Bilz & Melzer, 2008). Die Einbindung in eine Gruppe
Gleichaltriger hilft hier Stress zu verringern und stellt somit
eine wesentliche Bedingung für das Wohlbefinden dar
(Nitzko & Seiffge-Krenke, 2009; Sibley, Evans & Serpell,
2009). Doch gerade ADHS-betroffene Kinder und Jugendliche haben ohnehin schon mannigfaltige Probleme, die
sich negativ auf Selbstwertgefühl und soziale Interaktionen
auswirken (Schilling, Petermann & Hampel, 2006). So
werden durch ADHS beeinträchtigte Empathie, Perspektivenübernahme und soziale Wahrnehmung als negative Ein-
27
flussfaktoren auf die soziale Interaktion diskutiert (Marton,
Wiener, Rogers, Moore & Tannock, 2009).
Es ist offensichtlich, dass Lebenszufriedenheit und Lebensqualität für die Patienten und somit auch für die psychotherapeutische Versorgung von höchster Relevanz sind.
Fragestellung
Die Diagnosekriterien einer ADHS im Kindes- und Jugendalter sind in ICD-10 und DSM-IV klar vorgegeben.
Eine direkte Übertragung und Anwendung derselben auf
das Erwachsenenalter allein ist nicht ausreichend, will man
der Vielschichtigkeit dieser Erkrankung unter entwicklungspsychopathologischen Gesichtspunkten gerecht werden. Zur Diagnostik werden hier deshalb erweiterte Kriterien herangezogen (vgl. Schmidt & Petermann, 2009a).
Bei Betrachtung der ADHS in einem Lebensspannenmodell (Schmidt & Petermann, 2008) stellt das Jugendalter
eine besonders kritische Phase dar. Die emotionalen Probleme nehmen mit steigendem Alter zu. Schmidt und Petermann (2008) sehen dies im Zusammenhang mit schulischen und sozialen Problemen mit Lehrern und Mitschülern und der Etablierung eines negativen Selbstkonzepts.
Verstärkt spielen auch Delinquenz (vgl. Retz et al., 2008)
und vor allem Substanzmittelmissbrauch (Gardner, Dishion & Connell, 2008) eine Rolle. Inwieweit ist also bereits hier die Qualität von Emotion und Affekt zusätzlich
zu den Kardinalsymptomen Unaufmerksamkeit, Impulsivität und Hyperaktivität beeinträchtigt? Spielen Symptome,
wie sie im Erwachsenenalter auftreten und diagnostiziert
werden, bereits in der Jugend eine bedeutsame Rolle im
Zusammenhang mit einer ADHS?
Datengewinnung
Die zur Untersuchung herangezogenen Daten entstammen
der allgemeinen Datenerhebung des ADHS-E (Schmidt &
Petermann, 2009a), die von Juni bis August 2008 an einer
bevölkerungsrepräsentativen Zufallsstichprobe durch das
Meinungsforschungsinstitut USUMA (Berlin) ermittelt
wurden. Diese Ausgangsstichprobe umfasst 2524 Teilnehmer von 14 bis 91 Jahren aus allen Bundesländern (258
Sample-Areale) bei ausgewogener Geschlechterverteilung.
Studienassistenten suchten 4064 gültige Adressen (89 ungültig) auf und informierten die Probanden über die Untersuchung. 2524 Probanden erklärten sich bereit, an der Untersuchung mitzuwirken und füllten im Beisein der Assistenten die ausgegebenen Fragebögen aus. Die Daten von
fünf Personen waren unvollständig, so dass 2519 Datensätze in die Untersuchung eingeflossen sind.
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L. Tischler et al.: ADHS im Jugendalter
Stichprobenbeschreibung
Für die vorliegende Studie wurden nur Personen im Alter
zwischen 14 und 19 (N = 142) herangezogen. Davon sind
72 (50.7 %) männlich und 70 (49.3 %) weiblich. 88 % der
Jugendlichen befinden sich in Schulausbildung oder absolvieren ein Studium, 16 (9.9 %) sind erwerbstätig, ein Jugendlicher ist ohne Arbeit. Neun (6.3 %) Jugendliche haben einen Hauptschulabschluss, 18 (12.7 %) einen Realschulabschluss, zwei das Abitur und 113 (79.6 %) sind
Schüler einer allgemeinbildenden Schule. 136 Jugendliche
besitzen die deutsche, weitere sechs (4.2 %) eine andere
Staatsbürgerschaft (türkisch, italienisch, kroatisch, sonstiges). Aufgrund fehlender Werte für zwei Jugendliche, die
von den Analysen ausgeschlossen wurden, ergibt sich ein
N = 140.
Instrumente
Das ADHS-Screening für Erwachsene (ADHS-E; Schmidt &
Petermann, 2009a) zur Erhebung von ADHS-Symptomen im
Erwachsenenalter (18–65 Jahre) ist ein mehrdimensionales
Verfahren, das über fünf Skalen nach den diagnostischen
Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) und den wesentlichen Diagnosekriterien der Klassifikationssysteme
ICD-10 und DSM-IV entsprechende Symptome erfasst. Über
eine Profilanalyse ist es möglich, die ADHS-Symptomatik
differenzialdiagnostisch therapie- und auch forschungsorientiert auszuwerten, sowie über einen Gesamtwert den Schweregrad der Symptomatik zu bestimmen.
Die fünf Skalen des ADHS-E erfragen Aufmerksamkeitssteuerung, Unruhe und Überaktivität, Impulskontrolle und
Disinhibition, aber auch Emotion und Affekt sowie Stresstoleranz. Die interne Konsistenz (Cronbachs α) liegt zwischen
α = .73 und α = .87, die Split-Half-Reliabilität bei rk = .81
und die Retest-Reliabilität zwischen rtt = .85 und rtt = .94.
Alle Studien zur Validitätsermittlung bestätigen dem ADHSE eine hohe Validität (Schmidt & Petermann, 2009a).
Beim SF-12 handelt es sich um die Kurzform des aus
acht Skalen bestehenden SF-36 Health Survey Fragebogens zum Gesundheitszustand (Bullinger & Kirchberger,
1998). Das Verfahren ist ab dem 14. Lebensjahr anwendbar
und erfasst krankheitsübergreifend die gesundheitsbezogene Lebensqualität von Patienten in zwölf Items. Diese beziehen sich auf körperliche und auch seelische Gesundheit
sowie entsprechende Einschränkungen in alltäglichen
häuslichen und beruflichen Tätigkeiten und Gefühlen. Die
interne Konsistenz (Cronbachs α) der Subskalen beträgt α
= .57 bis α = .94. Zur konvergenten, diskriminanten Validität und Sensitivität werden verschiedene Studien angeführt (Bullinger & Kirchberger, 1998).
Die Satisfaction With Life Scale (SWLS; Diener, Emmons, Larsen & Griffin, 1985) wurde aus der Theorie des
Subjektiven Wohlbefindens (Subjective Well-Being,
SWB) heraus entwickelt (Diener, 1984, 2000). Sie erfasst
als eindimensionales Selbstbeurteilungsinstrument die globale Lebenszufriedenheit unabhängig von emotionalem
Wohlbefinden über verschiedene Altersstufen bezogen auf
affektive und kognitiv-evaluative Elemente der Lebenszufriedenheit – die fünf Items (siebenstufige Ratingskala)
sind nicht explizit gesundheitsbezogen. Berücksichtigt
werden «Positiver Affekt», «Negativer Affekt» und
«Glück», welche das subjektive emotionale Wohlbefinden
begründen. Der kognitiv-emotionale Bestandteil beinhaltet
die allgemeine und spezifische Lebenszufriedenheit. Die
SWLS erfasst dabei ausschließlich die allgemeine Lebenszufriedenheit.
Es liegen keine Normwerte für die deutsche Version der
SWLS vor. Für die Originalversion wird eine hohe interne
Konsistenz angegeben (Diener et al., 1985); die Retest-Reliabilität über ein 4-Jahres-Intervall beträgt .58. In einer
österreichischen Studie (Sölva, Baumann & Lettner, 1995)
betrug die interne Konsistenz (Cronbachs α) zu zwei Erhebungszeitpunkten .88 bzw. .87. Die faktorielle, konvergente und diskriminante Validität werden in verschiedenen
Studien belegt (Lucas, Diener & Suh, 1996; Pavot & Diener, 1993; Pavot, Diener, Colvin & Sandvik, 1991; Sölva
et al., 1995).
Ziel des Patient Health Questionnaire™ (PHQ; Spitzer,
Kroenke & Williams, 1999) ist es, die häufigsten psychischen Störungen in der Allgemeinmedizin zu erkennen und
zu diagnostizieren. Zur Erfassung somatoformer und depressiver Symptome wurden hier die entsprechenden Fragebogenmodule PHQ-15 und PHQ-9 erhoben. Diese umfassen jeweils 15/9 Fragen mit Bezug auf die letzten
vier/zwei Wochen. Der PHQ-9 basiert direkt auf den DSMIV-Diagnosekriterien für eine Major Depression, der PHQ15 erfragt zahlreiche körperliche Beschwerden wie Bauchschmerzen, Kopfschmerzen oder Herzrasen. Für die kontinuierlichen Skalen beträgt die interne Konsistenz α = .88
für das Modul Depression, für das Modul Somatisierung α
= .79. Die Test-Retest-Reliabilität liegt hier zwischen ICC
= .81 und .96. Die Konstruktvalidität ist belegt (Gräfe, Zipfel, Herzog & Löwe, 2004; Kroenke, Spitzer & Williams,
2003; Löwe, Kroenke & Gräfe, 2005).
Auswertungsstrategie
Die Daten wurden mit dem Softwareprogramm SPSS.16
analysiert. Zunächst werden t-Tests zur Prüfung von Mittelwertsunterschieden zwischen Jungen und Mädchen
durchgeführt. Zusammenhangshypothesen werden mit
Pearsons r getestet. Um den multiplen Zusammenhang
zwischen psychischen sowie somatischen Belastungen und
ADHS-Symptomen zu analysieren, werden multiple Regressionen auf den ADHS-E-Gesamtwert berechnet. Dabei
wird ein Modell für die gesamte Stichprobe und jeweils ein
Modell für Jungen und für Mädchen berechnet.
Z. Psychiatr., Psychol. Psychother. 58 (1) © 2010 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern
L. Tischler et al.: ADHS im Jugendalter
29
Tabelle 3
Deskriptive Statistiken zum ADHS-E
Skala
MNorm
SDNorm
M
SD
MJungen
SDJungen
MMädchen
Emotion und Affekt
3.12
(2.54)
3.75
(2.81)
3.45
(3.45)
4.06
SDMädchen
(2.83)
Aufmerksamkeitssteuerung
2.56
(2.37)
3.02
(2.72)
2.94
(2.94)
3.10
(2.56)
Stresstoleranz
5.62
(2.64)
4.74
(2.40)
4.69
(4.69)
4.78
(2.54)
Impulskontrolle/Disinhibition
3.25
(2.03)
3.87
(5.51)
3.79
(3.79)
3.96
(2.12)
Unruhe und Überaktivität
3.03
(3.03)
3.06
(2.59)
2.80
(2.80)
3.33
(2.70)
Summenwert ADHS-E
17.57
(8.87)
18.44
(10.12)
17.68
Anmerkungen: Mnorm = Normstichprobe nach Schmidt & Petermann, 2009a; N = 140.
(17.68)
19.23
(9.44)
Tabelle 4
Interkorrelation der Skalen
Skalen
1. ADHS-E Emotion und Affekt
1.
2.
3.
4.
2. ADHS-E Aufmerksamkeitssteuerung
.67***
–
3. ADHS-E Stresstoleranz
.35***
.33**
–
4. ADHS-E Impulskontrolle/Disinhibition
.56***
.51***
.42***
–
5. ADHS-E Unruhe und Überaktivität
.68***
.64***
.30***
.51***
6. ADHS-E Summenwert
.85***
.82**
.60***
.77**
7. Körperliche Symptome (SF-12)
–.32*** –.35*** –.09
8. Psychische Symptome (SF-12)
–.35*** –.36***
9. Lebenszufriedenheit (SWLS)
–.59*** –.43*** –.10
10. Depressivität (PHQ-9)
5.
6.
7.
8.
9.
10.
–
.51***
.50***
11. Somatische Symptome (PHQ-15)
.39*** .40***
Anmerkungen: +p < .10, *p < .05,**p < .01, ***p < .001.
.01
.13
+
.16
Ergebnisse
Im Vergleich zur Normstichprobe des ADHS-E (s. Tabelle
3) liegen die Mittelwerte der Jugendlichen auf drei Skalen
etwas höher («Emotion und Affekt», «Aufmerksamkeitssteuerung» und «Impulskontrolle/Disinhibition»), nahezu
identisch auf der Skala «Unruhe und Überaktivität» und
etwas niedriger auf der Skala «Stresstoleranz». In Bezug
auf die Skala «Impulskontrolle/Disinhibition» fällt bei den
Jugendlichen eine deutlich größere Streuung der Werte im
Vergleich zur Normstichprobe auf. Jugendliche Mädchen
und Jungen unterscheiden sich nicht signifikant in der mittleren Ausprägung der Werte auf den ADHS-E-Skalen (p >
.05). Das Alter der Jugendlichen korreliert nur mit der Skala «Stresstoleranz» signifikant, und zwar in die Richtung,
dass ältere über ein größeres Ausmaß an «Stresstoleranz»
berichten (r = .19, p = .03)
Im nächsten Auswertungsschritt wurden die bivariaten
Zusammenhänge zwischen psychischen Belastungen und
den ADHS-E-Skalen berechnet (s. Tabelle 4). Es fällt auf,
dass die Skala «Stresstoleranz» des ADHS-E nicht mit körperlichen oder psychischen Symptomen im Zusammenhang
steht. Zwischen den anderen Skalen herrschen überwiegend
moderate Korrelationen. Ein starker Zusammenhang von r >
.50 besteht für zwei Skalen des ADHS-E und der Lebenszufriedenheit der Jugendlichen. Demnach gehen vermehrte
–
.82***
–
–.26**
–.25**
–.33***
–
–.21**
–.29*** –.32***
.25**
–
–.38*** –.55*** –.54***
.23**
.42***
–
.39***
.44***
.51*** –.56**
–.59*** –.44***
–
.34***
.34***
.42*** –.59**
–.57*** –.30*** .79***
Probleme im Bereich «Emotion und Affekt» sowie «UnruheÜberaktivität» mit einer geringen Lebenszufriedenheit einher. Ein ebenfalls starker Zusammenhang besteht zwischen
Depressivität und Problemen im Bereich «Emotion und Affekt» sowie «Aufmerksamkeitssteuerung».
Auch die linearen Regressionen auf den ADHS-E-Gesamtwert betonen den Zusammenhang zwischen einer eingeschränkten Lebenszufriedenheit der Jugendlichen und
ADHS-Symptomen (s. Tabelle 5). Im Gesamtmodell für
Jungen und Mädchen werden mit R = .63, F(5, 139) =
17.25, p < .001, rund 39 % der Varianz durch die aufgenommenen Variablen aufgeklärt. Die Skalen des SF-12 sowie somatische Beschwerden nach dem PHQ-15 hingegen
leisten in diesem Modell keinen Beitrag zur Varianzaufklärung. Zweitstärkster Prädiktor ist die Skala «Depressivität»
(PHQ-9) mit b = .28 (t = 2.33, p = .02).
Im Modell für die Jungen werden mit R = .65, F(5, 70)
= 9.68, p < .001, sogar 42 % der Varianz aufgeklärt. Allerdings leistet hier allein die Lebenszufriedenheit mit b =
–.41 (t = 4.00, p < .001) einen signifikanten Beitrag zur
Varianzaufklärung. Bei den Mädchen (Gesamtmodell: R =
.61; R2 = .37, F(5, 68) = 7.42, p < .001) zeigt sich ebenfalls
der Zusammenhang zwischen Lebenszufriedenheit und
ADHS-Symptomen (b = –.40, t = 3.10, p < .01). Die Skala
«Depressivität» verpasst knapp die Signifikanz (b = .28, t
= 1.63, p = .11).
Z. Psychiatr., Psychol. Psychother. 58 (1) © 2010 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern
30
L. Tischler et al.: ADHS im Jugendalter
Tabelle 5
Lineare Regression auf den Summenwert ADHS-E
Prädiktoren
Gesamt- Körperliche Symptome (SF-12)
modell Psychische Symptome (SF-12)
R
t
–0.50
.08
0.91
Lebenszufriedenheit (SWLS)
Jungen
b
.63 –.04
–.41
–5.25***
Depressivität (PHQ-09)
.28
2.33*
Somatische Symptome (PQH-15)
.10
0.81
.01
0.09
Körperliche Symptome (SF-12)
Psychische Symptome (SF-12)
Lebenszufriedenheit (SWLS)
.65
.11
–.41
0.84
–4.00***
Depressivität (PHQ-09)
.31
1.52
Somatische Symptome (PQH-15)
.17
0.98
.61 –.13
–0.97
Mädchen Körperliche Symptome (SF-12)
Psychische Symptome (SF-12)
Lebenszufriedenheit (SWLS)
Depressivität (PHQ-09)
.08
0.63
–.40
–3.08**
.28
1.63
Somatische Symptome (PQH-15)
–.04
Anmerkungen: *p < .05, **p < .01, ***p < .001.
–0.20
Diskussion
Ausgangspunkt unserer Untersuchung sind die Normierungsdaten des ADHS-E (Schmidt & Petermann, 2009a).
Da das Verfahren als Screeningverfahren zur Identifizierung von ADHS-Risikopatienten konzipiert wurde, ist die
Normierung an einer bevölkerungsrepräsentativen Stichprobe vorgenommen worden. Die Konstruktion hingegen
erfolgte anhand einer klinischen Stichprobe. Unsere Ergebnisse zeigen, dass die ADHS die Lebenszufriedenheit der
Jugendlichen stark beeinträchtigt. Dies hängt insbesondere
mit den Bereichen Emotion und Affekt zusammen. Somit
spielen hier psychische Einflussfaktoren eine Rolle, die in
den Diagnosekriterien von ICD-10 und DSM-IV für die
ADHS im Kindes- und Jugendalter noch nicht erfasst sind.
Auch der Zusammenhang mit depressiven Symptomen
kann nicht außer Acht gelassen werden.
Im Gegensatz dazu scheint die gesundheitsbezogene Lebensqualität im Kindes- und Jugendalter nicht mit der ADHS
in Zusammenhang zu stehen. Im Erwachsenenalter hingegen
kehrt sich dieses Verhältnis zunehmend um (Schmidt, Waldmann, Petermann & Brähler, 2010). Erwachsene sind in der
Lage, zwischen allgemeiner Unzufriedenheit und gesundheitlicher Beeinträchtigung zu differenzieren; sie können
sich mit ihrer Störung arrangieren und empfinden ihr Leben
nicht als global beeinträchtigt.
Wir vermuten, dass dies im Zusammenhang mit Krankheitseinsicht, Krankheitsverarbeitung und der sich erst im Jugendalter langsam ausbildenden reflexiven Kompetenz zu
sehen ist. Jugendliche nehmen ihre ADHS anfangs nicht oder
kaum als originär ihnen zugehörig war, vielmehr erleben sie
die Symptome in der Interaktion mit anderen oder in der beeinträchtigten Fähigkeit, etwa sich in der Schule angemessen
mit dem Lehrstoff auseinander zu setzen.
Der Leidensweg betroffener Jugendlicher beginnt oft
schon in der Kindheit: Mit dem Besuch des Kindergartens
kommt es meist erstmalig zum Eintritt in komplexere soziale
Gruppensysteme, die über die bekannte familiäre Struktur
hinausgehen. Die Kinder müssen sich in der Gruppe behaupten und werden verglichen – in ihrem sozialen und kognitiven
Entwicklungsstand. Hier kommt es dann zu ersten Auffälligkeiten: Aufmerksamkeitsgestörte Kinder sind von der Vielzahl der Reize oft überfordert und reagieren mit sozialem
Rückzug oder im Gegenteil mit aufbrausendem Trotzverhalten. Die darauf folgenden Gespräche der Eltern mit den Erzieherinnen und Erziehern sind im klinischen Erstgespräch
rückblickend häufig die ersten Anzeichen für das Vorliegen
oder Entstehen einer ADHS und beginnender komorbider
Beeinträchtigungen im Sozialverhalten.
Einen weiteren kritischen Abschnitt stellen die ersten
Schuljahre dar. Hier treten mit steigenden Leistungsansprüchen oftmals die neuropsychologischen Funktionsdefizite
der betroffenen Kinder in den Vordergrund (vgl. Knievel &
Petermann, 2008). Zu ersten Auffälligkeiten im Sozialverhalten tritt nun ein defizitäres Arbeits- und Lernverhalten. War
der Lernstoff zunächst meist zu bewältigen, imponieren die
Kinder jetzt als deutlich unkonzentriert. Es kommt zu Frustrationserlebnissen, die eindeutig auf das eigene Können und
Verhalten bezogen werden, da die nun auftretenden Schwierigkeiten nicht in einer mangelhaften sozialen Interaktion begründet liegen. Zu dieser Zeit werden die Kinder und ihre
Eltern oft erstmals in ambulanten Einrichtungen vorstellig
(vgl. Jacobs et al., 2009).
Erfahren die Kinder und Eltern aus den verschiedensten
Gründen in den folgenden Jahren keine Hilfe und Unterstützung, kommt es bis ins Jugendalter und das Erwachsenenalter
hinein immer wieder zu frustrierenden Erlebnissen, die zu
einem negativen Selbsterleben führen. Depressive Symptome sind eine mögliche Folge und im Jugendalter auch in
Kombination mit hyperkinetischen Störungen und Störungen
des Sozialverhaltens sehr verbreitet (vgl. Groen & Petermann, 2008). Die Erfassung depressiver Symptome in der
Diagnostik, aber auch entsprechende therapeutische Interventionen im Rahmen einer ADHS-Behandlung erscheinen
nach unseren Ergebnissen besonders bei Mädchen sinnvoll.
Führt man sich vor Augen, dass unsere Ergebnisse aus der
Untersuchung einer nicht-klinischen Stichprobe stammen,
gewinnen die aufgezeigten Zusammenhänge eindeutig an
Relevanz. Es ist von großem Interesse für die Erforschung
der ADHS und ihrer Komorbiditäten im Jugendalter, inwieweit unsere Ergebnisse durch Untersuchungen an einer klinischen Stichprobe gestützt werden.
Schlussfolgerungen für die klinische
Praxis
Unsere Ergebnisse zeigen, dass eine Erweiterung der Diagnostik und Therapie von Jugendlichen um Kriterien aus
Z. Psychiatr., Psychol. Psychother. 58 (1) © 2010 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern
L. Tischler et al.: ADHS im Jugendalter
den Bereichen Emotion und Affekt sinnvoll ist und lassen
die beeinträchtigte Lebenszufriedenheit als eine das Störungsbild begleitende Konstante klar hervortreten. Somit
erhält die Lebenszufriedenheit in der Arbeit mit ADHS-Patienten einen sowohl diagnostisch als auch therapeutisch
nicht zu vernachlässigen Stellenwert.
In der Anamnese (auch des erwachsenen Patienten) treten Schwierigkeiten insbesondere in den bereits angesprochenen kritischen Phasen Kindergarten, erste Schuljahre
und Adoleszenz deutlich zutage. Diese Schwierigkeiten
sollten hier immer mit Blick auf die Aufmerksamkeitsfunktionen und emotional-affektive Beeinträchtigungen gesehen werden. Die Lebenszufriedenheit sollte ein zentraler
Punkt der diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen
sein. Nur so ist es möglich, die Ausbildung und Etablierung
komorbider klinischer Vollbilder wirksam bereits im Kindes- und Jugendalter zu verhindern bzw. ihnen im Erwachsenenalter entgegenzuwirken.
Zukünftig sollten Jugendliche mit ADHS im Rahmen
von Längsschnittstudien bei wichtigen Lebensübergängen
begleitet werden, wie dem Übergang in den Beruf oder das
Studium. In allen Bereichen, die Umstrukturierung, Wegfall von Strukturen und Neustrukturierung mit sich bringen,
sind ADHS-Betroffene einem zusätzlichen gesundheitlichen Risiko ausgesetzt, das sich negativ auf die Lebenszufriedenheit auswirkt. Dies hat wechselseitige Folgen für
das soziale und berufliche Auftreten und die Partnerschaft.
Zusammenfassend lassen die vorliegenden Ergebnisse
Phänomene des Jugendalters, die wir bislang unter anderen
Sichtweisen interpretierten (z. B. Jugendalter als krisenhafte Entwicklungsphase), in einem neuen Blickwinkel erscheinen. Es bedarf auch für das Jugendalter einer Bewusstheit für die ADHS. Jugendliche sind besonders gefährdet, an der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben zu
scheitern, auch hinsichtlich der Ausbildung von Suchterkrankungen und Alkoholabusus.
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Dipl.-Psych. Lars Tischler
Zentrum für Klinische Psychologie und Rehabilitation
Universität Bremen
Grazer Str. 2
D-28359 Bremen
E-Mail: [email protected]
CME-Fragen
1. Worin besteht häufig der Symptomwandel einer ADHS
vom Jugend- ins Erwachsenenalter? (mehrere Antworten sind richtig)
A. Die motorische Unruhe nimmt ab.
B. Es kommt zu komorbiden Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen.
C. Die Aufmerksamkeitsleistungen der Betroffenen steigen wieder.
D. Impulsives Verhalten nimmt ab.
E. Es kommt zur Ausbildung von Tic-Störungen.
2. Welches sind häufige komorbide Erkrankungen bei einer
ADHS im Erwachsenenalter? (mehrere Antworten sind
richtig)
A. Agoraphobie
B. Antisoziale Persönlichkeitsstörung
C. Enuresis
D. Substanzmissbrauch
E. Teilleistungsstörungen
3. Ab welchem Alter sollten die ADHS-Symptome nach
ICD-10 und DSM-IV für eine Diagnose vorliegen bzw.
vorgelegen haben?
A. < 7 Jahre
B. < 10 Jahre
C. < 12 Jahre
D. < 15 Jahre
E. < 20 Jahre
4. Welches sind Symptome einer ADHS laut ICD-10 und
DSM-IV? (mehrere Antworten sind richtig)
A. Hyperaktivität
B. Impulsivität
C. Selbstverletzendes Verhalten
D. Unaufmerksamkeit
E. Emotionale Instabilität
5. Wann treten ADHS-Symptome im Leben Betroffener
auf?
A. ADHS-Symptome treten nur in der Jugendzeit auf.
B. ADHS-Symptome werden häufig erst im Erwachsenenalter sichtbar.
C. ADHS-Symptome zeigen sich über die Lebensspanne.
D. ADHS-Symptome zeigen sich in der Regel nur im
Kindesalter.
E. ADHS-Symptome zeigen sich zyklisch.
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L. Tischler et al.: ADHS im Jugendalter
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