"Religion, Evolution und die Mechanismen

Werbung
!
!
\
Annette G. Beck-Sickinger
Matthias Petzoldt
(Hrsg.)
PARADIGMA
EVOLUTION
Chancen und Grenzen
eines Erklärungsmusters
A.
Z.OO~
PETER LANG
Frankfurt am Main . Berlin . Bern . Bruxelles . New York . Oxford . Wien
105
104
[13] Knopf CW. Evolution of viral DNA-dependent RNA polymerases. Virus
Genes 1998, 16:47-68.
[14] Eickbush TH. Origin and evolutionary relationships of retroelements. In:
Morse SS, Ed. The evolutionary biology of viruses. Raven Press, New
York 1994, 121-157.
[15] Parrish CR, Truyen U. Parvovirus variation and evolution. In: Domingo
E, Webster RG, Holland JJ Eds. Origin and evolution of viruses. Acad.
Press, San Diego 1999,421-440.
[16] Mary RM. The co-evolutionary dynamics of viruses and their hosts. In:
Gibbs Al, Calisher CH, Garcia-Arenal F, Eds. Molecular basis of virus
evolution, Cambridge Univ. Press 1995, 192-212.
Religion, Evolution und die Mechanismen kultureUer Vererbung l
Hubert Seiwert
Religionswissenschaftliches Institut, Universität Leipzig, Schillerstraße 6, 04109
Leipzig, Deutschland
1 Einleitung
Das Rahmenthema "Paradigma Evolution", unter dem die Beiträge dieses Ban­
des stehen, stellt die traditionellen Grenzen von Natur- und Geisteswissenschaft­
en in Frage. Indem die "Lebenswissenschaften" sich konsequenterweise nicht
nur mit dem Leben der Tiere und Pflanzen, sondern auch dem der Menschen
befassen, wird auch menschliche Kultur zum möglichen Gegenstand naturwis­
senschaftlicher Betrachtung. Wenn alles Leben ein Ergebnis der Evolution ist,
dann auch das der Menschen. Und wenn die Evolutionstheorie das grundlegende
theoretische Modell ist, nach dem die Mechanismen und Ergebnisse der Ent­
wicklung der Lebewesen erklärt werden können, dann müsste sie auch imstande
sein, eine Erklärung fur die Lebensformen der Spezies homo sapiens zu liefern.
Ein Aspekt menschlichen Lebens, der in allen humanen Populationen zu beo­
bachten ist, ist Religion. Kann das "Paradigma Evolution", das in der Biologie
entwickelt wurde, auch zur Erklärung kultureller Erscheinungen beitragen? Ist
Religion das Ergebnis von Evolution? Diese Fragen sind der Ausgangspunkt des
vorliegenden Beitrages. In Anlehnung an die biologische Evolutionstheorie wird
versucht, einige Voraussetzungen der kulturellen Evolution menschlichen Ver­
haltens und die Rolle, die Religion dabei möglicherweise spielt, zu bestimmen.
Ich werde dazu in drei Schritten vorgehen.
Im ersten Teil werden einige methodische und theoretische Probleme skiz­
ziert. Ein zentrales Problem einer Theorie kultureller Evolution ist die Klärung
der Mechanismen einer nicht genetischen Vererbung von phänotypischen
Merkmalen. Der zweite Teil befasst sich mit religiösem Verhalten, das evoluti­
onstheoretisch wie jedes Verhalten als ein phänotypisches Merkmal anzusehen
ist. Im vorliegenden Kontext stellt religiöses Verhalten das Explanandum dar,
für das eine evolutionäre Erklärung gesucht wird. Es ist zu klären, ob bestimmte
Formen religiösen Verhaltens als adaptiv angesehen werden können und unter
welchen Bedingungen kulturell geprägtes Verhalten einem Prozess der Evoluti­
on unterliegt. Im dritten Abschnitt wird versucht, Religion als ein Element im
Mechanismus der kulturellen Vererbung zu bestimmen. Dabei wird die Hypo­
these entwickelt, dass eine evolutionäre Erklärung menschlichen Verhaltens
voraussetzt, dass die kulturellen Faktoren, die das Verhalten prägen, in einer
Ich danke Judith Zimmermann !Ur wertvolle Hinweise bei der kritischen Durchsicht und
Formatierung des Manuskriptes.
107
106
Weise fixiert werden, die eine Vererbung auf folgende Generationen ermöglicht.
Im abschließenden Kapitel werden die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwi­
schen genetischer und kultureller Vererbung zusammengefasst.
2
Forschungslage und Problemstellung
2.1 Religionswissenschaftliehe Evolutionstheorien
Theorien über die Evolution von Religion haben wie auch andere wissenschaft­
liche Theorieansätze ihre Konjunkturen. Die Hochzeit des religionswissen­
schaftlichen Evolutionismus lag in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und
ist durch Versuche gekennzeichnet, den Ursprung der Religion in der Mensch­
heitsgeschichte und ihre Entwicklung von primitiven zu höheren Formen zu
bestimmen. Hinsichtlich der ursprünglichsten Formen divergierten die Theorien
(vgl. [40]). Edward B. Ty10r sah sie im Glauben an geistige Wesen, sein Schüler
Robert R. Marett nahm eine noch friihere Phase an, die durch den Glauben an
unpersönliche Mächte gekennzeichnet sei, und James G. Frazer glaubte eine
Entwicklung von Magie über Religion zu Wissenschaft feststellen zu können.
Schon Auguste Comte hatte vorher die Entwicklung der menschlichen Erkennt­
nis als Stufenfolge von Religion über Metaphysik zu positiver Wissenschaft
interpretiert und in der religiösen Phase eine Sequenz von Fetischismus über
Polytheismus zum Monotheismus zu erkennen geglaubt. AJ1 diesen Theorien ist
gemeinsam, dass sie den Ursprung und das Wesen von Religion in bestimmten
Glaubensvorstellungen sahen, die in einer friihen Phase der Menschheitsent­
wicklung entstanden seien und sich im Laufe der kulturellen Entwicklung zu
höheren Formen entwickelten, als deren Kulminationspunkt in der Regel der
Monotheismus galt. Gemeinsam ist diesen Theorien auch, dass sie im 20. Jahr­
hundert zwar nicht in Vergessenheit gerieten, aber nur noch unter wissen­
schaftshistorischen Gesichtspunkten behandelt und einer zuweilen beißenden
Kritik unterzogen wurden [27]. Nur gelegentlich wurde der Versuch aufgegrif­
fen, die Entwicklung der Religionen als eine evolutionäre Stufenfolge von pri­
mitiven Formen bis zum Protestantismus zu interpretieren [6][22].
Während in der ersten Konjunktur evolutionistischer Erklärungsversuche von
Religion die biologische Evolutionstheorie Darwins entweder ignoriert oder
missverstanden wurde, ist die zweite Konjunktur, in der wir uns gegenwärtig
befinden, durch eine starke Orientierung an biologischen Theorien gekennzeich­
net. Insbesondere in der "kognitiven Religionswissenschaft" (cognitive science
of religion) wird versucht, Erkenntnisse der evolutionären Psychologie und
Kognitionsforschung über die Entwicklung und Funktionsweise des menschli­
chen Gehirns zu benutzen, um die Entstehung und Verbreitung religiöser Vor­
stellungen zu erklären. Daraus hat sich ein überaus produktiver Forschungs­
zweig entwickelt, in dem die Erforschung von Religion unter Verwendung
. naturwissenschaftlicher Erkenntnissen und Methoden betrieben wird. Die wich­
tigsten Bezugswissenschaften sind dabei Disziplinen aus dem Umfeld der Bio­
logie: Neurowissenschaften, evolutionäre Psychologie und Kognitionsfor­
schung. Und da nach einem berühmten Diktum nichts in der Biologie zu verste­
hen ist, wenn es nicht im Lichte der Evolution betrachtet wird [23], ist die
Evolutionstheorie ein zentraler Bezugspunkt der kognitiven Religionswissen­
schaft.
Wie in Phasen einer Hochkonjunktur nicht anders zu erwarten, sind die Ar­
beiten zur evolutionären Deutung von Religion inzwischen kaum noch zu über­
blicken. 2 Obwohl diese Forschungen außerhalb der kultur- und sozialwissen­
schaftlichen Tradition der Religionswissenschaft liegen, gehen von ihnen
beträchtliche Impulse aus, die eine Öffnung der Religionswissenschaft zur Bio­
logie nahe legen. 3 Bei einer solchen interdisziplinären Annäherung treten nicht
nur die methodologischen und wissenschaftstheoretischen Probleme auf, die all­
gemein zwischen den Kultur- und Naturwissenschaften bestehen, sondern der
Gegenstand Religion bereitet zusätzliche Schwierigkeiten. Mit biologischen und
allgemein mit naturwissenschaftlichen Methoden lassen sich nur empirische
Gegenstände untersuchen, die physikalisch mess- und beschreibbar sind. Diese
Vorraussetzung trifft für Religion offensichtlich nicht zu, wenngleich eine Reihe
empirischer Gegenstände, die gemeinhin als "religiös" bezeichnet werden,
durchaus physikalisch beschreibbar sind: Kirchen, Tempel, Kultgegenstände,
Schriften und vieles andere. Dazu gehört auch religiöses Handeln in seiner mate­
riellen Gestalt. Das methodische Dilemma besteht darin, dass diese materiellen
Objekte zwar mit naturwissenschaftlichen Methoden untersucht werden können,
es jedoch urunöglich ist, mit naturwissenschaftlichen Methoden zu bestimmen,
ob es sich dabei um ,,religiöse" Gegenstände handelt. "Religiös" ist kein physi­
kalisch beschreibbares Merkmal. Selbst wenn wir die Sixtinische Kapelle bis auf
die atomare Ebene physikalisch und chemisch analysieren, können wir nicht
feststellen, dass es sich dabei um ein Gebäude religiöser Bedeutung handelt.
Genau so wenig ist es auch möglich, bei der Untersuchung neuronaler Prozesse
des Gehirns zu entscheiden, ob die damit verbundenen Vorstellungen ,,religiö­
ser" Art sind.
Der Versuch einer evolutionären Erklärung von Religion kann sich deshalb
nicht ausschließlich auf biologische Theorien und Methoden stützen. Um über­
haupt das Explanandum zu bestimmen, d.h. diejenigen empirischen Sachverhal­
te, die Gegenstand evolutionstheoretischer Erklärung sein sollen, muss auf reli­
gionswissenschaftliche Methoden und Theorien rekurriert werden. Ich werde
2
3
Es seien hier nur einige Buchpublikationen genannt: Lawsonl McCauley [32), Boyer
[11] und [10], Atran [2), Wilson [51), Lüke/SchnakenberglSouvignier [34), Kirkpatrick
[31], Rue [39], Tremlin [48), Slone [44], Bulbulia [12].
Für die Etablierung einer Teildisziplin "Religionsbiologie" plädiert Michael Blwne in
einern anregenden populärwissenschaftlichen Vortrag ,,Religions- als Naturwissen­
schaft" (http://www.blurne-religionswissenschaft.de/20.2.2008).
108
109
deshalb einen pragmatischen Ansatz wäWen, indem wir bei den evolutionstheo­
retischen Überlegungen die Frage, welche empirischen Sachverhalte als "religi­
ös" anzusehen seien, offen lassen, uns gleichzeitig aber auf solche Gegenstände
konzentrieren, die gemeinhin innerhalb der Religionswissenschaft im Zusam­
menhang mit Religion behandelt werden. Auf diese Weise wird erreicht, dass
die untersuchten Gegenstände religionswissenschaftlich relevant sind, ohne dass
es notwendig wäre, "Religion" oder ,,religiös" in den Kategorien der Evolutions­
theorie zu bestimmen.
2.2 Genetische Evolution
Bevor wir die Frage behandeln, welche Rolle Religion im Prozess der Evolution
möglicherweise spielt, sollen zunächst einige zentrale Elemente der biologi­
schen Evolutionstheorie in Erinnerung gerufen werden. Die biologische Evolu­
tionstheorie in ihrer klassischen, auf Charles Darwin zurückgehenden Form ist
eine Theorie zur Erklärung der Entstehung verschiedener Spezies von Lebewe­
sen und ihrer phänotypischen Unterschiede. Darwins Erklärung phänotypischer
Gemeinsamkeiten und Unterschiede lässt sich durch die Formel descent with
modification ausdrücken. 4 Gemeinsamkeiten werden (in der Regel) durch ge­
meinsame Abstammung, Unterschiede durch zufällige Veränderungen sowie
Selektion und Vererbung der besser an die jeweilige Umwelt angepassten
Merkmale erklärt. In ihrer modemen Variante schließt die Evolutionstheorie
unter anderem die genetische Vererbungslehre ein, die wesentlich für das Ver­
ständnis der Mechanismen der genetischen Fixierung und Weitergabe phänoty­
pischer Merkmale ist. Die phänotypischen Merkmale der Spezies homo sapiens
sind wie die aller Lebewesen ein Ergebnis evolutionärer Prozesse, die durch die
Faktoren Vererbung, Modifikation und Selektion gekennzeichnet sind. 5
Selektion setzt beim Phänotyp an, indem die Träger bestimmter Merkmale
unter gegebenen Umweltbedingungen unterschiedliche Überlebens- und Repro­
duktionschancen haben. Durch erfolgreiche Reproduktion werden die Gene der
Eltern an die Nachkommen weitergegeben, sodass indirekt auch eine Selektion
der Genotypen stattfmdet. Der langfristige Reproduktionserfolg ist unter ande­
rem vom Grad der Anpassung oder Adaption an die bestehenden Umweltbedin­
gungen abhängig. Besser angepasste Individuen haben höhere Reproduktions­
chancen und damit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass ihre Gene an die nach­
folgenden Generationen vererbt werden. Je höher diese Wahrscheinlichkeit ist,
desto größer ist die individuelle Fitness. 6
4
5
6
Darwin nennt seine Theorie nicht Evolutionstheorie, sondern theory 01 descent with
modification ([ 17], 204 et passim).
Wir vernachlässigen hier, dass bei der genetischen Evolution neben natürlicher und
sexueller·Selektion auch noch andere Faktoren wirksam sind, wie etwa Gendrifl.
Für eine differenziertere Diskussion der Begriffe Selektion, Fitness und Adaption und
ihrer unterschiedlichen Interpretationen vgl. Durharn [24],12-15.
Allerdings sind nicht alle phänotypischen Merkmale das direkte Ergebnis gene­
tischer Evolution. Der individuelle Phänotyp wird auch durch Umweltfaktoren
geprägt. Solche Faktoren sind etwa die Art der Ernährung, Krankheitserreger
oder mechanische Umwelteinflüsse. Stärker noch als morphologische Merkmale
wird menschliches Verhalten durch Umwelteinflüsse geprägt. Individuelles
Verhalten kann relativ schnell auf Veränderungen der Umwelt reagieren und
sich daran anpassen. Diese Form der Anpassung ist jedoch nicht adaptiv im evo­
lutionären Sinne, weil durch Umwelteinflüsse geprägte phänotypische Merkma­
le im Gegensatz zu den genetisch geprägten nicht vererbbar sind.
Menschliches Verhalten weist eine im Vergleich zu anderen Lebewesen au­
ßergewöhnliche Variabilität auf. Das Verhalten von Menschen verschiedener
Populationen unterscheidet sich mitunter in hohem Maße, und diese Unterschie­
de sind nicht genetisch bedingt. Es gibt kulturelle Unterschiede des Verhaltens,
und Verhaltensweisen können kulturell tradiert werden. Zu diesen kulturellen
Unterschieden gehören unter anderem religiöses Verhalten und religiöse Tradi­
tionen. 7
In seiner Variabilität gehört religiöses Verhalten zu den phänotypischen
Merkmalen. Anders als individuelle religiöse Vorstellungen in Form mentaler
Repräsentationen ist religiöses Verhalten beobachtbar. Ebenfalls im Unterschied
zu mentalen Repräsentationen wirkt sich Verhalten direkt auf die Überlebens­
und Reproduktionschancen eines Individuwns aus. Für mentale Repräsentatio­
nen oder Bewusstseinsinhalte gilt dies allenfalls indirekt, nämlich insoweit sie
Auswirkungen auf das Verhalten haben. Da Verhalten unterschiedlich gut an die
Umwelt angepasst sein kann, unterliegt es wie alle phänotypischen Merkmale
dem evolutionären Prozess der Selektion. Dies gilt jedenfalls dann, wenn das
Verhalten durch genetische Faktoren geprägt ist, die vererbt werden können.
Kulturell geprägtes Verhalten ist dagegen definitionsgemäß nicht genetisch ge­
prägt und kann deshalb auch nicht genetisch vererbt werden.
Für eine evolutionstheoretische Betrachtung von Religion können wir aus die­
sen Überlegungen mehrere Folgerungen ziehen:
• Wenn Religion überhaupt einen Einfluss auf die individuelle Fitness hat,
dann in Form von "religiösem" Verhalten. Denn religiöse Vorstellungen,
die keinerlei Wirkungen auf der Ebene des Verhaltens zeigen, haben auch
keine Konsequenzen für die individuellen Reproduktionschancen.
• Wenn religiöses Verhalten einen Einfluss auf die individuelle Fitness hat,
dann hat dies nur dann evolutionäre Bedeutung, wenn religiöses Verhal­
ten in irgendeiner Weise vererbt werden kann. Denn phänotypische
7
Selbstverständlich kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Disposition zu religiö­
sem Verhalten auch durch genetische Faktoren geprägt ist. Es steht jedoch außer Frage,
dass die phänotypische Ausprägung religiösen Verhaltens im Wesentlichen von kultu­
rellen Faktoren abhängt.
liD
111
Merkmale, die nicht vererbt werden, gehen in der Generationenfolge ver­
loren und können sich deshalb nicht evolutionär entwickeln.
• Wenn religiöses Verhalten nicht genetisch fixiert ist, dann kann es nur
vererbt werden, wenn es andere als genetische Mechanismen der Verer­
bung gibt.
Eine evolutionäre Deutung von Religion ist demnach nur möglich unter der
Voraussetzung, dass es Mechanismen der Vererbung von religiösem Verhalten
gibt. Da religiöses Verhalten nicht genetisch, sondern kulturell geprägt ist,
müsste es Mechanismen der kulturellen Vererbung geben. Ohne kulturelle Ver­
erbung kann es keine kulturelle Evolution geben.
2.3 Kulturelle Evolution
Die Hypothese, dass es neben der genetischen Evolution auch kulturelle Evolu­
tion gebe, ist seit längerem Teil der Evolutionstheorie. In ihrer 1981 veröffent­
lichten Untersuchung Cultural Transmission and Evolution versuchten die Evo­
lutionsbiologen Luigi L. Cavalli-Sforza und Marcus W. Feldmann die Faktoren
der Selektion und Verbreitung kultureller Merkmale zu bestimmen und in An­
lehnung an Erkenntnisse der Epidemiologie mathematisch zu berechnen ([13],
ähnlich [9]). Danach verbreiten sich kulturelle Merkmale (traits) ähnlich wie
Gene, wobei jedoch andere Mechanismen der Selektion wirksam seien als bei
der genetischen Evolution. Am Beispiel der Sprachentwicklung lässt sich nach
dieser Theorie zeigen, dass zwischen verschiedenen Sprachen "Verwandt­
schaftsbeziehungen" bestehen, sodass sich Stammbäume von Sprachen erstellen
lassen, die den durch genetische Verwandtschaft definierten Stammbäumen von
Völkern gleichen ([14], 150-185). In ähnlicher Weise lassen sich auch Religio­
nen betrachten und Stammbäume "verwandter" Religionen darstellen, etwa der
"abrahamitischen Religionen" (Judentum, Christentum, Islam) oder der süd- und
ostasiatischen Religionen (Vedische Religion, Hinduismus, Buddhismus, Jai­
nismus etc.). 8
Solche Versuche, die historische Entwicklung und Differenzierung religiöser
Traditionen nach dem Vorbild der genetischen Evolution zu interpretieren, ge­
hen davon aus, dass bestimmte "religiöse" Merkmale des Phänotyps im evoluti­
onären Sinne adaptiv seien und im Verlauf der kulturellen Evolution die am
besten angepassten Merkmale tradiert und verbreitet würden, wobei neben na­
türlicher Selektion noch Faktoren kultureller Selektion bestünden. Eine derartige
Theorie kultureller Evolution gleicht der klassischen biologischen Evolutions­
theorie Darwins, weil sie eine Erklärung für phänotypische Differenzierungen
,,religiöser" Merkmale zu geben versucht. Sie teilt mit jener jedoch den Mangel,
8
Vgl. dazu StonelLurquin [47], 237-257. Ähnlich: Wunn [53]. Der Versuch, einen "ge­
nealogischen Stammbaum" der Religionen zu entwickeln, wurde bereits im 19. Jahr­
hundert von F. Max Müller unternommen (vgl. [37], 95-98).
keine Erklärung dafür zu geben, wie phänotypische Merkmale vererbt werden.
In der biologischen Evolutionstheorie wurde diese Lücke durch die Entdeckung
der molekularbiologischen Prozesse genetischer Vererbung geschlossen. Die
Gene als Träger von Informationen, die die ontogenetische Proteinsynthese
steuern, werden durch Replikation an die Nachkommen weitergegeben und fuh­
ren so zur Ausbildung von ähnlichen Phänotypen. Wie aber kann die Verbrei­
tung phänotypischer Merkmale menschlichen Verhaltens evolutionär erklärt
werden, wenn sie nicht genetisch fixiert und vererbt werden?
Ein Versuch, dieses Problem zu lösen, geht auf den Evolutionsbiologen Ri­
chard Dawkins zurück. Dawkins glaubt, ein kulturelles Analogon zu den Genen
gefunden zu haben und nennt sie ,,Merne" [19]. Als ,,Meme" werden alle mögli­
chen kulturell geprägten Verhaltensweisen und ihre Produkte bezeichnet, wie
zum Beispiel Melodien, Sprichwörter, Kleidermoden und natürlich auch religiö­
se Praktiken. Meme seien wie Gene Replikatoren, die sich selbst verbreiten.
Dies geschehe durch Imitation, d.h. indem Menschen bestimmte Verhaltenswei­
sen nachahmen, werden die entsprechenden Meme kopiert. Inzwischen hat sich
,,Memetik" als eine eigene Theorietradition in Analogie zur Genetik etabliert
[3]. Die Mem-Theorie scheint geeignet, den Prozess kultureller Evolution in
ähnlicher Weise zu begreifen wie den der genetischen Evolution. Sie weist je­
doch die Schwäche auf, nur eine tautologische Erklärung für die Vererbung kul­
turell geprägten Verhaltens zu geben. "Meme" im Sinne Dawkins' sind selbst
Merkmale des menschlichen Phänotyps, nämlich bestimmte Formen des Verhal­
tens. Meme verbreiten sich, indern das betreffende Verhalten imitiert wird, d.h.
indem andere Individuen das gleiche Verhalten zeigen. Die Verbreitung phäno­
typischer Merkmale wird also damit erklärt, dass mehrere Individuen die glei­
chen phänotypischen Merkmale aufweisen. Dies ist offensichtlich keine Erklä­
rung, sondern nur eine Beschreibung der Tatsache, dass bestimmte
phänotypische Merkmale verbreitet sind. Es fehlt eine Antwort auf die Frage,
durch welche Faktoren über mehrere Generationen gleiches oder ähnliches Ver­
halten ausgelöst und gesteuert wird. Die Verbreitung phänotypischer Merkmale
ohne Fixierung der sie prägenden Ursachen ist kein evolutionärer Prozess. 9
Die Mem-Theorie :fuhrt also nicht weiter, wenn wir klären wollen, ob religiö­
ses Verhalten das Ergebnis kultureller Evolution sei. Dass sich bestimmte For­
men religiösen Verhaltens innerhalb einer Population und darüber hinaus
9
Man könnte im Sinne Dawkins' argumentieren, dass Organismen in ihrer phänotypi­
schen Gestalt nur Instnunente der Gene seien, um sich selbst zur replizieren, und analog
wären sie Instnunente, die der Selbstreplikation der Meme dienen. Meme, die nicht über
mehrere Generationen bestehen, hätten dann einfach nur eine evolutionär kurze Exis­
tenz, weil sie negativ selektiert wurden. Aber auf diese Weise ließe sich kulturell ge­
prägtes Verhalten nicht evolutionär erklären, sondern nur tautologisch: Ein bestimmtes
Verhalten wird durch Meme geprägt, deren Existenz sich darin zeigt, dass das betref­
fende Verhalten auftritt.
113
112
verbreiten können, steht außer Frage. In diesem Punkt unterscheidet sich religiö­
ses Verhalten nicht von anderen Verhaltensformen, etwa der Praxis, mobile Te­
lefone zu benutzen. Ungeklärt ist jedoch, ob es evolutionäre Gründe dafür gibt,
dass religiöses Verhalten in allen bekannten Populationen vorkommt einscWieß­
lich der ältesten Gesellschaften, für die wir über hinreichende Informationen
verfügen. Ist die Tatsache, dass Populationen der Spezies Mensch in der Regel
Religion "haben", ein Ergebnis kultureller Evolution in dem Sinne, wie die Tat­
sache, dass die Individuen der Spezies in der Regel Haare haben, ein Ergebnis
genetischer Evolution ist?
Im Folgenden werden wir uns mit der Frage befassen, ob Religion evolutionär
als Anpassung an bestimmte Umweltbedingungen erklärt werden kann. Damit
im Zusammenhang steht die Frage, ob es Mechanismen kultureller Vererbung
gibt und welche Rolle Religion dabei möglicherweise spielt. Diese zweite Frage
ist die evolutionstheoretisch wichtigere, weil ohne kulturelle Vererbung indivi­
duelle Anpassung evolutionär folgenlos und kulturelle Evolution nicht möglich
wäre.
3
Religiöses Verhalten und evolutionäre Anpassung
Wenn wir die Hypothese verfolgen, dass Religion evolutionär als Anpassung an
bestimmte Umweltbedingungen erklärt werden könne, dann sind es nicht in ers­
ter Linie Vorstellungen und Glaubensinhalte, denen wir Aufmerksamkeit schen­
ken müssen, sondern bestimmte Formen des Verhaltens. Als typisch für religiö­
ses Verhalten gelten vor allem rituelle Handlungen wie etwa Opferrituale,
Gottesdienste oder Bestattungsrituale. Daneben ist aber auch nichtritualisiertes
religiöses Verhalten zu beachten. Dazu gehört jede Handlung, der durch die Ak­
teure eine religiöse Bedeutung gegeben wird oder die religiös motiviert ist. Mit­
unter kann sich die gesamte Lebensführung an religiösen Vorgaben orientieren,
von der Art der Ernährung über die Erwerbstätigkeit bis zum Sexualleben. Reli­
giös begründete Normen moralischen oder sittlichen Handelns üben mitunter
einen erheblichen Einfluss auf das individuelle und kollektive Verhalten aus.
Besonders offensichtlich ist dies bei Verhalten, das sich an religiös begründe­
ten moralischen Normen orientiert. In vielen Fällen erscheint moralisches Han­
deln als nachteilig für den Akteur, etwa wenn die Konformität mit ethischen
Normen einen Verzicht auf persönlichen Vorteil bedeutet. Opferbereitschaft,
Achtung fremden Eigentums oder Wahrheitsliebe mögen auf den ersten Blick
der individuellen Fitness abträglich sein. Es ist jedoch leicht erkennbar, dass
eine Gesellschaft, in der Normen dieser Art Geltung besitzen, auch den einzel­
nen Individuen bessere Überlebens- und Reproduktionschancen bieten als sol­
che, in der das persönliche Vorteilsstreben nicht durch moralische oder gesetzli­
che Normen beschränkt wird. Die Befolgung moralischer Normen bedeutet
des4atb auf längere Sicht einen Anpassungsvorteil und ist deshalb evolutionär
adaptiv, selbst wenn sie im Einzelfall nachteilig für das individuelle Überleben
sem mag.
3.1 Soziale Kooperation und religiöse Moral
Der Anpassungsvorteil moralischen Handelns wird noch deutlicher, wenn wir
berücksichtigen, dass Anpassungsdruck nicht nur von der natürlichen, sondern
auch von der sozialen Umwelt ausgeht. Unmoralisches Verhalten wie Diebstahl
oder Betrug kann zwar isoliert betrachtet Vorteile für den Akteur bringen, aber
in der Regel werden solche Verhaltensweisen sozial negativ sanktioniert und die
Strafen sind mit Nachteilen verbunden. Konformität mit gesellschaftlichen
Normen kann also als Anpassung an spezifisch menscWiche Umweltbedingun­
gen angesehen werden.
Menschen können nur in sozialen Verbänden, in denen sie miteinander ko­
operieren, überleben und sich reproduzieren. Anpassung an die jeweilige soziale
Umwelt ist die Voraussetzung für erfolgreiche Kooperation und damit ein Fit­
nessvorteil sowohl für die betreffenden Individuen als auch für die Population
insgesamt. Bei kooperativem Handeln verfolgen mehrere Individuen gemeinsa­
me Ziele und Strategien. Dies setzt einerseits eine Verständigung über Ziele und
Strategien voraus, andererseits aber auch Vertrauen darauf, dass die Partner sich
tatsächlich kooperativ verhalten und nicht etwa ihren persönlichen Vorteil auf
Kosten der anderen maximieren. Ein Individuum wird also in der Regel Partner
auswäWen, auf deren Kooperation es vertraut und deren Verhalten es in hinrei­
chendem Maße antizipieren kann. Die wahrscheinlich beste Strategie besteht in
der Auswahl von Partnern, deren bisheriges Verhalten bereits ihre Zuverlässig­
keit bewiesen hat und Vertrauen in ihre Kooperation begründet. Personen, deren
Zuverlässigkeit und Ehrlichkeit bekannt ist, sind also gesuchte Kooperations­
partner und werden ceteris paribus gegenüber denjenigen im Vorteil sein, deren
Tugendhaftigkeit zweifelhaft ist. Da Konformität mit moralischen Normen als
ein Indikator für Zuverlässigkeit gelten kann, bedeutet sie somit einen Anpas­
sungsvorteil in einer sozialen Umwelt, die auf Kooperation angelegt ist.
Natürlich gilt dies nicht nur für Normenkonformität, die religiös motiviert ist.
Wenn hohe Normenkonformitäeo des Verhaltens ein Adaptionsgewinn ist, dann
gilt dies unabhängig von den subjektiven Motiven für dieses Verhalten. Es ist
auch möglich, mit Hilfe eines rationalen Kalküls zu dem Ergebnis zu kommen,
dass der Nutzen von bekannter Zuverlässigkeit, Ehrlichkeit und Tugendhaftig­
keit langfristig höher ist als die damit verbundenen Kosten. Aber das gleiche
Ergebnis wird erreicht, wenn das Verhalten durch religiöse Motive gesteuert
wird; die Internalisierung religiöser Moralvorstellungen bietet zudem den Vor­
teil, auch unabhängig von rationalem Kalkül kooperatives Verhalten zu motivie­
10
"Hohe Nonnenkonformität" bedeutet nicht "vollständige Nonnenkonfonnität". Es kann
an dieser Stelle nicht auf darauf eingegangen werden, dass auch Norrnenabweichung ei­
ne adaptive Funktion haben kann.
115
114
ren und das Individuum psychisch zu entlasten, weil der Entscheidungsaufwand
verringert wird.
Durch religiöse Moralvorstellungen geprägtes Verhalten wird wie jedes Ver­
halten unmittelbar durch Prozesse des Zentralnervensystems ausgelöst und ge­
steuert. MenscWiches Verhalten reduziert sich nicht auf die Verarbeitung von
Signalen aus der äußeren und inneren Umwelt durch genetisch ftxierte "evoluti­
onäre Algorithmen"ll, d.h. genetisch vererbte Reaktionsmuster. Das menschli­
che Gehirn ist in der Lage, Verhalten bewusst zu steuern und dabei Informatio­
nen zu berücksichtigen, die erst im Verlauf der Ontogenese erworben wurden.
Bewusstes oder intentionales Handeln verfolgt Ziele und beJÜcksichtigt dabei
bestehende Handlungsmöglichkeiten. Intentionales Handeln orientiert sich an
Vorstellungen über die Wirklichkeit - mentalen Repräsentationen - die zwar
durch neuronale Prozesse repräsentiert werden, jedoch nicht rillt diesen identisch
sind.
Die Möglichkeit, Verhalten durch mentale Repräsentationen zu steuern, stellt
in der Evolution der menschlichen Spezies einen beträchtlichen Anpassungsvor­
teil dar, weil sie von der Steuerung durch an ganz speziftsche Umweltbedingun­
gen angepasste genetisch ftxierte Verhaltensprogramme entbindet. Die mental
repräsentierten kognitiven und normativen Orientierungen des Handelns können
gewissermaßen als Ersatz oder genauer: als Ergänzung der genetisch bedingten
neuronalen Steuerungsmechanismen angesehen werden. 12 Die Fähigkeit zu in­
tentionalem Handeln ist ein Ergebnis der genetischen Evolution des menschli­
chen Gehirns. Der speziftsche Inhalt mentaler Repräsentationen ist dabei evolu­
tionär nur indirekt von Bedeutung, nämlich soweit dadurch Verhalten gesteuert
wird, das unter gegebenen Umweltbedingungen adaptiv ist.
Damit Verhalten adaptiv sein kann, ist es keineswegs notwendig, dass die es
auslösenden Vorstellungen ein "richtiges" Bild der Welt repräsentieren. Es ge­
nügt, dass sie das ,,richtige" Verhalten motivieren. Dies lässt sich leicht an dem
oben behandelten Beispiel kooperativen Verhaltens erläutern. Kooperatives
Verhalten ist auch dann adaptiv, wenn es auf "falschen" Vorstellungen beruht,
etwa auf der, dass Betrug durch die Ahnen bestraft werde oder zu einer Wieder­
geburt in der Hölle führe. Wenn wir derartige Vorstellungen als "religiös" beII
12
Zu "evolutionären Algorithmen" vgl. Voland/Söling (49).
Es steht außer Frage, dass menscWiches Verhalten weit mehr umfasst als intentionales
Handeln und phylogenetisch ererbte psychische Strukturen oder ,,kognitive Algorith­
men" einen erheblichen Einfluss auf das Verhalten ausüben. Die Untersuchung solcher
genetisch fixierter Programme ist Gegenstand der evolutionären Psychologie. Es steht
allerdings genauso außer Frage, dass sich menschliches Verhalten nicht ausschließlich
durch solche kognitiven Algorithmen erklären lässt, weil die Plastizität des Gehirns eine
Veränderung kognitiver Strukturen ermöglicht und das Bewusstsein das Verhalten an
Umweltbedingungen anpassen kann, die sich grundlegend von den entwicklungsge­
schichtlich wirksamen prähistorischen Biotopen unterscheiden.
zeichnen, dann müssen wir einräumen, dass religiöse Vorstellungen adaptives
Verhalten auslösen und damit die individuelle Fitness steigern können.
3.2
Kulturelles Lernen
An die Umwelt angepasstes Verhalten, das die individuellen Überlebens- und
Reproduktionschancen erhöht, ist nur dann evolutionär relevant, wenn es auch
vererbt wird. Die mentalen Repräsentationen, die intentionales Handeln steuern,
können nicht genetisch vererbt werden. Es ist jedoch möglich, die rillt dem men­
talen Bild der Welt gegebenen kognitiven und normativen Orientierungen des
Handelns auf andere Weise weiterzugeben. Dies ist die Voraussetzung kulturel­
len Lernens, das im Unterschied zu imitativem Lernen nicht konkrete Verhal­
tensmuster kopiert, sondern die das Handeln steuernden kognitiven und norma­
tiven Orientierungen übernimmt. Möglich wird dies durch den Umstand, dass
die Vorstellungen von der Welt nicht nur mental durch neuronale Prozesse rep­
räsentiert werden können, sondern auch symbolisch. Das wichtigste, wenn auch
nicht das einzige Medium symbolischer Repräsentation ist die Sprache. Durch
symbolische Repräsentation können Vorstellungen außerhalb des individuellen
Gehirns intersubjektiv verfügbar werden. Gesprochene oder geschriebene Spra­
che und andere symbolische Formen bilden das materielle Substrat, in dessen
Medium Vorstellungen außerhalb des Körpers repräsentiert werden können.
Damit werden Vorstellungen, die die kognitiven und normativen Orientierungen
intentionalen Handelns bilden, zwischen Individuen kommunizierbar.
Es braucht nicht besonders betont zu werden, dass symbolische Kommunika­
tion ein hochkomplexer Prozess ist, bei dem in der Regel Verzerrungen und
Verlust von Informationen auftreten. Wir können dies an dieser Stelle vernach­
lässigen. Wichtig ist zunächst nur, dass durch symbolische Repräsentationen
Kommunikation möglich ist und auf diese Weise die subjektiven mentalen Rep­
räsentationen beeinflusst werden. Nicht alle, die die gleiche Geschichte hören
oder den gleichen Text lesen, entwickeln dabei die gleichen Vorstellungen, aber
die individuellen Vorstellungen werden jedenfalls davon in irgendeiner Weise
beeinflusst. Unter bestimmten Bedingungen werden die mentalen Vorstellungen
der Teilnehmer in gewissem Maße homogenisiert. So gering der Erfolg des mo­
dernen Schulunterrichts in der Vermittlung von Wissen zuweilen auch sein mag,
in der Regel werden die Schüler mit relativ ähnlichen Vorstellungen über die
Welt die Schule verlassen.
Allgemeiner Schulunterricht ist eine historisch sehr junge Lösung des in allen
humanen Populationen bestehenden Funktionsproblems der Homogenisierung
mentaler Repräsentationen. Durch die Homogenisierung der kognitiven und
normativen Orientierungen des Verhaltens wird kooperatives Verhalten inner­
halb einer Population erheblich begüllStig. Für Individuen rillt ähnlichen Vorstel­
. lungen ist es leichter, eine Verständigung über Handlungsziele zu erreichen als
für solche, deren kognitive und normative Orientierungen deutlich divergieren.
116
Die Homogenisienmg der individuellen Repräsentationen bedeutet eine kulturel­
le Prägung des Gehirns unter den Einfluss symbolischer Kommunikation.
Schulunterreicht ist eine institutionalisierte Form der Sozialisation, in deren
Verlauf individuelle Vorstellungen, Motivationen und Werte sozial geprägt
werden. Sozialisationsprozesse sind ein wesentliches Element der Tradienmg
von Wissen, Werten und Handlungsoptionen. Sie sind eine notwendige, wenn
auch keine hinreichende Voraussetzung fiir kulturelle Vererbung und Evolution.
4
Religion als Medium kultureller Vererbung
Im folgenden Kapitel sollen einige der Mechanismen kultureller Vererbung und
die Rolle, die Religion dabei spielt, näher betrachtet werden. Rekapitulieren
wird dazu zunächst die wesentlichen Elemente der bisherigen Überlegungen.
Intentionales Verhalten wird durch mentale Repräsentationen gesteuert, die
als kognitive und normative Orientierungen des Handelns dienen. Eine kulturel­
le Prägung von Verhalten erfolgt im Prozess der Sozialisation. Dabei wird eine
mehr oder weniger starke Homogenisierung individueller mentaler Repräsenta­
tionen erreicht, d.h. die Vorstellungen von der Welt und die Bewertung der Din­
ge gleichen sich innerhalb einer Sozialisationsgemeinschaft, so dass das Han­
deln der Individuen durch ähnliche kognitive und normative Orientierungen
gesteuert wird. Die Angehörigen einer Population agieren in einem gemeinsa­
men Kosmos von mental repräsentierten Handlungsmöglichkeiten und Hand­
lungszielen. Dieses Weltbild wird im Verlauf der Ontogenese durch symboli­
sche Kommunikation und soziale Interaktion erworben, das heißt, es besteht in
der Regel schon vor der Geburt des Individuums und unabhängig von ihm als
kollektive Repräsentation. Während der Ontogenese wird das Gehirn somit
durch die in der Sozialisationsgemeinschaft bestehenden kollektiven Repräsen­
tationen geprägt. Dies ist die Basis der kulturellen Prägung von Verhalten.
Für das Verständnis kultureller Vererbung ist es hilfreich, zunächst von einer
Analogie zur genetischen Vererbung auszugehen. Die genetische Vererbung
phänotypischer Merkmale ist möglich, weil die im Verlauf der Ontogenese den
Phänotyp prägenden Faktoren - bestimmte Gensequenzen - repliziert werden.
Phänotypische Ähnlichkeit genetisch verwandter Individuen ist darauf zurück­
zuführen, dass jeweils die gleichen genetischen "Ursachen" wirksam sind. Die
prägenden genetischen Faktoren sind dabei im Körper der Individuen fixiert und
werden vom Körper der Eltern direkt an den der Nachkommen weitergegeben.
Vererbung erfolgt in diesem Fall also, indem die den Phänotyp prägenden gene­
tischen Faktoren in der Generationenfolge relativ konstant bleiben. In Analogie
dazu kann kulturelle Vererbung verstanden werden. Ausgangspunkt ist auch hier
der Umstand, dass der Phänotyp - Verhalten und die es steuernden neuronalen
Prozesse - durch bestimmte Faktoren geprägt wird. Eine Vererbung kulturell
geprägtten Verhaltens und der damit verbundenen Anpassungsgewinne" ist auch
hier möglich, wenn die den Phänotyp prägenden Faktoren in der Generationen­
117
folge relativ konstant bleiben. Im Unterschied zur genetischen Vererbung sind
diese Faktoren jedoch nicht im Körper fixiert, sondern liegen als kollektive Rep­
räsentationen in der kulturellen Umwelt außerhalb des individuellen Körpers.
Kulturelle Vererbung von Verhalten setzt also Mechanismen voraus, welche die
kollektiven Repräsentationen relativ konstant halten, so dass die Faktoren, die
das Verhalten prägen, gleichsam fixiert werden. Statt einer genetischen Fixie­
rung von das Verhalten prägenden Faktoren erfolgt dabei eine kulturelle Fixie­
rung.
Weder bei kultureller noch bei genetischer Vererbung bleibt der Phänotyp in
der Generationenfolge völlig gleich. Phänotypisch wird in beiden Fällen nur
Ähnlichkeit vererbt. Auch der Genotyp als den Phänotyp prägender Faktor
bleibt nicht über Generationen gleich, weil es zu Rekombinationen von Gense­
quenzen und Mutationen kommt. Dies ist bekanntlich die Quelle von Modifika­
tionen, durch die eine evolutionäre Entwicklung erst möglich wird. Genetische
Vererbung bedeutet also nicht völlige Konstanz der genetischen Faktoren, son­
dern nur eine relative Konstanz. Gleiches gilt bei kultureller Vererbung für die
den Phänotyp prägenden kulturellen Faktoren.
Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang Religion? In der überschauba­
ren Geschichte der Menschheit ist Religion eines der wichtigsten Medien der
kulturellen Vererbung. Religion ist zugleich ein Ergebnis kultureller Evolution
und ihr Instrument. Religion ist eine der evolutionär erfolgreichsten Lösungen
des Problems, kulturell geprägte Handlungsorientierungen zu vererben. Die Lö­
sung dieses Funktionsproblems ist von mehreren Bedingungen abhängig, die
historisch zwar nicht ausschließlich, aber doch bemerkenswert häufig durch
religiöse Praxis erfüllt werden. Im Wesentlichen basiert kulturelle Vererbung
auf folgenden Voraussetzungen:
• Externalisierung von Erbinformationen im Medium symbolischer Reprä­
sentationen
• Fixierung und Replikation von Erbinformationen über Generationen
• Translation von Erbinformationen in Verhalten
Der Ausdruck "Erbinformationen" soll die Analogie zur genetischen Vererbung
deutlich machen. Im Falle kultureller Vererbung ist die Erbinforrnation in sym­
bolischen Repräsentationen enthalten, die außerhalb des Körpers fixiert und
repliziert werden und so nachfolgenden Generationen zur Verfügung stehen.
Indem symbolische Repräsentationen in mentale Repräsentationen übersetzt
werden, werden sie zu kognitiven und normativen Orientierungen individuellen
und kollektiven Handelns.
Die zentrale Voraussetzung kultureller Vererbung ist das mittlere Element:
- Fixierung und Replikation symbolischer Repräsentationen über Generationen.
Nur unter dieser Voraussetzung können wir von "Erbinformationen" sprechen.
119
118
Wie wir sehen werden, erfolgt die Fixierung und Replikation symbolischer Rep­
räsentationen häufig im Medium der Religion durch Sakralisierung. Aber auch
Externalisierung und Translation kollektiver Repräsentationen sind oft mit reli­
giöser Praxis verbunden. Dies soll im Folgenden erläutert werden, wobei ich
mich auf zwei Formen symbolischer Repräsentation konzentriere: sprachliche
und performative Repräsentation.
4.1
Symbolische Repräsentation durch Sprache: Mythen und heilige
Schriften
Das wichtigste Medium symbolischer Repräsentation ist ohne Zweifel die Spra­
che. Kollektive Vorstellungen über die Welt - Kosmologien - und Regeln des
Verhaltens werden vorzugsweise, wenn auch nicht ausschließlich, im Medium
der Sprache repräsentiert und sprachlich kommuniziert. Die Mechanismen der
Fixierung sprachlich kodierter Informationen sind leicht erkennbar. Am offen­
sichtlichsten ist schriftliche Fixierung. Schriftliche Texte können dazu dienen,
kollektive Vorstellungen über Generationen verfügbar zu halten und die indivi­
duellen Repräsentationen zu beeinflussen. Diese Funktion wird modern etwa
von Schul- und Lehrbüchern erfüllt, die wegen ihrer oft kurzen Verfallszeit aber
nicht die besten Beispiele für kulturelle Fixierung sind. Typischer sind Texte,
die über Generationen nahezu unverändert überliefert werden und ihre Wirkung
entfalten. Dazu gehören vor allem ,,kanonische" Texte verschiedener Art, wie
etwa kodifizierte Rechtstexte oder kanonisierte literarische Texte, die zum kultu­
rellen ,,Erbe" einer Gesellschaft gerechnet werden. In allen literaten Kulturen
werden bestimmte Texte kanonisiert und in besonderer Weise behandelt, unter
anderem dadurch, dass sie sorgfaltig tradiert werden und ihnen Autorität zuge­
wiesen wird (vgl. [42]). In vormodernen Gesellschaften handelt es sich dabei
sehr häufig um religiöse Texte, in denen unter anderem grundlegende soziale
Normen aber auch kosmologische und historische Vorstellungen symbolisch
repräsentiert sind. ,,Heilige Schriften" sind in der Regel symbolische Repräsen­
tationen von normativen und kognitiven Orientierungen. Dabei scheint gerade
ihre ,,Heiligkeit", d.h. ihre sozial zugewiesene besondere Autorität und Unver­
änderbarkeit, ein wichtiges Element der kulturellen Fixierung und Tradierung zu
sein, das nicht in gleicher Weise für alle schriftlichen Texte gilt [1].
Eine vergleichbare Funktion können auch Texte haben, die nicht schriftlich
fixiert sind. In nichtliteraten Gesellschaften erfolgt die Tradierung kanonischer
Texte, etwa von Mythen, allein durch orale Weitergabe. Auch orale Tradition
kann zu einem gewissen Maß an Fixierung führen, indem kanonische Texte
wortwörtlich memoriert und rezitiert werden oder Mythen regelmäßig erzählt
und so in ihren wesentlichen Inhalten konstant bleiben. 13
13
Wie exakt ·die orale Weitergabe von Mythen ist, lässt sich naturgemäß nur schwer
bestimmen. Es ist jedoch sicher, dass es dabei im Laufe der Zeit zu "Kopierfehlern" und
so zu Veränderungen kommt. Zu unterschiedlichen Versionen von Mythen vgl. Levi-
Kulturelle Vererbung setzt einerseits voraus, dass kollektive Repräsentationen
symbolisch repräsentiert und die Texte repliziert werden. Zudem ist es notwen­
dig, bei der Replikation größere Kopierfehler zu vermeiden. Schließlich muss
gewährleistet sein, dass die in Texten kodierten Informationen von den nachfol­
genden Generationen in individuelle Repräsentationen übersetzt werden und
damit auch das Verhalten prägen. Diese Bedingungen sind häufig dann erfüllt,
wenn es sich um religiöse Texte handelt, die sakralen Status besitzen. Mit "Sak­
ralisierung" ist die Markierung besonderer Bedeutung gemeint, die die sakralen
Objekte aus dem Bereich des Alltäglichen oder Profanen herausnimmt. Sakrali­
sierung wird durch gesellschaftliche Praxis vollzogen. Die gesellschaftliche Pra­
xis kann zum Beispiel besonderen Respekt zum Ausdruck bringen, der durch
bestimmte Formen des Umgangs mit sakralen Objekten gekennzeichnet ist, die
sie von profanen Objekten unterscheidbar macht. 14 Soweit es sich um sakrale
Texte handelt, zeigt sich ihre außeralltägliche Bedeutung unter anderem in der
Verehrung der Schriften einschließlich ihrer materiellen Gestalt, im rituellen
Umgang mit ihnen und im Bemühen, sie möglichst unversehrt und wortgetreu
zu bewahren. Damit verbunden ist in der Regel ein außergewöhnlicher Einsatz
personaler, materieller oder finanzieller Ressourcen. Vordergründig scheint dies
eine funktions lose Verschwendung von Ressourcen zu sein, wie sie im Zusam­
menhang mit Religion häufig zu beobachten ist. 15 Als Markierung und Instituti­
onalisierung von Sakralität erfüllt hoher Ressourceneinsatz jedoch eine Funktion
im Mechanismus kultureller Vererbung.
Im Falle von "heiligen Schriften" trägt der sakrale Status dazu bei, ihre Über­
lieferung sicherzustellen und dabei Kopierfehler gering zu halten. Dies gilt so­
wohl für schriftliche als auch für mündliche Tradierung. Im letzteren Fall ist das
Risiko von Kopierfehlern besonders bocb. Bei der Replikation der in sakralen
Texten kodierten Informationen wird dieses Risiko auf verschiedene Weise ver-
14
15
Strauss [33]. - Hinsichtlich der Kopierfehler unterschieden sich orale Traditionen nur
graduell von schriftlichen Traditionen, die ebenfalls keine völlig exakte Weitergabe ga­
rantieren. Gleiches gilt übrigens auch fiir genetische Replikation.
Die hier vorgenommene Unterscheidung von "sakral" und "profan" orientiert sich an
Emile Durkheim (vgl. [25], 49-58), wobei "sakral" in Ermangelung eines anderen deut­
schen Wortes als übersetzung fiir "sacre" gebraucht wird.
In der Evolutionsbiologie wird ein funktions loses Merkmal, das als "Nebenprodukt" der
Evolution entstanden ist, als spandrei bezeichnet. Der Begriffwurde von Stephen Gould
eingeführt [29). Ein spandrei ("Spandrille", "Bogenzwickel") ist in der Architektur die
dreiseitig begrenzte Fläche zwischen einem Bogen und seiner rechteckigen Umrah­
mung, die keine architektonisch tragende Funktion hat und oft ornamental ausge­
schmückt wird. In der Cognitive Science of Religion wird Religion in der Regel als
spandrei angesehen, weil sie zwar evolutionär ermöglicht sei, aber keine adaptive Funk­
tion habe (vgl. Atran[2), 43-45). Nach dieser Theorie wäre der mit Sakralisierungspro­
zessen und bestimmten Formen religiösen Verhaltens verbundene außergewöhnliche
Ressourceneinsatz ein spandrei und damit funktionslose Verschwendung.
120
121
ringert: einerseits durch häufige Wiederholung der immer gleichen Mythen und
Erzählungen, andererseits dadurch, dass zentrale Strukturen des Weltbildes in
mehr als nur einem Text symbolisch repräsentiert werden. Schriftlich und münd­
lich tradierte sakrale Texte bilden gewissermaßen materiell fixierte, nämlich
durch Schrift und Laut repräsentierte Ketten von Informationen, deren einzelne
Sequenzen in unterschiedlichem Grad Wirkung auf die individuellen Repräsen­
tationen der Rezipienten entfalten. Am Beispiel der Bibel etwa wird deutlich,
dass einige biblische Erzählungen in stärkerem Maße als andere Eingang in die
alltägliche Kommunikation gefunden haben und damit das kollektive und indi­
viduelle Bewusstsein prägen. Dabei variieren die Präferenzen im historischen
Verlauf und auch in verschiedenen Populationen. In ihrer Gesamtheit stellen
kanonische Textkorpora ein Reservoir an symbolisch repräsentierten kognitiven
und normativen Orientierungen bereit, deren einzelne Symbolsequenzen in un­
terschiedlichen kulturellen Kontexten mehr oder weniger große Wirkung auf das
jeweilige Verhalten ausüben.
Eine wesentliche Voraussetzung dafur, dass in Texten fixierte symbolische
Repräsentationen einen Einfluss auf kollektive und individuelle Repräsentatio­
nen ausüben können, ist ihre Aktualisierung durch praktischen Gebrauch. Unge­
lesene Schriften sowie nicht erzählte und gehörte Mythen entfalten keine Wir­
kung. Zwar können einzelne Sequenzen Eingang in die alltägliche Kommu­
nikation fmden und auf diese Weise Vorstellungen und Verhalten prägen, aber
ohne kulturelle Fixierung, wie sie etwa durch Sakralisierung erreicht wird, wer­
den sie flüchtig und verlieren ihre kulturelle Orientierungsfunktion. Dies lässt
sich recht gut am schwindenden Einfluss der biblischen Überlieferung in Zeiten
weitgehender Entkirchlichung beobachten. Wenn die Bibel nur als literarischer
Text ohne sakrale Bedeutung tradiert wird, verlieren die darin repräsentierten
kognitiven und normativen Orientierungen ihren Einfluss auf kollektive und
individuelle Vorstellungen und damit auch auf das aktuelle Verhalten. Sakrali­
sierung von Texten zeigt sich nicht nur in der besonderen Autorität, die ihnen
zugeschrieben wird, sondern äußert sich im praktischen Gebrauch.
4.2
Symbolische Repräsentation durch Performanz: Riten
Eine Form des praktischen Gebrauchs besteht im regelmäßigen Erzählen und
Verlesen ausgewählter Passagen der sakralen Überlieferung. Regelmäßigkeit
kann dabei erreicht werden durch die Einbindung in rituelle Abläufe, wobei die
Riten entweder in periodischen Abständen oder aus bestimmten, im sozialen
Leben immer wieder auftretenden Anlässen durchgefuhrt werden. So werden
etwa in christlichen Gottesdiensten zentrale Episoden der biblischen Erzählun­
gen regelmäßig verlesen oder kommentiert und auf diese Weise im kollektiven
Gedächtnis gehalten. Beispiele fur die rituelle Verlesung, Rezitation, Erzählung
oder Ko_mmentierung sakraler Texte lassen sich in den meisten, wenn nicht allen
religiösen Traditionen fmden. Die Wirkung dieser Art des praktischen Ge­
brauchs von Texten auf das individuelle Bewusstsein der Akteure ist ohne Zwei­
fel im Einzelfall höchst unterschiedlich, aber dass davon eine Wirkung ausgeht,
kann kaum bezweifelt werden.
Es ist bisher erst in Ansätzen geklärt, wie die regelmäßige Teilnahme an reli­
giösen Ritualen sich auf die individuellen Vorstellungen der Teilnehmer aus­
wirkt und in welchem Maße dadurch eine Homogenisierung der mentalen Rep­
räsentationen erreicht wird [16]. Jedoch erscheint es offensichtlich, dass die
individuellen Repräsentationen durch den regelmäßigen Gebrauch bestimmter
symbolischer Repräsentationen in gewissem Maße geprägt werden. 16 Es ist auch
anzunehmen, dass die häufige Wiederholung und emotionale Erregung Faktoren
sind, welche die Wirkung verstärken [36][35]. Da die meisten Formen religiöser
Rituale mit einer gewissen Regelmäßigkeit wiederholt werden oder mit mehr
oder weniger gesteigerter Emotionalität verbunden sind, bieten sie gute Voraus­
setzungen fur eine kulturelle Prägung durch die dabei gebrauchten sprachlichen
und sonstigen symbolischen Repräsentationen.
Die Repräsentation kognitiver und normativer Orientierungen kann nicht nur
durch sprachliche Symbole erfolgen, sondern auch performativ durch den Voll­
zug von Handlungen. Durch soziale Praxis performativ repräsentiert werden
nicht nur der Status von Personen und die damit verbundenen Rechte und Pflich­
ten, sondern die gesamte Klassifikation der Wirklichkeit. Denn die kollektiven
Repräsentationen, die soziales Handeln prägen, werden in dessen Vollzug
zugleich manifest. Es sind kollektive Repräsentationen und nicht etwa genetisch
kodierte Informationen, durch die bestimmt wird, was zum Verzehr geeignet ist,
welche Personen als Sexualpartner in Frage kommen, zu welchen Zeiten pro­
duktiver Tätigkeit nachgegangen wird oder welche Orte zu meiden sind, um nur
einige Beispiele zu nennen. Der Einfluss dieser und anderer kollektiver Reprä­
sentationen zeigt sich im praktischen Verhalten der Angehörigen einer Populati­
on, das sich bewusst oder unbewusst an kulturellen Klassifikationen der Wirk­
lichkeit orientiert. Zugleich ist die soziale Praxis aber auch eine Form der
Repräsentation, da die kulturell vermittelte Struktur der Wirklichkeit durch Per­
formanz intersubjektiv als Realität erfahrbar wird.
Die performative Repräsentation kultureller Orientierungen durch alltägliche
soziale Praxis gleicht in gewisser Hinsicht ihrer sprachlichen Repräsentation in
alltäglicher Kommunikation, die ja eine Form der sozialen Praxis ist. Der Grad
16
Ähnliches gilt nicht nur für den regelmäßigen Gebrauch symbolischer Repräsentationen
in Ritualen, sondern auch in anderen Kontexten. Beispiele dafür sind etwa die Homoge­
nisierung individueller Repräsentationen im Schulunterricht oder durch Propaganda.
Bekanntlich ist auch in diesen Fällen die individuelle Wirkung durchaus unterschied­
lich, ohne dass man deshalb eine Wirkung verneinen könnte. "Wirkung" bedeutet im
Übrigen nicht notwendig, dass die symbolischen Repräsentationen (in der Regel sprach­
licher Art) gleichsam in mentale Repräsentationen übersetzt werden, sondern nur, dass
die mentalen Repräsentationen davon nicht unbeeinflusst bleiben.
122
der Fixierung kollektiver Repräsentationen ist gering, weil alltägliche Praxis
flüchtig ist. Nicht oder nur flüchtig fIxierte Handlungsorientierungen können
zwar im Einzelfall die Fitness im Sinne der individuellen Überlebenschancen
unter bestimmten Umweltbedingungen erhöhen, aber sie sind für die kulturelle
Evolution irrelevant, weil sie nicht vererbt werden. Handeln, das nicht durch
kulturell fIXierte Repräsentationen gesteuert wird, ähnelt morphologischen
Merkmalen, die unter dem Einfluss der Umwelt ausgeprägt wurden, aber nicht
genetisch fIxiert sind. In beiden Fällen fIndet keine Vererbung und damit auch
keine Evolution statt.
Eine mögliche Form der kulturellen Fixierung von symbolischen Repräsenta­
tionen ist, wie wir oben gesehen haben, ihre Sakralisierung. Sakrale Texte sind
weniger flüchtig als alltägliche sprachliche Kommunikation, weil ihnen eine
außeralltägliche Bedeutung zugeschrieben wird und sie sorgfältig tradiert wer­
den. In ähnlicher Weise können auch Handlungen sakralisiert werden, insbeson­
dere rituelle Handlungen. Sakrale Riten besitzen wie sakrale Texte besondere
soziale Bedeutung, die sie von alltäglichem Verhalten unterscheidet. Die außer­
alltägliche Bedeutung sakraler Riten kann sich unter anderem in der Beachtung
bestimmter Verbote oder Gebote äußern, etwa besonderer Reinheitsvorschriften,
oder im Gebrauch von Objekten, die dem profanen Alltag entzogen sind, oft
auch im "verschwenderischen" RessourceneiDsatz, etwa bei Opferritualen. Sak­
rale Riten sind in der Regel dauerhafte Institutionen, da sie regelmäßig oder zu
bestimmten Anlässen wiederholt werden. Dadurch können performative ebenso
wie sprachliche Repräsentationen kulturell fIxiert und damit über Generationen
tradiert werden.
Es sind insbesondere die grundlegenden Koordinaten der kulturellen Welt, die
perfonnativ durch Rituale repräsentiert werden [5][7]. An erster Stelle zu nen­
nen sind dabei die Strukturen der Zeit. Es dürfte keine Gesellschaft geben, in der
die kollektiven Strukturen der Zeit nicht rituell markiert werden. Die kulturelle
Strukturierung der Zeit manifestiert sich unter anderem in kollektiv begangenen
Festen (vgl. [38], 169-215). Kollektive Feste sind in der Regel mit rituellen In­
szenierungen verbunden, die nicht nur in vormodernen Gesellschaften häufIg
sakralen Charakter besitzen und religiös konnotiert sind. Neben den Grundstruk­
turen der Zeit werden aber auch die Grundstrukturen der Gesellschaft rituell
markiert. Die Zuweisung von sozialem Status und der damit verbundenen Rech­
te und Pflichten erfolgt durch mehr oder weniger ritualisierte Akte. In vielen
Fällen lassen auch solche Passageriten ein gewisses Maß an Sakralisierung er­
kennen, jedenfalls soweit es um die Repräsentation dauerhafter sozialer Struktu­
ren handelt. In den meisten Gesellschaften gehören dazu Verwandtschaftsbezie­
hungen, so dass etwa die EhescWießung, durch die nicht nur die Beziehung
zwischen den Ehepartnern, sondern auch zwischen ihren Familien neu orientiert
wird, meist von religiös konnotierten Ritualen begleitet wird. Ähnliches gilt fiir
Krönungsrituale und natürlich für Bestattungen. In diesen wie in anderen Fällen
123
wird durch den Vollzug von Riten einerseits die kulturelle KlassifIkation der
sozialen Wirklichkeit manifest und erfahrbar: Es gibt unterschiedliche Familien,
es gibt Verheiratete und Unverheiratete, es gibt legitime Herrscher, es gibt le­
bende und verstorbene Familienangehörige. Andererseits werden durch rituelle
Performanz Statusänderungen vollzogen und damit die aktuellen Koordinaten
sozialen Handelns neu justiert: Statusänderungen verändern nicht nur die Rechte
und Pflichten der direkt Betroffenen, sondern das gesamte Gefüge sozialer In­
teraktion. Dies gilt auch für den Tod, der eine Lücke im Geflecht sozialer Be­
ziehungen hinterlässt, die durch Reorganisation familiärer und mitunter darüber
hinaus auch politischer Beziehungen geschlossen wird.
Fassen wir einige Punkte zusammen: Durch spracWiche und perfonnative Re­
präsentationen werden elementare KlassifIkationen der Wirklichkeit innerhalb
einer Population intersubjektiverfahrbar und können so zu Orientierungen kol­
lektiven und individuellen Handelns werden. Da diese Repräsentationen sich in
sozialer Praxis manifestieren und unabhängig vom Bewusstsein einzelner Indi­
viduen bestehen, sind sie Formen kollektiver Repräsentationen. In gewisser Hin­
sicht sind kollektive Repräsentationen Teil der Umwelt eines Individuums. Indi­
viduelles Verhalten wird durch kollektive Repräsentationen ebenso geprägt wie
durch andere Umweltfaktoren. Andererseits werden kollektive Repräsentationen
aber erst durch soziale Praxis manifest, d.h. sie stellen eine Umwelt dar, die
durch die Gesellschaft konstituiert wird. Nur aus diesem Grund ist es möglich,
kulturell geprägtes Verhalten zu vererben. Die Vererbung erfolgt durch Fixie­
rung der das Verhalten steuernden kollektiven Repräsentationen, die über die
Lebensdauer einzelner Individuen hinaus relativ stabil gehalten werden und da­
mit auch das Verhalten nachfolgender Generationen steuern. Eine (nicht die
einzige!) mögliche Form kultureller Fixierung sprachlicher und ritueller Reprä­
sentationen besteht in ihrer Sakralisierung. 17
4.3 Religiöse Vorstellungen
In der Regel fIndet Sakralisierung in Kontexten statt, die wir als "religiös" quali­
fIzieren. Diese vorsichtige Formulierung ist notwendig, weil es ein methodisch
ungelöstes Problem ist, in einer am biologischen Paradigma orientierten Evolu­
tionstheorie das Prädikat ,,religiös" zu operationalisieren. Für die Untersuchung
der Mechanismen kultureller Vererbung ist es allerdings nur von untergeordne­
ter Bedeutung, ob Sakralisierung als ein religiöses Phänomen gedeutet wird oder
17
Eine genauere Analyse des Mechanismus von Sakralisienmg würde den Rahmen dieser
Arbeit sprengen, ist jedoch ohne Zweifel zentral ruf das Verständnis kultureller Fixie­
rung. Sie hätte sich mit der Selbstreferenz kollektiver Repräsentationen zu befassen.
Sakralisierung wird durch kulturelle Praxis repräsentiert. Sie kann als kulturelle Reprä­
sentation zweiter Ordnung angesehen werden, die sich unter anderem auf andere (z.B.
symbolische oder performative) Repräsentationen bezieht und diesen "sakrale" Bedeu­
tung verleiht. Vgl. auch Rappaport [38], 281 f.
125
124
nicht. Wir betrachten üblicherweise die Rezitation des apostolischen Glaubens­
bekenntnisses in christlichen Gottesdiensten als einen rituellen Akt religiöser
Art, aber die Rezitation des Pledge of Allegiance zu Beginn der Sitzungen des
amerikanischen Kongresses oder täglich in amerikanischen Schulen als nichtre­
18
ligiös. Der Pledge of Allegiance mag kein religiöser Text sein, am sakralen
Charakter ändert dies nichts. Und in beiden Fällen handelt es sich um rituelle
Akte, durch die sprachlich und performativ kollektive Repräsentationen kulturell
fixiert werden.
Gleichwohl ist es auffällig, dass Sakralisierung vor allem im Kontext von Re­
ligionen beobachtet wird. Als Erklärung bieten sich zwei Hypothesen an: Die
erste und scheinbar nächstliegende ist die, dass individuelle Vorstellungen, die
gemeinhin als "religiös" angesehen werden, in besonderem Maße Verhalten
auslösen, das für Sakralisierungsprozesse typisch ist. Man könnte zum Beispiel
annehmen, dass der Glaube an die Existenz "übernatürlicher Akteure" - Götter
und Geister - Menschen veranlasst, sich gegenüber Objekten, die mit diesen
übernatürlichen Akteuren in Verbindung gebracht werden, mit Respekt, unter
Beachtung bestimmter Tabus oder in anderer Form "sakralisierend" zu verhal­
ten. Wenn, wie wir unterstellen, Sakralisierungsprozesse ein Faktor im Mecha­
nismus kultureller Vererbung sind, dann könnten ,,religiöse" Vorstellungen die­
ser Art funktional sein und evolutionär adaptiv.
Die andere Hypothese geht davon aus, dass die Verbindung von Sakralisie­
rung und "religiösen Vorstellungen" sekundär und eher zufallig ist. Vorstellun­
gen sind grundsätzlich nur im Medium symbolischer Repräsentationen zugäng­
lich und die dabei gebrauchten sprachlichen Symbole entstammen dem in einer
Population verfugbaren Symbolreservoir. Die Wahrscheinlichkeit, dass in sakra­
len Texten Symbole und Symbolcluster vorkommen, die als ,,religiös" angese­
hen werden (z.B. Erwähnung von Göttern und Geistern) hängt von der Häufig­
keit des Gebrauchs solcher Symbole in der alltäglichen Kommunikation ab. Es
könnte also sein, dass die häufige Verbindung von Sakralisierung und "religiö­
sen" Symbolen nur in Gesellschaften verbreitet ist, in denen diese Symbole all­
gemein häufig gebraucht werden. Demnach wäre anzunehmen, dass in Gesell­
schaften, in denen dies nicht der Fall ist, Sakralisierung auch ohne religiöse
Symbolisierung erfolgen kann.
Eine Überprüfung dieser Hypothese könnte darin bestehen, Sakralisierung in
solchen modemen Gesellschaften zu untersuchen, in deren Symbolpool religiöse
Symbole wesentlich weniger konzentriert sind als in vormodernen. Es gibt An­
zeichen dafür, dass die Fixierung grundlegender kognitiver und normativer Ori­
entierungen auch in modemen Gesellschaften durch Sakralisierung erfolgen
kann. Befolgung von Tabus und Regeln der Correctness, Repräsentation mit
hohem Ressourcenaufwand, rituelle Inszenierungen und kollektive Emotionen
tauchen auch hier auf. Sie könnten als Elemente von Sakralisierungsprozessen
gedeutet werden, deren sprachliche Rationalisierung sich anderer Symbole be­
dient als Götter oder Ahnen. An deren Stelle treten Symbole wie Nation, Men­
schenrechte, Freiheit oder Demokratie. 19
Welche der beiden erwähnten Hypothesen die wahrscheinlichere ist und ob es
noch andere Erklärungen für die Assoziation von ,,religiösen Vorstellungen"
und Sakralisierung gibt, kann hier nicht diskutiert werden.
S Zusammenfassung: Kulturelle und genetische Vererbung
Wir haben bei diesem Versuch, Religion im Kontext der Evolutionstheorie zu
deuten, einige Aspekte wie etwa die Bedeutung von Modifikationen und die
Mechanismen der Selektion nur am Rande behandelt, weil sie den Rahmen die­
ser Arbeit gesprengt hätten. Das zentrale Interesse galt der Frage, welche Rolle
bestimmte Formen von Verhalten, die in religiösen Kontexten zu beobachten
sind, im Prozess der Evolution spielen. Für eine evolutionäre Erklärung von
Verhalten reicht es nicht aus, wenn aufgezeigt wird, dass das betreffende Ver­
halten adaptiv im Sinne einer individuellen Anpassung an bestimmte Umwelt­
bedingungen und der Erhöhung der individuellen Reproduktionschancen ist.
Wenn dies so wäre, dann ließe sich religiöses Verhalten leicht evolutionär erklä­
ren, indem auf seine sozialen und psychologischen Funktionen verwiesen
wird. 2o Es lässt sich auch zeigen, dass bestimmte Formen religiös motivierten
Verhaltens die individuelle Fitness steigern. Evolution ist jedoch nur möglich,
wenn phänotypische Merkmale - und dazu gehört Verhalten - vererbt, d.h. an
die folgenden Generationen weitergegeben werden.
Menschliches Handeln einschließlich religiösen Handelns wird nur in relativ
geringem Maß durch genetisch fixierte und vererbte Verhaltensprogramme ge­
steuert. Es wird in hohem Maß durch kulturelle Einflüsse geprägt, die von kol­
lektiven Repräsentationen ausgehen. Kollektive Repräsentationen manifestieren
sich in der sozialen Praxis. Das wichtigste, wenn auch nicht einzige Medium der
Repräsentation ist die Sprache. Die Prägung individuellen Verhaltens durch kol­
lektive Repräsentationen stellt eine evolutionäre Anpassung dar, die einen Aus­
gleich für die geringe genetische Prägung von Verhalten bietet. Insofern ist sie
das Produkt einer genetisch-kulturellen Koevolution. Im Unterschied zu gene­
tisch kodierten Informationen werden kulturell kodierte Informationen außer­
halb des individuellen Körpers repräsentiert. Diese externe Repräsentation ist
eine notwendige Voraussetzung kultureller Vererbung von Verhalten und kultu­
reller Evolution.
19
18
Zum sakralen Charakter des Pledge ojAllegiance (und der amerikanischen Fahne) vgl.
Hase [30], 169-176.
20
Für einen Vergleich des "Glaubens" an die Menschenrechte mit religiösem Glauben
vgl. Spickard [45].
Dieser Ansatz wird z.B. von Wilson [51] und Rue [39] verfolgt, die damit jedoch keine
evolutionäre Erklärung liefern können.
126
Die externe Repräsentation von Handlungsorientierungen ist jedoch allein nicht
ausreichend. Eine zusätzliche Bedingung kultureller Evolution ist die Fixierung
kollektiver Repräsentationen über mehrere Generationen. Eine mögliche Form
der kulturellen Fixierung besteht in der Sakralisierung symbolischer und per­
formativer Repräsentationen. Sakralisierung vollzieht sich durch soziale Praxis
und drückt sich unter anderem in der sorgfaltigen und in der Regel mit außerge­
wöhnlichem Einsatz an zeitlichen, materiellen oder finanziellen Ressourcen ver­
bundenen Tradierung sakraler Objekte aus. Durch Sakralisierung werden
sprachliche und performative Repräsentationen kulturell fixiert. Formen der
Sakralisierung nicht nur von Texten und Riten, sondern auch von anderen Ob­
jekten lassen sich vor allem in Kontexten beobachten, die gemeinhin als ,,religi­
ös" qualifiziert werden. Insofern besteht ein enger Zusammenhang von Sakrali­
sierung und Religion.
Mechanismen kultureller Fixierung kollektiver Repräsentationen sind von
zentraler Bedeutung fur den Prozess kultureller Evolution. Sakralisierung ist ein
Element dieser Mechanismen. Es ist wesentlich, die evolutionäre Bedeutung der
Fixierung kollektiver Repräsentationen von der ihrer Inhalte zu unterscheiden.
Ein Vergleich mit dem Prozess genetischer Evolution kann dies verdeutlichen.
Die genetischen Informationen, die Verhalten prägen, sind im Genom enthalten,
d.h. in einzelnen Gensequenzen und ihrem genetischen Kontext kodiert. Verhal­
ten und andere phänotypische Merkmale, die durch den individuellen Genotyp
geprägt werden, sind im Normalfall an die Umweltbedingungen, unter denen die
relevanten Gensequenzen evolutionär selektiert und fixiert wurden, angepasst.
Dies bedeutet nicht notwendig, dass das Verhalten auch unter den aktuellen
Umweltbedingungen adaptiv ist. Darüber hinaus können auch Gensequenzen
vererbt werden, die allein oder im Kontext mit anderen zu phänotypischen Aus­
prägungen führen, die offensichtlich nicht adaptiv sind, z.B. weil sie Krank­
heitsbilder auslösen. Der Mechanismus der genetischen Vererbung stellt kei­
neswegs sicher, dass nur Gensequenzen vererbt werden, die zu adaptiven
phänotypischen Ausprägungen führen. Der Mechanismus der genetischen Ver­
erbung ist also in gewissem Sinne neutral hinsichtlich des Inhalts, d.h. er funkti­
oniert unabhängig davon, welche Informationen vererbt werden und ob sie adap­
tiv wirken oder nicht. Gleichwohl ist er eine notwendige Bedingung fur
genetische Evolution und auch selbst durch Evolution entstanden.
Analog können wir den Mechanismus kultureller Vererbung verstehen. Das
Verhalten, das durch kollektive Repräsentationen geprägt wird, ist im Normal­
fall an die Umweltbedingungen angepasst, unter denen diese kollektiven Reprä­
sentationen kulturell fixiert wurden. Auch hier heißt das nicht notwendig, dass
das Verhalten auch unter den aktuellen Umweltbedingungen adaptiv ist, und es
ist auch möglich, dass einzelne Sequenzen der kulturell fixierten Repräsentatio­
nen oder bestimmte Kombinationen zu Verhalten führen, das offensichtlich
nicht adaptiv ist. Der Mechanismus kultureller Vererbung bedeutet also nicht,
127
dass nur solche Sequenzen vererbt werden, die zu adaptivem Verhalten führen.
Darüber hinaus bleiben die meisten kulturell fixierten Repräsentationen latent,
d.h. sie haben nur unter bestimmten Bedingungen Auswirkungen auf das Ver­
halten. Die Mechanismen der kulturellen Vererbung funktionieren also wie die
der genetischen Vererbung unabhängig vom Inhalt der fixierten Informationen.
Aber sie sind eine notwendige Bedingung kultureller Evolution. Sie selbst sind
das Ergebnis genetisch-kultureller Koevolution, weil kulturelle Evolution erst
durch genetische Evolution möglich wurde und die genetische Evolution unter
kulturell geprägten Umweltbedingungen erfolgt.
Als einen Faktor im Mechanismus kultureller Vererbung haben wir Sakrali­
.sierung bestimmt. Da Sakralisierung regelmäßig, wenn auch nicht ausschließ­
lich, in ,,religiösen" Kontexten vorkommt, also ein universales Element von
Religion ist, ist damit indirekt auch etwas über die evolutionäre Funktion von
Religion gesagt. Wir haben gesehen, dass der Mechanismus kultureller Verer­
bung vom Inhalt der vererbten Informationen unterschieden werden muss. Sak­
ralisierung als Element von Religion ist zu allererst ein Teil des Mechanismus
der kulturellen Vererbung und Evolution und in dieser Funktion gewissermaßen
neutral im Bezug auf die Inhalte der so fixierten kollektiven Repräsentationen.
Die Inhalte "religiöser" Vorstellungen können deshalb vernachlässig werden,
wenn es um die evolutionäre Bedeutung von Sakralisierung geht.
Ein anderes Problem als die Mechanismen der Vererbung ist die Selektion
phänotypischer Merkmale im Prozess der Evolution. Erst in diesem Kontext
wäre danach zu fragen, ob der spezifische Inhalt bestimmter religiöser Vorstel­
lungen Verhalten in einer Weise prägt, die evolutionär adaptiv ist, und welche
Mechanismen der Selektion religiöser Vorstellungen es gibt. Wir können das
Problem der Selektion von religiösen Vorstellungen im Prozess kultureller Evo­
lution hier nicht behandeln. Aber es ist immerhin bemerkenswert, dass Sakrali­
sierung in der Regel mit Vorstellungen verbunden ist, die wir als ,,religiös" be­
zeichnen. Dies legt die Hypothese nahe, dass die sozialen Praktiken, die als
Sakralisierungsprozesse wirken, insbesondere durch religiöse Vorstellungen
ausgelöst werden.
Andere religiöse Vorstellungen manifestieren sich nicht in rituellem Handeln,
sondern in der alltäglichen Lebensführung. Wir haben dies am Beispiel von reli­
giös motiviertem moralischem Handeln erläutert. Es ist jedoch unmöglich, all­
gemeine Aussagen darüber zu treffen, ob religiös motivierte Lebensführung im
evolutionären Sinne adaptiv ist oder nicht. Denn religiöse Vorstellungen können
zu völlig unterschiedlichem Handeln führen. Gewaltanwendung und Kriege
können ebenso durch religiöse Vorstellungen gesteuert werden wie Friedfertig­
keit. Es ist keineswegs. ungewöhnlich, dass innerhalb ein und derselben religiö­
sen Tradition, etwa des Buddhismus, des Christentums oder des Islams, kollek­
tive Repräsentationen fixiert sind, die sowohl zu Gewaltanwendung als auch zu
Friedfertigkeit führen können. Dies ist durchaus vergleichbar mit der Tatsache,
128
dass im Genpool einer Population normalerweise sowohl Programme für ag­
gressives als auch für defensives Verhalten enthalten sind. Es ist sicher möglich,
konkretes Verhalten, sei es genetisch oder religiös gesteuert, moralisch zu be­
werten. Aber der Prozess der Evolution und die Mechanismen der genetischen
und kulturellen Vererbung sind moralisch neutral. Dies gilt auch fur Religion,
soweit sie ein Produkt und Faktor kultureller Evolution ist.
6 Literatur
[1] Assmann J. Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische
Identität in frühen Hochkulturen. München: Beck 1992.
[2] Atran S. In gods we trust: The evolutionary landscape of religion. Oxford:
Oxford University Press 2002.
[3] Aunger R (Hrsg.). Darwinizing culture: The status of memetics as a sci­
ence. Oxford: Oxford University Press 2000.
[4] Bayer K. Evolution - Kultur - Sprache: Eine Einfuhrung (Bochumer Bei­
träge zur Semiotik 42). Bochum: Brockmeyer 1996.
[5] Bell C. Ritual theory, ritual practice. New YorkJOxford: Oxford University
Press 1992.
[6] Bellah RN. Religious evolution. American Sociological Review. 1964;29:
258-374.
[7] Bergson A. Die rituelle Ordnung. In: Bellinger A, Krieger DJ (Hrsg.).
Ritualtheorien. OpladenIWiesbaden: Westdeutscher Verlag 1998:49-76.
[8] Boesch C, Tomasello M. Chimpanzee and human cultures. Current An­
thropology
1998;39;5
(http://cogweb.ucla.edu/AbstractslBoesch_
Tomasello_98.html#FullText 15.1.2008).
[9] Boyd R, Richerson P1. The origin and evolution of cultures. Oxford: Ox­
ford University Press 2005.
[10] Boyer P. Religion explained. The evolutionary origins of religious thought.
New York: Basic Books 2001.
[11] Boyer P. The naturalness of religious ideas: A cognitive theory of religion.
Berkeley: University ofCalifornia Press 1994.
[12] Bulbulia J (et al.). The evolution ofreligion. Studies, theories and critiques.
Sante Margarita: Collins Foundation Press 2008.
[13] Cavalli-Sforza LL, Feldmann MW. Cultural transmission and evolution: a
quantitative approach (Monographs in Population Biology; 16). Princeton:
Princeton University Press 1981.
[14] Cavalli-Sforza LL. Gene, Völker und Sprachen: Die biologischen Grundla­
gen unserer Zivilisation. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft
1999.
[15] Cosmides L. The logic of social exchange: Has natural selection shaped
h5l"Y humans reason? Studies with the Wason selection task. Cognition
1989;31 ;3: 187-276.
129
[16] d'Aquili EG, Laughlin CD, McManus 1. The spectrum of ritual: A bioge­
netic structural analysis. New YorkJLeiden: Columbia University Press
1979.
[17] Darwin C. On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the
Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life. London: Murray
1859 (http://etext.lib.virginia.edu/modeng/modengO.browse.html 21.6.07).
[18] Dawkins R. The God delusion. London: Bantam Press 2006.
[19] Dawkins R. The selfish gene. New YorkJOxford: Oxford University Press
1976.
[20] Dietrich E. Representation. In: Thagard P (Hrsg.). Philosophy of psychol­
ogy and cognitive science. Amsterdam etc.: Elsevier 2007: 1-29.
[21] Dinzelbacher P. Zur Theorie und Praxis der Mentalitätsgeschichte. In:
Ders. (Hrsg.). Europäische Mentalitätsgeschichte: Hauptthemen in Einzel­
darstellungen. Stuttgart: Kröner 1993:XV-XXXVII.
[22] Döbert D. Systemtheorie und die Entwicklung religiöser Deutungssysteme:
Zur Logik des sozialwissenschaftlichen Funktionalismus. Frankfurt am
Main: Suhrkamp 1973.
[23] Dobzhansky T. Nothing in biology makes sense except in the light of evo­
lution. The American Biology Teacher 1973;35: 125-129.
[24] Durham WH. Coevolution: Genes, culture, and human diversity. Stanford:
Stanford University Press 1991.
[25] Durkheim E. Les formes elementaires de la vie religieuse. Le systeme to­
temique en Australie. Paris: Presses Universitaires de France 1968:49-58.
[26] Durkheim E. Representations individuelles et representations collectives.
Revue de Metaphysique et de Morale 1898;6:273-302.
[27] Evans-Pritchard EE. Theorien über primitive Religion. Frankfurt am Main:
Suhrkamp 1968.
[28] Gibbs WW. The unseen genome: Gems among the junk. Scientific Ameri­
can 2003;289;5:46-53.
[29] Gould S, Lewontin R. The spandreis of San Marco and the panglossian
paradigrn: A critique of the adaptionist program. Proceedings of the Royal
Society ofLondon 1979;B 205:581-598.
[30] Hase T. Zivilreligion. Religionswissenschaftliehe Überlegungen zu einem
theoretischen Konzept am Beispiel der USA. Würzburg: Ergon 200 I.
[31] Kirkpatrick LA. Attachrnent, evolution, and the psychology of religion.
New York/London: Guilford Press 2005.
[32] Lawson ET, McCauley RN. Rethinking religion: Connecting cognition and
culture. Cambridge: Cambridge University Press 1990.
[33] Levi-Strauss C. Die Struktur der Mythen. In: Ders. Strukturale Anthropo­
logie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1969:226-254.
130
[34] Lüke U, Scbnakenberg J, Souvignier G (Hrsg.). Darwin und Gott. Das
Verhältnis von Evolution und Religion. Darmstadt: Wissenschaftliche
Buchgesellschaft 2004.
[35] McCauley RN, Lawson ET. Bringing ritual to mind: Psychological founda­
tions of cultural forms. Cambridge: Cambridge Uillversity Press 2002.
[36] McManus 1. Ritual and ontogenetic development. In: d'Aquili EG, Laugh­
lin CD, McManus J. The spectrum of ritual: A biogenetic structural analy­
sis. NewYorklLeiden: Columbia UillversityPress 1979:183-215.
[37] Müller FM. Einleitung in die vergleichende Religionswissenschaft.
Straßburg: Karl Trübner 1874.
[38] Rappaport RA. Ritual and religion in the making of humaruty. Cambridge:
Cambridge Uillversity Press 1999.
[39] Rue L. Religion is not about God. How spiritual traditions nurture our bio­
logical nature and what to expect when they fail. New Brunswick,
NJ/London: Rutgers Uillversity Press 2005.
[40] Schmidt W. Ursprung und Werden der Religion: Theorien und Tatsachen.
Münster: Aschendorffsche Verlagsbuchhandlung 1930.
[41] Searle JR. The construction of social reality. London: Penguin Books 1995.
[42] Seiwert H. Kodifizierte Normen, soziale Normen und Praxis - am Beispiel
des chinesischen Buddhismus. In: Schalk P (Hrsg.). Im Dickicht der Gebo­
te. Studien zur Dialektik von Norm und Praxis in der Buddhismusgeschich­
te Asiens (Acta Uillversitatis Upsaliensis. Historia Religionum 26). Upp­
sala: Uppsala Uillversitet 2005: 15-38.
[43] Seiwert H. 'Religiöse Bedeutung' als wissenschaftliche Kategorie. Annual
Review ofthe Social Sciences ofReligion 1981;5:43-99.
[44] Sione DJ (Hrsg.). Religion and cognition: Areader. London: Equinox
2006.
[45] Spickard N. Human rights, religious conflict, and globalisation. Ultimate
values in a new world order. International Journal on Multicultural Socie­
ties 1999;1;1:2-19.
[46] Stich SP. Deconstructing the mind. New York/Oxford: Oxford Uillversity
Press 1996.
[47] Stone L, Lurquin PF. Genes, cultures, and human diversity: A synthesis.
Maiden MAlOxfordlVictoria: Blackwell 2007.
[48] Tremlin T. Minds and gods: The cognitive foundations of religion. New
York: Oxford Uillversity Press 2006.
[49] Voland E, Söling C. Die biologische Basis der Religiosität in Instinkten­
Beiträge zu einer evolutionären Religionstheorie. In: Lüke U, Scbnaken­
berg J, Souvignier G (Hrsg.). Darwin und Gott. Das Verhältills von Evolu­
tion und Religion. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft
2004:47-65.
131
[50] Voland E, Winkler P, Ingensiep HW. Evolution des Verhaltens: biologi­
sche und ethische Dimensionen (Evolution des Menschen 4). Tübingen:
Deutsches Institut für Fernstudien an der Uillversität Tübingen 1990.
[51] Wilson DS. Darwin's cathedral: Evolution, religion, and the nature of soci­
ety. Chicago/London: Uillversity of Chicago Press 2002.
[52] Wunn I. Die Religionen in vorgeschichtlicher Zeit (Die Religionen der
Menschheit 2). Stuttgart: Kohlharnmer 2005.
[53] Wunn I. The evolution ofreligions. Numen 2003;50;4:387-415.
Herunterladen