Weshalb fällt uns Menschen das Handeln in ethischer Verantwortung – auch! – im Sport so schwer? Festvortrag zum 25-Jahr-Jubiläum des PCI Graz, gehalten am 8. Okt. 2010 von Univ-Prof. Dr. phil. hist. Arturo HOTZ Zusammenfassung Dass Doping nach aktueller Regelung per definitionem nicht erlaubt ist, weiß jedermann. Warum es so ist, kann geschichtlich nachgezeichnet und erklärt werden. Ob Doping aber absolut auch unethisch ist, darüber kann diskutiert werden. Dopingmittel einzunehmen, solange diese verboten sind, ist zweifellos unethisch, aber warum müssen sie verboten werden? Darüber kann in ethischer Perspektive nachgedacht werden und muss auch immer wieder von Neuem aufgerollt werden, denn Diskussionen und Erörterungen im Rahmen ethischer Reflexion zielen weder auf absolute (Straf-)Normen noch auf Verbote. Der ethische Diskurs reflektiert, was vom vielem Denkbaren tatsächlich auch sinnvoll wäre und ist. Und diese Herausforderung zeigt die Schwierigkeiten, aber auch die Relevanz ethisch geführter Diskussionen auf: Auch wenn Ethiker/innen zum Schluss kommen, dass dieses und jenes Handeln des Menschen auch im Sport aus ethischer Sicht nicht verantwortet werden kann und dies auch begründen sowie argumentieren, heißt dies – solange keine strafrechtlichen Konsequenzen daraus gezogen werden – noch lange nicht, dass sich die zur freien Entscheidung befähigten Sportler/innen tatsächlich auch daran orientieren und entsprechend handeln. Weil der Mensch dafür konzipiert ist, zumindest in physiologischer Hinsicht alles zu tun, um überleben zu können, ist er in erster Linie auch daran interessiert, vom Machbaren zu profitieren und dies vor allem dann, wenn der Bereich für ihn existentiell geworden ist. Wenn es aber auch im Sport ausschließlich um Leben (Sieg) und Tod (Niederlage) geht, dann kümmern den bedrohten, gestressten oder sonst wie unter Druck gesetzten Menschen ethische Wertorientierungen wenig, das heißt: Der Mensch setzt sich (spätestens) in existentiell bedrohlichen Situationen über jegliche ethische Verantwortung hinweg und handelt, am Eigennutz orientiert, dann weitgehend unethisch. Wenn wir an diesem traurigen Umstand ernsthaft etwas ändern wollen, dann müssen wir den Menschen neu konzipieren oder eben dafür sorgen, dass Sporttreiben auch auf höchster Ebene nicht primär und auch nicht vorrangig als eine Frage des Seins oder Nichtseins interpretiert und das Streben nach Höchstleistungen nicht an dieser Überlebensfrage orientiert wird. Liebe Jubiläumsgäste! „Ethik und Doping.“ Gegenüberstellungen zweier Begrifflichkeiten, zumal verbunden mit einem „und“, zeigen oft ein Spannungsfeld auf, meist sogar ein Problemfeld, das es mit den nachfolgenden Ausführungen zu lösen gilt. Solche Überlegungen haben aber in unserem Fall kaum Berechtigung. Dies liegt vor allem daran, dass gar keine Zweifel darüber bestehen, welche ethik-orientierte Position gegenüber dem Doping eingenommen werden sollte, ja muss. Ohne „Wenn“ und „Aber“ auf den Punkt gebracht heißt das gleichsam vorweggenommene Fazit schlicht, dass: Doping in ethisch-verantwortbarer Perspektive nur negativ bewertet werden kann, denn: 1 Doping ist aus ethischem Blickwinkel unvereinbar mit dem in der Ethik zentralen „Prinzip der Achtsamkeit“! Somit kann Doping – zumindest aus klassisch-traditioneller Ethik-Sicht – weder vertreten und noch ent – schuldigt werden! Geht es jedoch darum, „Doping“ als nicht nur im Leistungssport offensichtliches Phänomen etwas differenzierter zu analysieren, dann wird jenes Orientierungswissen aufgearbeitet, das erklärt, wie es – seit Jahrtausenden! – zu den Missständen gekommen ist. Aus diesen Einsichten, wie menschliches Handeln wahrscheinlich „funktioniert“, müssen dann entsprechende Konsequenzen abgeleitet werden. Ob es allerdings jemals gelingen wird, das Dopingproblem in den Griff zu bekommen, ist auf einem andern Blatt geschrieben. Uns dafür zu bemühen und zu engagieren, ist aber über die pädagogische Pflicht hinaus auch eine gesellschaftliche Herausforderung und eine Notwendigkeit zugleich, falls „Fairplay“ weiterhin ein zu respektierender Wert – nicht nur im Sport – sein soll! Die Frage: „Weshalb der Mensch auch im leistungssportbezogenen Umfeld zunehmend unerlaubte Mittel in Anspruch nimmt?“ ist zweifellos berechtigt. Ein wesentlicher Grund dafür gilt es in der an sich faszinierenden, ja genialen „Konzeption Mensch“ zu suchen, die jedoch in unserem Zusammenhang ihre berühmte Kehrseite der Medaille ins Blickfeld rückt. Die Möglichkeit, sich auf der Gratwanderung zwischen „Sicherheit“ und „Freiheit“ mehr oder weniger willkürlich entscheiden zu können, verdankt der Mensch der im Rahmen seiner Evolution gewonnnen Entkoppelung von „Reiz“ und „Reaktion“. Anstelle der das Leben sonst weitgehend leitenden Instinkte tritt seine Fähigkeit, einen bestimmten Ermessensspielraum frei strukturieren zu können. Für einige Menschen scheint es geradezu reizvoll zu sein, ihre individuellen Entscheide frei oder kriteriengeleitet fällen zu können, und zwar auch gegen ihren eigenen Verstand und wider gängig als vernünftig eingestufter Ansichten und Positionen. Die – vielleicht auch nur vermeintliche – Entscheidungsfreiheit des Menschen macht ihn (noch) unberechenbarer, denn wo Freiräume sich öffnen, steigt auch der Anreiz des Risikos, dass diese missbraucht werden oder dass sie zumindest profitorientiert und nach dem eigenen Gusto und zum Eigengewinn genutzt werden. „Dürfen wir, was wir können?“ Eine dem (Hoch-)Leistungssport immanente Tendenz kann im stetigen Streben erkannt werden, bestehende Möglichkeiten im Spannungsfeld zwischen Belastung und Erholung noch konsequenter auszuloten. Der gesellschaftliche Erwartungsdruck – unverkennbar in der olympischen Trilogie gespiegelt: „Citius! – Altius! – Fortius!“ – zwingt Spitzenreiter/innen unserer Leistungsgesellschaft und offenbar auch (Spitzen)Sportler/innen dazu, alle erdenklichen Nischen zu erproben und zu nutzen. Wenn immer die natürlichen Möglichkeiten in ihrem Grenzbereich ausgeschöpft sind, stellt sich die Frage, was noch machbar ist. Doping ist machbar, zudem auch erfolgversprechend und genau um diesen Erfolg geht es ja auch. Erhebungen haben gezeigt, dass viele Mitglieder unserer Erfolgsgesellschaft zunehmend skrupelloser werden, das heißt: Weil der Erfolg das Wichtigste, oder zynisch formuliert: das Einzige, ist, heiligt der Zweck die Mittel. Mehr noch: Dem Erfolgreichen wird immer mehr verziehen, auch wenn er für seinen Erfolg unerlaubte Dopingmittel eingesetzt hat. Im Hochleistungssport konnte bereits mehrfach die Erfahrung gemacht werden, dass gedopte Publikumslieblinge – zum Beispiel im Radrennsport – , obwohl sie bereits der Dopingeinnahme überführt worden sind, dennoch frenetisch bejubelt 2 werden. Viele wollen offensichtlich das Spektakel à tout prix und würden sich offenbar betrogen fühlen, müssten sie darauf verzichten. Wir stellen fest: Je nach Standpunkt spielt sich hier entweder Eigenartiges ab oder aber menschlich Natürliches oder zumindest Nachvollziehbares. Ist die Prioritätensetzung: „Erfolg ist wichtiger als die dafür eingesetzten Mittel!“ nicht bereits ein Zeichen gesellschaftlicher Degeneration? Doping ist denkbar und weil Denkbares nach Albert EINSTEINs (1879-1955) Einsicht auch machbar ist, wird es realisiert. Das Denkbare bietet Alternativen, das Machbare profitiert von Freiräumen und eröffnet neue Perspektiven. Doch, was machbar ist, ist längst nicht immer auch sinnvoll! Hier beginnt das Kerngeschäft der Ethik, sich als „Wissenschaft des Sollens“ mit der Frage nach dem Sinnvollen auseinanderzusetzen. Nicht das Denkbare gilt es in die Tat umzusetzen, sondern das Sinnvolle muss machbar (gemacht) werden! Allein: Was ist wann... ...für wen... ...unter welchen Bedingungen... ...wie dosiert „sinnvoll“? Und welche Voraussetzungen müssen geschaffen werden, damit das als „sinnvoll“ Erkannte tatsächlich auch realisiert wird und werden kann? Gerade die letzte Frage scheint ebenfalls eine jahrhundertealte Tradition zu haben: Der Philanthrop Christian Gotthilf SALZMANN (1744-1811) hat einmal, auch in unserem Zusammenhang zutreffend, in seinem berühmt gewordenen Ameisenbüchlein geschrieben (HERRMANN 1991, 154): „Was nützen alle Theorien, wenn die Leute fehlen, die sie ausführen können?“ Heute sind verschiedene Methoden bekannt, die leistung-steigernde Wirkung haben, also auch erfolgversprechend sind, aber längerfristig der Gesundheit schaden, irreparable Schäden hervorrufen oder noch unbekannte Risiken in sich bergen. Die Kurzfristigkeit, ja die Beschränktheit der Voraus-Sicht unseres Erfolgsstrebens ignoriert später auftretende (Gesundheits-)Schäden und verzeiht dem (gedopten) Sieger, denn: Hauptsache er hatte Erfolg! Unser ethische Reflexionen immer mehr nicht berücksichtigende Umgang mit dem Erfolg, unser ultimatives Verlangen nach stets besseren Leistungen und unsere druckausübenden Erwartungen haben mit dazu beigetragen, dass der irrigen Hoffnung, nicht erwischt zu werden, mehr geglaubt wird, als dem Wissen darüber, dass Doping nicht nur unethisch und häufig ungesund ist, sondern schließlich – zumindest den traditionellen – Sportgedanken verhöhnt, verrät und zerstört. Wir erkennen: Das Problem der im Wettkampfsport geforderten Maximierung gerät sehr bald mit ethik-orientierten Wertvorstellungen auf Kollisionskurs: „Dürfen wir, was wir können?“ Dass wir mit der Beantwortung dieser ethischen Gretchenfrage oft einige Schwierigkeiten haben, mag vielleicht auch mit einer grundlegenden Einsicht von F. M. DOSTOJEWSKI (1821-1881) zusammenhängen: „Die Ameise kennt die Formel ihres Ameisenhaufens, die Biene die Formel ihres Bienenstockes – sie kennen sie zwar nicht auf Menschenart, sondern auf ihre eigene Art, mehr brauchen sie nicht. Nur der Mensch kennt seine Formel nicht.“ 3 Die Gratwanderung – gewissermaßen auf der Suche nach unserer Formel – , was als sog. ethisch und was als sog. unethisch gelten könnte, ist anspruchsvoll, denn wir müssen stets das Eine mit dem Andern im Kontext abwägen, und zwar auf dem Prüfstand des aktuellen Diskussions- und Erkenntnisstandes beleuchten und mit entsprechenden Positionen belegen, begründen und prüfen. Mehr darüber zu wissen, zu spüren, zu erkennen und zu erahnen, was es bedeutet, sich für das sog. Sinnvolle, also für das ethisch Verantwortungsvolle entscheiden zu können, das ist eine im Rahmen der Ethik gestellte Herausforderung! Die Philosophie hat (zumindest) drei „Töchter“ Die Philosophie, die Mutter aller Wissenschaften, hat drei Töchter: Die Logik Die Rhetorik und eben Die Ethik. Sie alle versuchen, als Praxen der Philosophie, menschliches Leben unter einem bestimmten Aspekt des besseren Gelingens zu reflektieren. Verhalten und humanes Zusammenleben soll an einem zu diskutierenden Wert orientiert und danach je nachdem bewusster und bedachter, aber vor allem verantwortungsvoller gestaltet werden. Ethik ist nicht nur als wissenschaftliche Disziplin für Wissenschafter bestimmt, sondern auch eine Art Reflexionsinstanz für jeden nachdenkenden Menschen. Ethik produziert zwar keine (Straf-)Normen und auch keinen Verhaltenskodex, diskutiert jedoch Werte und Normen, erörtert ihre Funktionen und Bedeutungen für das Leben und zeigt so – eben im Sinne einer Wissenschaft des Sollens – auf, wie es wohl „anders werden müsste, wenn es gut werden sollte“ wie es der Göttinger Physiker und Philosoph G. Ch. LICHTENBERG (1742-1799), ein Meister des Konjunktivs, einst formuliert hatte. Im Rahmen ethik-orientierter Bemühungen – verstanden als wissenschaftliche Reflexion – , werden handlungsleitende (Richt-)Werte im Sinne von möglichen Orientierungshilfen erörtert, indem sie in ihrem Situationsbezug und in ihrer Verhältnismäßigkeit zum Gebot des Sinnvollen und human Erstrebenswerten diskutiert werden. Über Gesetze und Strafnormen hingegen wird im Rahmen der Ethik nicht debattiert. Zum Begriff Doping Was Doping ist, weiß dem Wesen nach der Volksmund sehr genau, auch wenn sich Wissenschafter/innen manchmal schwer tun zu beschreiben, was genau darunter zu subsumieren ist. Wilhelm KNOLL (1874-1958), ein Schweizer Sportmediziner und Sportwissenschafter der ersten Stunde – Olympia-Arzt der Olym-pischen Winterspiele in St. Moritz 1928 – widmete schon 1948 in seinem karrierenrückblickenden Buch („Leistung und Beanspruchung. Erfahrungen aus 30jähriger sportärztlicher Arbeit“) dem Doping ein eigenes Kapitel (S. 312-317), worin er „rassistisch gefärbt“ (KNOLL war als Professor an der Uni Hamburg bis 1944 in NaziDiensten!) ausführte: 4 „Das Wort stammt aus einer Negersprache. Es hat kein Synonym in einer europäischen Kultursprache, was an sich schon beweist, dass es eine ‚exotische Pflanze’ und bei uns nicht bodenständig ist. Wir haben darum alle Ursache, sie abzulehnen.“ (KNOLL 1948, 312.) Noch sehr pauschal, doch im Kern wohl das Wesentliche des Dopings erfasst, skizzierte er seinen Standpunkt („Dopingmittel sind Drogen“) und wohl auch die damalige Volksmeinung: „Ich hoffe sehr, dass wir in absehbarer Zeit auf dem Wege über den internationalen Sportärzteverband diese Frage allgemein im Interesse des gesunden Sports lösen können, denn das ist eine wirkliche ‚Sportkrankheit’.“ (KNOLL 1948, 314.) Und dazu ergänzend: „Was im Pferdesport möglich ist (Disqualifikation, lebenslängliche Sperre; Anm.: A. H.), sollte für den Menschensport erst recht gelten.“ (KNOLL 1948, 313.) „Doping“ also eine Domäne der Sportärzte? Vielleicht damals noch. Knoll wusste auch, wie diesem Übel begegnet werden müsste: „Die sportliche Erziehung ist hier das Heilmittel, das Doping verschleiert nur die doch vorhandene Störung, ohne sie wirklich auszuschalten, ist also ein Scheinmittel. (...) Doping ist darum sowohl vom Standpunkte des Sportmannes wie von dem des Arztes gleicherweise als unfair und schädlich abzulehnen. Wenn es immer noch versucht wird, so ist dafür einmal der übertriebene Ehrgeiz, vor allem der jungen Sportsleute mitverantwortlich zu machen, die noch nicht aus der Pubertät heraus sind und darum den Begriff des ritterlich kämpfenden Mannes noch nicht voll erfasst haben. Dann aber sind leider besonders bei Berufssportsleuten die geschäftlichen Interessen des einzelnen, wie vor allem der ‚Manager’, richtunggebend gewesen. Solche Haltungen gehören aus einem gesunden Sport heraus, weil sie ihn als Bewegung schädigen.“ (KNOLL, 1948, 315.) „Doping gehört nicht zum Sport. Wer sich selbst dopt oder dopen lässt, hört auf, ein anständiger Sportsmann zu sein und scheidet darum aus der gesunden Sportbewegung aus. Wer das Doping empfiehlt, ist nicht besser und handelt als Arzt sogar gegen seine Pflicht.“ (KNOLL, 1948, 317.) Die Sache schien für KNOLL völlig klar zu sein, doch seine Meinung betraf ‚lediglich’ den Aspekt, ob Doping grundsätzlich im Sport geduldet werden könne oder dürfe. Dies scheint auch heute noch unbestritten zu sein, aber nicht das Problem an sich, das es zu lösen gilt. Zum Unterschied zwischen Ethik und Moral Was heißt eigentlich „Ethik“ und wo liegt ein allfälliger Unterschied zum Begriff „Moral“? Ganz einfach: „Ethik“ hat griechische, „Moral“ lateinische Wurzeln. Und trotz der gemeinsamen Ursprungsbedeutung neigen wir dazu, unter „Moral“ eher den „sittlichen Zeigefinger“ zu verstehen, während wir annehmen, dass „die Ethik“ eher das „erstrebenswert Gute“ oder die für einen fairen Sport notwendigen Funktionsbedingungen zusammenfasst. Doping – historisch reflektiert In der Literatur (vgl. GRUPE/MIETH 1998, 98) wird erwähnt, dass sich das Wort „dope“ aus einem südafrikanischen Dialekt ableiten lasse. Mit „dope“ war ein 5 hochprozentiger, selbstgebrauter Schnaps gemeint, der offenbar bei festlichen Kulthandlungen als Stimulanz be- und genutzt wurde. Erstmals tauche 1869 das Wort ‚doping’ in einem englischen Wörterbuch auf und wurde als ein Mix von Narkotika und Opium definiert, der den Pferden verabreicht worden sei. Die Ursprünge des Einsatzes von Doping-Mitteln und Methoden werden allgemein in Großbritannien geortet, und zwar im 19. Jahrhundert. Von den Pferderennen übertrug sich dann dieser (Miss-)Brauch auch auf den Sport der Menschen. Die Intensivierung des Dopingeinsatzes gilt es vor allem im Zusammenhang mit der Geschichte und der Wirkung der Olympischen Spiele seit 1896 zu verfolgen. Durch den Impuls dieser weltweit immer mehr beachteten Veranstaltungen wurde dieses „gigantische biologische Experiment mit dem Menschen“ initiiert und gefördert. Biologische Grenzbereiche wurden systematisch erkundet, aber auch überschritten, um der Forderung nachkommen zu können, stets die Leistungsfähigkeit und entsprechend die Leistungen zu steigern. Diese Maxime der Leistungssteigerung hat die Sportler/innen und ihren (medizinischen) Betreuerstab geradezu dazu gezwungen, immer neue Reserven auszuschöpfen und Möglichkeiten auszuloten. Die nahe Verbindung, ja auch die Abhängigkeit der sportlichen Leistungsentwicklung von den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, insbesondere von den medizinischen, führte u.a. auch dazu, dass vermehrt pharmakologische Substanzen angewandt wurden. Zwar werden seit Mitte der Sechzigerjahre von Sportärztekreisen gezielter als zuvor Anti-Doping-Appelle formuliert und auch der Europarat – im Gegensatz zum IOK! – setzte sich schon vor bald 40 Jahren gegen das Doping-Übel ein, dennoch gelang es nicht, die Zunahme der Vorfälle, ja die Eskalation dieses dem Ruf des Sports schadenden Phänomens, erfolgreich einzudämmen. Erst in jüngster Zeit scheinen drastische staatliche Interventionen – vor allem in Frankreich und Italien – einen Hoffnungsschimmer aufkommen zu lassen, dass möglicherweise die Talsohle überwunden werden kann. Sind Sportorganisationen nicht mehr in der Lage, dieser „Seuche des Sports“ Herr zu werden? Ist es nur mehr der Rechtsstaat, der den letztlich verhaltensbestimmenden Leidensdruck erzeugen kann? Wenn immer Strafen und Sanktionen ein äußerlich erstrebenswertes Verhalten erzwingen, heißt dies noch lange nicht, dass der Mensch nun besser oder gar umerzogen worden ist. Ethisch verantwortungsvolles Handeln ist – auch im Sport! – ein Handeln mit einem Folgebewusstsein, also weit mehr als ‚nur’ ein straffreies Handeln! Zur Aufgabe der Ethik: Was heißt „ethik-orientiertes Werten“? Die Ethik als Praxis der Philosophie geht auf ARISTOTELES (384 v. X - 322 v. X) zurück. Er war wohl der Erste, der von ethischer Theorie geschrieben hat. In seinem Sinne hat die Ethik den Bereich der menschlichen Praxis als Gegenstand, also das auf Entscheidung beruhende Handeln, das sich von der theoretischen Philosophie abgrenzt, die auf das Unveränderliche, Ewige gerichtet ist. Ethisch verantwortbares Handeln orientiert sich am Guten, was sich schließlich in einem guten Charakter (‚Hexis’) ausdrückt, das heißt: die sittliche Haltung ist nicht ausschließliches Produkt der Einsicht, sondern sie wird durch vernunftgeleitete Praxis (Übung, Gewohnheit und Lernen) erworben. Diese Haltung wird also einerseits im Willensbereich durch Klugheit, assistiert von der Vernunft, gelenkt und anderseits durch die ethische Tugend bestimmt, die im Übungsbereich stets nach Glückseligkeit strebt. Inhaltlich bedeutet die ethische Tugend die Mitte zwischen zwei falschen Extremen: So wird zum Beispiel die Tapferkeit als eine Art Gratwanderung zwischen Feigheit und Tollkühnheit definiert oder Mäßigung zwischen Wollust und Stumpfheit. Oder die 6 Großzügigkeit als eine Tugend, die es zwischen Geiz und Verschwendung zu erlangen gilt. Die Aufgabe der Ethik ist es nicht, über eine vermeintlich gerechte Ordnung im moralischen Umfeld zu richten. Ethik-orientiertes Abwägen bedeutet im traditionellen Ethik-Verständnis nur, über Fairness oder über Chancengerechtigkeit zu reflektieren sowie darüber, ob grundsätzlich die Gesundheit von Athlet(in-n)en gefährdet wird oder werden könnte: Die zentrale Herausforderung einer ethik-orientierten Diskussion bleibt das Abschätzen einer je nach dem zu gewichtenden Verhältnismäßigkeit! Es gibt – auch im Sport – Gebote sowie Verbote, und es gibt auch Regeln, Werte und Normen. Sie alle erfüllen Orientierungsfunktionen und schränken menschliches Handeln ein. Da – philosophisch gesehen – „totale Freiheit“ absolut ist, also (von allem) losgelöst und so eher einem chaotischen, denn einem strukturierten Zustand gleichkommt, gilt es (diese) Freiheit so einzuschränken, dass aus Orientierungslosigkeit sinnvolle Orientierungschancen geschaffen werden können. Aus der Sicht der Ethik geht es in solchen Diskussionen genau genommen darum, sinnstiftende Relativierungen der Freiheit (z. B. durch Werte und Normen) zu prüfen, zu begründen und zu diskutieren sowie eben menschliches Handeln in Relation zu ethik-orientierten Prinzipien zu „gewichten“, das heißt zu werten. Ethik-orientierte Wertungen sind immer auch im Zeitgeist verhaftet, immer im Bezug zu stets im Zusammenhang mit ihrer Relevanz neu zu diskutierenden Werten und drücken auch ihrerseits eine bestimmte Haltung und Gesinnung aus oder lassen zumindest einen bestimmten subjektiven Standpunkt erkennen. Werten ist die höchste Stufe eines Ausbildungsprozesses, der auf die Entwicklung einer selbständigen und eigenverantwortlich urteilsfähigen Persönlichkeit zielt. In diesem vierstufigen Prozess steht vorerst das Vermitteln von Wissen, danach das Können, damit auch umzugehen. Aufgrund von hinreichendem Wissen und Können sollten wir befähigt sein, erkennen zu können, um schließlich in der Lage zu sein, zu werten. Dank Wissen, Können und Erkennen wird es schließlich möglich sein, das Wissen, das Können und das Erkannte auch werten zu können. Somit wird deutlich, dass Wertungen, und insbesondere ethik-orientiertes Werten, nicht einfach subjektive, mehr oder weniger reflektierte Meinungen sind, sondern sie sollten fundierte, auf sachlogischer Argumentation beruhende Stellungnahmen sein, die intersubjektiv überprüfbar und wenn möglich auch fallbezogen nachvollziehbar sind. „(...) ein permanentes Anrennen gegen jede Art von Unvernunft!“ Ethik-orientierte Praxis ist nicht einfach zu leben, denn sie hat mehr mit Weisheit denn mit Wissen und mit mathematisch konzipierter Ratio zu tun! Das Wesen der 7 Weisheit trifft zeiten-überdauernd das Wesentliche und weist so über den aktuellen Moment hinaus. Weisheit ist zwar zeitlos gültig, nicht aber die vom Zusammenhang losgelösten Erkenntnisse. Und so bleibt die wohl kluge Frage noch immer unbeantwortet, wie künftig Stimmiges in künftiger Relation antizipiert und bereits als ‚moderatum’ im Hier und Jetzt sog. gültig erkannt werden kann! Die Forderung des Guten und des Gerechten als moderate Mittellösung zwischen „unguten“ Extremen kann nur nach einer optimalen, niemals aber nach einer maximalen Lösung streben. In diesem Ur-Widerspruch liegt es auch begründet, weshalb verantwortbares Handeln ein „permanentes Anrennen gegen jede Art von Unvernunft“, Ungerechtigkeit und asozialer Bevorteilung ist (vgl. RUH 1995, 7). Dies trifft auch auf die Doping-Problematik zu. Für die Lösung dieses Dauer-Konfliktes gibt es kein Rezept, nur die stete Forderung, immer wieder von Neuem zu unterscheiden, dann zu entscheiden, was eigenen und was fremd gesteuerten Bedürfnissen und Motiven entspricht und was schließlich den betroffenen Personen und den pädagogischen Anliegen unter den gegebenen Besprechungen am meisten gerecht wird. Ethisches Handeln orientiert sich am sog. Sittlichen und basiert auf Entscheidungen. Diese wiederum sind Produkte eines willentlichen Aktes, der geleitet wird von Orientierung stiftenden Kriterien. Im ethischen Güterabwägen steht somit die Entwicklung und Ausarbeitung solcher Kriterien im Zentrum, die es argumentativ zu begründen und ihre Relevanz logisch sowie intersubjektiv nachvollziehbar herzuleiten gilt: Daraus folgt für die philosophisch-ethische Praxis, dass es stets die folgenden Fragen im konkreten Umfeld der jeweils praktischen Situation zu beantworten gilt: Was ist in welchem Zusammenhang für wen und unter welchen Bedingungen – allenfalls auch verglichen womit? – ethisch (sittlich) vertretbar, also sowohl individuell als auch sozial angemessen und gerecht und was inwiefern nicht verantwortbar? Welches sind die maßgeblichen und das sportbezogene Handeln leitende Kriterien, wonach diese Entscheidungen zu fällen sind? Lohnen sich ethik-orientierte Diskussionen über Doping? Dass die unter ethischen Aspekten geführten Diskussionen über Doping oft auch als unbefriedigend empfunden werden, scheint möglicherweise darin begründet zu sein, dass die Ethik als wissenschaftliche Disziplin nicht Recht spricht, sondern Wissen im Dienste künftiger Entscheidungen zur Verfügung stellt. Um dieses Wissen nutzen zu können, muss es im gegebenen Falle in differenzierter und differenzierender Form angewandt werden, nachdem zuvor bereits abgewogen wurde, inwiefern es überhaupt für diesen Fall von Relevanz ist. Früher hat die Kirche eine Art moralische Instanz repräsentiert und in dieser Vorläuferfunktion der Ethik sehr klare Positionen bezogen und mit zum Teil nicht zimperlichen Sanktionen entsprechende Wirkung erzielt. Die philosophische Ethik hingegen richtet keine Appelle an den Menschen, sondern versucht, Wissen zu begründen und stellt insbesondere Behauptungen (z. B. Hypothesen) prüfend in Frage. 8 So werden all jene, die klare Handlungsanweisungen, ja eine Art Rezepte von Seite der Ethiker/innen erwarten, immer wieder enttäuscht. Die im Rahmen der Ethik verwendeten Methoden, sind keine starren Verfahren, sondern bleiben mehr oder weniger offene Vorgehensweisen, weil die jeweils als relevant einzustufenden Kriterien zwar logisch, aber immer auch aus subjektiver Perspektive begründet werden. Einerseits ist diese Tatsache unbefriedigend, anderseits notwendig, denn nur so wird eine hinreichende Flexibilität in wechselnden Situationen gewährleistet und mögliche Aussichten auf Erfolg bleiben intakt (vgl. HÖFFE 1992, 181 ff). Gedopte Sportler/innen sind Tatsache – was nun? Lösungsansätze – auch im Problemfeld „Doping“ – weisen zumindest zwei Stossrichtungen auf. Noch immer dominiert die Ausrichtung auf Syndromausrichtung, obwohl wir eigentlich längst wüssten, dass es die Probleme an ihren Wurzeln zu packen gilt, und zwar wenn immer möglich aufgrund eines systemdynamischen Verständnisses. Systemdynamisch heißt in diesem Zusammenhang, dass es nicht darum gehen kann, monokausal Schuldige zu suchen und dann anzuprangern, auch unsere Gesellschaft muss mehr Verantwortung übernehmen: Unser Gesellschaftssystem, aber auch die Organisation des Hochleistungssportes ist derart strukturiert, dass insbesondere die Sportler/innen und ihr Umfeld oft unter einem solchen Druck stehen, dass die Einnahme von auch unerlaubten Mittel offensichtlich für Viele noch die einzige Möglichkeit darstellt, überhaupt eine Chance zu haben, bestimmte Leistungen aufgrund des Entwicklungs-, Erholungs- und aktuellen Leistungszustandes zu erbringen. Weil der Mensch in seiner Wesensart, vor allem aber im Willensbereich auf Freiheit von Reiz-Reaktions-Mechanismen konzipiert ist, werden bestehende und entdeckte Freiräume, die ja eine Entwicklung erst ermöglichen, genutzt und in existenziellen Extremsituationen, auch wenn es verboten ist, auch missbraucht. Diese Tendenz zum Missbrauch liegt in der Natur des Menschen; er hat sich im Laufe der Evolution zu diesem unberechenbaren, dafür aber (weitgehend) entscheidungsfähigen Wesen entwickelt. Seine diesbezügliche ‚Umpolung’ würde – trotz moderner Gentechnologien, die auch wieder unter ethischen Aspekten in Frage gestellt werden müssten – sehr viel Zeit kosten, falls dies überhaupt erstrebenswert, sinnvoll und möglich sein sollte... Was bleibt uns denn zu tun? Wie macht- oder initiativlos sind wir? Zweifellos gilt es die „Erziehung zu mehr Fairplay“ zu fördern, was auch gezielte „Anregungen zum sozialen Lernen – im Sport, aber nicht nur dort“ miteinbezieht (LUTHER/HOTZ 1998). Und sonst müsste, wenn nicht der Mensch, so doch der Sport neu erfunden werden. Auch darüber könnte ernsthaft diskutiert werden, auch wenn auf den ersten Blick allgemein geglaubt wird, dass das Rad der Zeit nicht mehr zurückgedreht werden könne... Verglichen mit einer hochentwickelten Technik, die nur von wenigen Ausnahmekönnern erworben und erfolgreich angewandt wird, bleibt für den Durchschnittssportler das Foulspiel (z. B. das Beinstellen) als ein (leider!) effizientes und ohne große Lernprozesse erwerbbares „Gegenmittel“. Aber: „Tricher – c’est tuer le sport!“ formulierte einmal die Genfer Philosophin Jeanne HERRSCH (1910-2000) diesen traurigen Zusammenhang treffend. Foulen ist zwar meist einfacher und effizienter als ethisches Handeln, doch damit nicht zu rechtfertigen! Und wir erkennen erneut den Gegensatz, dass das absolute Leistungsprinzip mit dem ethischen Prinzip kollidiert, was erneut auf die strukturelle Urquelle des Spannungsfeldes zwischen „Ethik und Doping“ hinweist. Und der Kreis hat sich geschlossen...! 9 Doping-Problem – weit mehr ein Problem unserer Gesellschaft! „Das Doping-Problem belastet seit Jahren die leistungssportliche Entwicklung. Dieses Problem ist deshalb von zentraler Bedeutung für die Zukunft des Leistungssports, weil dessen weitere Entwicklung von seiner angemessenen Bewältigung abhängt; zentral ist es aber auch deshalb, weil das Doping-Problem lange (und in manchen Ländern immer noch) verborgen gehalten wird und insofern die Schwierigkeit, es zu erkennen – im Unterschied zu Unfairness und Gewalt, die zumeist offen zutage treten – , dazu führt, dass es allein durch organisatorische und administrative Maßnahmen nur schwer, wenn überhaupt, unter Kontrolle zu bringen ist. Schließlich berührt das Doping-Problem aber auch den Sport insgesamt; es beschädigt seinen Sinn (...) und mehrt dabei auch noch die Zweifel, ob die Sportorganisatoren imstande sind, mit ethischen Fragen konsequent umzugehen und pädagogische Verantwortung im Hinblick auf Jugend und sportliche Jugendarbeit hinreichend wahrzunehmen.“ (GRUPE 2000, 234.) Zitierte und weiterführende Literatur COURT, J.: Täuschung oder Gewinn?, in: HOTZ, A. (Hg.): Handeln im Sport in ethischer Verantwortung, Magglingen 1995; 222-237. DOSTOJEWSKI, F. M.: Kalenderspruch: 22. März 2000. GRUPE, O.: Doping und Leistungsmanipulation: Zehn Gründe für konsequente Kontrollen, in: Olympisches Feuer, 1989, Heft 1; 10-13. GRUPE, O./MIETH, D. (Hg.): Lexikon der Ethik im Sport, Schorndorf 1998. GRUPE, O.: Vom Sinn des Sports. Kulturelle, pädagogische und ethische Aspekte, Schorndorf 2000. HERRSCH, J.: Zitat aus einem von ihr in Magglingen gehaltenen Vortrag, Herbst 1979. HÖFFE, O. 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