MOMENTAUFNAHMEN Gedanken und Aphorismen zu einer Renaissance unmittelbarer Kompositionsästhetik der 70-er und 80-er Jahre am Beispiel von Ernst-Helmuth Flammers fünf kurzen Klavierstücken (1980/81) „Solange es den amerikanischen, imperialistischen Kapitalismus gibt, kann es nie genug Terroristen geben...“ Jean-Marie Straub, anlässlich der Preisverleihung auf dem 63. Filmfestival in Venedig, 2006 Flammers „MOMENTAUFNAHMEN – fünf kurze Klavierstücke“ tragen im ersten und im fünften Stück Widmungen: (I.) Meinem Lehrer Peter Förting in Freundschaft gewidmet, (V.) „für Toni“, Anton Sacher (25.12.23 – 27.7.80) zum Gedächtnis. Die Widmung zum fünften Stück weist auf einen tragischen Unterton des Werkes hin, der auch durch die meist sehr langsamen Tempovorschriften (I.=40, II.=30, III.=42, IV.=60, V.=60)unterstützt wird, die sich alle im unteren Bereich der Skala bewegen. Diese z.T. sehr langsamen Grundtempi finden ihren Gegensatz durch z.T. sehr schnelle Tongruppenfelder und rhythmische Eruptionen auf engstem Raum. Alle fünf Stücke sind nicht mehr als zwei DIN3-Seiten und 30 Takte lang. Strukturen der Kompositionen - Material und Ordnungen Konzentriert man sich auf die Struktur der Stücke hat man den ersten Eindruck, dass dem Kompositionsprozess kein von Anfang bis Ende fester Plan vorlag. Man meint eher eine Arbeit mit fertigen, quasi objekthaften Materialtypen zu hören, die an verschiedenen Stellen des Zyklus wieder in abgewandelter Form auftauchen und formal Zusammenhänge stiften. Diese Materialobjekte können entweder dynamischer oder statischer Natur sein. Den Beginn des ersten Stückes kennzeichnet ein eher statisches Material. Die ersten vier, motivisch exponierten Noten (beide Notensysteme) decken den gesamten chromatischen Raum von f bis gis ab, gefolgt vom Zweiklang a/ ais, der den chromatischen Raum zur Quarte f/ ais erweitert. Der obere Ton in der rechten Hand wird zudem getrillert und bildet damit das folgende Kernelement des Werkes. Wiederholt ziehen Triller durch das Werk in verschiedenen Dynamisierungen, entweder hart einsetzend oder mit Vorschlagsgruppen versehen, weich auslaufend oder – oft mit Abschlagsnoten versehen – hart abreißend. Das letzte Motiv des ersten Taktes in der linken Hand bringt ein völlig neues Element in das Stück, eine kurz rhythmisierte Oktave über eine Dauer von drei Sechzehntel. Im Keim wird hier auch der permanente Konflikt zwischen einem Achtel oder einem Viertel und einer punktierten Sechzehntel bzw. Achtel auf den Weg gebracht. Hier handelt es sich um den Ton f, der in der ersten Tongruppe schon einmal das Prinzip der Chromatik durchkreuzt. Ein weiteres Element des Zyklus – kurz angeschlagene oder lang ausgehaltene weite Akkorde (oft verschieden arpeggiert) – erscheint zum ersten Mal zu Beginn des zweiten Taktes und wird dann in retrograder Bewegung durch die rhythmisierte Oktave f und einen weiteren Triller im Diskant abgelöst. Eine Klanglichkeit der Kontraste wird im zweiten Stück eingeführt. Das Stück besteht fast nur aus Klängen, die im Inneren des Flügels hervorgebracht werden: Flageolettöne, Triller auf zwei Flageoletglissandi (parallele Saiten), mit der Hand gezupfte Flageloettöne. Die Rhythmik dieses Stückes ist geprägt von kurzen, z.T. unregelmäßigen Repetitionsketten und regelmäßigen Pulsausschnitten (meist in Sechzehntel- oder Achtelwerten), die von längeren Pausen unterbrochen werden. Es vermittelt eine Art Morsestruktur: Ereignis – Stille – Ereignis – Stille usw. Motivische oder dynamische Materialentwicklung wie im ersten Stück fehlen. Stück drei kombiniert die Klanglichkeit des ersten Satzes mit dem Materialcharakter des zweiten: Inside-piano-Klänge (also im Inneren des Flügels erzeugte Töne) wie im zweiten Stück werden nicht eingesetzt. Das Material bewegt sich statisch keinen Millimeter vorwärts und korrespondiert in dieser Hinsicht mit Stück zwei. Auch hier finden wir die schon erwähnten Morsestrukturen, jedoch hier mit z.T. sehr viel kürzeren Pausen, abgelöst von wiederum kürzesten Akkordhammerschlägen oder von längeren Trillern. Recht häufig begegnen uns diese Morsestrukturen auch innerhalb des Tonsatzes: Diese geheime Korrespondenz zwischen Stück zwei und drei, findet sich auch zwischen Stück vier und fünf. In Stück vier (verteilt auf zwei DIN3-Seiten) bricht nach den beiden Stücken zwei und drei das Material wieder ins Freie auf. Stück vier beginnt mit einer flüchtigen reziproken Struktur, bei der die Intervalle der linken und rechten Hand ausgetauscht werden. Der im Flügel gezupfte Ton f' fungiert als Spiegelachse: Eine korrespondierende Struktur findet sich in Takt 13: Reste des Materials aus Stück zwei dienen so wiederholt als Trennmauern bzw. Wechselaggregate zwischen zwei unterschiedlichen Materialzuständen, wie z.B. der Flageoletton e'' (5. Partial) über c am Anfang des dritten Taktes. Die kurze anschließende Struktur, die in einen weiten langsam arpeggierten Akkord mündet, weist damit auf das fünfte Stück. Wir finden außerdem eine rhythmische Entsprechung im Takt 24 des Stückes, allerdings hier mit einer Terzdynamik und einer veränderten Klangfarbe (gezupfte Töne im Flügel). Schnelle Tonkaskaden setzen immer wieder Ausrufezeichen, erscheinen aber nie einzeln, sondern in einer Dopplung, mit reziproken Materialzuordnungen, so in Takt vier non legato mit anschwellender Dynamik (von f bis ff) und accelerando, in Takt fünf dagegen legato mit abschwellender Dynamik und wiederum in ein arpeggio mündend. In den Takten 16 bis 21 hören wir eine symphonisch anmutende Strecke im traditionellen Adagio-Charakter, in denen ein melodischer Duktus dominiert und der nur gelegentlich durch kurze Töne gestört wir. Indiz dafür ist das für diesen Abschnitt vorgeschriebene Tempo (Achtel = 75), die vor diesem Abschnitt gesetzte Fermate in Takt 15 und die Achtelzäsur am Ende des 21. Taktes. Ein besonderes Highlight des vierten Teilstückes sind die schnellen und abrupt einsetzenden Kaskaden weiter arpeggierter Akkorde in Takt 23. Dieser Takt sticht sofort hervor, da er als einzelner satz- und materialtechnisch nicht über korrespondierende Abschnitte vermittelt wird. Am ehesten besteht eine geheime Verbindung mit Takt 25, in dem die repetierten Töne fis'''' mit dem Tönen F und D im Bassregister so etwas wie statische „Riffs“ bilden, die wir in dieser Farbe eher aus der schwarzen Rockmusik der 60-er und 70-er Jahre kennen. Stück fünf vermittelt keine neuen Materialaspekte. Es hat eher einen abschließenden, sogar versöhnlichen Aspekt, und das trotz der Widmung für Toni für Toni Sacher, der kurz vor der Entstehung des Stückes verstorben war. Eher noch können wir neuartige Amalgame zwischen den zuvor gebrachten Materialbausteinen beobachten, so z.B. einen Zwitter aus kurzen, sich frei aufschwingenden Intervallgruppen, die sofort in eine symphonisch-melodisch anmutende Adagiobewegung hinüber gleiten, die aus Stück vier bekannt ist. Auffallend ist, dass wir in der Intervallik immer wieder kontinuierliche Wechsel zwischen Terzen und Sekunden bzw. komplementären Septimen finden, ohne aber ein (mit der Terz komplementäres) Sextintervall. : Offensichtlich vermied der Komponist , vielleicht wegen zu großer historischer Konnotation (etwa mit der Musik von Johannes Brahms) sich dieses Stilmittels zu bedienen. Er wollte damit auch nicht der im ganzen Zyklus der „MOMENTAUFNAHMEN“ vorherrschenden Farbe – Azid – die nötige Schärfe nehmen. Für eine gelungene Interpretation des Werkes ist es daher sehr wichtig, dass der Pianist, obwohl er durch die zum Teil auf engstem Raum sich ablösenden Spielaktionen (an den Tasten – im Flügel, a) zupfend, b) Flageolettöne hervorbringend) in seinem kontinuierlichen Spielfluss scheinbar gestört wird, zwischen diesen fragmentierten Aktionen geistige Materialkorrespondenzen herstellt, die auch in seinen körperlichen Bewegungen zum Ausdruck kommen. Auf der anderen Seite ist die Interpretation dieses Stückes auch für den Interpreten nicht ohne Reiz. Er muss sich wegen der zwangsläufig auftretenden Inkommensurabilität dem ständigen Wechsel zwischen normalen und „inside“-Spiel stellen. Mangels besserer Möglichkeiten wird er nämlich auch im Flügel an verschiedenen Stellen der Saitenspannung zu zupfen und harmonische Knoten zu drücken haben, je nachdem, wie der Flügel von der Konstruktion her innen bespannt ist. Diese im Notentext versteckten Brüche und interpretatorischen Schwierigkeiten werden bei der Realisierung auch sichtbar, dem Publikum zugewandt, ausgetragen. Kompositorische Konsequenzen. Folgerungen aus dem Materialstand der MOMENTAUFNAHMEN aus heutiger Sicht. Zur besseren Beleuchtung soll kurz die mediale Situation der Gesellschaft der Bundesrepublik um die Jahreswende 1980/1981 beleuchtet werden: Kommunikationsmittel waren Telefon und Brief. Die Erfindung des Faxgerätes steckte damals in den Kinderschuhen, ein erstes Faxgerät wurde 1979 durch die Deutsche Bundespost, die zudem auf diesem Gebiet ein staatliches Monopol innehatte, der Öffentlichkeit präsentiert. Auch persönliche Heimcomputer waren unbekannt, desgleichen Internet oder Handy. Politisch gesehen wurde die BRD-Demokratie in dieser Zeit durch ein für heutige Verhältnisse relativ stabiles Dreiparteiensystems (CDU/CSU, SPD und FDP) getragen. Die ökologische Bewegung und die Gründung der Grünen als Partei stehen am Anfang, sie agieren größtenteils noch außerhalb des Parlamentes Die politische Welt in dieser Zeit ist zweigeteilt, in einen kapitalistischen Westen mit der NATO unter der Führung der USA und einen kommunistischen Osten, zusammengeschlossen im Warschauer Pakt unter der Führung der Sowjetunion, die sich 1991 als Staat aufgelöst hat. Im Massensport der Deutschen Nr. 1, dem Fußball, bestehen die Stadien größtenteils noch aus Stehplätzen. Für eine Stehplatzkarte zu einem Bundesligaspiel zahlt der Besucher in der Regel nicht mehr als 5 D-Mark (zum Vergleich: Gegenwärtig kosten Eintrittskarten zu solchen Spielen in der Regel mindestens 20€). Fernsehüberwachung und strenge Sitzplatzzuweisungenheute vielfach üblich - gab es nicht. Einige Mannschaften laufen zu dieser Zeit schon mit Trikotwerbung auf (die erste Mannschaft der Bundesliga war damals Eintracht Braunschweig mit der Aufschrift des Sponsors „Jägermeister“), im staatlichen Fernsehen sind die wichtigsten Spiele der Bundesliga, die alle um 15.30 Uhr am Samstag gleichzeitig beginnen, um ca. 18 Uhr in Primetime-Sendungen wie der Sportschau in einer Zusammenfassung zu sehen. Eine Ausnahme bilden Abendspiele im Europapokal – meist am Mittwoch Abend – die live im ersten oder zweiten Fernsehkanal (ARD/ZDF) übertragen werden, in der Regel mit einem analog über eine Telefonstandleitung übertragenen Sprechkommentar (zum Vergleich: Heutige Live-Übertragungen solcher Spiele sind nur noch in privaten Bezahlsendern wie sky oder PREMIERE anzuschauen (aber dafür mit gestochen scharfen Bildern, erzeugt von einem mehr als Dutzend an verschiedenen Stellen des Stadions postierten hochmodernen Kameras). Private Sportsender gab es um 1980 ebenso wenig wie Internet-Livestreams, die heute einen vom normalen Fernsehangebot unabhängigen Medien- und Eventkonsum ermöglichen. Warum diese kurz skizzierte Aufzählung ? Welche kompositorischen Fragen ergeben sich daraus. ? 1) Die damalige Welt war politisch zweigeteilt. Sie war nicht schöner als heute. Das Leben mag in manchen Bereichen beschwerlicher gewesen sein, aber es war insgesamt hoffnungsvoller. Eine Alternative sowohl im westlichen als auch im östlichen System war diesen immanent eingeschrieben. Heute drückt der im politischen Denken etablierter Kreise vielzitierte Satz der amtierenden Bundeskanzlerin Angela Merkel: „Zu diesen Maßnahmen gibt es keine Alternative“ einen Apathie verbreitenden Nebel aus, mit dem jeder Widerspruch im Keim erstickt werden soll. Proteste – in Berlin z.B. die alljährlich beschworenen und mittlerweile nur noch als anachronistisch belächelten Krawalle zum 1. Mai - mutieren zur Touristenattraktion. Die Bundesrepublik Deutschland verfügt aktuell über Kontrollmechanismen, die bis in die intimste Privatsphäre hineinreichen und die auch das kulturelle Leben unseres Landes, ob nun subkutan oder offen, nicht verschont lassen. Die internationalen Geheimdienste (führend die der USA) sind heute in der Lage, private verschlüsselte Datenübermittlungen im Internet lückenlos nachzuvollziehen. Der freien Kreativität im Besonderen, der öffentlichen Debattenkultur und damit auch dem freien Komponieren (welches keinesfalls gleichzusetzen ist mit dem Schreiben unsinnlicher Musikstücke) wird damit der Kampf angesagt, langfristige Arbeit auf diesem Terrain durch vielfältige gesellschaftlich sanktionierte Pufferzonen unmöglich gemacht, der Weg des seriös arbeitenden Komponisten in Deutschland, der nicht bereit ist, seinen eigenen Weg aufzugeben, auf der sozialen Rutschbahn nach unten ist damit vorprogrammiert. Allein ökonomische Zahlen rechtfertigen den Erfolg eines Musikstückes , und nur in diesem Sinne erfolgreiche Werke haben überhaupt das Potenzial, in den Genuss eines Qualitätssiegel zu kommen. 2) Dagegen erheben Flammers MOMENTAUFNAHMEN Einspruch. Sie ergreifen Partei für ein freies Komponieren, das sich an den folgenden Zielen orientiert: Planvolles Komponieren ist immer bezogen auf den Augenblick des Schaffensprozesses. Kein Herunterbeten von formelhaften Strukturen, die nicht weiter hinterfragt werden. Solches Herunterbeten ist denn auch sofort anfällig für plagiatorische Ansätze und geschickt gemachte Stilkopien, auch in der Neuen Musik. Formelhaftes Denken wird konsequent aufgebrochen. Für solche Versuche kann das Arbeiten mit kleinen und kleinsten Formen ein erstes Versuchslabor sein, bevor mit diesem Denken größere und längere Formate in Angriff genommen werden. Traditionsbewusstes Komponieren: In Flammers MOMENTAUFNAHMEN findet sich für die damalige Zeit experimentelle Klangforschung:wie das Suchen neuer Klanglichkeit mittels des inside-Spiels im Flügel, das pizzicato Flageolet z.B. als damals noch relativ unübliche Spielweise, ebenso wieder wie traditionelle Anklänge an Brucknersche Symphonik, z.B. das immer wieder auftauchende und sich mitunter über den ganzen Flügel spannende Oktavmotiv=I., Takt 2, 23, 26, Melos im Adagio=IV., Takt 16-21, V., Takt 4-7). Traditionelle Materialien werden , wenn sie von ihrem ursprünglichen Kontext befreit werden, zu gleichwertigen Trägern musikalischer Bedeutung wie Klänge aus der Avantgarde. Traditionsbezüge beim gegenwärtigen Komponieren sind keine Clichés, die nach dem Publikum schielen. Sie sind als gleichberechtigte Möglichkeiten des gegenwärtigen musikalischen Ausdrucks in einem Gesamtzusammenhang zu sehen, der mit der traditionellen abendländischen Musik nichts mehr zu tun hat. Die Kunst öffnet ihre Pforten der Freiheit für den, der sich von der Ichbezogenheit des Komponierens und vom Wahn, eigenes musikalisches Material wie einen Markennamen besitzen zu dürfen, gelöst hat. Abkehr vom rein technizistischen Komponieren: Die Generation der heute dreißigjährigen Komponisten setzt die sogenannten „Neuen Medien“ in ihren Werken ein (an vorderster Front sind hier z.B. die Komponisten Johannes Kreidler und Simon Steen-Andersen sowie Martin Schüttler zu nennen). Sie haben Adornos Materialfortschrittspostulat in ein rein technizistisches Dogma umgedeutet, das den musikalischen Materialfortschritt nunmehr ausschließlich als den schrittweisen Zuwachs von technischem Aufwand begreift. Zur Realisierung eines Stücks werden speziell klangverändernde Geräte und Hilfsmitteln benötigt, die entweder am Instrument selbst angebracht werden (z.B. Kontaktmikrophone) und dann über ein Mischpult u.ä. den Klang des Originalinstruments verändern und manipulieren sollen, oder es wird am Ende ganz auf traditionelle Instrumente und die klassische Aufführung verzichtet und. Es wird nur noch mit einem soundkompatiblen Computer gearbeitet, auf dem dann mittels eines Klangbearbeitungsprogramms die über Lautsprecher wiedergegebenen Klänge montiert und ggf. nachbearbeitet werden. Dabei ist die geistige Ebene dieses Materialfortschrittspostulats von Adorno völlig in den Hintergrund gerückt. Die Aufführung Neuer Musik gerät so zunehmend in die Nähe zu einem künstlich stilisierten Happening oder einer Klanginstallation, die dann nach Belieben wiederholbar ist, aber gleichzeitig im Gegensatz zu einer Aufführung durch menschliche Musiker etwas von ihrer zeitlichen Einmaligkeit verliert. Dem hält der Komponist Ernst-Helmuth Flammer die vom Subjekt ausgehende und in den individuellen Interpretationsakt mündende Komposition entgegen. Dieses Komponieren fordert zwangsläufig persönliche Emotionen in ihrer Einmaligkeit bei der Ausführung der Werke heraus, und sie allein erweckt Anteilnahme und Leidenschaft. Eine Art Konklusion Um die Tradition des freien, nicht ausschließlich am ökonomischen Erfolg orientierten Komponieren in Deutschland steht es schlecht, manche meinen sogar sehr schlecht. Der kontinuierliche Abbau unabhängiger und fachlich orientierter Institutionen mag ein Grund für diese negative Entwicklung sein. Neues, kritisches Potenzial für ein Komponieren, was sich vom Zwang des ökonomischen Erfolg befreit, kann nur erwachsen, wenn die Elitebildung sich nicht nur an dieser ökonomische Werteskala orientiert. Geistige und moralische Werte lassen sich nicht verordnen. Sie erfordern die Notwendigkeit, Deutschland zunehmend als ein polymorphes Gebilde zu begreifen, in dem sich zeitgenössisches Musikleben wieder überall frei entfalten kann und muss. Es ist ein himmelschreiender Skandal, wenn vergleichsweise reiche Städte wie München, die ihren Reichtum nicht zuletzt aufgrund der politischen Veränderungen der unmittelbaren Nachkriegszeit zu verdanken haben einerseits die Armut Berlins negativ besetzen, andererseits die kreativen Kräfte Berlins mit Stolz hervor gehoben werden. Die kreative Szene in Berlin ist zwar groß und vielschichtig, aber sie ist arm. Der ökonomische Maßstab lässt vergessen, dass Kreativität, wie immer sie sich äußern mag, für die ökonomische Entwicklung lebensnotwendig ist. Die heute zahlreich in Berlin arbeitenden Tonkünstler und Interpreten sollten ein Zeichen setzen, ein Zeichen der Hoffnung, dass trotz der leider oft geäußerten Verachtung der Allgemeinheit für die heutige Kunst und Musik diese gleichwohl stattfindet und weiterlebt, allen Unkenrufen ihres baldigen Todes zum Trotz. Dafür steht auch Ernst Helmuth Flammers Komponieren in seinem untraditionellen Traditionsbezug. Art-Oliver Simon, Juni 2013