Referate Arthur Rich 1 Walter Wolf

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Schaffhausen ehrt Arthur Rich - Referate der Gedenkfeier im Park-Casino 21.1.2010
WALTER WOLF:
ARTHUR RICH – EIN KLASSIKER DER
PROTESTANTISCHEN ETHIK
Ich beginne mit einer persönlichen Reminiszenz:
Nachdem 1995 meine Bringolf-Biografie erschienen
war, sagte Felix Tschudi vom Basler Pfarramt für
Industrie und Wirtschaft zu mir: „Jetzt könntest Du
eigentlich ein Buch über Arthur Rich schreiben.“ Felix
Tschudi – er ist der Bruder des früheren Bundesrats –
kannte Rich von der Sozialen Kommission des
Kirchenbunds her. Ich antwortete ihm: „Kannst Du
Gedanken lesen? Auch ich habe schon an ein solches
Projekt gedacht.“ – Wie bin ich denn auf Arthur Rich
gestossen? Bereits vor 60 Jahren hat er mich als Lehrer
an der Kantonsschule beeindruckt. Neben seinem
interessanten Unterricht imponierte mir die einfühlsame, manchmal etwas umständliche, stets
aber souveräne Art, mit der er auf unsere kritischen Fragen einging. Wir spürten es, er nahm
uns Junge ernst.
(Falls Frau Rich anwesend:) Arthur Rich amtete neun Jahre lang als Pfarrer von Hemmental.
Seine Gattin, Elisabeth Rich-Schneider – schön, dass Sie, Frau Rich unter uns sind! – war eine
angesehene Pfarrfrau. Wie mir kürzlich eine ehemalige Konfirmandin von Arthur Rich aus
Hemmental bestätigte, war (und ist) Frau Rich eine vitale, tatkräftige Frau. (Zitat:) „Wenn sie
mit ihrem grossen Korb im Konsum einkaufte, unterhielt sie sich mit den Leuten. Zum Beispiel
sprach sie mit anderen Müttern über gleichaltrige Kinder. In Hemmental kamen alle vier Kinder
der Familie Rich, zwei Buben und zwei Mädchen, zur Welt. Frau Pfarrer Rich hatte in Familie,
Pfarrhaus und Gemeinde viel zu tun. Sie nahm ihrem Mann alle praktischen Arbeiten ab.“
(Ende)
Nun aber zu meinem Referat: Es trägt den Titel „Arthur Rich – ein Klassiker der
protestantischen Ethik.“ Was ist ein Klassiker? Nach der Definition eines kürzlich erschienenen
Buches sind klassische Texte „Spiegel der Vergangenheit für die Gegenwart“. Klassiker
zeichnen sich dadurch aus, dass das, was sie erschaffen haben, die Gegenwart und Zukunft
beeinflusst.
Wie aber verhält es sich mit der ebenfalls im Titel erwähnten protestantischen Ethik? Ich
beschränke mich im Folgenden auf Richs Engagement in der Sozialethik? Unter Sozialethik
versteht man Familienethik, politische Ethik, Wirtschaftethik usw. Arthur Rich hat vom
protestantischen Glaubensgut aus Linien zu sozialethischen Fragen der Gegenwart gezogen.
Er hat aus christlicher Warte aktuelle politische und wirtschaftliche Probleme beurteilt. Das will
ich an drei Beispielen erläutern und dabei versuchen, einen Bezug auch auf heute herzustellen:
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Walter Wolf, Historiker und Arthur Rich-Biograph
1. Freiheit: Im Februar 1949, nachdem ein „Eiserner Vorhang“ zwischen dem demokratischen
Westen und dem kommunistischen Osten errichtet worden war, wurde an einem Sonntag im
Kanton Bern von allen Kanzeln herab über das Thema „Die Kirche zwischen Ost und West“
gepredigt. Rich – er hatte kurz zuvor vom Hemmentaler Pfarramt zur Leitung des Schaffhauser
Lehrerseminars gewechselt – wählte als Text für seine Gastpredigt in Unterseen Galater 5,13.
Dieser Text gilt als „Magna Charta der christlichen Freiheit“ und lautet: „Zur Freiheit seid ihr
berufen worden, liebe Brüder und Schwestern. Auf eins jedoch gebt acht: dass die Freiheit nicht
zu einem Vorwand für die Selbstsucht werde, sondern dient einander in der Liebe.“
(Übersetzung nach der neuen Zürcher Bibel) Zwei Themen werden in diesem Pauluswort
angesprochen: das Ja zur Freiheit und das Nein zum Missbrauch der Freiheit. Das Ja zur
Freiheit umschreibt Rich so: „Das Evangelium von Jesus Christus ist […] ein Evangelium der
Freiheit. Jeder kann […] nach seinem eigenen Gutdünken […] denken und wirtschaften. […]
Wer [aber] gegen die Freiheit der Menschen steht, steht gegen Jesus.“ Den letzten Satz bezieht
Rich auf die Unterdrückung der Freiheit im Osten. Beim Thema „Missbrauch der Freiheit“
wendet er sich an den Westen mit seiner freien Wirtschaft. (Zitat:) „Welche Freiheit wollt ihr?
Die gute Freiheit oder die schlechte Freiheit?“ Die Freiheit, in der ihr einander in Liebe dient,
oder die Freiheit des Stärkeren, die den Schwächeren an die Wand drückt? Eine Frage, die sich
heute zum Teil an die Finanzwirtschaft richtet. Aber nicht nur an sie.
Auf ähnliche Weise stellt heute der Zürcher Jurist Peter Rosenstock einen Gegenwartsbezug
her, indem er aus christlicher Sicht die Sterbehilfe-Problematik beurteilt. In einem kürzlich
erschienenen Buch erinnert er daran, dass Rich dreissig Jahre nach seiner Berner Predigt in
seiner Schrift „Radikalität und Rechtsstaatlichkeit“ den Text von Galater 5,13 ein zweites Mal
ausgelegt hat. Gestützt auf diese zweite Auslegung über richtig und falsch verstandene Freiheit
fordert nun Rosenstock strenge gesetzliche Auflagen für die Sterbehilfe-Organisationen Exit
und Dignitas.
Ich komme zum 2. Punkt: Sozialethik zwischen Traditionalismus und Revolutionspathos:
1968, im Jahr der Studentenunruhen, entbrannte ein heftiger Streit zwischen Traditionalisten
und Revolutionären. In Zürich kam es zwar nicht gerade zu einer Revolution, aber zu einer
Revolte, zu Krawallen rund um das Globusareal und zu Misshandlungen durch die
Ordnungskräfte der Polizei. Rich nahm diese Ereignisse zum Anlass, um sich mit zwei
gegensätzlichen Tendenzen in der evangelischen Sozialethik auseinanderzusetzen. Die eine
Richtung wollte konservativ am Bestehenden festhalten, die andere wollte revolutionär das
Bestehende umstürzen.
Prototyp der ersten Richtung war der reformierte Schweizer Theologe Emil Brunner, den Rich
im Allgemeinen schätzte. Wie Brunner dachten damals auch einige lutherische Theologen.
Brunner vertrat die Ansicht, dass die weltlichen Ordnungen – Familie, Staat, Kirche, Wirtschaft
– in Gott verankert seien. Das verleihe ihnen eine höhere Weihe. Dem widersprach Rich. Im
Gegensatz zu Brunner siedelte er die weltlichen Ordnungen in der Dimension des Profanen an.
Sie seien von Menschen errichtet, von Menschen zu verantworten und daher auch von
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Schaffhausen ehrt Arthur Rich - Referate der Gedenkfeier im Park-Casino 21.1.2010
Menschen zu hinterfragen und unter Umständen zu verändern. Von dieser Überlegung liess
Rich sich leiten beim Urnengang über die Einführung des Frauenstimmrechts. Damals wurde
von gegnerischer Seite – nicht aber von Emil Brunner, der bereits gestorben war – behauptet,
Frauen hätten in der Politik nichts zu suchen, weil es in der Bibel heisse: „Das Weib schweige in
der Gemeinde.“ „Nein“, sagte Rich, „das Weib rede in der Gemeinde.“ Das Pauluswort, auf das
sich die Frauenstimmrechtsgegner beriefen, gilt heute als überholt. Denn es bezieht sich auf
die zeitbedingte, von Menschen errichtete Ordnung einer Urchristengemeinde und kann daher
nicht die gleiche Bedeutung beanspruchen wie zentrale Glaubensaussagen der Bibel wie die
Magna Charta der christlichen Freiheit oder das dreifache Liebesgebot.
Prototyp der zweiten, diametral entgegengesetzten Richtung war der amerikanische Theologe
Richard Shaull. Er vertrat eine „Theologie der Revolution“. Shaull war überzeugt, dass in der
revolutionären Bewegung der Neuzeit – von der Französischen Revolution bis zu den
zeitgenössischen Befreiungsbewegungen – der lebendige Gott am Werke sei. Die Revolution
sei der Ort, an dem sich Gottes Wille manifestiere. Noch radikaler als Shaull dachte der
deutsch-amerikanische Philosoph Herbert Marcuse, der 1967/68 zur Studentenrevolte aufrief.
Aber die Revolutions-These wurde von Rich in Zweifel gezogen. Revolutionen seien von
Menschen und nicht von Gott gemacht. Shaulls progressive Revolutionstheologie verleite –
ähnlich wie Brunners konservative Ordnungstheologie – zu dem Trugschluss, dass Gottes Wille
im menschlichen Geschehen transparent werde. Dem hielt Rich entgegen, dass der Christ zum
Traditionellen wie zum Revolutionären eine kritisch prüfende Haltung einnehmen solle.
Über Brunner und Shaull hinaus bemühte sich Rich um einen neuen Ansatz in der
evangelischen Sozialethik. Hierin erwies er sich als ein Klassiker der protestantischen Ethik.
Seinem Ansatz liegt die Hoffnung auf das kommende Reich Gottes zugrunde. Rich
unterscheidet zwischen dem Relativen dieser Welt, in der zum Teil Unrecht geschehe, und
dem Absoluten des Gottesreichs, in dem vollkommene Gerechtigkeit walte. Richs
Unterscheidung zwischen „relativ“ und „absolut“ mündet in die Empfehlung, die Welt in ihrer
Unvollkommenheit auszuhalten und gleichwohl von der Vision des Gottesreichs her für
Verbesserungen im Diesseits einzustehen. Auf das jüngste Minarettverbot in der
Bundesverfassung bezogen, bedeutet dies: Es gilt den demokratischen Volksentscheid zu
respektieren, obwohl er mit seinem einseitigen Kirchturmbauverbot die Religion der Muslime
diskriminiert. Längerfristig hingegen ist nach einer besseren, weiterführenden Lösung zu
suchen.
Und nun noch zum 3. Punkt: Richs Methode für ethische Urteilsbildung: Der wohl wichtigste
Beitrag, den Arthur Rich als Klassiker der protestantischen Ethik geleistet hat, ist die
Erarbeitung von theologisch-ethischen Richtlinien für politisches und wirtschaftliches
Handeln. Rich entfaltet ein Instrumentarium, das aufzeigt, wie Christen und Kirchen zu
Urteilen in Politik und Wirtschaft gelangen. Der Prozess spielt sich auf drei Ebenen ab:
Ausgehend von der „Humanität aus Glauben, Hoffnung Liebe“ gemäss 1. Kor. 13,13 kreiert Rich
auf der zweiten Ebene ethische Kriterien für privates und öffentliches Handeln. Als Beispiele
seien erwähnt: Mitmenschlichkeit (d.h. Nächstenliebe) oder Mitgeschöpflichkeit (d.h.
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Walter Wolf, Historiker und Arthur Rich-Biograph
ökologische Verantwortung). Mit der Fundamentalprämisse Glaube, Hoffnung, Liebe und mit
seinen insgesamt sieben Kriterien hat Arthur Rich die sinngebende Dimension unserer
christlichen und humanistischen Tradition klar umrissen. Das ist höchst aktuell. Denn nach den
Worten von Bundesrätin Widmer-Schlumpf ist im Anschluss an die Abstimmung über das
Minarettverbot bei uns die Frage aufgebrochen: „Welches sind die christlichen und
humanitären Werte in unserer säkularen Gesellschaft?“ – Auf der dritten Ebene schliesslich
werden bei Rich Handlungsrichtlinien – sogenannte Maximen – für die Lösung von konkreten
Sachfragen formuliert. Hier wird die ideale Welt der Kriterien mit der realen Welt der Fakten
konfrontiert. Um zu gültigen Urteilen zu gelangen, sind zwei Dinge erforderlich: ethische
Gesinnung und fachliche Kompetenz. Beide Komponenten sind Rich gleich wichtig. Bei ihm
ist das Ökonomische ins Ethische und das Ethische ins Ökonomische integriert.
Sein Instrumentarium für ethische Urteilsbildung wendet nun Rich auf den Ost-WestGegensatz an. Kein unbekanntes Thema, wie wir vom Berner Kirchensonntag her wissen. Hatte
Rich 1949 aus wirtschaftlicher und politischer Sicht zur Freiheitsproblematik Stellung
genommen, so konzentrierte er sich vierzig Jahre später auf den ökonomischen Aspekt. Er
formulierte Maximen zur Beurteilung von Planwirtschaft und Marktwirtschaft. Dies geschah
kurz vor dem Zusammenbruch des kommunistischen Herrschaftssystems. Rich kommt zum
Schluss, dass aus ethischen und sachlichen Gründen die Marktwirtschaft dem
planwirtschaftlichen System vorzuziehen sei. Aber damit ist nicht alles gesagt. Es gilt auch,
zwischen verschiedenen Arten von Marktwirtschaft zu unterscheiden. Das ist heute
brandaktuell. Rich unterscheidet zum Beispiel zwischen einem kapitalistischen Markt, der
einem Maximum an Profit nachjagt, und einer humanen Marktwirtschaft, die sozial und
ökologisch reguliert ist. Kein Zweifel, dass Rich sich für Letzteres entscheidet, indem er
wiederum Maximen formuliert. (Zitat:) „Meine Grundthese ist, dass […] auf dem Boden der
Marktwirtschaft […] Alternativen zu einer spezifisch kapitalistischen […]Struktur bestehen. […]
Daran werden die Ultraliberalen, die auf Deregulierung des Marktes setzen, keine Freude
haben.“
Ich fasse zusammen: „Sonne der Gerechtigkeit, gehe auf zu dieser Zeit…“ So sangen im
Herbst 1989 die Menschenrechts-Demonstranten in den Strassen von Leipzig und Dresden.
Weiter heisst es im Lied: „…brich in deiner Kirche an, dass die Welt es sehen kann.“ Dazu
braucht es heute Christen und Christinnen, die sich für politische Freiheit und soziale
Gerechtigkeit einsetzen. Das soll im Geist von Arthur Rich geschehen.
Walter Wolf
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