InfosteIle Online-Plattform für das Sozialwesen Basler Zeitung, Seite 27 23. September 2011 Das quälende Gefühl der Ohnmacht Angehörige von psychisch Kranken leben mit Schuldgefühlen - und brauchen selbst Hilfe In Basel-Stadt gibt es 12000 Menschen, die an einer mittleren bis schweren Depression leiden. Jeder zweite Mensch wird im Laufe seines Lebens von einer psychischen Störung betroffen sein. Psychische Erkrankun­ gen sind eine Volkskrankheit und beein­ trächtigen das Leben der Betroffenen stark. Aber oftmals geht vergessen, dass "auch die Angehörigen von psychisch Kranken genauso leiden. Und während die Patienten in einer Klinik oder von einern Psychotherapeuten betreut wer-" den, bleiben Angehörige oft alleine, von Scham- und Schuldgefühlen geplagt, hilflos. Diese Erfahrung hat auch Anne­ marie Müller* gemacht. Die 65-Jährige wohnt in der Region, ist Mutter von zwei Kindern, verheiratet. Sie erzählt der BaZ von ihrem Sohn Thomas*. Er war ein «gschpüriges» Kind, verletzlich, nahm das Leben ernster als andere Kin­ der. Er sei oft ausgegrenzt worden, er­ zählt die Mutter. Ein halbes Jahr vor der Matur litt er an einer starken Depressi­ on mit Suizidgedanken. «Er lernte nicht mehr, hat fast nicht mehr gesprochen», erzählt Müller. Zusammen mit dem Sohn entschied die Familie, dass etwas geschehen müsse. Eine gute psychologi­ sche und psychiatrische Behandlung in der Region zeigte Wirkung: Thomas be­ stand die Matur souverän und begann ein Studium an der ETH Zürich. Basel. Visionen fürs Kind loslassen Es folgten aber weitere Rüc kschlä­ ge. Thomas wechselte die Stu dienrich­ tung, «konnte irgendwie nichts festhal­ ten», erzählt die Mutter. Hin zu karnen Suc�tprobleme. «Oft hatten wir als Fa!lllhe Angst, dass Thoma s sich um­ b�mgen könnte und niema nd in seiner n�?eren Umgebung in Zürich es merken �rde.» Sie getrauten sich aber auch mcht, allzu oft anzurufen, erz ähl ler, da sie ihnja auch nicht kon t Mül­ trollieren wollten. Thomas ging es imm er schlech­ ter, «er fühlte sich nicht ges und», bis der ?amals 29-Jährige selber den Wunsc h a�sserte, in eine psychiatri sche Klinik e.mzutreten. Dort diagnostiz ierten die ��te eine Borderline-Persönlichkeits_ storung. Nach dem längeren Aufenthalt in der Klinik arbeitet Thomas nun sch?n seit einigen Jahren zu 100 Prozen� 1m IT-Bereich, die Umschulung wurde l�m von der Invalidenversicherung ermog­ licht. Er gehe weiterhin z� einern Psy­ chotherapeuten in der Re?,lOn und bra�­ ehe nach wie vor unterstutzende Medl­ kamente da er noch sehr stress- und frustrati�nsanfällig sei, wie di� Mutt�r erzählt. Das soziale Leben bleIbe wel:­ gehend auf der Strecke. Ab�:: :<Er a�bel­ tet und sein Leben macht für Ihn emen Sinn. Wir sind sehr stolz auf ihn», sagt Annemarie Müller. TrotzdeI?- m�ch� es auch traurig, die V isionen für em Kind loszulassen. Nicht nur für Thomas war und ist es eine schwere Zeit, auch für die Familie. «Als Angehörige kämpft man mit vielen Schuldgefühlen», sagt Müller. «Haben wir die Zeichen nicht erkannt? Hätten wir die Entwicklung der Störung ver­ hindern können? Sind wir mit unserer Erziehung mitschuldig?» Das Gedan­ kenkarussell beginne sich zu drehen um die Frage «Was habe ich falsch ge­ macht?», schildert Müller. Durch diese Schuldgefühle gerate man in eine «Überverantwortlichkeit», die nicht hilfreich sei und einen an die Grenze von Stress, Burn-out und Depression bringe. «Man wird selber krank», sagt Müller. Das belaste auch die Beziehung zum Partner. Psychotherapeuten aus ßer Regi?n fühlte sich Müller von den Arzten allem­ gelassen. Jener Psychoth�rapeut ab�r habe «trialogisch» gearbeItet und dIe Angehörigen miteinbezogen. «Das hat uns sehr geholfen», sagt Müller. Hilfreich waren auch die klare Diagnose, welche die Ärzte in der Klinik stellten und der Austausch mit anderen bei Se�inaren und Treffen der Vereini­ gung der Angehörigen von Schizophre­ nie-/psychisch Kranken (Vask). Man merke dass andere die gleichen Scham­ und S�huldgefühle hätten. Mittlerweile ist Müller selber im Vorstand von Vask Zürich tätig und betreut das Beratungs­ telefon. * Name geändert. Vorwürfe kamen anfangs auch vorn Sohn. Die Eltern und die Erziehung sei­ en Schuld an der Krankheit. Annemarie Müller ist froh, dass ihre Tochter die Kri­ tik ihres Bruders nicht teilte. Trotzdem sagt die Mutter: <<Vielleicht war ich nicht die starke Mutterfigur, die mein Sohn gebraucht hätte», sagt Müller rückbli­ ckend und fragt: «Aber ob man da von Schuld sprechen kann?» Wie eine persönliche Niederlag e Wenn man dem eigenen Kind nicht helfen könne, dann fühle man sich «ohnmächtig», sagt die Mutter. Es ziehe einern den Boden unter den Füssen weg. Es fühle sich an wie eine persönliche Niederlage, ein Versagen. Bis auf den Seite 1 von 2 18