Protokoll - Literaturwissenschaft Online

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Einführung in die Literaturwissenschaft
XI. Poststrukturalismus / Dekonstruktion
Begriffsklärung
1) Poststrukturalismus: Zeichentheorie ›nach‹ dem klassischen Strukturalismus à la de Saussure,
die insbesondere das Verständnis vom ›Zeichen‹ (›signe‹) als fester Koppelung von
›Bezeichnendem‹ (›signifiant‹) und ›Bezeichnetem‹ (›signifié‹) revidiert; der poststrukturalistischen
Auffassung zufolge verweisen Zeichen nicht auf (reale) Referenten, sondern immer nur auf andere
Zeichen; der entscheidende Ansatz zur Kritik an der Konzeption de Saussures fußt auf der
Bevorzugung der ›Schrift‹ gegenüber der ›Lautsprache‹ im klassischen Strukturalismus (vgl.
Derridas Grammatologie).
2) Postmoderne: Kunststil (insbesondere Architektur und Literatur) ›nach‹ der Moderne, d. h. unter
Verzicht auf das moderne Postulat beständiger Innovation; postmoderne Kunst entsteht vor dem
Hintergrund
der
poststrukturalistischen
Zeichentheorie
und
arbeitet
häufig
mit
dekonstruktivistischen Verfahren; Kriterien sind in erster Linie Intertextualität, Popularität und
Pluralität des Sinns.
3) Dekonstruktion: poststrukturalisches Analyseverfahren, das nicht auf die Rekonstruktion der
sinnhaften Ordnungen in einem Text zielt, sondern untersucht, inwiefern die Ordnungsstrukturen
(Oppositionen) nur scheinbar gelten, weil die Zeichen ihrer Sprachlichkeit wegen der
vermeintlichen Ordnung widersprechen (Dekonstruktion zeigt auf, warum die von der strukturalen
Textanalyse beanspruchte Rekonstruktion von Sinn nicht möglich ist)
Einwände gegen die strukturale Textanalyse aus poststrukturalistischer Warte
Der Strukturalismus betrachtet Texte als in sich schlüssige, widerspruchsfreie Systeme, die in ihrer
Ganzheit einen bestimmten Sinn konstituieren − die poststrukturalistische Zeichentheorie zieht
dieses Kohärenz-Postulat grundsätzlich in Zweifel.
Der
Strukturalismus
betrachtet
poetische
Texte
in
Analogie
zur
normalsprachlichen
Kommunikation (Sender → Botschaft → Empfänger) und fragt daher nach der jeweils
übermittelten Information − aus poststrukturalistischer Perspektive lassen sich poetische Texte aber
in der Regel nicht auf ihren Sinngehalt reduzieren, sondern problematisieren diesen durch ihre
sprachliche Gestalt (insbesondere durch Konflikte zwischen Metaphern und Metonymien).
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XI Poststrukturalismus / Dekonstruktion
WS 09/10
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Dekonstruktion
Dekonstruktion
lässt
sich
als
Umkehrung
der
gleichermaßen
hermeneutischen
wie
strukturalistischen Absicht begreifen: anstatt zu fragen, wie ein bestimmter Text richtig zu
verstehen ist, wird untersucht, welche Faktoren in einem Text dessen gültiges Verständnis
(Interpretation) verhindern. Dekonstruktion ist insofern eine ›negative‹ Literaturwissenschaft, weil
sie sich (selbstreflexiv) auf die eigenen Grenzen konzentriert und auf Interpretation verzichtet.
Jacques Derrida: De la grammatologie (1967)
Jacques Derrida (1930–2004) kann als Hauptvertreter des Poststrukturalismus und als Begründer
der Dekonstruktion gelten. Mit seinem Hauptwerk De la grammatologie (›Wissenschaft von der
Schrift‹) leistet er u. a. eine Grundsatzkritik an der klassischen Zeichentheorie de Saussures, der er
insbesondere einen ›Logozentrismus‹ = ›Phonozentrismus‹ vorwirft (die Bevorzugung der
Lautsprache gegenüber der Schrift).
Im Gegensatz zu de Saussure versteht Derrida ›Schrift‹ nicht als sekundäres Phänomen ›nach‹ der
gesprochenen Sprache, sondern als etwas Eigenständiges. Die aus dieser Gegenposition
resultierende Zeichentheorie bestreitet die Annahme de Saussures, ›Zeichen‹ würden auf Referenten
in der Wirklichkeit verweisen, und setzt die These dagegen, dass Zeichen immer nur auf andere
Zeichen referieren. Da die Zeichen folglich keine feste Bindung an außersprachliche Referenten
eingehen können, sondern ›streuen‹ (→ ›dissémination‹), ergibt sich daraus ein ›freies Spiel der
Signifikanten‹:
Il n’est pas de signifié qui échappe, éventuellement pour y tomber, au jeu des renvois
signifiants qui constitue le langage.1
Es gibt kein Signifikat, das dem Spiel aufeinander verweisender Signifikanten entkäme,
welches die Sprache konstituiert, und sei es nur, um ihm letzten Endes wieder
anheimzufallen.2
1
2
Jacques Derrida: De la grammatologie. Paris 1967, S. 16
Jacques Derrida: Grammatologie. Übersetzt von Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler. Frankfurt am Main
1983 (stw. 417), 17f.
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XI Poststrukturalismus / Dekonstruktion
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Besonderheit der ›Schrift‹ im Unterschied zur Lautsprache (Derrida)
Bei der Lautsprache ist der Sprecher ›anwesend‹ und kann dadurch die ›Präsenz‹ des Sinns
garantieren. Bei der ›Schrift‹ (= alle Zeichen ohne gegenwärtigen Urheber) ist der Urheber jedoch
abwesend, da das Schreiben immer schon in der Vergangenheit liegen muss − damit ist der Sinn
offen bzw. kann nicht auf je einen bestimmten Referenten bezogen werden.
Jacques Derrida: la différance
Derrida hat den für die Dekonstruktion zentralen Neologismus ›différance‹ zuerst in einem Vortrag
vor der Société française de philosophie am 27. 1. 1968 entwickelt (abgeleitet von frz. ›différer‹:
abweichen + ver- bzw. aufschieben; aus lat. ›differre‹).
Das unübersetzbare ›différance‹ belegt die Eigenständigkeit der Schrift, da die grafische Variation
(›différance‹ statt ›différence‹) nur geschrieben, aber nicht gesprochen werden kann (das
Französische kennt hierfür keinen phonetischen Unterschied).
Die ›différance‹ (dt.: ›Differanz‹ statt ›Differenz‹) ist als zentrale Eigenschaft bzw. Kraft von
Zeichen zu verstehen: Diese ›verschieben‹ den Sinn unvermeidlicherweise.
Aus dem Konzept der ›différance‹ leitet Derrida seine Fundamentalkritik an der Zeichentheorie de
Saussures ab:
1) Laut de Saussure können Zeichen sinntragend sein, weil sich jedes Zeichen durch seine Differenz
zu den anderen definiert (›Apfel‹ = nicht ›Birne‹ etc.). − Dabei versteht de Saussure das sprachliche
Zeichen als sekundär gegenüber dem damit bezeichneten Objekt:
Le signe, dit-on couramment [= im Sinne von de Saussure], se met à la place de la chose
même, de la chose présente, ›chose‹ valant ici aussi bien pour le sens que pour le référent.
Le signe représente le présent en son absence. Il en tient lieu. Quand nous ne pouvons
prendre ou montrer la chose, disons le présent, l’étant-présent, quand le présent ne se
présente pas, nous signifions, nous passons par le détour du signe. Nous prenons ou
donnons un signe. Nous faisons signe. Le signe serait donc la présence différée.3
Das Zeichen, so sagt man gewöhnlich, setzt sich an die Stelle der Sache selbst, der
gegenwärtigen Sache, wobei ›Sache‹ hier sowohl für die Bedeutung als auch für den
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Jacques Derrida: La différance. In: Jacques Derrida: Marges de la philosophie. Paris 1972, S. 1-29, hier S. 9.
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XI Poststrukturalismus / Dekonstruktion
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Referenten gilt. Das Zeichen stellt das Gegenwärtige in seiner Abwesenheit dar. Es nimmt
dessen Stelle ein. Wenn wir die Sache, sagen wir das Gegenwärtige, das gegenwärtig
Seiende, nicht fassen oder zeigen können, wenn das Gegenwärtige nicht anwesend ist,
bezeichnen wir, gehen wir über den Umweg des Zeichens. Wir empfangen oder senden
Zeichen. Wir geben Zeichen. Das Zeichen wäre also die aufgeschobene (différée)
Gegenwart.4
2. Während de Saussure das Verhältnis zwischen Objekt und Zeichen als temporale Differenz
erläutert, nutzt Derrida im Begriff der différance die semantische Doppeldeutigkeit von ›différer‹,
das sowohl ›aufschieben‹ (temporal) als auch ›verschieben‹ (räumlich) meinen kann. Demzufolge
begreift er das Verhältnis zwischen Objekt und Zeichen als räumliches, so dass kein Zeichen
wirklich das Objekt vertreten kann (wie de Saussure annimmt), sondern immer in Distanz dazu
steht und Beziehungen zu anderen Zeichen ausspielt:
Tout concept est en droit et essentiellement inscrit dans une chaîne ou dans un système à
l’intérieur duquel il renvoie à l’autre, aux autres concepts, par jeu systématique de
différences.5
Jeder Begriff ist seinem Gesetz nach in eine Kette oder in ein System eingeschrieben, worin
er durch das systematische Spiel von Differenzen auf den anderen, auf die anderen Begriffe
verweist.6
Konsequenzen für die literaturwissenschaftliche Arbeit
Die Interpretation von Texten stellt nur einen Sonderfall der literaturwissenschaftlichen Analyse dar
und bedarf der Rechtfertigung anhand spezifischer Bedingungen des jeweiligen Textes (dass der
Text doch eine ausreichende Kohärenz aufweist bzw. aufweisen ›soll‹).
Primär ist die Untersuchung von Texten auf ihre ›Gemachtheit‹, d.h. auf ihre jeweilige
Intertextualität. Die entsprechende Formel findet sich bei Roland Barthes:
4
5
6
Jacques Derrida: Die différance. In: Jacques Derrida: Randgänge der Philosophie. Hrsg. von Peter Engelmann.
Wien 1988, S. 29-52, hier S. 37f.
Jacques Derrida: La différance. In: Jacques Derrida: Marges de la philosophie. Paris 1972, S. 1-29, hier S. 11.
Jacques Derrida: Die différance. In: Jacques Derrida: Randgänge der Philosophie. Hrsg. von Peter Engelmann.
Wien 1988, S. 29-52, hier S. 40.
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Dans l’écriture multiple, en effet, tout est à démêler, mais rien est à déchiffrer […].7
Literarische Texte können deshalb nicht als geschlossene Gebilde behandelt werden, sondern sollen
ihre sprachlich bedingte Offenheit ausspielen können (→ programmatischer Verzicht auf das
hermeneutisch/strukturalistische Kohärenz-Postulat).
Beispiel einer dekonstruktivistischen Analyse
Friedrich Schiller (1795): Die Antike (an einen Wanderer aus Norden)
Über Ströme hast du gesetzt und Meere durchschwommen,
Über der Alpen Gebirg trug dich der schwindlichte Steg,
Mich in der Nähe zu schauen und meine Schöne zu preisen,
Die der begeisterte Ruf rühmt durch die staunende Welt;
Und nun stehst du vor mir, du darfst mich Heilge berühren,
Aber bist du mir jetzt näher und bin ich es dir?
Hinter dir liegt zwar dein nebligter Pol und dein eiserner Himmel,
Deine arkturische Nacht flieht vor Ausoniens Tag,
Aber hast du die Alpenwand des Jahrhunderts gespalten,
Die zwischen dir und mir finster und traurig sich türmt?
Hast du von deinem Herzen gewälzt die Wolke des Nebels,
Die von dem wundernden Aug’ wälzte der fröhliche Strahl?
Ewig umsonst umstrahlt dich in mir Ioniens Sonne,
Den verdüsterten Sinn bindet der nordische Fluch.
Die 7 heroischen Distichen (antike Versform) behaupten ›scheinbar‹ die parallelen Oppositionen
Süden vs. Norden und Antike vs. Moderne. Da die Antike spricht, entsteht vordergründig der
Eindruck, dass die Antike (bzw. der Süden) der Moderne (bzw. dem Norden) überlegen sei. In
konventioneller Interpretation ließe sich das z. B: in folgender Weise erläutern:
7
Roland Barthes: La mort de l’auteur. In: Roland Barthes: Œuvres complètes. Tome II: 1966-1973. Édition établie et
présentée par Éric Marty. [Paris] 1994, S. 491-495, hier S. 494 : ›In der multiplen Schrift gilt es alles zu entwirren,
aber nichts zu entziffern‹.
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Einführung in die Literaturwissenschaft
a) Das Gedicht illustriert Schillers Geschichtsphilosophie, die von der wesensmäßigen Differenz
zwischen ›naiver‹ Antike und ›sentimentalischer‹ Moderne ausgeht.
b) Schiller rechtfertigt mit der Behauptung, durch eine Reise in den Süden lasse sich die Antike
nicht wirklich angemessen erfahren, seinen Verzicht auf eine Reise nach Italien.
Die dekonstruktivistische Analyse zeigt jedoch auf, dass das Gedicht gar keine wirkliche
Opposition von Antike/Süden und Moderne/Norden konstruiert:
a) Hier lässt ein nördlicher Autor die Antike sprechen und macht sich damit zur Autorität über sie.
b) Die Differenz von ›Berühren der Antike‹ (das kann der nordische Reisende im Süden − vgl. v. 5)
und ›Sehen‹ (das kann der Reisende laut v. 11 und v. 14 nicht) widerlegt sich selbst, weil v. 12f.
davon sprechen, dass das Auge des Reisenden durch den ›fröhlichen Strahl‹ südlicher Sonne befreit
ist. − Hier kollidiert die Metaphorik mit sich selbst: Einerseits heißt es, dass die südliche Sonne
strahlt − andererseits wird behauptet, dass eine ›Wolke des Nebels‹ das Herz des Reisenden blind
macht. Die Antike nimmt für sich also in Anspruch, in ihrem Licht ›gesehen‹ werden zu können −
sie verlangt aber, dass das nicht mit dem körperlichen ›Sehsinn‹ geschieht, sondern mit dem Herzen
(und darauf hat die südliche Sonne begreiflicherweise keinen Einfluss). Die Antike macht dem
Wanderer also einen Vorwurf, der gar nicht berechtigt ist − die Überlegenheit der Antike wird
damit hinfällig.
Literaturempfehlung (ebenso umfassend wie gut verständlich)
Jonathan Culler: Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie. Übersetzt
von Manfred Momberger. Reinbek bei Hamburg 1999 (Rowohlts Enzyklopädie Nr.55635).
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