Emergenz und Evolution Diesmal geht es um den Zusammenhang von Emergenz und Evolution, wie er schon in dem Artikel Vortragsreihe Evolution/Humanismus/Emergenz I angesprochen wurde. Jetzt bringt wissenbloggt dazu einen weiteren Text von dem Physiker und Autoren Dr. Günter Dedié. Diese "Notiz" ist dem Facebook-Auftritt vom Emergenz-Netzwerk entnommen und stammt von Günter Dedié (Bild: ClkerFreeVectorImages, pixabay). Erfolgsfaktoren der Evolution 17. April 2015 Upd 150714 Die gängige Vorstellung von der Evolution leidet unter einer Denkgewohnheit, mit der Kreationisten und andere Vertreter der Religionen immer wieder argumentieren: Sie hätte nach dem ursprünglichen Vorstellungen, allein durch zufällige einzelne Mutationen und Selektion der erfolgreichsten Individuen, viel zu lange gedauert. Rein mathematisch schon für die einfachsten Viren, und erst recht für die höheren Lebewesen. Dinosaurier-Gesellschaft (Quelle: Pavel.Riha.CB, Wikipedia) Tatsächlich war die Evolution auf der Erde nur deshalb möglich, weil sie durch mehrere andere Prozesse verstärkt und ganz erheblich beschleunigt wurde. Generell ist zunächst zu sagen, dass die Evolution sich nicht nur in der Ebene der Gene abspielt, sondern die Lebewesen als Ganzes betrifft, vor allem ihren Stoffwechsel, und bei den höheren Lebewesen die geistigen und kulturellen Fähigkeiten. Die Vielgestaltigkeit der Lebewesen ist weniger eine Folge genetischer Neuerungen, sondern mehr durch Unterschiede der Genregulation bedingt. (Unter Genregulation werden verschiedene biochemische Mechanismen verstanden, die die Wirkung der Gene infolge der Rückkopplung mit ihrer Umgebung steuern, z.B. epigenetische Schalter an den Genen wie Methylgruppen, und Proteine.) Günstige Bedingungen wie ausreichend Nahrung und mildes Klima fördern die Innovationen in der Evolution. Ungünstige Bedingungen,wie z.B. der Nahrungsmangel im Korallenriff oder im Dschungel, führten zur Konkurrenz und zum „Kampf ums Dasein“. Sie erzeugen eine Vielfalt innerhalb der Arten Ich betrachte nun einige Beispiel für emergente Prozesse, die die Evolution im Vergleich zu dem Modell von Darwin sehr stark beschleunigt haben. Erster Beschleuniger: Die Evolution hat mit Makromolekülen begonnen, die sich selbst reproduzieren konnten und sich zu Viren und Bakterien weiter entwickelt haben. Die emergenten Elemente sind hier die Makromoleküle, aus denen die Systeme Viren und Bakterien entstehen. Die Wechselwirkungen sind die chemischen Bindungen. In dieser Phase war die Evolution ein kollektiver Prozess von sehr vielen Individuen, deren Erbgut sehr ähnlich, aber nicht identisch ist. Manfred Eigen hat diese Kollektive Quasispeziesgenannt. Die Evolution betrifft dabei die gesamte Population, weil es viele Individuen gibt, die bei der Selektion Vorteile haben können. Die kollektive Evolution verläuft um viele Zehnerpotenzen schneller als die Evolution nach Darwin. Beispiele: Bei Viren verläuft die Evolution etwa 1000 mal so schnell wie bei Bakterien, und bei Bakterien etwa 1000 mal so schnell wie bei Mehrzellern. Zweiter Beschleuniger: Als zweites wichtiges Beispiel betrachte ich die Ko-Evolution von Viren mit anderen Lebewesen bis hin zum Menschen. Die Elemente und auch die Systeme sind hier Viren und andere Lebewesen, die sich in der Ko-Evolution gegenseitig positiv beeinflussen. Diese Ko-Evolution hat wahrscheinlich meist als Schmarotzer-Wirt-Verhältnis begonnen,sich dann aber zur Symbiose weiter entwickelt, weil Viren ohne ihre Wirtszellen nicht überlebensfähig sind. Bei der Symbiose wurden dann auch Gene übertragen. Beispiele: Im menschlichen Genom liegt der Anteil der Gene, die von Viren stammen, bei bis zu 40%. Die Säugetiere haben sich mit Hilfe von RetrovirenGenen in ihrem Genom entwickeln können, die für den Aufbau der für Blut undurchlässigen PlazentaTrennschicht notwendige waren und die Abstoßung des Embryo durch die Immunabwehr der Mutter verhindern. Beuteltiere haben diese Fähigkeit nicht entwickelt. Dritter Beschleuniger: Symbiosen. Die modernen eukaryotischen Zellen beispielsweisesind aus der symbiotischen Vereinigung von drei verschiedenen prokaryotischen Zellarten durch Verschmelzung entstanden. Die Partner sind zu spezialisierten „Organellen“ wie Mitochondrien und Chloroplasten geworden. Ergebnis: Der Stoffwechsel der Eukaryoten ist 20 x leistungsfähiger als der der Prokaryoten. Sie sind im Durchschnitt 10.000 Mal größer; in ihrem Zellkern befindet sich bis 1.000 Mal mehr DNS. Das sind Fähigkeiten, die für die Evolution der höheren Lebewesen unabdingbar sind. Vierter Beschleuniger: Wie sind bei der Entwicklung eines einzelnen Lebewesens aus einer einzigen befruchteten Eizelle die unterschiedlichen Gewebe und Organe entstanden? Trotz gleicher Gene für alle? Die Wirkung der Gene wird abhängig von Art und Ort der Zelle im Körper durch die Epigenetik und die Genregulation teilweise ausgeschaltet . Manchmal auch abhängig von anderen Parametern der Umgebung wie der Temperatur des Geleges bei Schildkröten. Es gibt eine Rückkopplung zwischen den Genen und dem Einfluss der Umgebung der Zellen. Beispiel: Die Verwandlung einer Raupe über die Puppe zum Schmetterling ist ein Meisterwerk des epigenetischen Systems. Raupe, Puppe und Schmetterling haben die gleichen Gene. Fünfter Beschleuniger: Die sozial stimulierte Ko-Evolution von Insekten, die Gruppen oder Staaten bilden, auf Basis der Gene. Hier sind die Individuen die Elemente. Durch die emergente Wechselwirkung von sozialen Herausforderungen und den Fähigkeiten der Individuen haben sich als Systeme z.B. die höchst erstaunlich organisierten und sehr erfolgreichen Insektenstaaten entwickelt. Man nennt die Fähigkeiten der Individuen als Staaten auch kollektive Intelligenz. Gleiches gilt für die sozial und kulturell stimulierte KoEvolution einiger höherer Lebewesen und der Menschen. Hier ist es ähnlich abgelaufen, nur nicht genetisch bedingt, sondern auf der Basis ihrer geistigen Fähigkeiten. Die geistigen Fähigkeiten ermöglichen eine viel größere Geschwindigkeit der Entwicklung. Beispiel: Voll entwickelte Staaten gab es bei Ameisen nach ca. 50 Mio. Jahren kollektiver Evolution, beim Mensch nach weniger als 1 Mio. Jahren. Die große Geschwindigkeit der Evolution der Menschen ist aber verbunden mit den üblichen Chancen und Risiken neuer "Technologien": Die übrige Natur hat bei dieser hohen Evolutionsgeschwindigkeit keine Chance, sich schritthaltend anzupassen, und die menschliche Gesellschaft kann auch mit der gleichen hohen Entwicklungsgeschwindigkeit evolutionäre Sackgasse geraten. in eine Die emergenten Wechselwirkungen zwischen Menschen bestehen vorwiegend aus ihrensozialen Interaktionen und deren Regeln. Ein einfaches Beispiel dazu ist die Wirkung der Emergenz in der Ehe, nach Paul Watzlawicks BuchVom Schlechten des Guten. Er schreibt dort: „… neigen im Konfliktfall die beiden Partner dazu, die Schuld beim anderen zu sehen. Beide sind überzeugt, das ihre zur Lösung des Konflikts zu tun, und wenn das Problem dennoch fortbesteht, dann muss es die Schuld des anderen sein“. Und weiter: „… jede Beziehung ist aber mehr und anders geartet als die Summe der Bestandteile, sie ist … eine überpersönliche Neubildung“. Zur emergenten Neubildung trägt z.B. bei, ob die Partner sich gegenseitig fördern oder blockieren, ermutigen oder erniedrigen usw. Dieses Wissen sollte man angehenden Paaren schon auf dem Standesamt vermitteln; es wäre wichtiger als manches Andere … Sechster Beschleuniger: Die sexuelle Vermehrung und die Hybridisierung ermöglichen die Vererbung von ganzen Abschnitten des Genoms, und damit größere Schritte in der Vererbung. Bei der Hybridisierung auch über die Grenzen von Arten hinweg. Mit der sexuellen Vermehrung hat sich auch eine neue Wechselwirkung zwischen den Lebewesen entwickelt, die sexuelle Anziehung. Sie ist ziemlich rasch zur stärksten aller Wechselwirkungen geworden. In Verbindung mit den eusozialen geistigen Fähigkeiten der Menschen wurde daraus die Liebe. Der modulare Aufbau der Organismen (Organe, Gliedmaßen) mit zugeordneten Mastergenen, die andere Gene kontrollieren, ermöglicht die Vererbung von bewährten modularen Einheiten der Lebewesen. Zwischenbilanz: Kollektive emergente Prozesse, Ko-Evolutionen und Symbiosen haben bei der Evolution eine entscheidende Rolle gespielt. Oder wie es die Biologin Lynn Margulis formuliert hat: “Life did not take over the globe by combat, but by networking “. Durch die Wechselwirkungen unterschiedlicher emergenter Prozesse gab es aber auch hin und wieder Ereignisse, die die Evolution massiv „von außen“ beeinflusst haben, wie z.B. der Einschlag eines Asteroiden am Ende der Kreidezeit. Die Folge davon können sog. schöpferische Katastrophen sein (Joseph Schumpeter). Im Beispiel war es eine Katastrophe für die Dinosaurier und eine große evolutionäre Chance für die Säugetiere. BlattschneiderAmeise bei der Arbeit (Quelle: Norbert Potensky, Wikipedia) Ko-Evolution von Individuen und Gruppen oder Staaten Ich komme nochmal zu einem überaus wichtigen Erfolgsfaktor der Evolution zurück: Der Ko-Evolution von Individuen und Gruppen durch das Leben in einer Gruppe oder Gemeinschaft. Die Fähigkeiten der Individuen und die Fähigkeiten der Gruppe verstärken sich dabei gegenseitig. Die Biologen nennen diese Sozialordnungen eusozial. Sie sind i.d.R. gekennzeichnet durch das Zusammenleben mehrerer Generation, uneigennütziges (sog. altruistisches) Verhalten, eine Arbeitsteilung und dass nicht alle Lebewesen des Kollektivs sich vermehren. Eusozialität ist bei den Arten der wirbellosen Tieren sehr selten, es gibt sie nur in 15 der 2600 Familien. Bei Wirbeltieren ist sie noch seltener. Die sozialen Herausforderungen sind dabei die wichtigsten Treiber für die Entwicklung der Fähigkeiten der Individuen. Das gilt sowohl für genetisch bedingte Fähigkeiten, wie bei Ameisen, als auch für geistig bedingte Fähigkeiten der höheren Lebewesen. Die Fähigkeit einer Art zum Leben in Gruppen ist evolutionär immer ein großer Vorteil. Sowohl bei Insekten als auch bei Säugetieren beherrschen die wenigen eusozialen Arten die Welt seit Millionen von Jahren. Beispiel Ameisen: Ihre Biomasse ist größer als die aller anderen Insektenarten zusammen, und ein Mehrfaches der Biomasse der Wirbeltiere. Beispiel Mensch: Er ist evolutionär derart erfolgreich, dass schon jetzt ein ganzes Erdzeitalter nach ihm benannt wurde: das Anthropozän (Paul Crutzen). Spezies Mensch Der Homo Sapiens ist ein staatenbildendes Lebewesen und hat sich deshalb sehr erfolgreich entwickelt und „von den Bedingungen der Umwelt emanzipiert“ (Josef Reichholf). Seine wichtigsten Erfolgsfaktoren waren und sind dabei: Die sehr schnelle Evolution auf Basis seiner geistigen und kulturellen Fähigkeiten. Die Ko-Evolution der einzelnen Menschen mit ihren Gruppen oder Gemeinschaften. Die dadurch erreichten kulturellen und naturwissenschaftlich-technischen Fortschritte. Risikofaktoren gibt es natürlich auch, zum Beispiel: Die große Geschwindigkeit der Evolution der Menschen auf der Basis ihrer geistigen Fähigkeiten verhindert eine ausgewogenen Ko-Evolution mit der übrigen Natur. Dafür müssen die Menschen die Verantwortung übernehmen. Die Menschen sind bei der Evolution auf Basis der geistigen Fähigkeiten sowohl die Elemente der emergenten Entwicklung der menschlichen Gesellschaft als auch die Gestalter der Wechselwirkungen. Sie haben deshalb hier eine doppelte Verantwortung. Durch die Jahrhunderte lange Vormachtstellung der Religionen ist die Entwicklung und allgemeinen Anwendung einer angemessenen humanitären Ethik in einen erheblichen Rückstand geraten, im Vergleich zu Kultur, Wissenschaft und Technik. „Was wir von der Natur für eine bessere Gesellschaft lernen können“ Dieser Untertitel des Buchs von Frans de Waal Das Prinzip Empathie steht für die Zusammenfassung. Das Erfolgsrezept der Evolution war nicht der Kampf ums Dasein, wie uns seit 200 Jahren suggeriert wird, sondern kollektive Prozesse, Kooperationen und Symbiosen. Lebewesen mit geselliger,kooperativer Sozialordnung waren während der Evolution wesentlich erfolgreicher als extraktive „Einzelkämpfer“. Die Spezies Mensch ist ein Beispiel dafür. Inklusive/symbiotische (menschliche) Gesellschaften sind den extraktiven/ schmarotzenden langfristig überlegen. Entscheidend ist ihr inhärenter Pluralismus und ihre Sicherheit vor Willkür. Ohne angemessene ethisch fundierte Regeln funktioniert keine Gesellschaft, auch nicht bei anderen Lebewesen mit sozialer Organisation. In der Vergangenheit war allerdings bei der genetisch bedingten Evolution genug Zeit für eine Selektion. In der menschlichen Gesellschaft geht diese Entwicklung auf Basis der geistigen Fähigkeiten aber sehr viel schneller. Außerdem sollten wir mit Hilfe unserer Vernunft die unfreiwillige Selektion soweit wie möglich vermeiden. Nicht nur aus der Evolution, sondern allgemein aus der Analyse emergenter System folgt , dass ein langfristig stabiles System ein dynamisches Gleichgewicht zwischen zwei oder mehr Kräften oder Einflüssen erfordert. Beispiele dafür in der menschlichen Gesellschaft sind: Freiheit und Verantwortung, Angebot und Nachfrage, Pluralismus und Zentralismus, Risiko und Rendite, shareholder value und stakeholder value, Transparenz und Flexibilität. Aber auch Güte und Entmündigung; kein einfaches Thema. Unabdingbar für derartige Verbesserungen in der menschlichen Gesellschaft ist ein ausreichendes Wissen für ausreichend viele Menschen (Immanuel Kant, Friedrich von Hayek, Thomas Piketty u.v.a.), als Voraussetzung für kritisches Denken und den Mut zu eigenverantwortlichen Entscheidungen, vor allem als Bürger und Wähler. Weitere Informationen dazu und allgemein zu den emergenten Prozessen finden Sie im Buch Die Kraft der Naturgesetze, Günter Dedié, Verlag tredition, zweite Auflage 2015. Links zum Emergenz-Netzwerk, zu Dediés wb-Artikeln und der "Notiz"