1929: In Berlin wird das Agitationsstück 'Cyankali' von Friedrich Wolf uraufgeführt Anmoderation: Die Weimarer Republik kurz vor der Weltwirtschaftskrise: Hete und Paul erwarten ein Kind; beide verlieren ihre Arbeit, und Hete entschließt sich zum Schwangerschaftsabbruch. Der Arzt, den sie aufsucht, liest ihr jedoch nur den §218 des Strafgesetzbuches vor, der solche Eingriffe verbietet. In ihrer Verzweiflung greift Hete zur Selbsthilfe... - Das Schauspiel 'Cyankali', aufgeführt von einer Gruppe junger Schauspieler im Berliner Lessing-Theater, wurde zu einer der großen Theaterprovokationen der zwanziger Jahre. Autor Friedrich Wolf war selber Arzt und kannte die Problematik des Abtreibungsparagraphen aus seiner eigenen Praxis. Er war aber auch ein zu jener Zeit viel gespielter Dramatiker, der nach dem Ersten Weltkrieg mit expressionistischen Stücken von sich reden gemacht hatte. 1928 trat Friedrich Wolf in die kommunistische Partei ein und veröffentlichte einen Essay-Band unter dem Titel 'Die Kunst als Waffe'. Von da ab verfasste er politische Kampfstücke, zuallererst eben 'Cyankali', das damals zu seiner Verhaftung führte - und schließlich von New York bis Tokio, von Moskau bis Paris Aufsehen erregte. O-Ton 'Cyankali': Die Arbeitslosenkrise: ein Weltphänomen. / Weil um jeden Dreck gestreikt wird. / Quatsch! Ausgesperrt sind wir. / Jacke wie Hose. Es geht immer um die Lohntüte. Im Februar 1929 meldete die Arbeitslosenstatistik in Deutschland über drei Millionen Arbeitslose. Es war die Zeit der Weltwirtschaftskrise. Die Wohnungsnot war groß. Eine vierköpfige Arbeiterfamilie hatte in der Regel gerade einmal anderthalb Zimmer zur Verfügung, und so entbrannte zu jener Zeit auch der Kampf für die Geburtenregelung. Auch der damals 40jährige Arzt Friedrich Wolf bekämpfte den § 218, jedoch nicht nur in seiner Funktion als Mediziner, sondern auch als Bühnenautor. Seit 1927 hatten sich links orientierte, meist erwerbslose Schauspieler zu Kollektiven zusammengeschlossen. Mit den Mitteln des Theaters wollten sie Einfluss auf das politische Leben nehmen. Eines der zahlreichen neuen Kollektive war die „Gruppe junger Schauspieler“, die ihre Stücke an ständig wechselnden Orten zeigte. Nun wurde die Uraufführung des neuen Stücks von Friedrich Wolf vorbereitet. Die männliche Hauptrolle, den Heizer Paul, sollte der Schauspieler Gerhard Bienert spielen. O-Ton Gerhard Bienert: 'Cyankali', wie das Stück heißen sollte... – Wir hatten keine Zeit, uns – wie es der Brecht gemacht hat – zehn Monate eventuell mit einem Stück aufzuhalten. Wir spielten das drauflos, und die Rollen lagen uns ja glänzend. Das war gar keine Frage. Friedrich Wolfs 'Cyankali' erzählt von dem Heizer Paul, der während der Arbeitskämpfe die Werkskantine aufbricht, um den Frauen und Kindern der ausgesperrten Arbeiter etwas zu essen zu besorgen. Seine Freundin Hete hat gerade ihre Anstellung verloren. Dann erfährt sie, dass sie schwanger ist; Paul aber muss zu diesem Zeitpunkt bereits vor der Polizei flüchten. Der Arzt, den die verzweifelte Hete aufsucht, verweist sie auf den Abtreibungsparagraphen, und so landet sie schließlich bei einer sogenannten Engelmacherin... O-Ton 'Cyankali': Komm her, ich geb dir was. Nimmst du fünf Tropfen. Fünf Tropfen am Tag, verstehst du? Fünf Tropfen, nicht mehr. Das ist nämlich eigentlich Gift, verstehst du? Aber in schwachen Lösungen, da hilft es. Cyankali. Am 6. September 1929, heute vor 79 Jahren – wurde 'Cyankali' im Berliner Lessingtheater uraufgeführt und zum Skandalerfolg. „Cyankali ist keine Dichtung. Aber seine primitiven Mittel sind hier am Platz“, schrieb der Kritiker Herbert Jhering nach der Uraufführung. Und Erich Kästner notierte für die Neue Leipziger Zeitung: „In einer Stadt mit mehr als dreißig staatlichen, städtischen und privaten Theatern erobert eine Gruppe stellungsloser junger Darsteller das verwöhnte, gelangweilte Publikum.“ - Im Januar 1930 ging die 'Gruppe junger Schauspieler' nach über 100 Aufführungen vor Ort mit 'Cyankali' auf Tournee durch alle großen deutschen Städte, danach in die Schweiz. Überall, wo sie auftraten, wurde das Stück Gegenstand erbitterter politischer Auseinandersetzungen. Der Schauspieler Gerhard Bienert erinnert sich. O-Ton Gerhard Bienert: Also das Stück fängt an. Die Hete, ich glaube, die Rabasch spielte sie, sagt zu mir: Du Paul, es ist weggeblieben. Darauf erhob sich sofort ein tobendes Pfeifen im Parkett: Ihr Schweine! Pfui, Deibel! Und so weiter, und so weiter... Aufhören! Aufhören! Im Februar 1931 wurde Friedrich Wolf wegen Vergehens gegen den § 218 verhaftet. Mit dem Sturm der Entrüstung, den diese Verhaftung auslöste, hatte die Justizbehörde allerdings nicht gerechnet. Namhafte Zeitgenossen, darunter auch der Dichter Bert Brecht und der Publizist Carl von Ossietzky, unterstützten die zahlreichen Aktionen; schließlich wurden Wolf aufgrund des starken öffentlichen Drucks gegen Kaution wieder freigelassen. Der Kampf Friedrich Wolfs zu jener Zeit war der eines sozialistischen Dramatikers während des Niedergangs der Weimarer Republik. Mit der Machtergreifung der Nazis fand dieser Kampf ein Ende. Als Kommunist und Jude sah der Arzt und Dramatiker sich endgültig zur Emigration gezwungen. Nach Kriegsende lebte Friedrich Wolf als freier Schriftsteller in Ost-Berlin. Er starb 1953 im Alter von 64 Jahren. Heute sind seine einst aufwühlenden, aufrüttelnden Stücke nahezu vergessen. Auszüge aus dem Stück 'Cyankali' können Sie auf unserer Homepage bei den Literaturzitaten nachlesen: http://de.muvs.org/topic/friedrich-wolf-cyankali-1929/ Bildquelle: http://images.google.com Verein Museum für Verhütung und Schwangerschaftsabbruch | [email protected] | vienna 2017 | powered by fox.co.at