Neobiota – Neue Arten in Deutschland VON JAN LOCK Jedes Frühjahr aufs Neue, wenn der Winter sich verabschiedet hat und die Pflanzsaison beginnt, strömen die Menschen in die Gärtnereien und Gartenbaumärkte, um die Artenvielfalt in Ziergärten und Balkonen aufzufüllen, oder aber neue Pflanzen und Saatgut zu kaufen. Viele Leute wundern sich dabei über die besonderen und zum Teil auch sehr aufwendigen Standort- und Pflegeansprüche des erworbenen Produktes. Häufig bemerken sie nicht, dass ihre Pflanze in Deutschland oder sogar Europa nicht heimisch ist und deshalb besonderer Aufmerksamkeit und Pflege bedarf. Will man sich aber ohne spezielle Artenkenntnis eine einheimische Pflanze aussuchen, gleicht dies einem Lotteriespiel, denn der weitaus größte Teil der angebotenen Produkte ist bei uns nicht heimisch. Aber weshalb? In Mitteleuropa ist die Artenvielfalt im weltweiten Maßstab vergleichsweise gering. Schuld daran sind hauptsächlich die Eiszeiten. Als sich während des Pleistozäns mächtige Eispanzer von Skandinavien her über Europa schoben, wurde die Flora und Fauna in Mitteleuropa zum größten Teil ausgerottet. Die mitteleuropäischen Gebirge mit ihrer Ost-West-Hauptausrichtung wirkten als natürliche Barriere und die meisten Arten konnten nicht weiter nach Süden ausweichen. Erst mit dem Beginn des Holozäns, vor etwa 10 000 Jahren, begann die erneute Wiederbesiedelung der Lebensräume hauptsächlich durch Arten der Kaukasus-Region. Auf dem Nordamerikanischen Kontinent beispielsweise konnten sich die Arten durch die Nord-Süd-Ausrichtung der Gebirge während der Eiszeit weit genug nach Süden zurückziehen und so mit dem Rückgang des Eises, die Lebensräume relativ schnell wieder neu besiedeln. So ist speziell im Bereich der Flora eine erhebliche Differenz in der Artenvielfalt zwischen Nordamerika und Europa festzustellen. Allein bei den Bäumen sind ungefähr 120 Arten in Nordamerika heimisch, während in Mitteleuropa nur ungefähr 50 Arten bestandsbildend sind. Schon diese Zahlen lassen ahnen, dass Mitteleuropa mit seinem milden, atlantisch geprägten Klima interessante Nischen und Lebensräume für neue Pflanzen bietet. So hat sich eben auch der Pflanzenhandel dem ästhetischen Geschmack und dem Bedürfnis der Pflanzenliebhaber nach etwas besonderem im eigenen Garten angepasst, indem er in erheblichem Umfang verschiedenste Arten aus aller Welt anbietet. Diese nichtheimischen Pflanzen können bei entsprechendem Pflegeaufwand auch bei uns überdauern. Nur die allerwenigsten Arten sind dazu in der Lage, sich zu einer selbstständig reproduzierenden Population zu entwickeln und sich in unseren heimischen Ökosystemen zu etablieren. In der Literatur kann man umfangreiche Statistiken zu Neophyten (seit der Entdeckung Amerikas im Jahr 1492 nach Deutschland gelangte nichtheimische Pflanzenarten die sich etabliert haben) in Deutschland finden. Nach einer Statistik des Umweltbundesamtes sind etwa 15 150 Arten nach Deutschland gelangt und regis- triert worden. Davon werden 481 Arten (3,2 %) als dauerhaft etabliert und 260 Arten (1,7 %) als in naturnaher Vegetation etabliert betrachtet. Beachten muss man aber den Verzögerungsfaktor zwischen dem Zeitpunkt der Einführung der Pflanze bis zu deren Etablierung. Dieser beträgt für Gehölze z. B. durchschnittlich 147 Jahre. Das bedeutet, dass die Zahl der Neophyten steigen wird, selbst wenn keine neuen Arten mehr eingeführt werden (nach KOWARIK 1996). Außer den neuen Pflanzen gibt es noch Neomyceten (neue Pilzarten) und Neozoen. Das sind Tierarten, die seit der Entdeckung Amerikas 1492 in zuvor für sie nicht zugängliche Gebiete gelangt sind, und dort neue Populationen aufgebaut haben. In Deutschland sind schätzungsweise 740 Neozoen-Arten bekannt. Davon kommen etwa 190 Arten (1,6 %) in heimischen Ökosystemen etabliert vor. So werden beispielsweise 14 Vogelarten, 11 Säugetierarten und 80 Insektenarten als etablierte Neozoen in Deutschland betrachtet. Finden kann man Vertreter der neuen Arten in nahezu allen Bereichen unserer Umwelt. Die Zernsdorfer Fischer erzählten mir, dass sie in den Dahmegewässern Zwergwelse (Ictalurus nebulosus) fangen, die in ihrer Heimat Nordamerika unter der Bezeichnung «Catfish» bei Anglern sehr beliebt sind. Auch berichten sie, dass sich immer wieder mal eine Chinesische Wollhandkrabbe (Eriocheir sinensis)in den Reusen findet. Kanadische Goldrute (Solidago canadensis) Foto: K.-H. Hunneshagen An den Gewässerrändern findet man häufig zumindest die Spuren, die der Bisam (Ondatra zibethicus) verursacht. Dieses zur Familie der Wühlmäuse zählende Nagetier wurde zur Pelztierzucht aus Nordamerika eingeführt und erlangte 1905 bei Prag erstmals in Europa die Freiheit. Als Kind wollte ich einmal am Krüpelsee in Zernsdorf mit einem Kescher Amerikanische Nerze (Mustela vison) fangen. Diese Marderart nimmt zunehmend den Platz des in Deutschland lange ausgestorbenen Europäischen Nerzes (Mustela lutreola) ein. Sie waren unter anderem auch in Bestensee in den 80er Jahren aus einer Pelztierfarm in die Freiheit gelangt. Auf der Speisekarte stand früher gelegentlich der sehr schmackhafte Südamerikanische Sumpfbiber, besser bekannt als Nutria (Myocastor coypus). Diese zu den Nagetieren zählende Ferkelrattenart konnte ebenfalls aus Pelztierfarmen entweichen und bei einer Kanutour im Spreewald sind mir im letzten Sommer mehrere Exemplare begegnet. Die wahrscheinlich bekannteste aus Pelztierfarmen entkommene Art ist der Waschbär (Procyon lotor). Durch seine intensive Verbreitung hat sich diese aus Nordamerika stammende, zu den Raubtieren zählende, Kleinbärenart einen festen Platz in unserer Fauna erobert. Bei den Pflanzen sieht die Vielfalt ebenso aus. Meist handelt es sich hier um verwilderte Kulturpflanzen oder um extra angesiedelte Neophyten. Als verwilderte Zierpflanzen gelten die Kanadische- und die Riesen-Goldrute (Solidago canadensis und S. gigantea). Die guten ballistischen Eigenschaften der trockenen Stiele als Wurfpfeile, lernte ich in meiner Kindheit zu schätzen. Auch der Riesen-Bärenklau (s. Art. v. A. Stoff, S. 64) und die Robinie (s. Art. v. W. Klaeber, S. 12) haben auf diese Weise ihren Weg zu uns gefunden. Aus botanischen Gärten entkommen ist das Kleinblütige Springkraut (Impatiens parviflora) und zusammen mit anderen nichtheimischen Springkrautarten ist es heute bei uns sehr weit verbreitet. Außer den bisher aufgeführten Beispielarten gibt es noch in sehr verschiedenen anderen Bereichen nicht so augenscheinliche Arten. Das beginnt mit schädigenden Pilzarten im Obstbau und dem Erreger der «Krebspest» und geht über Bakterien, Blattläuse (und die Reblaus) bis zu den Insekten und Weichtieren. Wie soll man mit den neuen Arten umgehen? Unbestritten ist zweifellos das Gefahrenpotential für die unterschiedlichsten Bereiche. Doch wer will breitenwirksame Maßnahmen gegen die «Neulinge» festlegen und wie weit sollten diese führen? Sollte man eine Sortierung nach «gut», «harmlos» und «böse» durchführen? Oder ist es besser, alle Neobiota in Deutschland auszurotten. Einmal abgesehen von der technischen Unmöglichkeit der Umsetzung dieser Vision – man stelle sich die riesigen «Vegetationslöcher» in der Landschaft vor, auch wenn diese von einheimischen Arten später neu besiedelt werden würden. Oder wer will dem Sportangler erklären, dass sein begehrter Zander ausgerottet werden muss und der Rentnerin an ihrem Geranienblumenkasten, dass das Taubenschwänzchen sie nie wieder besuchen darf? Es besteht daher ein Konflikt zwischen Wollen und Handeln. Der traditionelle Naturbegriff, die «Wildnis der Schöpfung» ist zwar virtuelles Ziel, de facto überwiegt jedoch das Verlangen, auch Natur regelnd zu gestalten (MARKL 1986). Aus dieser Erkenntnis heraus sollten einmal Grundsatzfragen des Naturschutzes neu diskutiert werden. Das bisher überwiegend angewandte Prinzip des Biotop- und Artenschutzes mit seiner statischen Aufrechterhaltung der Artenzusammensetzung ist vor diesem Hintergrund in vielen Fällen nicht mehr zeitgemäß. Eine andere Form des Naturschutzes ist der Prozessschutz. Dieser gewinnt auch in der Umweltschutzpolitik zunehmend an Bedeutung. Dabei werden nicht einzelne Arten sondern natürlich ablaufende Prozesse der Sukzession in der Natur geschützt. Denn trotz der vielen neuen Arten in Deutschland waren sich die Fachleute für diese Problematik in Deutschland bei einem Arbeitsgespräch des Umweltbundesamtes einig. Sie denken nicht, «dass wir es hier nicht mit einem Problem zu tun haben, das allgemein und großflächig eine Gefährdung der biologischen Vielfalt in Deutschland erwarten lässt». Sie glauben dies ist für die Natur ein handhabbares Problem, auch wenn der Austausch von Arten über Wege, die es früher nicht gab, weiter vor sich geht und es in Einzelfällen deutliche Probleme damit geben kann. Literatur Gebietsfremde Organismen in Deutschland, In:Texte des Umweltbundesamtes 55/99 I. Kowarik (1996): Auswirkungen von Neophyten auf Ökosysteme und deren Bewertung, In:Texte des Umweltbundesamtes 58/96 H. Markl (1986): Natur als Kulturaufgabe, DVA. Stuttgart M. Schäfer (2000): Brohmer Fauna von Deutschland, Quelle & Meyer M. Ludwig, H. Gebhardt, H.W. Ludwig, S. Schmidt- Fischer (2000): Neue Tiere & Pflanzen in der heimischen Natur