CEAI-Fachtext „Flucht/Schutzgewährung im Islam“ Flucht und Schutzgewährung im Islam Einleitung: Die aktuelle Flüchtlingslage ........................................................................................... 2 Klärung von Begrifflichkeiten ......................................................................................................... 3 Relevante Fluchtursachen ................................................................................................................. 3 Die Grundlagen des internationalen Asylrechts ............................................................................. 4 Die Genfer Flüchtlingskonvention ..................................................................................................... 5 Allgemeines über die Rechtsgrundlagen arabischer Staaten ............................................................ 6 Flucht und Schutzgewährung in der Religionsgeschichte ............................................................. 7 Abraham und Moses auf der Flucht .................................................................................................. 7 Die kleine Auswanderung (Hidschra) nach Abessinien ..................................................................... 7 Die Hidschra nach Medina im Jahr 622 ............................................................................................. 8 Die spirituelle Bedeutung von Hidschra ........................................................................................ 9 Die islamischen Grundlagen und Prinzipien des Flüchtlingsrechts.......................................... 10 Das grundsätzliche Verbot Menschen zu vertreiben ...................................................................... 10 Wer kann Schutz gewähren? ........................................................................................................... 11 Wer gilt als Flüchtling aus welchen Gründen? ................................................................................ 11 Welche Rechte und Pflichten haben die Flüchtlinge? ..................................................................... 12 Die Verbrüderung mit den Schutzsuchenden ................................................................................. 13 Gastfreundschaft als ethische Pflicht .............................................................................................. 14 Weitere islamische Grundsätze zur Flucht und Schutzgewährung ................................................. 14 Herausforderungen, Risiken und Chancen von Flüchtlingen und dem Aufnahmeland ........ 15 Konklusion ............................................................................................................................................ 17 Weiterführende Literatur .................................................................................................................. 18 1 CEAI-Fachtext „Flucht/Schutzgewährung im Islam“ Einleitung: Die aktuelle Flüchtlingslage1 Nach Angaben des UN-Flüchtlingshochkommissariat (United Nations High Commissioner for Refugees, kurz UNHCR) waren im Jahr 2015 etwa 60 Millionen Menschen auf der Flucht. Menschen, die ihre Heimat aus den unterschiedlichsten Gründen verlassen mussten. Seit dem Zweiten Weltkrieg waren nicht so viele Menschen auf der Flucht in ein sicheres Gebiet innerhalb ihres Heimatlandes oder in einen anderen sicheren Staat. Gerade die Nachbarstaaten angrenzender Konfliktzonen nehmen in den meisten Fällen viele der Flüchtenden auf, wie beispielsweise Jordanien, Libanon oder die Türkei aufgrund des Krieges in Syrien und im Irak. Gemeinsam mit internationalen Organisationen versucht man einigermaßen überlebenssichernde Unterkünfte zu organisieren, halbwegs funktionierende Sanitätseinrichtungen oder bloße Latrinen zu schaffen, Trinkwasser und Nahrungsmitteln zur Verfügung zu stellen sowie die nötigste medizinische Versorgung zu leisten. Hier wird klar: Niemand verlässt freiwillig seine Heimat, sein Hab und Gut, sein bisheriges Leben für eine ungewisse Zukunft. Wie mit dem Thema „Flüchtlinge“ umgegangen werden soll, spaltet seit geraumer Zeit die politische Landschaft quer durch Europa. Denn viele der flüchtenden Menschen machten sich in den letzten Jahren auf den beschwerlichen und meist lebensgefährlichen Weg nach Europa, ob am Landweg durch die Balkanländer oder von Nordafrika über das Mittelmeer, um etwa Krieg, Unterdrückung oder Armut zu entkommen und ein besseres oder zumindest sichereres Leben hierzulande zu leben. Von besonderem Interesse sind dabei die Debatten, wer (Bürger)Kriegsflüchtling und wer Armutsflüchtling ist, wie viele Flüchtlinge ein Land aufnehmen kann bzw wann die Kapazitäten für schutzbedürftige Menschen erschöpft sind, ob die Grenzen offen bleiben sollen oder ob Grenzzäune gebaut werden müssen, letztlich ob man auf eine Willkommenskultur oder auf Abschottung setzen soll. Politisch verwerten lässt sich das Flüchtlingsthema auch bezüglich der Angst vor dem Verlust der eigenen heimischen Kultur, kamen doch nach den Statistiken zuletzt die meisten Flüchtenden aus islamisch geprägten Ländern, also aus einem fremden Kulturkreis, wie Syrien, Afghanistan oder Irak. Hier wird klar: Der Großteil der Flüchtenden sind Muslime, die vor ihren eigenen Regimen fliehen. Und doch stellt sich die Frage, wie man mit dieser Angst umgeht? Ohne in eine politische Dimension einzutreten oder gar diese Frage zu beantworten, versucht Citizenship Education And Islam (CEAI) das Thema „Flucht und Schutzgewährung“ speziell aus dem Blickfeld des Islam in einer Weise zu beleuchten, dass sowohl der oben gestellten Frage mit Fachwissen begegnet werden kann als auch für den gesellschaftlichen und schulischen Umgang die nötige Basis geschaffen wird. Der Fachtext verdeutlicht zuvorderst die Rechtsgrundlagen für Asyl anhand internationaler Verträge und arabischer Menschenrechtskonventionen und beschäftigt sich daraufhin mit der Flucht und der Schutzgewährung in der Religionsgeschichte. Anschließend wird auf die islamischen Grundlagen des Asylrechts eingegangen, das sich auf den Beginn der islamischen Zeitrechnung zurückführen lässt. Zu guter Letzt wird in Bezug auf die heutige Situation auf die Herausforderungen, Chancen und Risiken aus der Sicht der Flüchtenden und aus der Sicht des Aufnahmelandes eingegangen. Häufig werden in der Flüchtlingsdebatten die verschiedensten Begriffe vermischt und nicht klar genug abgegrenzt, weshalb zu Beginn die wichtigsten Begriffe des internationalen Asylrechts in aller Kürze unterschieden werden. 1 Für ein leichteres Leseverständnis und zur Vermeidung komplizierter Übersetzungen aus dem Arabisch wird im Sinne der Gendergerechtigkeit darauf hingewiesen, dass eine maskuline Schreibweise die feminine Form nicht ausschließt. 2 CEAI-Fachtext „Flucht/Schutzgewährung im Islam“ Klärung von Begrifflichkeiten Asylwerber bzw Asylsuchende: Asylwerber sind Personen, die in einem fremden Land um Asyl – also um Aufnahme und Schutz vor Verfolgung – ersuchen. Sie können den Antrag auf Asyl nur direkt im Aufnahmeland stellen, entweder bei einer Erstaufnahmestelle oder bei der Polizei. Daraufhin befinden sie sich im Asylverfahren. Asylverfahren: Das Asylverfahren ist ein Verfahren, in dem entschieden wird, ob jemand aufgrund eines Asylantrages Asyl bekommt und damit als anerkannter Flüchtling im potentiellen Aufnahmeland bleiben darf. Geprüft wird die Zuständigkeit für die Durchführung des Aufnahmelandes und anschließend in einem inhaltlichen Verfahren, ob der Antragsteller tatsächlich Schutz vor Verfolgung braucht. Abschiebung: Ist der Asylantrag rechtskräftig abgelehnt worden, weil dem Asylwerber in seinem Heimatstaat keine Gefahr droht, oder liegt für die betreffende Person ein Aufenthaltsverbot vor, kann von den Behörden eine Ausreise bzw eine Abschiebung erzwungen werden. Abgeschoben werden meistens Personen, die nicht freiwillig zeitgerecht ausgereist sind. Flüchtlinge: Wenn im Asylverfahren festgestellt wurde, dass im Herkunftsland tatsächlich Verfolgung droht oder Furcht vor Verfolgung besteht, werden Asylsuchende als Flüchtlinge anerkannt und dürfen im Land bleiben, in dem sie den Asylantrag stellten. Der Flüchtlingsstatus verpflichtet das Aufnahmeland Schutz zu gewähren. Binnenvertriebenen: Während Flüchtlinge nach internationalem Völkerrecht eine staatliche Grenze überschreiten, um in einem anderen Land Zuflucht zu suchen, bleiben Binnenvertriebene (engl. internal displaced persons; IDPs) hingegen innerhalb der Grenzen ihres Landes. Migranten: Migranten sind Personen, die ihre Heimat freiwillig verlassen, um ihre persönlichen Lebensbedingungen zu verbessern. Migranten werden nicht verfolgt und können wieder in ihr Heimatland zurückkehren. Immer wieder werden sie auch Wirtschaftsmigranten oder Wirtschaftsflüchtlinge genannt. Nachdem in Bezug auf flüchtende Personen die wichtigsten Begrifflichkeiten geklärt sind, kann in einem nächsten Schritt ein Blick auf die bedeutendsten Fluchtgründe geworfen werden. Relevante Fluchtursachen Hinter jeder Flucht steckt eine Ursache, die die verschiedensten Auslöser haben kann. Gemein ist jedoch allen eine konkrete Hoffnungslosigkeit, mit der jeweiligen Situation nicht mehr zurechtzukommen. Im Folgenden werden beispielhaft die relevantesten Ursachen genannt, wobei diese in vier großteils ineinandergreifenden Sphären gegliedert sind. Politische Ursachen: Ob Kriege, die zur Instabilität des staatlichen Gefüges führen, totalitäre/autoritäre Diktaturen, die ein Klima der Angst und der Repression schaffen, oder Terrororganisationen, die das Volk tyrannisieren, jedenfalls werden Konflikte als hauptsächliche Fluchtursachen angesehen. Erst recht, wenn im Land Kriegsverbrechen, wie beispielsweise ethnische Säuberungen, oder schwerste Verletzungen der Menschenrechte, wie Folter, körperliche Misshandlung, Gewalt gegen Minderheiten, Diskriminierung, Unterdrückung und Ausplünderung, verübt werden. Hinzu kommen die politische Verfolgung von 3 CEAI-Fachtext „Flucht/Schutzgewährung im Islam“ Oppositionellen, Andersdenkenden oder von Menschen anderer Nationalität, Rasse oder Religion, die Angst vor unbegründeten Verhaftungen, vor willkürlicher Gefängnisstrafen, vor einem zeitlich unbegrenzten Militärdienst, die Schutzunfähigkeit des Staates gegenüber nicht-staatlichen Terrororganisationen oder die zunehmende Selbstjustiz (zB Blutrache) aufgrund mangelnder rechtsstaatlicher Strukturen. Wirtschaftliche und individuelle Ursachen: Häufige Ursachen einer Flucht liegen auch an der wirtschaftlichen Not vieler Menschen, die mit mangelnden oder sogar ohne Perspektiven in ihren Herkunftsländern ums Überleben kämpfen und im schlimmsten Fall unausweichlich in die bitterste Armut schlittern. Nicht selten ist das in Ländern der Fall, in denen der Bildungsstandard sehr niedrig ist, eine hohe Arbeitslosigkeit vorherrscht, die medizinische Versorgung nur unzureichend ist, die politische Partizipation nur einem Teil der Bevölkerung zusteht und gewisse Schichten mit Korruption, Schattenwirtschaft und organisierter Kriminalität auf Kosten ihrer Mitmenschen leben. Viele Menschen flüchten deshalb in der Hoffnung auf ein besseres Leben in entwickelte Länder mit einem höheren Lebensstandard und ausreichend Zukunftsperspektiven. Geschlechtsspezifische Ursachen: In diese Sphäre gehört etwa die Flucht aufgrund weiblicher Genitalverstümmelung, sexueller Missbräuche, wiederholter Vergewaltigungen und erlebter Verschleppungen. Weitere Gründe liegen in der Anwendung häuslicher Gewalt gegen Frauen, in der Bevormundung bzw in der Einschränkung der Partnerwahl, in der Ausnutzung als Arbeitskraft im Sinne eines modernen Menschenhandels. Zusätzlich ist die Verfolgung von Menschen aufgrund ihres Geschlechts oder ihrer Sexualität zu nennen, die aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe verfolgt werden. Umweltbezogene Ursachen: Zuletzt sind noch die sogenannten Umweltflüchtlinge zu erwähnen, die aufgrund von Umweltveränderungen oder Naturkatastrophen, wie etwa Dürre, Überschwemmung, Erdbeben, radioaktive Unfälle, vergiftete Gewässer, Wirbelstürme oder Tsunami, ihre Heimat verlassen müssen. So sehr alle diese Ursachen die verschiedensten Menschen in den unterschiedlichsten Erdteilen zur Flucht zwingen mögen, so wenige begründen nach internationalem Recht tatsächlich einen Flüchtlingsstatus, obwohl das Recht auf Asyl ein Menschenrecht ist, wie der anschließende Abschnitt über die Grundlagen des internationalen Asylrechts verdeutlicht. Die Grundlagen des internationalen Asylrechts Im Bereich des internationalen Rechts gibt es in Bezug auf den Schutz von Flüchtlingen eine Reihe von Abkommen, Konventionen und Verträgen, die sich allesamt sowohl auf einzelne noch zu behandelnde religionsspezifische Bestimmungen als auch auf Artikel 14 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zurückführen lassen: „Jeder hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen.” (Art 14 AEMR) Speziell dieser Artikel ist für das moderne Flüchtlingsrecht grundlegend für das Verständnis, dass zwar jede Person das Recht auf Asyl bei Vorliegen bestimmter Bedingungen hat, jedoch der Staat letztlich das Recht für sich behält, wem er Asyl gewährt und wem nicht. Dafür wurden im Laufe der Zeit etliche Rechtsgrundlagen geschaffen, die aufgrund des sehr umfassenden Materials hier nicht alle vorgestellt werden können, weshalb an dieser Stelle lediglich auf das Kerndokument des Flüchtlingsrechts kurz eingegangen wird. Anschließend findet sich eine kurze Übersicht über die wichtigsten regionalen Regelungswerke, da viele arabische Staaten die Genfer Flüchtlingskonvention nicht unterzeichneten. 4 CEAI-Fachtext „Flucht/Schutzgewährung im Islam“ Die Genfer Flüchtlingskonvention Das wohl wichtigste internationale Abkommen über den Schutz von Flüchtlingen ist das „Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge“, besser bekannt unter dem Titel „Genfer Flüchtlingskonvention (GFK)“, vom 28. Juli 1951. Da die GFK hauptsächlich auf die europäischen Flüchtlinge aus dem Zweiten Weltkrieg beschränkt war, wurde der Wirkungsbereich mit dem zusätzlichen „Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge“, auch bekannt unter dem Titel „New Yorker Protokoll“, vom 31. Jänner 1967 zeitlich und geografisch ergänzt, um den geänderten Bedingung von Flüchtlingen weltweit gerecht zu werden. Die GFK bestimmt in Artikel 1A – vereinfacht ausgedrückt –, dass auf jede Person der Ausdruck „Flüchtling“ Anwendung findet, „die sich außerhalb ihres Heimatlands befindet und eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung aufgrund ihrer Rasse, Religion, Nationalität, politischen Meinung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe hat und den Schutz ihres Heimatlandes nicht in Anspruch nehmen oder wegen dieser Furcht vor Verfolgung nicht dorthin zurückkehren kann.“ (Art 1 GFK) Ausschlaggebend ist also die „wohlbegründete Furcht vor Verfolgung“ aufgrund der aufgezählten Kriterien, zu der es unzählige Rechtsprechung der einzelnen Nationalstaaten gibt, die diese Kriterien im Laufe der Zeit definieren und immer wieder ergänzen. Als Beispiel für eine Ergänzung zur Zugehörigkeit in der „bestimmten sozialen Gruppe“ fällt etwa die Verfolgung von LGBT (engl. Lesbian, Gay, Bisexual and Transgender). In enger Verbindung mit diesem Schutzgedanken steht der sog. „NonRefoulement“-Grundsatz“ (Art 33 GFK). Darunter versteht man das wesentliche Kernprinzip der GFK, wonach niemand in ein Land abgeschoben werden darf, in dem sein Leben bedroht ist oder Folter bzw. einer sonstigen menschenunwürdigen Behandlung ausgesetzt wäre. Demzufolge wird auch dann einem Asylwerber subsidiärer Schutz zuerkannt, wenn eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung nicht glaubhaft gemacht werden kann. Um dies herauszufinden, ist unter anderem die Einholung von Länderinformationen, etwa mittels Informanten vor Ort oder spezieller Internetseiten (www.ecoi.net oder www.refworld.org), notwendig. Darüber hinaus legt die GFK Mindeststandards fest, in dem sie regelt, welchen rechtlichen Schutz, welche Hilfe und welche sozialen Rechte die Flüchtlinge von den Staaten, die das Abkommen unterzeichneten, erhalten. Zu ihren Rechten gehören die Religions- und Bewegungsfreiheit sowie das Recht zu arbeiten, das Recht auf Bildung und das Recht auf den Erhalt von Reisedokumenten. Geregelt werden aber auch die Pflichten, die ein Flüchtling gegenüber dem Aufnahmeland erfüllen muss, wie etwa die Beachtung der Gesetze und sonstigen Rechtsvorschriften sowie die zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung getroffenen Maßnahmen, oder welche Gruppen vom Flüchtlingsstatus ausgeschlossen sind, wie zB Kriegsverbrecher. Bis heute sind 147 Staaten der GFK und/oder dem New Yorker Protokoll beigetreten. Die Unterzeichnerstaaten verpflichten sich mit dem 1950 gegründeten Flüchtlingshochkommissariat als Spezialorgan der Vereinten Nationen (UNHCR) für den rechtlichen Schutz, die humanitäre Hilfe und die Unterstützung von Flüchtlingen und Staatenlosen zusammenzuarbeiten (Art 35 GFK). In Österreich bilden die GFK, das New Yorker Protokoll und die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) neben dem nationalen Asylgesetz samt Durchführungsverordnung und den europäischen Richtlinien und Verordnungen (zB Status-RL oder Dublin-VO) den wesentlichen Kern des Asylrechts und des Asylverfahrens. Auffallend ist, dass viele der arabischen Staaten, insbesondere Saudi Arabien, Kuweit, Libanon, Syrien, Irak oder Jordanien, die GFK und das New Yorker Protokoll gar nicht, oder andere Länder wie Ägypten sie hingegen mit Vorbehalte bezüglich Personalstatus (Art 12 GFK), Rationierung (Art 20 GFK), Bildungszugang (Art 22 GFK), Öffentliche Fürsorge (Art 23 GFK) und Arbeitsrecht und soziale Sicherheit (Art 24 GFK) unterzeichneten. In diesem Sinne soll ein kurzer Blick auf die spezifischen Reglements der arabischen Staaten geworfen werden. 5 CEAI-Fachtext „Flucht/Schutzgewährung im Islam“ Allgemeines über die Rechtsgrundlagen arabischer Staaten Nicht nur Europa kämpft mit einem kräftigen Anstieg der Flüchtlingszahlen, sondern auch die arabische Welt kennt dieses Thema aufgrund diverser Kriege nur zu gut. Diesbezüglich hielten arabische Experten von 1984 – 1992 vier regionale Seminare zur Erforschung von Lösungen ab, wie mit den Flüchtlingsproblemen umzugehen sei. Aus diesen Seminaren ergaben sich zwei regionale Dokumente: Die „Erklärung von Kairo über den Flüchtlings- und Vertriebenenschutz in der arabischen Welt“ im Jahre 1992 sowie die „„Arabische Konvention über die Rechtstellung der Flüchtlinge in arabischen Staaten“ im Jahre 1994. Die Mitglieder der Arabischen Liga ratifizierten allerdings diese Regelungswerke nicht, weshalb sie heute auch keine rechtliche Bedeutung haben. Was bleibt ist eine revolutionäre Ergänzung zur GFK im Hinblick auf den Flüchtlingsstatus, wonach als Flüchtling gilt: „Jede Person, die freiwillig in ein anderes Land als ihr Herkunftsland oder gewohnheitsmäßiger Wohnsitzstaat wegen der anhaltenden Aggression gegen, Besetzung und Fremdherrschaft dieses Landes oder wegen des Auftretens von Naturkatastrophen oder schwerwiegende Ereignisse, die zu größeren Störungen der öffentlichen Ordnung im ganzen Land oder einen Teil davon führen, flüchtet.“ (Art 1 Arabische Flüchtlingskonvention 1994) Für die nordafrikanischen Staaten, wie zB Marokko, Algerien, Tunesien oder Ägypten, gilt ungeachtet dessen die „Konvention der Organisation für Afrikanische Einheit zur Regelung der Probleme von Flüchtlingen in Afrika“ (OAU-Konvention) von 1969, die unter anderem aus den Konflikten der Kolonialzeit in Afrika und den Massenfluchtbewegungen resultierte. Diese Konvention ähnelt stark der GFK, enthält darüber hinaus einen erweiterten Flüchtlingsbegriff in deren Artikel 1 und besitzt durch die Unterzeichnung von insgesamt 40 Staaten verbindlichen Rechtscharakter. Für die arabischen Länder östlich des Sinai sind hingegen die „Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam“ (KEMR) von 1990 und die „Arabische Charter der Menschenrechte“ (ACMR) von 1994 (neue Version 2004) als die relevanten Rechtsgrundlagen für den Schutz von Flüchtlingen heranzuziehen, wobei die da lauten: „Jeder Mensch hat innerhalb des Rahmens der Scharia das Recht auf Freizügigkeit und freie Wahl seines Wohnortes, entweder innerhalb oder außerhalb seines Landes. Wer verfolgt wird, kann in einem anderen Land um Asyl ersuchen. Das Zufluchtsland garantiert seinen Schutz, bis er sich in Sicherheit befindet, es sei denn, sein Asyl beruht auf einer Tat, die nach der Scharia ein Verbrechen darstellt.“ (Art 12 KEMR) „Jeder Staatsbürger hat das Recht, vor Verfolgung in einem anderen Land politisches Asyl zu suchen. Personen, die wegen gemeiner Straftaten verfolgt wurden, steht dieses Recht nicht zu. Politische Flüchtlinge dürfen nicht ausgeliefert werden.“ (Art 23 ACMR) Nach Artikel 24 und 25 der KEMR unterstehen alle Rechte und Pflichten der islamischen Scharia im Sinne des göttlichen Rechts, die als einzig zuständige Quelle für die Auslegung der einzelnen Artikel angesehen wird. In der ACMR wird diesbezüglich sehr aufgeschlossen in der Präambel über die Verwirklichung der unvergänglichen Grundsätze der Brüderlichkeit und der Gleichheit aller Menschen, die in der islamischen Scharia und in den anderen Religionen der göttlichen Offenbarung festgeschrieben sind, hingewiesen. Deshalb wird im nachfolgenden Abschnitt auf die Rolle der Flucht in der frühen islamischen Gemeinschaft eingegangen, um daraufhin das islamische Asylrecht genauer beleuchten zu können. 6 CEAI-Fachtext „Flucht/Schutzgewährung im Islam“ Flucht und Schutzgewährung in der Religionsgeschichte Bevor auf die von Flucht geprägte Entstehungsgeschichte der islamischen Gemeinschaft eingegangen wird, muss man sich im Sinne eines religionsgeschichtlichen Zusammenhangs mit zwei Propheten auseinanderzusetzen, die in allen drei monotheistischen Religionen von immenser Relevanz sind, nämlich Abraham (arab. Ibrahim) und Moses (arab. Musa). Abraham und Moses auf der Flucht Es gibt in den heiligen Schriften der drei monotheistischen Religionen eine Menge an Vorfällen, die sich um Flucht, Auswanderung und Schutzsuche drehen. Gemeinsam ist allen drei Religionen das Verständnis von Asyl, das einen Akt der Liebe gegenüber seinem Nachbarn bzw seinem Nächsten sowie die Hilfe gegenüber Bedürftigen bedeutet. So sah sich etwa der Prophet Abraham und seine Familie, darunter auch Abrahams Neffe Lot, gezwungen, Mesopotamien zu verlassen und sich in Palästina mit der Unterstützung Gottes niederzulassen. Gründe für die Flucht der Familie Abrahams waren unter anderem sein jugendlicher Mut, die gesellschaftliche Fehlleitung samt Korruption und Irrglaube offen anzusprechen, auch gegenüber seinem Vater, wie in den Qur’anversen 6:74 und 21:52 zu lesen ist. Daraufhin waren ihm Verfolgung und sogar die Todesstrafe sicher, weshalb Gott ihn und seine Familie errettete und nach Palästina, nach Kanaan, führte: „Denn Wir retteten ihn und Lot (seines Bruders Sohn, indem Wir sie) zu dem Land (führten), das Wir für alle kommenden Zeiten gesegnet haben.“ (Qur’an 21:71) Jahre danach musste Abraham samt seiner Familie und seinem Besitz nochmal fliehen, diesmal nach Ägypten, weil in Palästina eine schwere Hungernot herrschte. Seine hübsche Frau Sarah gab er aus Angst ihrer Ermordung als seine Schwester aus. Anders als Abraham musste Moses später von den Ägyptern flüchten. Moses tötete einen ägyptischen Aufseher, da dieser einen hebräischen Sklavenarbeiter zu Unrecht geschlagen hatte. Nun wurde er selbst mit dem Tod bedroht: „Und (dann und dort) kam ein Mann vom entferntesten Ende der Stadt gelaufen und sagte: ‚O Moses! Siehe, die Großen (des Königreichs) beratschlagen über deinen Fall in der Absicht, dich zu töten! Verschwinde denn: Wahrlich, ich gehöre zu denen, die dir wohlwollen!“ So ging er fort von dort, furchtsam um sich blickend, und betete: ‚O mein Erhalter! Rette mich vor allen Leuten, die Übles tun!“ (Qur’an 28:20-21) Moses flüchtete nach Madyan, wo er Unterkunft, Arbeit und andere Annehmlichkeiten bekam. Ein paar Jahre später kehrte Moses nach Ägypten zurück, um das jüdische Volk aus der Sklaverei zu befreien: „Und (also) haben Wir fürwahr Moses mit Unseren Botschaften entsandt (und diesem Unserem Befehl): ‚Führe dein Volk aus den Tiefen der Finsternis ins Licht, und erinnere sie an die Tage Gottes!‘“ (Qur’an 14:5) Aber auch viele Anhänger der jungen islamischen Gemeinschaft in Mekka sowie der Prophet Muhammad selbst, waren streng genommen Flüchtlinge, wie die nächsten beiden religionsgeschichtlichen Auswanderungen belegen. Die kleine Auswanderung (Hidschra) nach Abessinien Das Wort Hidschra, dessen Wortwurzel aus den Buchstaben „h-dsch-r“ besteht, meint in der arabischen Sprache die Migration, das Verlassen bzw die Auswanderung. Auslöser für die erste Auswanderung, der sogenannten kleinen Hidschra, war der immer stärkere Widerstand gegenüber der 7 CEAI-Fachtext „Flucht/Schutzgewährung im Islam“ noch jungen muslimischen Religionsgemeinschaft im Jahre 615 in Mekka. Wurde den Einwohnern von Mekka anfangs jeglicher Handel mit den Muslimen verboten und die Zurverfügungstellung von Essen und Medizin untersagt, wurde die Unterdrückung nach und nach unerträglicher, sodass aus zuvor leichten tätlichen Übergriffen bald grausame Maßnahmen wie Folter und Tötungen folgten. Speziell von den eigenen Stammesangehörigen des Propheten Muhammad, den Quraisch, wurden die Muslime verfolgt, da diese in ihren Augen die alte arabische Religion der Vielgötterei (arab. Shirk) beleidigten und als Aufrührer bzw Unruhestifter angesehen wurden. Während Mohammed Schutz seines Onkels Abu Talib genoss, riet er einer kleinen muslimischen Anhängerschaft unter Leitung von Dschafar Ibn Abu Talib für eine Zeit in das christliche aksumitische Reich (Abessinien, heute Äthiopien) auszuwandern bzw über das Rote Meer zu flüchten, wo sie Schutz unter dem dortigen christlichen Nadschaschi (König) Ashama Ibn Abdschar, einem großzügigen und gerechten Mann, finden würden. „Denn dort“, so sprach er, „herrscht ein König, bei dem niemandem Unrecht geschieht. Es ist ein freundliches Land. Bleibt dort, bis Gott eure Not zum Besseren wendet!“. Darauf zogen die Gefährten des Propheten nach Abessinien, da sie die Versuchung fürchteten, vom Islam abzufallen, und sich mit ihrem Glauben zu Gott flüchten wollten“ (Ibn Ishaq, Das Leben des Propheten, übers. G. Rotter, 1999, S. 65 f.). Nachdem die Quraisch dies erfuhren, entsandten sie zwei Abgesandte mit Geschenke zum Nadschaschi, um ihn zu überzeugen, dass er den Flüchtlingen keinen Schutz gewähren und sie nach Mekka zurückschicken möge. Da sich die Anschuldigungen unter anderem gegen die Religion der Schutzsuchenden richteten, ließ er die Muslime anhören. Nach der umfangreichen Anhörung (Video!), in der sowohl die Beweggründe für die Flucht, als auch die Ähnlichkeiten der beiden Religionen, Christentum und Islam, erläutert wurden, weigerte sich der Nadschaschi anschließend, die Muslime auszuweisen und gewährte ihnen Asyl auf unbegrenzte Zeit. Doch nach wie vor waren jene zurückgebliebenen Muslime in Mekka der Verfolgung ausgesetzt, weshalb sieben Jahre später die große Hidschra vollzogen wurde, die sich wie folgt abspielte. Die Hidschra nach Medina im Jahr 622 Im speziellen theologischen Sprachgebrauch versteht man unter Hidschra die Flucht des Propheten Muhammad mit seinem Weggefährten, dem späteren ersten Khalifen Abu Bakr, von Mekka nach Yathrib (Medina) aufgrund eines gemeinschaftlich geplanten Anschlags der Quraisch auf den Propheten. Ali Ibn Abu Talib, der spätere vierte Khalif und erster von zwölf Imamen nach der Schia, legte sich währenddessen in das Bett des Propheten und nahm das Risiko auf sich ermordet zu werden, um die Angreifer in die Irre zu führen. Der Zweck der Hidschra lag demnach in der Suche nach Sicherheit und Schutz. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, das mit dem Ereignis dieser nächtlichen Flucht des Propheten aus Mekka die islamische Zeitrechnung beginnt. Die Auswanderungsroute, die der Prophet wählte, damit er und Abu Bakr seinen Verfolgern entkommen konnten, verlief entgegen des Weges nach Medina zuerst nach Süden zur Höhle Thaur, wo sie sich zu Beginn der Flucht versteckten. Nach einer schwachen Überlieferung (arab. Hadith) von Imam Ahmad hätte sich dort ein Wunder ereignet, wonach eine Spinne vor der Höhle ein Spinnennetz gewoben und die beiden Flüchtenden dadurch vor den Verfolgern gerettet hätte, weil diese dachten, niemand könnte die Höhle betreten haben. Im Qur’an ist demgegenüber zu lesen: „Wenn ihr nicht dem Gesandten beisteht, dann (wisst, dass Gott es tun wird – geradeso wie) Gott ihm beistand zu der Zeit, da jene, die darauf aus waren, die Wahrheit zu leugnen, ihn vertrieben, (und er war nur) einer von zweien: als diese beiden (sich versteckt haltend) in der Höhle waren (und) der Gesandte zu seinem Gefährten sagte: ‚Sei nicht bekümmert: wahrlich, Gott ist mit uns.‘ Und daraufhin erteilte Gott ihm von droben Sein (Geschenk des) inneren Friedens und half ihm mit [spirituellen] Kräften, die ihr nicht sehen konntet […]“ (Qur’an 9:40) 8 CEAI-Fachtext „Flucht/Schutzgewährung im Islam“ Muhammad und Abu Bakr nahmen im weiteren Verlauf ihrer Flucht einen Weg abseits der üblichen Handelsroute, sodass sie sicher in Yathrib ankamen und dort Schutz fanden. Sie und auch die anderen Auswanderer (arab. Muhadschirun) aus Mekka und Abessinien wurden sehr herzlich empfangen und aufgenommen. Vor allem von den Ansar (dt. Helfer) aus Yathrib, denen demgemäß eine wichtige Stellung im Qur’an zukommt. Nach der Übersetzung Assads werden sie mit „die Vordersten und Ersten“ beschrieben, weil sie entweder schon ein Jahr zuvor bei zwei Treffen mit dem Prophet oder kurz nach dem Eintreffen in Yathrib zum Islam übertraten, und weil sie ihren Glaubensbrüdern nach der Hidschra Zuflucht gaben und ihnen beistanden. Aber auch die rivalisierenden Stämme in Yathrib hatten ein Interesse daran, den Propheten in der Stadt zu haben, denn sie konnten ihn als Friedensstifter bestens brauchen, um die Stämme zu vereinen, wie es letztlich durch die Verfassung von Medina auch geschah. Mit dem Vorbild der Hidschra Muhammads entwickelten sich in der Geschichte der islamischen Jurisprudenz (arab. Fiqh) die diversen Gelehrtenmeinungen, die hier aufgrund des Umfangs nicht näher beleuchtet werden können. Allerdings soll jenen Meinungen, die eine aus den Qur’anversen 4:97-99 abgeleitete Auswanderungspflicht für Muslime aus einem nicht-islamischen Land (arab. Dar Al Harb) in ein islamisches Land (arab. Dar Al Islam) begründen, mit dem folgenden Hadith des Propheten entgegengetreten werden: „Es gibt keine Hidschra nach der Eroberung von Mekka [, die acht Jahre nach der Hidschra stattgefunden hat].“ (Al Bukhari, Sahih Al Bukhari, 63, 125) Dass es zwar keine Hidschra mehr gibt, bedeutet jedoch nicht, dass sie für die heutige Zeit keine historische Bedeutung mehr hätte. Gegenwärtig hat die Hidschra sogar eine gesellschaftspolitische Bedeutung, wo doch so viele Flüchtlinge vor allem aus islamisch geprägten Ländern sichere Zufluchtsorte suchen. Eine weitere Bedeutung von Hidschra verdient im Folgenden eine separate Behandlung, nämlich die spirituelle Bedeutung. Die spirituelle Bedeutung von Hidschra Das Wort „Hidschra“ hat neben der oben genannten historischen Bedeutung eine moralische Konnotation, nämlich im Sinne des Auszuges des Menschen vom Übel bzw vom Missstand hin zu Gott. Auf eben diese weiter gefasste, moralische und ethische Bedeutung des Begriffes Hidschra beziehen sich etwa die Verse 4:97-99. „Während der physische Auszug von Mekka nach Medina nach der Eroberung Mekkas im Jahre 630 für die Muslime nicht mehr verpflichtend war, bleibt der spirituelle Auszug aus dem Bereich des Übels in den der Rechtschaffenheit weiterhin eine Grundforderung des Islam: mit anderen Worten, wer nicht ‚vom Übel zu Gott auswandert‘, kann nicht als gläubig angesehen werden.“ (Asad, Koran 2009, 176) Diesbezüglich haben auch die Begriffe „Ansar“ und „Muhadschirun“ eine spirituelle Bedeutung und werden im Qur’an oft gebraucht, um jene zu kennzeichnen, die moralisch „den Bereich des Übels verlassen“ und jene, die „dem Glauben Zuflucht geben und beistehen“. Eine weitere spirituelle Bedeutung des Begriffes „Hidschra“ wird beispielsweise bei der Pilgerfahrt „Hadsch“, die als eine der fünf Säulen im Islam gilt, Jahr für Jahr von den Pilgern verdeutlicht, in dem eine symbolische Auswanderung aus Mekka imitiert wird, um sich in das Bewusstsein zu rufen, was es bedeutet, zum geliebten Verlassenen wieder zurückzukehren. Anhand der erläuterten Ereignisse, die eine große Anzahl von göttlichen Offenbarungen und Überlieferungen des Propheten mit sich brachten, werden im folgenden Abschnitt die religionsrechtlichen sowie die ethisch-moralischen Grundsätze des Islam hinsichtlich dieser Thematik vorgestellt. 9 CEAI-Fachtext „Flucht/Schutzgewährung im Islam“ Die islamischen Grundlagen und Prinzipien des Flüchtlingsrechts Wie in den ersten Abschnitten bereits erkennbar ist, sind Schutzsuche und Schutzgewährung (arab. Aman) wichtige von der Geschichte geprägte Themen im Islam. Dementsprechend wird im Sinne der islamischen Theorie das Flüchtlingsrecht bzw das Asylrecht zur Zeit des Propheten vorgestellt, das wesentlich weiter gefasst ist als das moderne Flüchtlingsrecht nach internationalen Standards. Dabei wird weder auf das von diversen islamischen Rechtsgelehrten der einzelnen Perioden geformte Recht, noch wird näher auf die von ihnen entwickelten Asyltypen näher eingegangen, weil es zur Zeit des Propheten noch keine Einteilung in religiöses, territoriales und diplomatisches Asyl gab. In diesem Abschnitt liegt der Fokus auf jenen göttlichen Bestimmungen, die sich entweder speziell auf das islamische Flüchtlingsrecht oder sich allgemein auf die mit dem Flüchtlingsrecht in Verbindung stehenden Prinzipien beziehen. Das grundsätzliche Verbot Menschen zu vertreiben Grundsätzlich gibt es im Islam das Verbot, Menschen aus ihrer Heimat zu vertreiben, denn der Qur‘an verurteilt jene Menschen, deren Aktionen eine Massenmigration veranlassen. Wer dies dennoch versucht oder umsetzt, dem fehle der Glaube an Gottes Wort, wie aus dem folgenden Qur’anvers herauszulesen ist: „Und siehe! Wir nahmen euer feierliches Versprechen an, dass ihr nicht einer des anderen Blut vergießen würdet und nicht einander aus euren Heimstätten vertreiben würdet –woraufhin ihr es anerkannt habt; und davon gebt ihr Zeugnis (sogar jetzt). Und doch seid ihr es, die ihr einander tötet und manche von euren eigenen Leuten aus ihren Heimstätten vertreibt, einander gegen sie helfend in Sünde und Hass; aber wenn sie als Gefangene zu euch kommen, löst ihr sie aus – obwohl schon (die Tat) ihrer Vertreibung euch ungesetzlich gemacht worden ist! Glaubt ihr denn an manche Teile der göttlichen Schrift und leugnet die Wahrheit von anderen Teilen? Was könnte den der Lohn für jene unter euch sein, die solche Dinge tun, außer Schmach im Leben dieser Welt und am Tag der Auferstehung Überantwortung an höchst schmerzliches Leiden? Denn Gott ist nicht unachtsam dessen, was ihr tut.“ (Qur’an 2:84-85) Diese bemerkenswerten Verse beziehen sich auf die Umstände in Medina, die zur Zeit der Hidschra des Propheten vorherrschten, weil in vorislamischer Zeit in Medina der eine arabische Stamm Al-Aws, mit dem jüdischen Stamm Banu Qurayza, gegen den anderen arabischen Stamm Khazradsch, mit ihren verbündeten jüdischen Stämmen Banu Qaynuqa‘ und Banu-Nadir, andauernd miteinander im Krieg lagen. Dabei kämpften Juden gegen Juden und töteten sich gegenseitig. Genauso wie den Juden der Kampf und die Vertreibung untereinander untersagt ist, trifft dies auch auf Muslime zu. Und doch flüchtet eine überwältigende Anzahl von Muslimen aus islamisch geprägten Ländern nach Europa. Menschen zu töten, zu misshandeln und zu vergewaltigen, zu unterdrücken und zu erniedrigen oder zu verfolgen und zu vertreiben, aus welchen Gründen auch immer, ist Unrecht und widerspricht daher dem islamischen Gebot, das Rechte zu gebieten und das Unrecht sowie das Übel zu verhindern. Gott erwartet von den Menschen das rechtschaffene Verrichten guter Taten: „Und dass aus euch eine Gemeinschaft (von Leuten) erwachsen möge, die einladen zu allem, was gut ist, und das Tun dessen gebieten, was recht ist, und das Tun dessen verbieten, was unrecht ist: und es sind sie, sie, die einen glückseligen Zustand erlangen werden.“ (Qur’an 3:104) „[…] Und tut Gutes euren Eltern und den nahen Verwandten und den Waisen und den Bedürftigen und dem Nachbarn von euren eigenen Leuten und dem Nachbarn, der ein Fremder ist, und dem Freund an eurer Seite und dem Reisenden […]“ (Qur’an 4:36) 10 CEAI-Fachtext „Flucht/Schutzgewährung im Islam“ Durch die Einhaltung dieser grundsätzlichen Vorschriften dürften Muslime niemals in eine Situation kommen, in der sie selbst um Schutz ansuchen. Weil Gott jedoch die menschlichen Schwächen kennt und sich die Geschichte hinsichtlich der Hidschra nur zu oft wiederholt, gibt es im Qur’an auch eine Vielzahl an Bestimmungen, die den Muslimen vorschreiben, Bedürftigen zu helfen und Vertriebenen Schutz zu gewähren. Wer kann Schutz gewähren? Anders als im modernen Recht beschränkt sich das islamische Flüchtlingsrecht nicht nur auf die staatliche Asylgewährung, sondern lässt auch die Schutzgewährung durch Individuen zu. Diese individuelle Schutzgewährung ist lediglich von der Zugehörigkeit zu einer islamischen Gemeinschaft, in dem das islamische Recht angewendet wird, abhängig. Niemand sollte an einem Ort leben müssen, wo Ungerechtigkeit und Verfolgung herrscht, wo einen die eigenen Leute demütigen und erniedrigen: Und wer den Bereich des Übels um Gottes willen verlässt, der wird auf Erden manch einsame Straße [durch deren Einschlagen man seine eigenen Leute gegen ihren Willen wegen verlässt] wie auch Leben in Fülle finden. Und wenn einer sein Heim verlässt, vom Übel zu Gott und Seinem Gesandten fliehend, und ihn dann der Tod ereilt – sein Lohn ist bereit bei Gott […].“ (Qur’an 4:100) Angehörige der islamischen Gemeinschaft dürfen unabhängig von Rasse, vom Geschlecht oder von ihrem sozialen und politischen Status ihre Türen vor Schutzsuchenden nicht verschließen, denn es ist ihre Pflicht Asyl zu gewähren. Dieselbe Pflicht trifft selbstverständlich auch die politischen Führer islamischer Gemeinschaften. Im Qur’an gibt es eine Vielzahl von Anweisungen, die bezüglich Schutzsuchenden darauf abstellen, dass Menschen in Not unterstützt und Flüchtenden Schutz gewährt werden soll, um Gott zu gefallen: „Und was die Vordersten und Ersten von jenen angeht, die den Bereich des Übels verlassen haben, und von jenen, die dem Glauben Zuflucht gegeben und beigestanden haben, wie auch jene, die ihnen auf (dem Weg der) Rechtschaffenheit folgen – Gott ist wohlzufrieden mit ihnen, und wohlzufrieden sind sie mit Ihm.“ (Qur’an 9:100) Im Islam besteht in Folge dessen eine gesellschaftliche Pflicht, in der jeder einzelne Bürger gemeinsam mit der staatlichen Obrigkeit den Schutzsuchenden hilft und mit vereinten Kräften die nötige Sicherheit zukommen lässt. Wer gilt als Flüchtling aus welchen Gründen? Nach dem islamischen Recht und den Traditionen hat jede Person, die flüchtet und Schutz sucht, das Recht in die islamische Gemeinschaft einzutreten und um Schutz anzusuchen. Dies resultiert aus dem Qur’anvers 49:11, wonach der Islam als universelle Religion alle Menschen unterschiedlicher Geschlechter, Rassen und Abstammung anerkennt. Im Gegensatz zu Artikel 1 GFK erstreckt sich der islamische Flüchtlingsbegriff auf alle gewaltsam vertriebene bzw zur Flucht gezwungene Menschen. So rufen im folgenden Qur’anvers Männer, Frauen und Kinder zugleich: „[…] O unser Erhalter! Führe uns heraus (zur Freiheit) aus diesem Land, dessen Bewohner Unterdrücker sind, und erhebe für uns aus Deiner Gnade einen Schützer, und erhebe für uns aus Deiner Gnade einen, der uns Beistand bringen wird!“ (Qur’an 4:75) Dabei ist es unbeachtlich, ob die flüchtende Person innerhalb oder außerhalb der islamischen Gemeinschaft um Schutz ansucht. Unbeachtlich ist ebenfalls die Zugehörigkeit zur Religion, geschweige denn zu anderen bestimmbaren Kriterien, denn im Mittelpunkt des Asylrechts steht der Mensch an 11 CEAI-Fachtext „Flucht/Schutzgewährung im Islam“ sich. Auf gar keinen Fall dürfen nicht-muslimische Flüchtende als Bedingung für die Schutzgewährung gezwungen werden, den Islam anzunehmen. „Und wenn einer von jenen, die etwas anderem neben Gott Göttlichkeit zuschreiben, deinen Schutz sucht [bzw dein Nachbar zu werden sucht], gewähre ihm Schutz, auf dass er das Wort Gottes (von dir zu) hören (imstande sein) möge; und daraufhin geleite ihn zu einem Ort, wo er sich sicher fühlen kann […]“ (Qur’an 9:6) Die im Vers eingeschobene Stelle versteht sich als metaphorischer Ausdruck, der ein Verlangen nach Schutz bezeichnet und auf der alten arabischen Sitte beruht, einen Nachbarn nach besten Kräften zu ehren und zu schützen. Das Geleit an einen sicheren Ort (arab. ma’anahum) beinhaltet nach Al Din Al Razi (gest. 1209) auch die Möglichkeit, dass der Schutzsuchende in seine Heimat zurückkehren kann, was wiederum impliziert, dass es ihm unter Hinweis auf Qur’anvers 2:256 freisteht, die Botschaft des Qur’an anzunehmen oder nicht. Des Weiteren ist ein Schutzsuchender nicht verpflichtet, den Grund seiner Flucht oder die fluchtauslösende Verfolgung glaubhaft darzulegen oder gar zu beweisen. Demzufolge reicht zur Asylgewährung das bloße Ansuchen. Nichtsdestotrotz sollte der Schutzsuchende vor dem Asylansuchen keine Straftaten begangen haben, weil im Islam alle Straftaten zu ahnden sind, unabhängig davon, ob sie politisch oder unpolitisch waren. Vor diesem Hintergrund ist zu beachten, dass ein wie auch immer geartetes islamisches Recht, dessen Ziel primär auf Gerechtigkeit und soziale Verantwortung ausgerichtet ist, sich stets im Wandel befindet und somit nie als abgeschlossen betrachtet werden kann. Der Qur’an selbst darf deshalb nicht als starres Gesetzbuch, sondern muss als eine moralisch-ethische Orientierung verstanden werden. In diesem Sinne kann jedes Recht als islamisch angesehen werden, sofern es sozial und gerecht ist. Welche Rechte und Pflichten haben die Flüchtlinge? Prinzipiell ist darauf hinzuweisen, dass der Qur‘an die Menschen auffordert, ihre Abkommen und Verträge zu erfüllen. Diese Aufforderung gilt zum einen auch in Bezug auf die Gewährung und Einhaltung der Rechte gegenüber den Flüchtlingen, und zum anderen gilt sie für die Flüchtlinge selbst, die das Recht und die Rechtsordnung des jeweiligen Aufnahmelandes einzuhalten und anzuerkennen haben. „O ihr, die ihr Glauben erlangt habt, seid euren Verträgen treu! […]“ (Qur’an 5:1). Der Prophet sagte: “Es ist ein Pflicht für jeden, die Ordnung des Gesetzgebers zu erhören und zu befolgen, es sei denn, diese Ordnung bedingt den Ungehorsam gegenüber Gott.“ (Al Bukhari, Sahih Al Bukhari, 56, 167) Ist den Schutzsuchenden Asyl gewährt worden, sollte dieser Schutz allumfassend sein, das heißt, Flüchtlinge haben neben dem Recht auf humanitäre Hilfe grundsätzlich dieselben Rechtsansprüche als die Angehörigen der islamischen Gemeinschaft, inklusive das Recht auf Arbeit, das Recht auf Bildung, das Recht sich frei bewegen zu können sowie das Recht auf Familienzusammenführung. „Siehe, was jene angeht, die Glauben erlangt haben und die den Bereich des Übels verlassen haben und sich hart anstrengen für Gottes Sache mit ihren Besitztümern und ihrem Leben, wie auch jene, die (ihnen) Zuflucht geben und beistehen – diese sind (wahrhaft) die Freunde und Schützer voneinander. Aber was jene angeht, die zum Glauben gekommen sind, ohne (in euer Land) ausgewandert zu sein, - ihr seid in keiner Weise für ihren Schutz verantwortlich, bis zu dem Zeitpunkt, da sie (zu euch) auswandern. Doch wenn sie euch um Beistand gegen religiöse Verfolgung bitten, ist es eure Pflicht, (ihnen) diesen Beistand zu leisten – außer gegen ein Volk, zwischen dem und euch es einen Vertrag gibt […]“ (Qur’an 8:72) 12 CEAI-Fachtext „Flucht/Schutzgewährung im Islam“ In diesem auf die Ansar bezogenen Vers geht der Ausdruck „Ansar“ über seine rein historische Bedeutung hinaus und bezieht sich auf alle Gläubigen, die „jenen, die vom Übel zu Gott fliehen“, Hilfe und Erleichterung gewähren. Daraus wird verständlich, warum viele Gelehrte meinen, dass eine derartige Schutzgewährung ein unauflösbares Band zwischen den Schutzsuchenden und den Schutzgewährenden schaffe, womit im Endeffekt auch die Rechtsgleichstellung argumentiert werden kann. Folgerichtig ist die Schutzgewährung samt den damit zusammenhängenden Rechtsansprüchen zeitlich unlimitiert ist. Im letzten Satz des obigen Qur’anverses 8:72 ist der Schutz vor Verfolgung wegen religiösen Glaubensvorstellungen gemeint, der allerdings aufgrund eines Bündnisvertrages oder eines Paktes der gegenseitigen Nichteinmischung in interne Angelegenheiten nicht gewährt wird, weil dies einen Vertragsbruch bedeuten würde, der eben mit dem Qur’anvers 5:1 zu unterlassen sei. Eine Lösung eines Problems mit einem anderen Volk könnte gegebenenfalls durch Verhandlungen zwischen den beiden Völkern oder auch durch eine Auswanderung der dort verfolgten Muslime herbeigeführt werden. Durch eine faktische Gleichstellung des Flüchtenden mit den Angehörigen des Aufnahmelandes, erübrigt sich jede weitere Behandlung von Rechtsansprüchen. Das Verlassen des sicheren Ortes bleibt demnach der individuellen Entscheidung überlassen, wie dies auch im modernen internationalen Asylrecht im Sinne der freiwilligen Rückführung der Fall ist. Allerdings umfasst das islamische Flüchtlingsrecht nicht nur Muslime sondern auch Nicht-Muslime, dessen Beleg im Qur’an zu finden ist: „[…] jenen, die gegen alles Recht aus ihren Heimatstätten vertrieben wurden, aus keinem anderen Grund, als dass sie sagen ‚Unser Erhalter ist Gott!‘ Denn wenn Gott die Leute nicht befähigt hätte, sich gegeneinander zu verteidigen, wären (alle) Klöster und Kirchen und Synagogen und Moscheen – in denen (allen) Gottes Name reichlich lobgepriesen wird – sicherlich (bereits) zerstört worden. Und Gott wird ganz gewiss dem beistehen, der Seiner Sache beisteht: denn, wahrlich, Gott ist höchst kraftvoll, allmächtig.“ (Qur’an 22:39-40) Die Verbrüderung mit den Schutzsuchenden Wie schon zuvor beschrieben wurde, nahmen die Muslime aus Medina, die Ansar, die Auswanderer aus Mekka, die Muhadschirun, wie ihre eigenen Brüder (und selbstverständlich Schwestern) auf und teilten mit ihnen ihr gesamtes Hab und Gut, also ihr Täglichbrot und ihre Wohnstätten. Diese verbrüdernde, aufopfernde und altruistische Einstellung gegenüber den Armen, Hilflosen, Bedürftigen oder Flüchtlingen, zeigt besonders der nachstehende Qur’anvers, worin Gier, Geiz und Habsucht als die größten Hindernisse für den glückseligen Zustand im Diesseits sowie im Jenseits aufgezählt werden: „Und (es soll auch den Armen unter) jenen (angeboten werden), die vor ihnen ihre Bleibe in diesem Bereich und im Glauben hatten – (jene,) die alle lieben, die auf der Suche nach Zuflucht zu ihnen kommen und die in ihren Herzen keinen Groll wegen dem hegen, was immer den anderen gegeben worden sein mag, sondern ihnen vielmehr den Vorzug vor sich selbst geben, auch wenn Armut ihr eigenes Los sei: denn solche, die vor ihrer eigenen Habsucht gerettet sind – es sind sie, sie, die einen glückseligen Zustand erlangen werden!“ (Qur’an 59:9) Diese göttliche Offenbarung bezieht sich zwar in erster Linie auf die Ansar, doch in einem weiteren Sinn auch „auf alle Gläubigen zu allen Zeiten, die im Bereich des Islam in Freiheit und Sicherheit leben und bereit sind, jeden mit offenen Armen aufzunehmen, der gezwungen ist, seine Heimat zu verlassen, um in Übereinstimmung mit den Bestimmungen seines Glaubens leben zu können.“ (Asad, Koran, 1047) Eine derartige Verbrüderung mit den Schutzsuchenden findet sich auch in den Qur’anversen 8:72-75. Die stehen zwar ursprünglich im Zusammenhang mit der spirituellen Bruderschaft zwischen den Ansar und den Muhadschirun, jedoch ist in einem universellen Zugang zum Islam generell auf eine brüderliche Gemeinschaft jener abzustellen, die als die Helfenden und Schutzgewährenden die wahren Gläubigen sind: 13 CEAI-Fachtext „Flucht/Schutzgewährung im Islam“ „Alle Gläubigen sind doch Brüder. […]“ (Qur’an 49:10) „[…] wie auch jene, die (ihnen) Zuflucht geben und beistehen – es sind sie, sie, die wahrhaft Gläubige sind. Vergebung der Sünden erwartet sie und eine höchst vortreffliche Versorgung.“ (Qur’an 8:74) Gastfreundschaft als ethische Pflicht Da im Islam neben der individuellen Beziehung zu Gott auch die zwischenmenschlichen Beziehungen eine wichtige Stellung einnehmen, ist in diesem Kontext vor allem die Gastfreundschaft als ein Teil der islamischen Ethik und als Segen für die gesamte Gemeinschaft anzusehen. Hierbei geht es in erster Linie um die gegenseitige Fürsorge, seinen Mitmenschen und fremden Menschen Tür und Herz zu öffnen, denn diese Form der Solidarität verlangt Gott von den Menschen: „[…] wahrhaft fromm ist, wer an Gott glaubt und den Letzten Tag und die Engel und Offenbarung, und die Propheten; und sein Vermögen ausgibt – wie sehr er selbst es auch wertschätzen mag – für seine nahen Verwandten und die Waisen und die Bedürftigen und den Reisenden und die Bettler und für das Befreien von Menschen aus Knechtschaft, […]“ (Qur’an 2:177) Die Übersetzung mit „Reisender“, oder wörtlich Sohn des Weges (arab. Ibn Al Sabil), kann im weiteren Sinn ebenfalls den politischen Exilant oder Flüchtling betreffen, weil auch dieser aus welchen Gründen auch immer über eine gewisse Zeit oder dauerhaft nicht in seine Heimat zurückkehren kann. Dementsprechend war, wie in den Qur’anversen 51:24-27 geschrieben steht, für Fremde und für bedürftige Menschen immer ein Platz am Tisch des Propheten Abraham. Als weiteres Beispiel hierfür gilt Muhammad selbst, der seine Gäste stets in bester Weise zu beherbergen wusste, wie der folgende Hadith zeigt: „Der Prophet sagte: ‚Es ist eine Pflicht für jeden Gläubigen, einem Gast für eine Nacht Gastfreundschaft zu gewähren. Wenn jemand am Morgen in sein Haus (des Gastgebers) kommt, ist das ein Recht, das ihm zusteht. Wenn er will, mag er es nutzen, und wenn er will, mag er darauf verzichten.‘“ (Abu Dawud, Sunan Abi Dawud 28, 15) Diese ethische Pflicht der Gastfreundschaft gegenüber allen Menschen, also unabhängig von ihrer Religion, Herkunft, etc., nimmt durch die vorgelebte Praxis der Propheten und durch die helfenden Ansar eine herausragende Bedeutung gerade im Bereich des islamischen Flüchtlingsrechts ein. Ebenso wichtig sind jedoch die abschließend noch zu behandelnden Grundsätze des Islam, die im Zusammenhang mit Flucht und Schutzgewährung stehen. Weitere islamische Grundsätze zur Flucht und Schutzgewährung GERECHTIGKEIT: Ganz oben der wichtigsten Grundsätze im Islam steht immer wieder die Gerechtigkeit (arab. Al `Adl), die selbstredend durch die mannigfaltige Erwähnung auf die verschiedenen menschlichen Situation auch in Bezug auf die Schutzgewährung von flüchtenden Menschen Anwendung findet: „O ihr, die ihr Glauben erlangt habt! Seid immer standhaft im Wahren der Gerechtigkeit, Zeugnis gebend von der Wahrheit um Gottes willen, selbst wenn es gegen euch selbst oder eure Eltern und Verwandten sei. […]“ (Qur’an 4:135) RESPEKT: Dasselbe gilt für den Respekt (arab. Ikram), der allen Menschen entgegengebracht werden sollte, und 14 CEAI-Fachtext „Flucht/Schutzgewährung im Islam“ so auch bezüglich bedürftiger Personen, die stets in Übereinstimmung mit der menschlichen Würde respektvoll zu behandeln sind, wie die folgende Offenbarung negativ auszudrücken vermag: „Hast du jemals (jene Art von Mensch) betrachtet, der alles Moralgesetz [im Sinne von Religion oder Jüngster Tag] der Lüge zeiht? Siehe, es ist diese (Art von Mensch), welche die Waise verstößt und keinen Drang verspürt, den Bedürftigen zu speisen.“ (Qur’an 107:1-3) HILFSBEREITSCHAFT: Ein weiterer Grundsatz, nämlich die Hilfsbereitschaft, wurde zwar im Sinne der Hilfe und der Unterstützung von Flüchtenden und Bedürftigen im Laufe des Textes schon mehrmals angesprochen wurde, sollte hier jedoch mit einem speziellen Qur’anvers nochmal als allgemeiner Grundsatz im Islam hervorgehoben werden: „Darum (selbst wenn ihnen durch Verleumdung Unrecht geschehen ist,) sollen jene von euch, die mit (Gottes) Gunst und Mühelosigkeit des Lebens begnadet wurden, nicht nachlässig werden, (den Irrenden unter) ihren nahen Verwandten zu helfen und den Bedürftigen und jenen, die den Bereich des Übels um Gottes willen verlassen haben, sondern sie sollen verzeihen und nachsichtig sein. […]“ (Qur’an 24:22) DISKRIMINIERUNGSVERBOT: Weniger ein Grundsatz als vielmehr eine Ableitung des islamischen Gerechtigkeitssinnes ist das Verbot der Diskriminierung, das keine Zweifel übrig lässt, dass sich Menschen mit Anstand, Würde und Respekt begegnen sollen, da sie sich lediglich durch ihre Frömmigkeit unterscheiden: O ihr, die ihr Glauben erlangt habt! Vermeidet die meiste Vermutung (übereinander) – denn, siehe, manche (solcher) Vermutung ist (an sich) eine Sünde; und spioniert einander nicht nach, und erlaubt euch selbst auch nicht, schlecht übereinander hinter euren Rücken zu reden. […]“ (Qur’an 49:12) „Der Prophet sagte: ‚Menschen sind so gleich wie die Zähne eines Kammes, sie unterscheiden sich nur in ihrer Frömmigkeit.‘” (Ibn Hadschar, Fath al Bari, 1, 658-659) Durch die zuvor erwähnten religionsgeschichtlichen Ereignisse und den anschließend vorgestellten islamischen Grundlagen bezüglich Flucht und Schutzgewährung sollte im abschließenden Kurzabschnitt deutlich gemacht werden, dass sich aus einer notwendigen Flucht immer auch Herausforderungen, Chancen und Risiken für die Flüchtenden sowie für die aufnehmende Gesellschaft ergeben, egal in welcher Zeit man sich befindet. Herausforderungen, Risiken und Chancen von Flüchtlingen und dem Aufnahmeland So wie die Hidschra geschichtlich gesehen eine der Antworten der muslimischen Gemeinde in der schwierigen Anfangszeit ihres Bestehens war, ist sie heutzutage zugleich ein Beispiel für jede Migration oder Flucht in eine neue Gesellschaft, die neue Herausforderungen bildet. Diese neuen gesellschaftlichen Herausforderungen können einerseits als Chancen und andererseits als Risiken wahrgenommen werden. So wird das Institut des Asylrechts ein Gradmesser des sozialen Zusammenhalts: Die Gemeinschaft, die andere schützt, schützt sich selbst! Für die aufnehmende Gesellschaft gilt es vorwiegend, der Realität verantwortungsbewusst gerecht zu werden, in dem man Schutzsuchenden Schutz gewährt, eine Erstversorgung zukommen lässt, in Wohltätigkeitszentren Essen, Unterkunft und sonstige essentielle Leistungen zur Verfügung stellt. Dabei muss die Aufnahme als gesamtgesellschaftliche Chance begriffen werden. Dabei ist in erster 15 CEAI-Fachtext „Flucht/Schutzgewährung im Islam“ Linie darauf Bedacht zu nehmen, dass die Flüchtlinge gesellschaftlich anerkennt werden, denn eine solche Anerkennungsphase bildet die Basis für den Wiederaufbau eines neuen Lebens und eine ordentliche Integration, die sowohl von der Aufnahmegesellschaft angeboten als auch von den Aufgenommenen genützt werden muss. Dafür sind die Unterstützung beim Spracherwerb, die Anerkennung ihrer Qualifikationen und Bildungsabschlüsse sowie die Eingliederung in die Gesellschaft durch berufsvorbereitende Maßnahmen und zusätzliche Qualifikationsförderungen notwendig. Bei Inanspruchnahme solcher Instrumente darf man nicht auf kurzfristige Erfolge setzen, sondern sie müssen langfristig gedacht werden, sodass für die neuen Bürger letztendlich der Erwerb der Staatsangehörigkeit den Höhepunkt dieses Prozesses bildet. Wer diese Herausforderungen nicht ernst nimmt, hat sich mit den heraufbeschworenen Risiken auseinanderzusetzen, die ihren Lauf mit einer Rhetorik der ständigen und nicht zu bewältigender Belastung der Flüchtlingskrise oder des Flüchtlingsproblems nahm. Wer aus den genannten Herausforderungen politisches Kleingeld schlagen möchte, der hetzt die aufnehmende Gesellschaft gegen die Flüchtlinge auf, da diesen aus ihrer rechtlichen Situation heraus eine selbstständige Existenzerhaltung nicht möglich ist und sie vom Staat Sozialleistungen empfangen, die womöglich Einheimischen nicht zustehen. Wer nicht an eine nachhaltig friedliche Gesellschaft denkt, spricht von zu hohen Ausgaben für Integration und Qualifikation oder erlässt weitere bürokratische Regelungen, die dazu führen, dass Perspektiven nicht genutzt werden können. Die Konsequenzen daraus sind vielfältig, von Ausgrenzung und Diskriminierung von Flüchtlingen über einen Anstieg der Kriminalität innerhalb der Aufnahmegesellschaft bis hin zu den gesellschaftlichen Folgekosten in ungeahnten Maßen. Anstatt also gemeinsam eine Situation zu lösen, geht man das Risiko einer gespaltenen Gesellschaft ein, die wiederum Hass, Unterdrückung und Verfolgung erzeugt. Chancen ergeben sich folglich innerhalb einer hilfsbereiten Gesellschaft dadurch, dass sich der Zusammenhalt derselben verstärkt und die Solidarität steigt, gemeinsam an einen Strang zu ziehen, weil man weiß, dass man aus jeder bewältigten Situation gestärkt hervorgeht, sei es durch eine wirtschaftliche, soziale oder kulturelle Weiterentwicklung. Wirtschaftliche Vorteile können sich etwa durch den Ausgleich der demografischen Entwicklung und durch den damit einhergehenden Einfluss auf die Wirtschaftsleistung ergeben, der je nach Ausschöpfung des Potenzials der Flüchtlinge den Erhalt oder sogar die Verbesserung des Sozialsystems bedeuten kann. In sozialer Hinsicht wird etwa durch das Benötigen vieler Wohnungen zur Unterbringung der neuen Bürger der soziale Wohnbau gefördert werden müssen, der wiederum die Mietpreise auch für die einheimische Bevölkerung in Grenzen hält. Das gegenseitige Kennenlernen der neuen Bürger bringt für die aufnehmende Gesellschaft auch kulturelles Wissen über die geistigen, künstlerischen und wissenschaftlichen Leistungen mit sich, wovon nur profitiert werden kann. Von Nöten ist allerdings, dass Flüchtlinge als auch die Aufnahmegesellschaft Schritte aufeinander zugehen, um ein gelungenes Miteinander zu schaffen. Die flüchtenden Menschen sehen in ihrer Flucht oder Migration jedenfalls eine Chance, ihr Leben in einem sicheren und friedlichen Umfeld neu zu gestalten oder bloß vorübergehend Schutz zu genießen. Die zu bewältigenden Herausforderungen liegen wohl darin, den eigenen Prinzipien treu zu bleiben und doch die kulturellen Eigenheiten der neuen Gesellschaft kennenzulernen, zu verstehen und zu akzeptieren. Schon zur Zeit Muhammads bedeutete der Zufluchtsort Medina für Muslime das Kennenlernen von neuen Gepflogenheiten, neuen Formen sozialer und vielschichtiger Beziehungen zwischen den Stämmen und einer vollkommen anderen Rolle der Frau (die gesellschaftlich weitaus angesehener war als in Mekka). Zudem mussten sie nicht nur versuchen eine offene und kritische Haltung gegenüber ihrer Herkunftskultur einzunehmen, sondern auch versuchen, ihre eigenen Einstellungen im Sinne einer funktionierenden Koexistenz zu reformieren, weil jede einzelne kulturelle Gepflogenheit zu hinterfragen ist. Somit war die Hidschra nicht nur eine notwendige Flucht vor Unterdrückung und Verfolgung, sondern auch eine Prüfung des Verstandes. (Tariq Ramadan, Muhammad – Auf den Spuren des Propheten, 2009, Kapitel 8) 16 CEAI-Fachtext „Flucht/Schutzgewährung im Islam“ Konklusion Anhand der genannten Grundlagen und letztlich der ethisch-moralischen Grundsätzen im islamischen Flüchtlingsrecht, lässt sich deutlich erkennen, dass die religionsspezifische Behandlung dieses Themas einen wesentlich humaneren Standpunkt einnimmt als etwa das moderne internationale Flüchtlingsrecht, das von vielen Staaten dieser Welt, darunter Österreich, mitsamt ihrer eigenen Definition und Auslegung vollzogen wird. So trifft die im Islam verankerte Schutzgewährung auf alle Flüchtenden zu, sofern sie aus den verschiedensten Gründen gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen. Auf die heutige Zeit umgemünzt, bedeutet diese Schutzgewährung auch einen Gradmesser für den sozialen Zusammenhalt einer Gesellschaft, die diese Herausforderung entweder als Chance oder als Risiko versteht. Doch wäre gerade das gegenseitige Kennenlernen und das Kennenlernen des kulturellen oder religiösen Erbes von fremden Kulturen für jede Gemeinschaft eine zusätzliche Bereicherung, aus der man das eine oder andere erfahren kann, wie etwa die geschichtliche Entstehungsgeschichte des Islam und das daraus resultierende Flüchtlingsrecht. Damit die Schutzgewährung jedoch tatsächlich als Chance begriffen werden kann, ist nicht nur ein Entgegenkommen des Aufnahmelandes notwendig, sondern ebenso die Pflicht zur Einhaltung und Achtung der Rechtsordnung durch die muslimischen Flüchtlinge im Gastland, deren Grundlage im islamischen Recht eindeutig gegeben ist. 17 CEAI-Fachtext „Flucht/Schutzgewährung im Islam“ Weiterführende Literatur Asad Muhammad, Die Botschaft des Koran, 2009. Elmadmad Khadija, Asylum in Islam and in Modern Refugee Law, in Refugee Survey Quarterly, Vol 27, No. 2, 2008, 51-63. Rahaei Saeid, The Rights of Refugee Women and Children in Islam, in Forced Migration Review, 2012, 4-5. Hayatli Musab, Islam, International Law and the Protection of Refugees and IDPs, in Forced Migration Review, 2012, 2-3. Manuty Muhammad Nur, The Protection of Refugees in Islam: Pluralism and Inclusivity, in Refugee Survey Quarterly, Vol. 27, No. 2, 2008, 24-29. Brun Cathrine, Hospitality: Becoming IDPs and Hosts in Protracted Displacement, in Journal of Refugee Studies, 2010, Vol. 23/3, 337-355. Marfleet Philip, Refugees and History: Why We Must Address the Past, in Refugee Survey Quartely, Vol. 26, Issue 3, 2007, 136-148. Fatemi Seyed, Who is a Refugee? Comparison of a Misconstrued Concept in International Human Rights, Shi'i Fiqh and the Iranian Legal System, in The International Journal of Human Rights, 01 June 2005, Vol. 9/2, 183-223. Darwish Linda, The Shi’ite Law of Migration: Preserving Identity, Safeguarding Morality, in Studies in Religion-Sciences Religieuses, March 2014, Vol. 43/1, 70-101. Akram Susan Musarrat, Orientalism Revisited in Asylum and Refugee Claims, in International Journal of Refugee Law, Vol. 12, No. 1, 2000, 7-40. 18