„Die Bestimmung des Menschen“ in der deutschen Aufklärung

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Ruhr-Universität Bochum
Fakultät für Philosophie und Erziehungswissenschaft
Institut für Philosophie
„Die Bestimmung des Menschen“
in der deutschen Aufklärung
Masterarbeit zur Erlangung des Grades Master of Arts
vorgelegt von:
Seiko Tasaki
Laerholzstraße 17/19
Zimmer 132
44801 Bochum
Referenten:
Prof. Dr. Walter Jaeschke
apl. Prof. Dr. phil. Hans-Ulrich Lessing
27. Jun. 2009
Inhaltverzeichnis
1. Einleitung ・・・・・・・・・・・・・・・・・・・・・・・・・・・・・・・・ 3
2. Ein Überblick - Die Bestimmungsfrage in der deutschen Aufklärung - ・・・ 5
3. Die Bestimmung des Menschen - Textanalysen - ・・・・・・・・・・・・・・12
3.1. Johann Joachim Spalding
3.2. Immanuel Kant
3.3. Johann Gottlieb Fichte
4. Der Wandel der Bestimmungsfrage・・・・・・・・・・・・・・・・・・・・ 44
5. Schluss - Die Bedeutung der Bestimmungsfrage - ・・・・・・・・・・・・・46
6. Literatur ・・・・・・・・・・・・・・・・・・・・・・・・・・・・・・・・ 47
Selbständigkeitserklärung
2
1.
Einleitung
Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist, die Frage nach der Bestimmung des Menschen bei
Johann Joachim Spalding (1714-1804), Kant (1724-1804) und Fichte (1762-1814) zu
überblicken und darauf aufbauend sowohl den Zusammenhang der Ideen der drei Philosophen
als auch den Wandel dieser Frage in der Epoche der deutschen Aufklärung zu zeigen.
Den Anlass dazu gab ein Aufsatz von Giuseppe D’Alessandro1. Dieser Aufsatz bezweckt, die
Relevanz des Begriffs der „Bestimmung des Menschen“ im Kontext der deutschen
Spätaufklärung zu zeigen und zu analysieren. Angefangen mit Spalding, und die Ideen von
Kant und Fichte als Knotenpunkt setzend, wird hier hauptsächlich durch relativ unbekannte
Autoren 2 der Epoche die Breite der Diskussionssphäre bzw. der nicht nur philosophischen
sondern auch bürgerlichen, sozialen sowie politischen Diskussionssphäre, die oft im Schatten
der großen Namen wie Kant oder Fichte übersehen wird, rekonstruiert. D’Alessandro zufolge
habe der seinerzeitige Ausdruck „die Bestimmung des Menschen“ ursprünglich eine
theologische Perspektive, die auf den Begriff der „destinatio“ und den Gedanke Luthers
zurückgeht. Jedoch mit der Akzentverschiebung von „Bestimmung“ zu „Menschen“ habe sich
die Bedeutung vom Theologischen ins Anthropologische verwandelt und den weiteren Weg
zur philosophischen Anthropologie vorbereitet. Diese beiden Aspekte - theologische und
anthropologische - haben sich also im Verlauf des 18. Jahrhunderts unter dem Einfluss von
Kant, Fichte und deren gemeinschaftlichen/gesellschaftlichen Perspektiven in einer
praktischen/geschichtsphilosophischen Perspektive verbündet. Mit dem Beginn des neuen
Jahrhunderts verliere zwar der Begriff der Bestimmung des Menschen langsam an Bedeutung,
aber das sei nicht deshalb, weil dieses Thema an Glanz verloren hat, sondern weil diese
langjährige Problematik endlich sich von dem aufklärerischen „endlosen Streben“ nach dem
Ideal der Vollkommenheit befreit und als eine „Übergangsidee von der Aufklärung zum
Idealismus“ einen neuen Platz gefunden habe.
1
D’ALESSANDRO, GIUSEPPE, Die Wiederkehr eines Leitworts. Die "Bestimmung des Menschen" als
theologische, anthropologische und geschichtsphilosophische Frage der deutschen Spätaufklärung, in :HINSKE,
NORBERT (Hg.): Die Bestimmung des Menschen. Aufklärung, Jg.11, H.1, Hamburg 1999, 21-48.
2
Z.B. Jacob Christoph Rudolph Eckermann (1754-1837), Johann Wilhelm Schmid (1744-1798), Franz Volkmar
Reinhard (1753-1812), Immanuel Berger (1773-1803), Johann Gottfried Grubers (1774-1851).
3
Die Idee dieses Aufsatzes führt eigentlich auf eine Schrift von Raffaele Ciafardone3 und einen
in derselben Schrift liegenden Beitrag von Norbert Hinske4 zurück. Ciafardone versucht die
Charakteristik der deutschen Aufklärung anhand der fünf von der Epoche typischen
Fragestellungen5 zu präsentieren. Bei dem ersten Kapitel geht es um die Bestimmungsfrage.
Als Ausgangspunkt stellt er Leibniz (1646-1716), der gemeinsam mit Spinoza (1632-1677)
der Meinung sei, daß das höchste Gut des Menschen im Suchen und Finden der Wahrheit
liegt und daß nur wenige Gelehrte das Ideal erreichen können. Dagegen stelle Thomasius
(1655-1728) eine neue Ethik, die besage, daß der Mensch nur als tätiges und Dienst leistendes
Mitglied einer Gemeinschaft seine Bestimmung verwirklicht. Sich auf die beiden Philosophen
beziehend entwickle Wolff (1679-1754) eine andere Theorie, daß „die Bestimmung des
Menschen nicht nur im tätigen Leben, sondern auch in der Bildung des Verstandes liegt“. Mit
der Veröffentlichung der Spaldings Schrift im 1763 6 eröffne sich eine neue Richtung der
Bestimmungsfrage durch die Debatte zwischen Abbt (1738-1766) und Mendelssohn (17291786). Jener verwerfe den „Aufklärungsoptimismus“, daß der Mensch seine Bestimmung mit
Hilfe der Vernunft erkennen und verwirklichen kann, während dieser auf diese Möglichkeit
vertraue. Jedoch werde diese Kontroverse durch eine neue Formulierung unter dem Aspekt
von Kunst bei Lessing und Schiller überwunden und so öffne sich eine neue Epoche der
Romantik, die sich auf das „Gefühl der ursprünglichen Einheit des Kosmos“ bezieht7. Hinske
ergänzt Ciafardone mit der systematischen Typologisierung der Grundideen der deutschen
Aufklärung. Unter der Einschränkung, daß diese Grundideen nur für eine regional begrenzten
geschichtlichen sowie geistigen Bewegung des 18. Jahrhundert geltend gemacht werden, gibt
es Hinske nach drei Ideengruppen, nämlich „Programmideen“, „Kampfideen“ und
„Basisideen“. Die Programmideen zeigen Zielsetzungen (d.h. die Idee der Aufklärung, die
Idee des freien und eigenständigen Denkens, die Idee der Perfektibilität). Um diese
Programmideen zu realisieren, setzen die Kampfideen die konkreteren Frontstellungen (d.h.
der Kampf gegen Vorurteile, der Kampf gegen Aberglauben, der Kampf gegen Schwärmerei).
Als die Grundlage der beiden Ideengruppen liegen die Basisideen, nämlich die Idee der
3
CIAFARDONE, RAFFAELE: L'Illuminismo tedesco. Torino 1983. Dt: Die Philosophie der deutschen
Aufklärung. Texte und Darstellung. Bearbeitet von Norbert Hinske und Rainer Specht. Stuttgart 1990.
4
HINSKE, NORBERT: Die tragenden Grundideen der deutschen Aufklärung, Versuch einer Typologie, in:
CIAFARDONE, op.cit., 407-458.
5
1. Der Mensch und seine Bestimmung, 2. Das philosophische Wissen, 3. Religion und Philosophie, 4. Der
Mensch und die Gesellschaft, 5. Das Selbstverständnis der deutschen Aufklärung.
6
Diese Auflage von 1763 ist „Siebente, vermehrte Auflage“. Die erste Auflage wurde schon im Jahr 1748
(Betrachtung über die Bestimmung des Menschen, 26 S. Greifswald 1748.) anonym veröffentlicht. Erst ab der
siebten Auflage heißt der Titel Die Bestimmung des Menschen und man findet in Vorrede den Name Spaldings.
Die im 1794 veröffentlichte Auflage ist die letzte bzw. elfte Auflage. s. SPALDING, JOHANN JOACHIM: Die
Bestimmung des Menschen, Kritische Ausgabe I/1, hrsg. v. BEUTEL, ALBRECHT u.a., Tübingen 2006.
7
CIAFARDONE, op.cit., 44.
4
Bestimmung des Menschen und die Idee der allgemeinen Menschenvernunft. Von allen sei
aber charakteristisch, daß sie genuin, nicht in engem Sinne, philosophisch, sind, daß sie
deshalb stets im Wandel leben und daß sie sich daher in Gefahr befinden, von dem
eigentlichen Kontext abzutrennen und in bloßes Schlagwort zu verwandeln.
D’Alessandro und Ciafardone thematisieren nicht nur die Relevanz der Bestimmungsfrage in
der deutschen Aufklärung, sondern auch die lebendige Bewegung der Ideen um die
Bestimmungsfrage. Jedoch kommt es mir so vor, daß die Behandlung der Spaldings Schrift
nicht hinreichend ist, obwohl die beide Autoren die Spaldings Schrift als Ausgangspunkt der
Bestimmungsfrage
der
deutschen
Aufklärung
betrachten.
Außerdem
scheint
der
8
Zusammenhang zwischen Spalding, Kant und Fichte gerade deshalb unscharf geblieben zu
sein. Aus diesem Grund möchte ich mich hier auf Spalding, Kant und Fichte konzentrieren
und ihre Beziehungen klarzumachen versuchen. Ferner, ausgehend von Hinskes Hinweis auf
das Charakteristikum der oben genannten tragenden Ideen der Epoche, möchte ich meine
Aufmerksamkeit auch auf den Wandel der Ideen durch die drei Philosophen richten.
Im Folgenden wird zuerst die Fragestellung der Bestimmung des Menschen in der deutschen
Aufklärung überblickt und dann die Bestimmungsfrage jeweils bei Spalding, Kant und Fichte
zusammengefasst und dann der Zusammenhang der Ideen der drei Philosophen zu zeigen
versucht. Abschließend wird der Wandel dieser Frage in der deutschen Aufklärung und ihre
Bedeutung analysiert.
2. Ein Überblick - Die Bestimmungsfrage in der deutschen Aufklärung -
In dem Historischen Wörterbuch der Philosophie findet man zwischen »Bestimmung« und
»Betrachten« einen Artikel, die »Bestimmung des Menschen«9. Demzufolge bezeichnet die
Bestimmung des Menschen „Sinn, Zweck und Ziel des menschlichen Daseins“ und „zu
8
Bei CIAFARDONE wird Fichte sogar gar nicht behandelt. Ich vermute, das ist deshalb, weil er von Spalding
ausgehend über Kant und dann an Lessing und Schiller, die ihm zufolge die „Trennung von Sittlichkeit und
Kunst“ (CIAFARDONE, op.cit., 44.) einführen und der Kunst eine neuen Rolle geben, landet, während
D’ALESSANDRO an Fichte landet und weiter auf ein Indiz für das „Bedürfnis neuer
Ideenhorizont“ (D’ALESSANDRO op.cit., 47.) beachtet. Denn das hilft dann den unterschiedlichen Ausdruck
von beiden Autoren zu verstehen, daß CIAFARDONE die Bestimmungsfrage als eine zur Romantik verbundene
Frage sieht und D’ALESSANDRO als eine Übergangsidee zum Idealismus.
9
Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1. Darmstadt 1971. 856-859.
5
unterscheiden sind die Bestimmung des Individuums und die der Menschheit als ganzer“. Bei
der Epoche der Antike, bzw. des Platonismus, der Philosophie Epikurs und der Stoa, sowie
bei Christentum gehe es um die Bestimmung des Individuums. Für den Epikuräismus und die
Stoa sei sie „innerhalb der Welt“ gedacht, während für den Platonismus und Christentum
außerweltlich, d.h. im Jenseits. In der Renaissance, durch die „Betonung der Individualität“,
werde die Bestimmung des individuellen Menschen vertieft. Es geht dann nicht um
Individuum im kollektiven Sinne, sondern um das individuelle Individuum. Damit sei
einerseits das neuzeitliche Menschenbild „als Schöpfer seiner selbst aufgrund seiner
Bildbarkeit“ möglich. Andererseits aber für den „deutschen Idealismus der Goethezeit“, Kant,
Herder, Fichte und Hegel als Beispiel nennend, sei, durch den Versuch der Befreiung des
Menschen von der Naturnotwendigkeit, von der Bestimmung des Menschen als ganzer die
Rede. Gegenüber dem in dieser Epoche gebildeten Staatsbegriff stelle Marx die
Verwirklichung der Bestimmung des Menschen durch „Überwindung des bürgerlichen
Staates“ als „Emanzipation“ vor, wobei ist aber noch die Menschen als ganzer gedacht. Gegen
solchen Menschheitsbegriff komme die aristokratische Idee von „Übermensch“ bei Nietzsche.
Der Bestimmungsbegriff konfrontiere im 20 Jahrhundert unter dem Einfluss der
„Existenzphilosophie“ und „Kulturanthropologie“ mit einer quasi Wiederkehr zur
individuellen Seite, zur individuellen Selbstbestimmung durch seine Kultur.
Im Ganzen geht es hier darum, ob der Mensch im kollektiven Sinne behandelt wird, oder im
individuellen Sinne, und der Konnex zwischen den beiden wird nicht behandelt und bleibt
deshalb unklar. Ohne den Auftritt des individuellen Menschenbildes ist das kollektive vom 18.
sowie 19 Jahrhundert zwar weder vorstellbar noch begründbar, weil dieses jenes als eigene
Basis hat und weil dieses eben darauf ein neues Staatsbild aufzubauen versucht. Aber es geht,
dünkt mich, dabei nicht um die Spaltung zwischen kollektiv-sein und individuell-sein,
sondern vielmehr um das Menschenbild selbst, denn das Menschenbild in der obengenannten
„Goethezeit“ basiert ganz auf das von der bisherigen Zeit und eben das weist darauf hin, daß
es nicht um die Diskontinuität oder den Entweder-Oder-Aspekt, sondern um die Kontinuität.
Daher soll die Idee nicht ausgeschlossen werden, daß die beide verschiedene Menschenbilder
gleichzeitig bestehen. Die Aussage, daß der Mensch immer individuell, z.B. beim Tod, und
daß er immer kollektiv, weil er in der gewissen Gesellschaft leben soll, ist ja übertrieben aber
nicht ganz unrecht. Das individuelle Menschenbild ist ja die Basis, auf der der Mensch sich
als sich in Selbst bewusst sein kann; das kollektive Menschenbild ist die Basis, auf der der
Mensch sich als sich in der Gesellschaft, in dem Staat bewusst sein kann. Wichtiger ist aber,
6
wie der Mensch begriffen wird, was man unter Mensch versteht. Hier zeigt sich das
Charakteristikum der jeweiligen Epoche und auch der Ideen der Bestimmung des Menschen.
Wie Ciafardone zeigt 10 , erkennt Wolff in den zwanziger Jahren die Bestimmung des
Menschen nicht nur im „tätigen Leben“, sondern auch in der „Bildung des Verstandes“.
Durch diese Bildbarkeit des menschlichen Verstandes, die sicherlich auf seine lebendige Idee
der Philosophie als die „Wissenschaft des Möglichen“11 beruht, unterscheidet sich Wolff von
seinen rationalistischen Vorläufer wie Descartes, Spinoza, und Leibniz. Neben dieser
rationalistischen Strömung hat die empiristische Strömung aus Großbritannien auch großen
Einfluss auf die deutsche Aufklärung. Bei dem Empirismus, wie bei dem Rationalismus, hört
man verschiedene Stimmen. Hobbes lehnt das auf Aristoteles zurückführende Menschenbild
als „staatliches Wesen“12 ab und auffasst den menschlichen Naturzustand als »a State of War«
bzw. »every man is enemy to every man«13, der durch Gesellschaftsvertrag in einem Staat mit
unteilbaren Staatsgewalt 14 verwaltet sein soll. Unter dem Einfluss von Hobbes stellt sein
Schuler Locke den Menschen in seinem Naturzustand: in »a State of perfect Freedom«15 ,
jedoch nicht im Hobbesischen Sinne, sondern im friedlichen Sinne. Hier, in einem Staat mit
Gewaltenteilung, schließt man Gesellschaftsvertrag für gemeinschaftliches Leben mit
Anderen. Der Mensch bildet sich nun lebendig ab, von seinem ursprünglichen Zustand
»tabula
rasa«
aus,
mit
den
Erfahrungen,
die
durch
»sensation«
(die
äußere
Sinneswahrnehmung) und »reflection« (die innere Selbstwahrnehmung) abgeleitet werden.
Shaftesbury, auf dem die »Schule von Cambridge«, die anhand platonischer Lehre „zum
wichtigsten Vertreter der »rationalen Theologie«“
16
wurde, äußerst eingewirkt hatte,
konstruiert auf die Basis der Erfahrung eine andere Richtung: »moral sense«, die nachher
Hume und Adam Smith als dessen Anhänger finden wird. Ein Schritt mehr in den Mensch
selbst hinein geht er, und dort werden Vernunft und Leidenschaft nicht mehr gegen einander,
sondern in der „Möglichkeit, beides harmonisch miteinander zu vereinbaren“17 gesetzt. Von
dieser Idee soll ein deutscher Neologe erleuchtet werden. Zwar ist die Idee Shaftesburys für
10
S. Einleitung.
WOLFF, Discursus praeliminaris de philosophia in genere, Historisch-kritische Ausgabe, 2006. 33.
12
ARISTOTELES, Politik, 1253a.
13
HOBBES, THOMAS: Leviathan XIII-XIV, Oxford 1996 (1651). 82-95.
14
Ibid. XVIII 16. 120f.
15
LOCKE, Two Treatises of Government, Book 2 II. 269.
16
CASSIRER, ERNST: Die Platonische Renaissance in England und die Schule von Cambridge, in: Individuum
und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, Gesammelte Werke. Hamburger Ausg. Bd.14, 2002. 221-380.
hier 225.
17
STOLLBERG-RILINGER, Europa in Jahrhundert der Aufklärung, Stuttgart 2000. 176.
11
7
das traditionelle Christentum unakzeptabel18, aber für Spalding, den jungen Neologen19, ist
»moral sense« ebenso glaubwürdig. Er, sowohl “der kämpferische Anwalt der Wolffschen
Philosophie”20 als auch „der erfolgreiche Herold von Shaftesburys Philosophie“21, wird nun
seine eigene Menschen- und Weltanschauung errichten. Daraus ergibt sich 1748, drei Jahre
nach der Veröffentlichung seiner Übersetzung von Shaftesburys The Moralist 22 , seine
Betrachtung über die Bestimmung des Menschen, die „Symbiose von Leibniz-Wollfschen
Elementen einerseits und Grundauffassungen Shaftesburys andererseits“ 23 . Anders als die
Fragestellung »Was ist der Mensch?«, bedeutet die Frage nach seine Bestimmung als
Existenzfrage24. Es geht jetzt nicht mehr um Erkenntnis, sondern vielmehr um Bewußtsein25.
Das ist dann ein Versuch von dem »Ich«, daß das »Ich« sich selbst als Objekt subjektiv
überprüft. Diese Broschüre mit 26 Seiten wird bald populär und bis 1794 mehr als 10mal
aufgelegt 26. Die Grundstimme lautet etwa: der Mensch, nicht der Schöpfer Gott, kann die
Moral zeigen und sogar seine Bestimmung erklären, und dadurch findet er Gott und Glauben
daran. Es gibt also zuerst die Moral und dann als dessen Folge Glauben, nicht umgekehrt.
18
SHAFTESBURY, ANTHONY ASHLEY COOPER, 3rd EARL OF: Die Sitten-lehrer oder Erzehlung
philosophischer Gespräche, welche die Natur und die Tugend betreffen, translated by SPALDING, JOHANN
JOACHIM, The Reception of British Aesthetics in Germany 1st Vol., Bristol 2001. xvii-xiii. “Shaftesbury was
very critical of traditional theology. Thus he was almost infamous for his alleged deism”.
19
Andere Vertreter der Neologie und ihre Werke: u.a. THOMAS BURNETT (1635-1715): Archaeologiae
philosophicae, 1692: Bei ihm sei fast alle Probleme der modernen Debatte um ‚Entmythologisierung’ und
‚Interpretation’ biblischer Texte und vor allem die Fragen der Neologie des 18. Jahrhunderts ausdrücklich oder
kernhaft vorweggenommen. JOHANN FRIEDRICH WILHELM JERUSALEM (1709-1789): Betrachtungen
über die vornehmsten Wahrheiten der Religion, 1768-1779 (unvollendet): Er betrachte den „in Schichten
aufgelösten Bibeltext und den Dogmenbestand historisch-kritisch, ohne zu zersetzen, rückte von Erbsünden- und
Satisfaktionslehre ab und setzte in der Dogmenbildung die Einwirkung der heidnischen Antike voraus“.
JOHANN AUGUST ERNESTI (1707-1781): Verteidigung des Willkürlichen in der Religion, 1765: Aus der
Spannung zwischen der ‚als Wirklichkeitserhellung bedeutende Heilige Schrift’ und der ‚Unrationalisierbarkeit
der Gottes- und Glaubenswirklichkeit’ wachse ihm die Möglichkeit zu, auf seine Weise für die ‚zufälligen
Geschichtswahrheiten’ gegen die ‚notwendigen Vernunftwahrheiten’ einzutreten. Er wende sich besonders
gegen die offenen und geheimen Deisten, die nachweisen möchten, daß das Christentum eine rein rationale
Sache ist. JOHANN SALOMO SEMLER (1725-1791): Abhandlung von freier Untersuchung des Kanon, 177175: Seine starke Abneigung gegen Altes Testament und Judentum verbinde ihn mit manchen Deisten und ihrer
Neigung, alles in Religion als relativ zu betrachten und persönlich abzuwerfen, was über die Maxime GottTugend-Unsterblichkeit hinausgeht. Vgl. PHILIPP, WOLFGANG hrsg.: Das Zeitalter der Aufklärung, Bremen
1963, LXXIII-LXXX (‚Die Welt der Neologie’ in ‚Einleitung’), 123-181 (‚Die Bewegung der Neologie’).
PHILIPP schreibt übrigens, daß man SPALDING als „den König der Neologen“ bezeichnen könne.
20
SCHWAIGER, CLEMENS: Zur Frage nach den Quellen von Spaldings Bestimmung des Menschen. Ein
ungelöstes Rätsel der Aufklärungsforschung, in: HINSKE (Hg.): Bestimmung, 9. Paragraphtitel.
21
SCHWAIGER, op. cit., 10. Paragraphtitel.
22
SHAFTESBURY: The Moralist, A Philosophical Rhapsody, Being a Recital of Certain Conversations upon
Natural and Moral Subjects, London 1709. Übersetzt ins Deutsch von SPALDING: Die Sitten-Lehrer oder
Erzehlung philosophischer Gespräche, welche die Natur und die Tugend betreffen. Berlin 1745.
23
SCHWAIGER, op. cit., 17. Schwaiger sagt weiter: „Spaldings anthropologischer Klassiker von 1748 ist das
vielleicht schlagendste Beispiel für diese Quasi-Unmöglichkeit einer reinlichen Scheidung beider Anteile.
Dennoch kann hier als Ergebnis festgehalten werden, daß die literarisch-philosophische Grundidee und der erste,
mehr ethische Teil der Abhandlung am stärksten von Shaftesbury geprägt sind, während die zweite, ausdrücklich
religiöse Hälfte eher auf der Leibniz-Wolffschen Traditionslinie aufruht“. Ibid.
24
BRANDT, REINHARD: Die Bestimmung des Menschen bei Kant, Hamburg 2007. 13.
25
BRANDT, op. cit., 24.
26
Vgl. SPALDING, Kritische Ausgabe XXV.
8
Gleich nach dem siebten Auflage im 1763 erschienen zwei Schriften: Zweifeln über die
Bestimmung des Menschen von Thomas Abbt und Orakel, die Bestimmung des Menschen
betreffend von Moses Mendelssohn. Jener kritisiert Spalding scharf mit der Meinung, daß nur
die „Offenbarung“27 uns darüber belehren kann. Für Abbt gilt unbedingt: „Zuerst anbeten!
Und dann wohl tun!“ 28 : Erst Glauben und dann Moral. Das wird aber bis Ende des
Jahrhunderts eben durch die zeitgenössischen Theologenüberholt. Ein wichtiges Beispiel
dafür ist Johann August Nösselt (1734-1807) und seine Anweisung zur Bildung angehender
Theologen (1791). In der Synthese von Verwirklichung der Glückseligkeit und Tugend bildet
er die menschliche Annäherung an die Religion. Daß diese Verwirklichung nur durch
Religion erlangt werden kann, zeigt die Religion als eine der vortrefflichen Angelegenheiten
des Menschen, wo die Vollendung der Menschenbestimmung stattfindet29.
Mendelssohn, gegen Abbt, akzeptiert Spaldings Idee und versucht, sie weiterzuentwickeln.
„Die eigentliche Bestimmung des Menschen“ ist ihm zufolge die “Ausbildung der
Seelenfähigkeit nach göttlichen Absichten; denn hierauf zielen alle seine Verrichtungen auf
Erden“30. Im Vergleich zu seiner Ansicht, daß es die Bestimmung des einzelnen Individuums
geben soll, zeigt Kant 1784 in seiner Idee zu einer allgemeinen Geschichte in
weltbürgerlicher Absicht die Bestimmung des »Menschengeschlechts« vor. Der Mensch ist
bestimmt, „sich einmal vollständig und zweckmäßig auszuwickeln“ 31 ; das kann nur in der
27
Zitat aus ABBT: Zweifel über die Bestimmung des Menschen. In: CIAFARDONE, op. cit., 80-89.
Ibid. 88.
29
D’ALEDDANDRO, op. cit., 24-33. Andere Beispiele: JACOB CHRISTOPH RUDOLPH ECKERMANN
(1754-1837) und seine Theologische Beyträge (1794), Ueber das Verhältniß sinnlicher und vernünftiger
Religion zum Staate und zur Bestimmung des Menschen (1794). Er strebt nach einer Harmonisierung zwischen
Vernunft und vernünftigem Glauben an Gott als das oberste moralische Wesen. Die Erreichung der persönlichen
Bestimmung und des entsprechenden Maßes von Glückseligkeit könne nur in der gesellschaftlichen Dimension,
nämlich in der Erfüllung unsrer Pflichten, im Gehorsam gegen die Gesetze, in der sozialen Selbstzufriedenheit,
gelingen. Die Bestimmung jedes Menschen als Bürger ist also seine Pflichterfüllung in der Gesellschaft. Die
Bestimmung jedes Menschen als Menschen dagegen ist die Bestimmung zur Sittlichkeit, dadurch strebt man
immer nach der größtmöglichen Vollkommenheit und Glückseligkeit. Wobei ist zunächst die richtige Erkenntnis
und würdige Verehrung Gottes gefordert, und damit kann man eine gewisse Aussicht auf seine Bestimmung für
ein ewiges Leben erkennen. In dieser Ewigkeit (Unendlichkeit), wo man nicht mehr vor dem Tod zittern soll,
können Vollkommenheit und Glückseligkeit stets und unendlich erhöht werden. JOHANN WILHELM
SCHMID (1744-1798) stellt in seiner Christliche Moral (1797) die Bestimmung des Menschen als Zweck bzw.
die Grundlegung der Moral und der Sittenlehre dar. Die Bestimmung des Menschen ist für ihn nicht eine äußere
Bestimmung in der Sinnenwelt, sondern eine innere moralische Bestimmung, die allein von Vernunft und
Freiheit abhängt und von einer wissenschaftlichen Anweisung (z.B. Moral und Sittenlehre) geholfen wird.
FRANZ VOLKMAR REINHARD (1753-1812) betrachtet in System der christlichen Moral (1788) die
Bestimmung des Menschen als eine höchstmögliche Vollkommenheit des Menschen. Auf diese Betrachtung
errichtet er sein System der christlichen Moral. Er sieht die Bestimmung des Menschen in der Überwindung des
bloßen Mechanismus der natürlichen Welt durch menschliche Vernunft und Freiheit sowie in der Sehnsucht
nach der Ähnlichkeit mit Gott. Und vice versa; d.h. weil der Mensch die Unzufriedenheit mit natürlichem
Mechanismus und Sehnsuche nach Gott hat, muss der Mensch bestimmt sein, zu versuchen, auch nach dem Tod,
unaufhörlich zu neuen Graden der Weisheit und Tugend emporzusteigen.
30
Zitat aus MENDELSSOHN: Orakel, die Bestimmung des Menschen betreffend. In: CIAFARDONE 90-95.
besonders 91.
31
KANT, IMMANUEL: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, Hamburg 1999. 4.
28
9
Gattung, nicht im Individuum, realisieren, weil man nicht unsterblich ist, während die
„Gattung aber unsterblich ist“ 32 . Durch die Annährung zur idealistischen menschlichen
Zustand, mithilfe der „richtigen Begriffe von der Natur einer möglichen Verfassung [einer
„vollkommenen gerechten bürgerlichen Verfassung“33: Tasaki]“, „Erfahrenheit“ und „gutes
Will“ 34 , erreichen die Menschen an einen „weltbürgerlichen Zustand der öffentlichen
Staatssicherheit“ 35 . Hier sieht man dann einen philosophischen Chiliasmus, der „nichts
weniger als schwärmerisch“ 36 ist. Es geht nicht mehr (nur) um religiösen, auf Jenseits
gerichteten, Glauben, sondern um die „heiligen Rechte der Menschheit“37.
In dem Versuch, Kantsche und Mendelssohnsche Idee zu versöhnen, stellt Karl Heimrich
Ludwig Pöltz (1772-1838) in Moralisches Handbuch (1794) die Menschenbestimmung auf
den Gipfel des Aufklärungsprozesses. Aufklärung sei die einzige mögliche Bestimmung des
Menschen auf der Erde. Zu einem vollkommeneren Zustand des Menschen kann man nur
durch die Harmonie zwischen Tugend und Glückseligkeit erreichen, wobei besteht die
Vernunft als Mittel für diesen Endzweck, der in der bürgerlichen Gesellschaft erreicht werden
kann38. Ähnlich wie Pöltz, jedoch mit mehr Akzentsetzung an Moralität und mit konkreterer
Ansicht, weist Dietrich Hermann Hegewisch (1740-1812) in Ueber die Wahrscheinlichkeit
eines künftiger vollkommnen Zustandes der Menschheit (1795), daß die einzig mögliche
wahre Vollkommenheit für das Menschengeschlecht in dem Grad von Moralität besteht. Er
sieht die Möglichkeit sowie die Notwendigkeit der Verwirklichung der Bestimmung des
Menschen nicht im überirdischen Leben, sondern lediglich im irdischen Leben. Für ihn spielt
deswegen die Moralität als die praktische Hauptbedingung des vollkommnen Zustandes der
Menschheit39.
Findet die Religion jetzt keinen Platz mehr? Doch. Aber die Religion erfährt auch den
Bedeutungswandel.
Immanuel
Berger
(1773-1803)
hat
in
Aphorismen
zu
einer
Wissenschaftslehre der Religion (1796) versucht, Kantsche praktische Philosophie mit der
Fichteschen Philosophie in einer geschichtsphilosophischen bzw. menschheitsgeschichtlichen
Dimension zu verbinden. Als Zweck der Religion stellt er die Frage nach der Erziehung des
Menschengeschlechts, nach der Vervollkommnung der Naturanlagen des Menschen, nach der
moralischen Verbesserung der Menschheit, also die Frage nach der Perfektibilität des
32
Ibid. 7.
Ibid. 9.
34
Ibid. 11.
35
Ibid. 13.
36
Ibid. 14
37
KANT: Was ist Aufklärung?. Hamburg 1999. 25.
38
D’ALESSANDRO.op. cit., 36-40.
39
Ibid. 40f.
33
10
Menschen. So sieht seine Idee der Bestimmung des Menschen als die „Einheit des
Vielfältigen in dem Ich“. Und hier taucht die Notwendigkeit der Voraussetzung der
Aufhebung des Widerspruchs zwischen der Bestimmung des Menschen durch sich selbst und
durch die Dinge außer ihm auf. Wenn man sich selbst bestimmen soll, dann muss man die
menschliche Freiheit annehmen. Die Vervollkommnung der Menschheit stützt sich also auf
innere Harmonie der menschlichen Geistesvermögen, die von einer subjektiven moralischen
Vernunftreligion begleitet werden kann 40 . So wird die Bestimmungsfrage von dem reinen
theologischen Diskurs befreit und erneut in dem eher philosophischen anthropologischen
Diskurs, in dem praktischen moralischen sowie rechtlichen Kontext, gesetzt.
An der Wende des Jahrhunderts, als Fichtes Bestimmung des Menschen publiziert wurde,
erschien das Werk des Johann Gottfried Grubers (1774-1851): Ueber die Bestimmung des
Menschen. Für das gebildete Publikum (1800). Seiner Absicht war die Harmonisierung der
verschiedenen Standpunkte über die menschliche Bestimmung. Er habe dieses Werk für ein
größeres gemischteres Publikum geschrieben und seine Betonung liegt auf der Erziehung und
der Bildung des Menschen. Der Mensch sei ein vernünftiges, denkendes und geselliges
Wesen, so daß Vernunft, Geselligkeit und Sprache sein Leben bestimmen. Als Verteidiger der
Kantschen
Geschichtsphilosophie
und
der
Gegner
der
Mendelssohnschen
Geschichtsphilosophie zeigt Gruber seine Menschenbestimmung mit Kantschen Pflichtethik
und Fichteschen Ideen der menschlichen Freiheit. In der Pflichterfüllung, so Gruber, bestehe
die eigentliche Bestimmung des Menschen41. In die gleiche Richtung stellt Friedrich August
Carus (1770-1807) in seinen Ideen zur Geschichte der Menschheit (1809) die Bestimmung
des Menschen als Veredelung der bloß sinnlichen Menschlichkeit zur vernünftigen
Menschlichkeit durch Freiheit dar. Nun wendet sich diese Bestimmung gewiss nicht nur an
den Einzelnen, sondern mehr an die Menschengattung42, indem Friedrich Rühs (1779-1820)
in Entwurf einer Propädeutik des historischen Studiums (1811) niederschreibt, daß nur der
Einzelne sich dem Ideal der Vollkommenheit nähern und seine Bestimmung realisieren kann,
weil die Natur sowie Menschengeschlecht keinen andern Zweck, als sich selbst, haben43.
Diese letzte Wendung zeigt die erstaunlich lange Nachwirkung der Perspektive von
Mendelssohn und Kant auf die Bestimmung des Menschen. Zwar wurden die ursprüngliche
Gedanken Spaldings inzwischen umgestaltet von der theologischen Orientierung in die
philosophische und geschichtliche Orientierung, blieb aber noch die ursprüngliche
40
Ibid. 34-36.
Ibid. 42-45.
42
Ibid. 45.
43
Ibid. 45f.
41
11
Orientierung und die hat sich sogar durch die Verknüpfung mit der beruflichen, sozialen und
politischen Dimension der Menschenbestimmung in der Form von der Pflichterfüllung und
darauf ziehender Erziehung/Bildung weiterentwickelt.
Um einen näheren Blick in diesem Kontext zu werfen, möchte ich nun auf drei Autoren
konzentrieren: Spalding als der Ausgangpunkt, Kant als der Entwickler und Fichte als der
Abschluss oder der Weiterentwickler.
3. Die Bestimmung des Menschen - Textanalysen -
3.1. Johann Joachim Spalding
Im Jahr 1748 kam die Schrift von Spalding mit dem Titel Betrachtung über die Bestimmung
des Menschen in die Welt44, sie heißt ab die Auflage vom 1763 gekürzt Die Bestimmung des
Menschen45.
Im Folgenden wird diese Schrift von Spalding zusammengefasst. Ich beziehe mich hier
besonders auf die Textedition aus der Zeitschrift Aufklärung vom 1999, die sich dem Thema
Die Bestimmung des Menschen widmet46. Denn in dieser Textedition ist die Auflage vom
1768 mit der ersten Auflage vom 1748 verglichen und deshalb ist es praktisch, um sowohl die
Änderung und Nicht-Änderung zwischen den beiden Texten als auch die neue Ergänzung zu
erkennen. Dadurch, denke ich, kommt man zum Denkweg des Autors näher und kann ihn
auch besser verfolgen. Die berühmte Debatte zwischen Thomas Abbt und Moses
Mendelssohn wurde zwar von der Auflage vom 1763 veranlasst, aber hier wird diese Auflage
nicht behandelt, weil es kaum den inhaltlichen sowie stilistischen Unterschied zwischen den
beiden Auflagen vom 1763 und 1768 gibt 47 . Die große Änderung, oder besser gesagt die
große Ergänzung kommt erst in der letzten Auflage vom 1794, wo im Vergleich zu den
bisherigen Auflagen viel konkreter, speziell mithilfe des Begriffs des Rechts, beschrieben
44 1
1748; 21748; 31749; 41752; 51754; 61759. s. SPALDING, JOHANN JOACHIM: Die Bestimmung des
Menschen, Kritische Ausgabe (im Folgenden wird als KA bezeichnet) I/1, hrsg. v. BEUTEL, ALBRECHT u.a.,
Tübingen 2006. X-XI.
45 7
1763; 81764; 91768; 101774; 111794. Ibid.
46
Textedition (im Folgenden wird als TE bezeichnet) : SPALDING, JOHANN JOACHIM: Die Bestimmung des
Menschen. 69-95. In: HINSKE (Hg.): Bestimmung. 69-95.
47
Vgl. KA.
12
wird 48 . Darauf möchte ich separat in den Anmerkungen oder nach der Zusammenfassung
eingehen.
In der „Einleitung“ stellt Spalding den Ausgangspunkt und den groben Überblick über die
Struktur dieser Schrift dar. Der Ausgangspunkt sind die Fragen: »Warum bin ich da?« und
»Was soll ich vernünftiger Weise sein?«. Um das zu forschen, ist es in dieser Schrift
beabsichtigt, rein der inneren Bewegung des Denkens eines Menschen, bzw. von »mir«,
zuzuhören und dann daraus ein „System des Lebens“49 klarzustellen, bei dem sich der Mensch
immer fest halten kann. Weil es hier hauptsächlich nicht um die Menschen im allgemein,
sondern um das »Ich« geht, benötige das »Ich« erstens nur sich selbst, und zweitens „der
bloßen einfältigen Natur“ 50 zuzuhören, damit er nicht „in philosophische Labyrinthe“ 51
verleitet wird.
Was heißt hier aber dieses »Ich«? Spalding definiert ihn folgendermaßen: Das »Ich«, das im
Folgenden spricht, ist der Mensch, der „seiner ersten Erziehung die gewöhnlichen Grundsätze
der Sittlichkeit und Religion zu danken gehabt“ 52 hat. Es handelt sich also nicht um
denjenigen, der von dem menschlichen gemeinschaftlichen/gesellschaftlichen Leben ganz
entfernt ist, sondern denjenigen, der in der „gewöhnlichen“ menschlichen Umgebung
aufgewachsen ist53. In der Zeit der „Unschuld seiner angehenden Jünglingsjahre“ könnte ihm
zunächst so scheinen, „das eigennützige Vergnügen“ ist das „ganze Zweck des Lebens“, weil
er noch in der „Sinnlichkeit“, in dem Vergnügen der Sinne, gefangen ist54. Nach solcher Zeit
werde er allmählich die „Menschen und Schriften“55 kennenlernen, und dadurch empfindet er
nicht nur das „Vergnügen des Geistes“, sondern auch die „Tugend“. Mitten im Vergnügen
des Geistes und der Tugend fühle er aber durch die Selbstreflexion auch viele Zweifel, „die
ihn, wie in einem stürmischen Meere, herumwerfen, weil er nicht weiß, was er sich zu seinem
Ziele setzen soll“56. Er sucht weiter nach seinen Grund, worin er sich verwurzelt sein kann,
sonst verliert er sich selbst in dem Meer der wirklichen Welt. Dabei können ihm nicht die
48
SPALDING, JOHANN J.: Die Bestimmung des Menschen: die Erstausgabe 1748 und die letzte Auflage von
1794, hrsg. von WOLFGANG ERICH MÜLLER (im Folgenden wird als MÜ bezeichnet). Waltrop
(Theologische Studien-Texte; Bd.1) 1997. 25-93.
49
TE 71.
50
Ibid. Nach der Textedition wird neuer Text bzw. in der Auflage vom 1768 eingefügter Text kursiv, und
ersetzter oder getilgter (aus der Auflage vom 1748) Text in < > geschrieben.
51
TE 72.
52
TE 70.
53
Abbt nennt diesen Mann als der „nachdenkende, ausgebildete Mensch“ im Gegensatz zu der „Wilden“. Ihm
zufolge passt diese Schrift schon gerade daher „keineswegs auf die ungeheure Menge von Menschen“. s.
CIAFARDONE op.cit., 80.
54
TE 70.
55
Ibid.
56
TE 71.
13
„bequeme
Philosophie“
bzw.
die
„Sophistereyen
des
Unglaubens
und
der
Gesetzlosigkeit“ helfen57. Er braucht vielmehr ein „System des Lebens, bey sich feste zu setzen,
woran er sich zu allen Zeiten halten könne“58. Das ist das Thema zu klären in den dritt- und
zweitletzten
Kapiteln
„Religion“
und
„Unsterblichkeit“,
bevor
wir
„Schlußgedanken“ erreichen.
Nun fange »Ich« an, in mich hinein zu gehen. Was ich dort gleich fühle, ist, auch meiner
Erfahrung nach, das Vergnügen der Sinne. Das wirkt mit einem „gewaltigen Reize“ auf mich
und hat eine gewisse Stärke an sich, die als „etwas wildes und übertäubendes“ bezeichnet
werden kann, und deshalb beruhigt meine Seele nicht 59 . Zwar kann ich scheinbar solches
Vergnügen der Sinne eine Weile so genießen, daß ich mithilfe meiner Vernunft mich von der
„üblen <schlimmen> Früchte“60 des sinnlichen Vergnügens sicher entferne. Aber, früher oder
später, fühle ich mich, daß es hier etwas fehlt und daß die „angenehme Bewegung meiner
Sinne nicht meine ganze Seele ausfüllet“61: Ich werde unzufrieden… „Ich Unglückseliger“62!
Ich soll nun „eine Befriedigung von ganz anderer Art“63 als Sinnlichkeit suchen.
Eigentlich merke ich schon unter den sinnlichen Vergnügungen eine „Art von höherer und
edlerer Lust“, m. a. W. das „Vergnügen des Geistes“ 64. Aufzuklären ist jetzt die „eigentliche
Quelle dieser besseren Lust“65. Denke ich daran, womit „mein Geist“ aufgelegt und wie er
eingerichtet ist, werde ich die Quelle als eine „Empfindung der Ordnung, der Harmonie, der
Proportion, des Neuen und Größen, und alles dessen, was Schönheit und Vollkommenheit“66
beschreiben. Sie erhalte ich von der Natur und sie ist ja die „erste Stuffe, die mich, in
Ansehung des Vergnügens, über das vernunftlose Leben erhebt“ 67. In diesem „ganz neuen
Schauplatz der Lust“ erweitert sich das Vergnügen des Geistes mit einem jeden „Wachsthume
meiner Einsichten und Kenntnisse“ und das gibt mir „viel reinere Entzückungen, als das, was
57
Ibid.
Ibid.
59
TE 72. s. Anm.50.
60
TE 73.
61
TE 74. Dieser Satz fehlt im 111794. Stattdessen kommt ein konkretes Beispiel dazu: s. Anm. 62.
62
Ibid. Im 111794 nenne Ich mich nicht mehr „Unglückseliger“, sondern „Rätselhafter“, „Unvergnügsamer“ (MÜ 41). Als ein Beispiel dazu wird „Ehrsucht“ (Ibid.) genannt, die nicht mit dem innerlichen, sondern nur
mit dem äußeren zu tun hat. Das ist die „Fantasie“ (Ibid.), die mir auf den ersten Blick auch eine weitere
Ausdehnung zu geben scheint, aber ich werde dadrin nur „lauter Leeres“ (Ibid.) finden. Denn die Fantasie wirkt
„nicht in dem wirklichen Gefühl, glücklich zu sein, sondern - in dem bloßen Gedanken, von andern für glücklich
gehalten zu werden“ (MÜ 42). Deshalb täuscht die Fantasie genauso wie die „mit ihr verschwisterte“ (Ibid.)
Sinnlichkeit.
63
Ibid.
64
Ibid.
65
Ibid.
66
Ibid.
67
Ibid.
58
14
ich vorhin, in der Knechtschaft des körperlichen Gefühls, das einzige und größte Vergnügen
des Lebens nannte“ 68. Ich vermehre damit die „Summe der wahren Lust in meinem Leben“ 69.
„Das ist alles meiner Natur gemäß, aber es ist noch nicht genug“ 70. Ich bin noch nicht ganz
zufrieden, denn ich sehe „andere Wesen“ um mich, und ich frage mich, wozu sie da sind.
Wenn sie nicht um meinet willen da sind, sind sie für anderen Zweck als meinen Zweck da?
Wenn ja, dann muss es ein „anderes Verhältniß“ zwischen mir und ihnen geben, und mein
Eigennutz als mein Zweck wird vor allem in Frage gestellt. Ich muss eine „andere natürliche
Begierde“ in meiner Seele haben, als das “Streben nach meiner eigenen Vollkommenheit“ 71.
„Ich gehe hiebey von neuem in mich selbst“ 72. Dieses Mal finde ich in mir eine „wirkliche
Sympathie mit fremden Empfindungen“, die besagt, „daß ich nicht zweifeln darf, meine Natur
sey eigentlich zur theilnehmenden Geselligkeit aufgelegt und bestimmt“
73
. Durch die
„Verflechtung meiner Empfindungen mit anderer“ wird es mir klar, nicht nur das Vergnügen
meines Geistes, sondern auch ein „fremdes und allgemeineres Wohl“ ebenfalls mein Zweck
sein muß74.
Ich lebe in einer Familie; ich genieße die Glückseligkeiten der nähern zärtlichen
Freundschaft, welche durch die rührenden Namen von Ehegatten, von Aeltern und
Kindern, von Anverwandten und Hausgenossen bezeichnet werden; […] Ich leide
mit ihnen; aber ich freue mich auch mit ihnen; und selbst in jenem
gemeinschaftlichen Leiden ist etwas Süßes, weil die Liebe, diese an sich so sanfte
erquickende Regung, es gemeinschaftlich macht75.
Durch diese Familienanalogie fällt mir ein, daß ich den Umfang meiner Verbindung zu
anderen erweitern kann, weil ich gewissen Anteil auch an den mannigfaltigen Guten habe, die
„aus der Vereinigung zu einem gemeinen Wesen, aus bürgerlichen Gesetzen und
68
Ibid. Im 111794 ist die Methode, die meine neue Erkenntnisse einführt, ausdrücklich als „Beobachtung und
Scharfsinn“ (MÜ 46) genannt, wodurch man nicht nur „aus einzelnen Erscheinungen den allgemeineren
Gesetzen ihrer Veränderungen auf die Spur“, sondern auch zur„Verdelung und Erhöhung seines
Wesens“ gekommen ist (MÜ 46). Dadurch bekomme ich Begriffe, statt „Wörter, die für mich keinen Sinn
hatten“ (Ibid.), und zerbreche ich die „Fesseln, mit welchem Vorurteile des Altertums oder des Ansehens mich
gebunden hielten“ (MÜ 47). Ich weiß dann die „eigentümlichen Gründen“, was ich für wahr halten soll, sowie
den „hohen Wert meiner Vernunft“, der „herrlichsten Mitgabe meiner Natur“ (Ibid), die zu bestimmen vermag,
was für sie erkennbar ist.
69
TE 75.
70
Ibid.
71
Ibid.
72
Ibid. Im 111794 ist zugefügt, daß es aus „Beobachtung meines innern Bewußtseins und Gefühls“ und
„Erfahrung“ (MÜ 49) abgeleitet wird.
73
TE 76.
74
Ibid.
75
Ibid.
15
Verfassungen, aus den Diensten des einen gegen den andern, aus der Mittheilung und dem
Tausche von Arbeiten und Vortheilen, von Schutz und Unterwürfigkeit“ 76 entspringen. Das
weist deutlich darauf hin, daß solche Entwicklung von mir, die nach Vollkommenheit zu
streben versucht, „nie ohne Gesellschaft und Umgang“ 77 realisierbar ist. Ich muß daher
„nothwendig“ den gesellschaftlichen Zustand lieben, der meinem Dasein einen „neuen und so
viel wichtigern Grad von Würdigkeit“
78
gibt. Und „hier wirkt als unstreitig Lust und
Bedürfniß zusammen, um das Band der Geselligkeit so viel fester zu knüpfen“ 79 und um mir
die Tugend in solchem Zusammenhang zu zeigen. Ich kann nicht alleine zur Vollkommenheit
erreichen. Dafür benötige ich die andere fremde Wesen und die „angenehme
Vereinigung“ zwischen uns, in der „sie gewinnen durch mich, so ich durch sie“ 80. So werde
ich hier zufrieden. Auch wenn mein Anblick temporal verdunkelt wird, kann ich mich
mithilfe meiner „frey urtheilenden Vernunft“ von meinem engherzigen Eigennutz befreien
und die Wahrheit erblicken: „Ich sehe, was recht ist, und was seyn soll“ 81.
Was ich hier erblicke, ist eine „Quelle der Handlungen“82 in mir. Sie ist „Empfindungen der
Güte und der Ordnung“83. Wesentlich unterscheidet sie sich von meiner „Eigenliebe“ und
gehört doch eben so wesentlich zu meiner „Natur“
„ursprüngliche Einrichtung“
85
84
. In diesem Sinne ist sie meine
und daher ein „Gesetz<geber>“ in mir, der mir „Gerechtigkeit
gegen alle Menschen, Aufrichtigkeit in meinem ganzen Verhalten, Dankbarkeit gegen
Vaterland und Wohlthäter, Großmuth gegen Feinde selbst, und eine in dem weitläuftigsten
Verstande allgemeine Liebe“ gibt, in dem die „Gesundheit und die Zierde meines
Geistes“ besteht 86 . Auf diese Weise erkenne ich die „Grundregeln <ewigen Regeln> des
Rechts und der moralischen Ordnung“87.
76
Ibid.
TE 77.
78
Ibid.
79
Ibid.
80
Ibid. Im 11748 kreist es noch um „meinen bloßen Willen“ und ahnt, daß diese natürliche Empfindung von
Anfang an durch die „betäubende Macht der Sinnlichkeit, die mich so gleich in der Welt von allen Seiten
umringet und bestürmet hat, unterdrückt worden“ ist (TE 79), während im 111794 ein neuer Aspekt gezeigt wird.
Das ist „der Begriff vom Recht, vom Sollen in den Gesinnungen und Handlungen verständiger, freitätiger
Wesen“ (MÜ 54), das „wesentlich in der vernünftigen menschlichen Natur gegründete Sittengesetz“ (MÜ 55)
erdacht ist.
81
TE 78.
82
TE 79.
83
Ibid.
84
Ibid.
85
TE 80.
86
Ibid.
87
TE 81. Daraus ergibt sich noch eine Überlegung im 111794: „ein guter Mensch zu sein“ (MÜ 58). Was heißt,
unter die „Grundregeln des Rechts und der moralischen Ordnung“, ein guter Mensch zu sein? Überschreitet man
irgendwann die Grenze eines schlechten Menschen und wird ein guter Mensch? Oder gibt es keine solche
Grenze und wird man stufenweise, nach und nach, von einem schlechten bis zu einem guten Mensch? Es scheint
aber, daß es keine solche „Zweideutigkeit“ (Ibid.) gibt. Denn es geht nicht einfach um Zustand (schlecht-sein
77
16
Auf diese Weise habe ich „ueberall Ordnung, Verhältniß, Richtigkeit, Vollkommenheit zu
finden und zu lieben“88 und hierdurch „ich thue das, was ich thun soll; ich bin das, was ich
seyn soll“ 89 . Aber „ich verliere mich mit der innigsten Lust in die Erwägung dieser
allgemeinen Schönheit, davon ich selbst ein nicht verunstaltender Theil zu seyn trachte“90.
Denn es ist mir noch unklar, wie dies alles gewisse Realität haben kann. Es scheint mir bisher
nicht ganz wirklich zu sein. Wie kann ich mich das alles real fühlen? Wie wird das alles
wirklich?
Folge ich diesen bisherigen Gedanken weiter, erreiche ich einen „Begriff“, der mir die
„Vorstellung von einem Urbilde der Vollkommenheiten“ gibt91. Mit dieser Vorstellung kann
sich meine Seele bis zum „Unendlichen“ erweitert werden, und durch diese Vorstellung
empfinde ich die „Wirklichkeit dieses obersten Geistes“
92
. Dieser Begriff ist ja ein
„unendlicher Geist“ bzw. „mein Urheber“93. Von diesem Begriff bekomme ich, neben meiner
Sinnlichkeit, das „Gefühl der Seele von Zärtlichkeit und Menschenliebe“, und besonders das
„unendlich erhabene und erfreuliche Gefühl von dem Wohlgefallen der Gottheit“94. Das sind
die Gefühle, die sowohl dem Vergnügen des Geistes als auch der Tugend eine konkretere
Form geben. Vor allem finde ich diesen Begriff in mir, bleibt dieser Begriff also auch in mir.
Nun habe ich was Festes in mir, womit ich das Vergnügen des Geistes und die Tugend
feststellen kann. Daraus ergibt sich, daß ich mich durch diesen Begriff nicht mehr verliere,
solange ich zu diesem Begriff, also meinem Urheber, zu ernähren versuche. „Zu einer solchen
oder gut-sein), sondern um Bewegung bzw. Prozess („ein immer besserer Mensch zu werden“ MÜ61), wo man
immer „besser“ zu werden versucht. In diesem Prozess versuche ich stets besser zu werden. Habe ich
Schwierigkeit dabei, heißt nicht, daß mir Einsicht fehlt, sondern hier fehlt nur die Sittlichkeit, die ich noch zu
lernen habe. Die „Triebfeder“ davon ist die „Empfindung der Pflicht“ (MÜ 62) und ich empfinde das nur durch
meinen eigenen „freien Willen“ (Ibid.). „Ich will also ganz redlich und tätig, was ich soll. Es wird sich dann
ergeben, ob ich es kann; und ich hoffe es“ (MÜ 63). Zwar weiß ich einerseits, daß „mein ganzes Wesen mit jeder
ihm ursprünglich zugehörigen Fähigkeit nicht mein Werk ist“, aber andererseits sagt mir ein „aufmerksames
Nachdenken über das, was in mir selbst geschieht“ (MÜ 63), ganz anders; nämlich, daß ich etwas kann, wenn
ich will, und „ernstliche Versuche beweisen es mir durch die angenehmsten Erfolge“ (Ibid.). „Ich darf also, mit
aller Sicherheit und unter unfehlbarer Beistimmung meiner Vernunft, froh sein, daß ich mich mit diesem edlen
Vermögen der Freiheit und Tätigkeit meines Willens ausgestattet finde“ (Ibid.).
88
TE 82.
89
TE 81. Dank „lauter Recht, lauter guter Wille!“ ( Im 111794. MÜ 67).
90
TE 82. Im 111794 wird dieses Leer-Gefühl und ein weiteres wirkliches Ziel präziser dargestellt: „Aber eben
aus diesem für mich so einnehmenden Gedanken wird bei mir gemeiniglich weiter der Wunsch und eine gewisse
Sehnsucht, […] daß es damit etwas mehr als leerer Gedanke sein mögen; daß die Realität dieses hohen Ideals
sich irgendwo in einem wirklich daseienden Wesen finden möge, damit ich mich dann mit meiner ganzen
Empfindungskraft desto inniger an dies allumfassende Urbild des Guten an diese substantiierte moralische
Vollkommenheit anheften und so meinen Geist mit der edelsten entzückendsten Liebe sättigen könne“ (MÜ 67).
91
TE 82.
92
Ibid.
93
Ibid.
94
TE 83.
17
Hoheit bin ich bestimmt, und der will ich immer näher zu kommen suchen“95. Ich soll das nur
nicht aufhören.
Und „hierbei erkenne ich denn nun auch ungezweifelt, daß diese alles regierende Weisheit
<dieser alles regierende Verstand> keine andere Absicht haben könne, als daß alle Dinge in
ihrer Art und im Ganzen gut seyn mögen“96. Alle Gesetze sind dafür da und ich soll nur einer
„göttlichen Stimme“, der „Stimme der ewigen Wahrheit“, zuhören97, die mir sozusagen zu der
Existenz der Religion führt und sie belehrt, und merken lässt, daß ich sie benötige. Diese
Stimme ist „ewig und unveränderlich“, wie die Gottheit selbst98. Ich erschrecke nicht mehr
über meine Kleinheit in der „unermesslichen Natur“ und gegen die noch „unermesslichere
Gottheit“ 99 . Vielmehr denke ich, ich bin groß genug, wenn ich dem „Regierer des
Ganzen“ nicht missfalle 100 . Er ist der Geist, der über alles wacht. „In seiner Hand allein
stehe<n> auch mein<e> Schicksal<e>“101.
Zwar in der Welt ist mir alles ein Räthsel. Ich sehe die Oberflächen der Dinge,
und ihre inneren Beschaffenheiten bleiben nicht allein meinem Auge, sondern
auch meinem Nachdenken unerforschlich. […] Alles verwirret mich; alles macht
mich ungewiß. Doch, was brauche ich mehr zu wissen, da ich meine Schuldigkeit
und die Oberherrschaft einer unendlichen Liebe mit einer ungezweifelten
Ueberzeugung erkenne? […] Ich will nur meinen großen Zweck nie aus dem
Gesichte verlieren, und mich dann mit einer unbewegten Sicherheit den
Führungen desjenigen überlassen, der alles nach seinem Willen lenket, und dessen
Wille immer gut ist. Von seiner Fürsicht geleitet, werde ich mitten durch die
fürchterlichsten Verwirrungen dieses Lebens glücklich hindurch gelangen, und
alle die Dunkelheiten, die mich vielleicht itzo umgeben und stutzig machen,
werden sich endlich einmal in Licht und Freude verwandeln102.
95
Ibid. Im 111794 wird diese „Hoheit“ vielmehr mit dem Aspekt des Rechts beschrieben. Zwar „dieses große
Bedürfnis [Woher und Warum zu wissen: Tasaki] meines Verstandes wird nur durch die Anerkennung eines
Wesens befriediget, das von und durch sich selbst besteht und in welchem sich alle Übrige gründet“ (MÜ 68),
aber „weiter bleibt mir auch das Innere seiner Natur durchaus unerforschlich“ (MÜ 69). Was ich weiß ist nur,
daß er, der Urheber meines ganzen Wesens, auch der Urheber der „Empfindung von Recht und Pflicht“ (Ibid.),
m. a. W. das „Urbild der Tugend“ (MÜ 70) ist. Es wäre dann die natürliche Folge davon, daß meine Tugendliebe
mit der Liebe zu Gott zusammenfliest, und „beide werden im Grunde eines und dasselbe“ (MÜ 70).
96
TE 83.
97
Ibid.
98
TE 84.
99
TE 83.
100
TE 84.
101
Ibid.
102
Ibid.
18
Nun komme ich zur letzten Frage: Wann ich diesen Zustand erreichen werde103. Es kommt
mir eigentlich so vor, daß der Tod einfach alles beendet. Oder, ist der Tod nicht das Ende der
allen Dingen?
Ich glaube, nach der ganzen Untersuchung, „es muß nothwendig ein besseres Verhältniß der
Dinge da seyn“104. Dieses soll ich jetzt auch außer dem „Bezirk dieses Lebens“ zu suchen
haben, sonst gerät es in eine „Art von Disharmonie“, die ein Fehler sein kann105. „Ich würde
also getrost noch eine entfernte Folge von Zeiten zu erwarten haben, welche die volle Ernte
von der gegenwärtigen Saat seyn, und, vermittelst einer allgemeinen richtigen Vergeltung, die
Weisheit rechtfertigen wird, welche das Ganze verwaltet“106. Ich soll auch für die Zukunft
etwas zu erwarten haben dürfen. Aus diesem Grund denke ich, daß ich das jetzige Leben,
nicht als den letzten entschiedenen Zustand des Menschen betrachte, sondern als einen
„Zustand der Erziehung, der Prüfung, und der Vorbereitung auf etwas weiteres“107 ansehe.
„So wird mir alles helle und von begreiflichem Zusammenhange“ 108. Außerdem „spüre“ 109
ich in mir die Fähigkeiten, ein Wachstum ins Unendliche bringen zu können. Ich kann nicht
nur von der physischen Sinnlichkeit, sondern auch von der zeitlichen Fußfessel dadurch
befreit werden, daß ich mich nicht als die bloße Summe der Glieder, die meine
„Werkzeuge“ ausmachen, sondern als „Eines“, das „in mir Vorstellungen hat, urtheilet, sich
entschließet“, betrachtet 110 . „Alles ist sonst an und neben mir in einem unaufhaltsamen
Flusse“ 111. Ich bin also ein „denkendes Wesen“, und habe die „Vorstellung und Empfindung
von einem mir zugehörigen, ausgedehnten, beweglichen Leibe“ 112. Ich soll nicht unbedingt
selbst dieser Leib sein. „Ich bin Eines, wenn gleich alles andere um mich noch so vielfach und
folglich noch so wechselnd ist“ 113. Als solche Einheit wird mir von der „innern Natur meines
Geistes“ nicht nur das „bloße Daseyn“, sondern auch das „wirkliche Leben in der Zukunft“,
die „wahre Thätigkeit“ 114 vorausgesagt.
Ich erkenne nunmehro, daß ich zu einer ganz andern Klasse von Dingen gehöre,
als diejenigen sind, die vor meinen Augen entstehen, sich verwandeln und
103
Ibid.
TE 85.
105
Ibid.
106
Ibid.
107
Ibid.
108
Ibid.
109
Ibid.
110
TE 86.
111
Ibid.
112
Ibid.
113
Ibid.
114
Ibid.
104
19
vergehen; und daß dieses sichtbare Leben bey weitem nicht den ganzen Zweck
meines Daseyns erschöpfe. Ich bin also für ein anderes Leben gemacht. Die
gegenwärtige Zeit ist nur der Anfang meiner Dauer; es ist meine erste Kindheit,
worin ich zu der Ewigkeit erzogen werde; Tage der Zubereitung, die mich zu
einem neuen und edlern Zustande geschickt machen sollen115.
Ich möchte aber auch lernen, das jetzige Leben „recht zu schätzen“ und mich gewöhnen, „die
Ewigkeit und das gegenwärtige Leben beständig als ein Ganzes zu betrachten“ 116 . Damit
werde ich meinem Leben eine „gewisse Festigkeit und Einförmigkeit“ geben, und kann
deshalb diese Tage der „Wanderung <Zeitlichkeit>“117 mit Zufriedenheit verbringen und mit
Freudigkeit endigen. Die Vorstellung vom Tod wird nicht mehr meine Ruhe und Freude
stören, weil ich jetzt weiß, daß der Tod meine Glückseligkeit sogar vermehren wird. In der
Glückseligkeit von mir als Einheit gewinne ich die Unsterblichkeit, in der ich zufrieden sein
und nach dem „großen Ziel“, „rechtschaffen und in der Rechtschaffenheit glückselig zu
seyn“ 118, streben werde.
Mein Gedankenweg ist hier zu Ende. Als Schlußgedanken möchte ich einen Rückblick
werfen auf den Weg, den ich ging 119 . Nach dem ich in mich hineinging und in mir dem
„Zwecke meines Lebens, dem Grunde meiner Glückseligkeit und dem letzten Ziele meiner
Wünsche“ nachforschte, fand ich „Dich“: Du bist „Vater und Herr der Welt, alles belebender
wohlthätiger Geist, in dessen Betrachtung meine Seele von Entzücken aufwallet“120. Ich prüfte
also zuerst mich selbst und fand die Sinnlichkeit, geistliches Vergnügen und anschließend die
Tugend. Daraus merkte ich die Notwendigkeit der Religion, der Existenz Gottes, womit ich
mich vom jetzigen Leben befreien und durch Unsterblichkeit, die mir durch Gott ermöglicht
ist, ins Unendliche führen kann. Es ist die Ehre meiner vernünftigen Natur, Deinem Willen zu
„gehorchen“121 und dadurch die „Würde meiner Natur“122 behaupten zu können
115
TE 87.
Ibid. Im 111794 wird betont, daß ich „diese einzige Empfänglichkeit zum Glücklichwerden“ in dem „großen
Gesetzt der Moralität“ gelernt habe (MÜ 86), und „demgemäß gehe ich also, für diese und jene Welt, den einen
geraden, gleichförmigen und sichern Pfad“ (Ibid.). Das sind die Begriffe, die mir den „einfachen
unzertrennlichen Zusammenhang dessen, was ich jetzt bin, mit dem, was ich einmal werden soll“ (MÜ 87)
zeigen.
117
TE 88.
118
Ibid.
119
Im 111794 wird hier wörtlich ausgedrückt, daß die ganze Schrift auf den „Grund der Lehre und der
Vorschriften des Christentums“ (MÜ 90f.) gebaut wird. Vom 31749 bis 101774 steht das im Anhang.
120
TE 88.
121
TE 89. Im 111794: „sich von dir leiten zu lassen“ (MÜ 93).
122
Ibid. Im 111794: „meine Menschenwürde“ (MÜ 93).
116
20
Leite mich mit Deinem Lichte, und laß mich gegen keine Aufklärung undankbar
und gleichgültig seyn, womit Du mir den Weg zu meiner Glückseligkeit zu
erleichtern und die Erlangung derselben zu versichern dienlich findest. Einmal
wird die Zeit seyn, wo alle Dunkelheiten sich zerstreuen; wo ich die seligen
Endzwecke Deiner Veranstaltungen unverhüllt erblicken, mich ganz Deiner freuen,
und meinen ununterbrochenen Preis mit den Lobgesängen der ganzen
verständigen Schöpfung vereinigen werde123.
------------
Man würde von einem Theologen erwarten, daß er die Untersuchung an der Bestimmung des
Menschen nicht mit dem Menschen selbst, sondern mit dem Gott anfangen würde. Spalding,
ein Vertreter der Neologie, der „Aufklärungstheologie“124, beginnt hier diese Untersuchung
mit dem »Ich« selbst. Der Mensch erkennt zuerst das Vergnügen der Sinne an, aber er
wünscht ihm gleich vielmehr die Ordnung oder die Harmonie. Weiter nach etwas Höheres
und Edleres in sich suchend, findet er das Vergnügen des Geistes, mit dem er wahre Lust in
seinem Leben erwerben und sich an seine eigene Vollkommenheit nähern kann. Das
Vergnügen des Geistes lehrt ihn aber, daß die eigennützige Vollkommenheit im Bezug auf die
anderen »Ich« nicht genug ist. Mit den anderen »Ich« lebt er zusammen in der Wirklichkeit,
in dem gesellschaftlichen Zustand, und das muss er auch. Erkennt er die anderen
selbstgleichen Wesen an, erkennt er auch die Sympathie mit ihnen sowie die Notwendigkeit,
den Zustand zu lieben und nach allgemeinerem Wohl zu streben, an. Wodurch kann er aber
diese alles erkennen? Wer hilft ihm? Ihm hilft die frei urteilende Vernunft von ihm: Sie
belehrt ihn über die Grundregeln des Rechts und der moralischen Ordnung und über einen
Begriff bzw. die Vorstellung von einem Urbild der Vollkommenheit: das Sollen125, was der
Mensch sein soll. Mit ihrer Hilfe wird dem Menschen die ganze Ordnung, die alles regierende
Weisheit, unter ihr alles im Ganzen gut sein soll, eröffnet. Hat das Sollen, das dem Mensch
die Tugend verleiht, aber eigentlich die Realität? Dafür benötigt der Mensch notwendig die
Religion. Sie ist der Ort, wo der menschliche Wunsch, daß seine rechtschaffene moralische
Handlung die Realität hat, erfüllt wird. Man ist nun überzeugt auch von der Existenz Gottes,
der alles regiert und die ganze Ordnung herrscht, jedoch ist er nicht der Grund, warum der
123
TE 89.
MÜ VIII.
125
Das Wort „das Sollen“ kommt aber erst im 111794. MÜ 54.
124
21
Mensch rechtschaffen und moralisch handelt / handeln soll. Die menschliche Handlung ist
nicht um Gottes willen, sondern um den Menschen willen, und gerade dafür wird dem
Mensch die Vernunft gegeben. Das ist aber der alles regierende Gott, der ihm die Vernunft
verleiht, und er ermöglicht den Menschen auch die Unsterblichkeit, in die sie nicht als
Einzelne, sondern als die kollektive Menschheit, die Einheit von den mehreren »Ich«,
eintreten. Hier besteht die Möglichkeit der Glückseligkeit der Menschheit als Einheit. Für den
sterblichen Mensch ist es unmöglich, diese Unsterblichkeit zu schaffen, weil er in der Tat
nicht die überirdische göttliche Ordnung erkennen kann. Von der überirdischen göttlichen
Ordnung kann man nur mithilfe der Religion vermuten, der Mensch soll und deshalb will
davon nicht wissen, denn er und die ganze Menschheit bloß zum irdische Leben bestimmt
sind, bis sie eines Tages an die Vollkommenheit erreichen werden. Was der Mensch erkennen
und deshalb machen kann, ist also, sein jetziges Leben als einen Zustand der Erziehung zu
den weiteren zukünftigen Leben, und die beiden als ein Ganzes betrachten, und darin recht
handeln. Als ein Glied, das, wenn auch ein einzelne, doch mit den anderen Gliedern die
längere Kette ausmacht, ist der Mensch bestimmt, in dem aktuellen Leben rechtschaffen und
in der Rechtschaffenheit glückselig zu sein.
Nun sieht man klar, daß Spalding deshalb nicht mit Gott, sondern mit dem Menschen
anfangen konnte, weil der Mensch die frei urteilende Vernunft hat, die ihm die Vorstellung
von einem Urbild der Vollkommenheit zeigt. Die Vernunft ist ihm zwar vom Gott gegeben,
und der Gott bleibt natürlich als der Vater und Herr der Natur, aber gerade wegen diesem von
der Vernunft abgeleiteten Urbild der Vollkommenheit kann der Mensch in seinem irdischen
Leben selbst an die Idee des Rechts sowie der Moral erreichen. Der Mensch darf demnach
selber der Herr von sich selbst auf der irdischen Welt sein. Die Neigung zur Trennung des
Menschen vom Gott scheint in der späteren Auflage vom 1794 mit der Akzentuierung an
»Moral« 126 und den neuen Stichwörtern, z.B. »Recht« 127 »Pflicht« 128 »Sittengesetz« 129 ,
verstärkt zu werden. Die „Quelle der Handlungen“ 130 , die mir die „Grundregeln <ewigen
Regeln> des Rechts und der moralischen Ordnung“131 schenkt, ist nicht mehr „Empfindungen
der Güte und der Ordnung“132, sondern das „wesentlich in der vernünftigen menschlichen
Natur gegründeten Sittengesetz“ 133 . Natürliche Folgerungen der „genauern Beobachtung
126
S. Anm.87, 90 und 116.
S. Anm.80, 87, 89 und 95.
128
S. Anm.87 und 95.
129
S. Anm.80.
130
S. Anm.82.
131
S. Anm.87.
132
S. Anm.83.
133
MÜ 55.
127
22
meines innern Bewußtseins und Gefühls“134 weist mir darauf hin, daß der „Urheber meines
ganzen Wesens“135 eine „Kraft, die das Ganze bewirkt; ein Verstand, der für das Ganze denkt;
ein Geist, der durch seine unbegreiflichen Ausflüsse allen Dingen Dasein, Dauer, Kräfte,
Nutzbarkeit und Schönheit mitteilet“ 136 ist, was mich ausmacht, wie ich jetzt bin. Dieser
Urheber bleibt mir zwar weiter durchaus „unerforschlich“137, aber Ich sehe die Dinge, die von
dem hervorgebracht sind und als hervorgebrachtes bestehen, nämlich als die „Mittel zu
Zwecken“138, zu denen der Mensch bestimmt ist. Das ist die „Empfindung von Recht und
Pflicht“139. Sie bringt mir das „Urbild der Tugend“140 und auch die „Menschenliebe“141 bei,
und die „meine Tugendliebe fließet nun mit der Liebe zu Gott zusammen, und beide werden
im Grunde eines und dasselbe“142.
Die obengenannten neuen Stichwörter entwickeln die ethische Akzentuierung. Dadurch rückt
das sittliche Moment in den Vordergrund, und das religiöse Moment tritt mit dem sittlichen
verschmelzend in den Hintergrund. Der Mensch bezeichnet die Ehre seiner vernünftigen
Natur nicht mehr als Gehorsam zu den Willen Gottes, sondern als „sich von Gott leiten zu
lassen“. Er erkennt seine Vernunft an und damit seine Rechte sowie Pflicht, die den Inhalt
seiner Rechtschaffenheit ausmachen; jetzt kann er nicht mehr in der bloßen blinden
Gehorsamkeit zufrieden sein. Das bedeutet aber keineswegs die Degradierung des Gottes, das
ist vielmehr die Erscheinung des menschlichen Bewusstseins als Mittelwesen, das zwischen
Sinnenwelt und Vernunftwelt eine gewisse tätige Funktion hat. Der Mensch bleibt also unter
die „Bedingung tätiger Selbsterfahrung“ 143 , die aus der „Beobachtung meines innern
Bewußtseins und Gefühls“ und „Erfahrung“ erfolgt 144 , weiter bewusst verpflichtet zur
Anerkennung seines „Verhältnisses gegen das höchste Wesen“145.
Woher kommt aber diese Akzentschiebung auf Recht und Pflicht in seinem „kleinen
moralischen Erbauungsbuche“ 146 ? Von einer guten Provenienz liest man in seinem am 8.
Februar 1788 datierten Brief an Kant147.
134
MÜ 49.
MÜ 69
136
MÜ 68.
137
MÜ 69.
138
Ibid.
139
Ibid.
140
MÜ 70.
141
MÜ 76.
142
MÜ 70.
143
SPARN; WALTER: Vernünftiges Christentum, in: VIERHAUS, R., Wissenschaften im Zeitalter der
Aufklärung, Göttingen 1985. 18-57. hier 39.
144
S. Anm.72.
145
MÜ 78.
146
MÜ 27.
135
23
Höchstgeschätzter Herr Profeßor
Von einem Paar Wochen ward mir aus Halle Ihre Critik der praktischen
Vernunft zugesandt, mit der beygefügten Anzeige, daß es auf Ihr Verlangen
geschehe. Dieß erinnerte mich zu meiner desto größeren Beschämung, an eine
schon vorher begangene Sünde. Ich hatte nämlich durch den Herrn Bibliothekar,
D. Biester die Metaphysik der Sitten erhalten, und sie ohne Zweifel eben so, wie
das vorgenannte Werk, Ihrer Güte zu danken. Gewiß hätte ich nun bey dem
Empfange dieser letzten Schrift noch an demselbigen Tage geschrieben, um für
beides meine verbindlichste Erkenntlichkeit zu bezeugen und wegen meiner
Unterlaßungsschuld um gütige Verzeihung zu bitten, wenn mich nicht seit dem
Ende des Decembers ein fast beständiges Uebelbefinden dazu untüchtig gemacht
hätte. Jetzt, nach einiger Erholung, thue ich hiemit beides, zwar spät, aber von
ganzem Herzen.
Ueber Ihre großen philosophischen Arbeiten, theuerster Herr Profeßor, bin ich
einer der ungültigsten Richter. Daß Maaß meiner Kräfte hat mir nie verstattet,
mich in die Tiefen der Speculation einzulaßen, und von einem so alten Kopfe, als
der meinige ist, läßt sich das noch so viel weniger erwarten. Ich muß also den
abstracten theo[r]etischen Untersuchungen nur ganz aus dem Wege gehen, weil
ich doch in dieses Feld durchaus nicht hingehöre; und wenn mich gleich das
behauptete absolute Unvermögen der speculativen Vernunft, das Daseyn von
etwas Uebersinnlichem zu beweisen, durch die Furcht beunruhiget hat, daß ich
mir damit etwas müßte aus den Händen winden laßen, das ich so lange in dem
sichersten Besitze fest zu haben glaubte und daran mir zu viel gelegen ist, als daß
ich es jemal mit Gleichgültigkeit sollte verlieren können, so muß ich es darauf
ankommen laßen, ob diese alte Art der Sicherheit von Andern beßer geschützt
werden, oder ich mich mit dem Beweise aus dem Bedürfniße, zu einer immer
völligern Beruhigung, familiarisiren kann.
Desto mehr hergegen hat das meiner Seele wohl gethan, was Sie, vortrefflicher
Mann, in Ansehung des Grundes der Moralität in ein so helles und ehrwürdiges
Licht gesetzt haben. Schon in meinen jüngern Jahren konnte ich mich mit dem
Glückseligkeitsprincipium in der Sittenlehre nie recht vereinigen. Es blieb mir
durchaus unmöglich, die Begriffe: Kluger Mensch und guter Mensch in meiner
147
Kant’s gesammelte Schriften, hrsg. v. der königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 10.
Kant’s Briefwechsel 1747-1788. Berlin u. Leipzig 21922. 527f. Vgl. SHAFTESBURY, op. cit., xvii-xviii.
24
Empfindung zusammen zu schmelzen und gerade für einerley zu halten. Eine
geraume Zeit hindurch schien der Glaube an Shaftesbury’s und Hutcheson’s
schimmerndes System vom moralischen Sinn mich hierbey zufrieden zustellen;
aber es war nur ein Einschläfern. Die Vorstellung von mehreren ursprünglichen,
unabhäng[ig]en Seelenkräften ward mir nach und nach immer schwerer zu
unterhalten; und ob ich gleich die Sache durch den allgemeinen Begriff von einer
durch
die
Natur
Schicklichkeit,
uns
Ordnung,
eingepfla[n]tzten
zu
Neigung
vereinfachen,
und
zur
Vollkommenheit,
darunter
auch
die
Ueber[ein]stimmung der Gesinnungen mit den wesentlichen Verhältnißen der
Dinge einzufaßen suchte, so konnte ich es doch damit nie völlig zur Deutlichkeit
und aufs Reine bringen. Daraus – und das ist auch der einzige Zweck dieser
meiner, sonst sehr unnützen, Gedankengeschichte – sollen Sie nur sehen,
Höchstgeschätzter Herr Profeßor, wie viel ich an meinem Theile Ihnen dafür
Dank weiß, daß Sie die Tugend in ihrer wahren, nackten und desto
ehrfurchtwürdigern Schönheit, als Recht und Gesetzmäßigkeit, auf den ihr
gebührenden höchsten Thron fest gesetzt und jeden noch so liebkosenden
Usurpator davon verdrängt haben.
Entschuldigen Sie diese so wenig sagende Weitläuftigkeit, und nehmen Sie nur
die aufrichtige Versicherung der ausgezeichnetesten Hochachtung an, mit welcher
ich bin
Ew. Wohlgebohren
Berlin am 8 Febr:
ganz ergebener Diener
1788
J. Spalding.
Nun haben wir, denke ich, einen guten Grund, den Blick auf Kant zu wenden.
3.2. Immanuel Kant
Kant beschreibt »Philosophie«148 nach dem Schulbegriff als das „System der philosophischen
Erkenntnisse oder der Vernunfterkenntnisse aus Begriffen“ und in diesem Sinne ist sie eine
„Lehre der Geschicklichkeit“, aber dagegen ist sie nach dem Weltbegriff eine „Wissenschaft
von den letzten Zwecken der menschlichen Vernunft“ und eine „Lehre der Weisheit“. Weil es
148
KANT, KrV A838-A841 und Logik A19-A25.
25
bei dem letzten Sinne um „Nützlichkeit“ geht, ist sie auch der „höchsten Maxime des
Gebrauchs unsrer Vernunft“ und sie bringt aus sich vier Fragen: 1) Was kann ich wissen? 2)
Was soll ich tun? 3) Was darf ich hoffen? und 4) Was ist der Mensch? : die erste beantwortet
die Metaphysik, die zweite die Moral, die dritte die Religion und die vierte die Anthropologie.
Weil sich die erste drei auf die vierte beziehen, könne man alle vier Fragen zur Anthropologie
rechnen. Dann scheint diese vierte Frage, die das metaphysische, moralische und religiöse
Moment erhält, keine bloße statische Definitionsfrage, sondern eine komplexe dynamische
Begriffsbestimmungsfrage, eine Frage um die „wesentlichen Zwecke der menschlichen
Vernunft“ zu sein. Wer beschäftigt sich mit solcher Frage? Kein Vernunftkünstler, sondern
Gesetzgeber, m.a.W. Philosoph. Und was ist der „Endzweck“ solcher Frage? Die „ganze
Bestimmung des Menschen“. Und die Philosophie darüber heißt „Moral“, die Philosophie der
Sitten, die nur auf „das, was da sein soll“, geht.
Um den konkreteren Inhalt der Antwort auf die Bestimmungsfrage zu verstehen, möchte ich
den Leitfaden in seinen anthropologischen Schriften149 suchen.
Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784)150 ist ein Versuch
der Geschichtsphilosophie. Die Geschichte heißt hier nicht die „bloß empirisch abgefasste
Historie“151, sondern der Prozess selbst, wo die menschliche Vernunft und freie Willen, die
uns die Natur verleiht hat, sich nach und nach entwickeln. Denn die Welt ist „großer
Schauplatz der obersten Weisheit“ 152 , wo die “Vollziehung eines verborgenen Plans der
Natur“ 153 durchgesetzt wird. Solche Geschichte ist nicht bei dem Einzelnen, sondern „im
großen“ bzw. an der „ganzen Gattung“ möglich154, weil „am Menschen (als dem einzigen
vernünftigen Geschöpf auf Erden) sollten sich diejenigen Naturanalgen, die auf den
Gebrauch seiner Vernunft abgezielt sind, nur in der Gattung, nicht aber im Individuum
vollständig entwickeln “155, wobei die Kontinuität der Reproduktion der Menschen und die
Überlieferung der Aufklärung vorausgesetzt werden muss. Darauf aufbauend scheint die
Natur
dem
Menschen
kein
einfaches
„Wohlbefinden“,
sondern
„vernünftige
Selbstschätzung“ gewollt zu haben. Vor allem, „das größte Problem für die Menschengattung,
149
Unter den „anthropologischen Schriften“ von Kant meine ich hier besonders Idee zu einer allgemeinen
Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784),
Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1786), Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig
sein, taugt aber nicht für die Praxis (1793), Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793),
Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798).
150
KANT (1999), op.cit. 3-19.
151
Ibid. 19.
152
Ibid. 18.
153
Ibid. 14.
154
Ibid. 3.
155
Ibid. 5.
26
zu dessen Auflösung die Natur ihn zwingt, ist die Erreichung einer allgemein das Recht
verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft“156. In solcher „bürgerlicher Vereinigung“157 hat der
Mensch die Freiheit unter „äußeren Gesetzten“, der nicht nur seine eigene Freiheit, sondern
auch die der anderen schützt. Die Natur zwingt also erst den Menschen, seine Vernunft zu
erkennen und sich zur bürgerlichen Gesellschaft zu führen, wo er seine Freiheit bekommt.
Man fragt aber, ob der Mensch nur durch den Zwang der Natur seinen Weg zu seinem Ziel
findet. Wie ist der Mensch eigentlich mit der Welt verbunden?
Die Antwort darauf gibt Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784)158. Die Natur
lässt wohl dem Menschen seine Vernunft erkennen, aber dann muss der Mensch sich selbst
versuchen, „aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“
159
wegzukommen. Dieser
Ausgang heißt die Aufklärung. Zu dieser Aufklärung wird besonders die Freiheit, meine
Vernunft öffentlich zu gebrauchen, erfordert. Aber in diesem bloßen Aufklärungsbegriff sieht
man nicht genau, wieso die Aufklärung uns wichtig, sogar notwendig ist. Der Schlüssel liegt
in uns, den Menschen, weil die „menschliche Natur“ ihre „ursprüngliche Bestimmung“ eben
in dem Fortschritt der Aufklärung160 hat, und weil dieser Fortschritt die „heilige Rechte der
Menschheit“ 161 ist. Die Aufklärung und ihr Fortschritt gewährleisten daher nicht nur die
„Freiheit des Geistes“, sondern gerade dadurch auch die „Freiheit zu handeln“ 162 in der
Wirklichkeit. Als die Folge des Zwangs der Natur und der eigenen Vernunft erhält der
Mensch nicht nur die Rechte, sondern auch die Handlungsfreiheit.
Kant unternimmt nun in Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1786)163 ein Beispiel
dafür mithilfe einer „heiligen Urkunde (1. Mose, Kap. II bis IV)“164. Was der „unerfahrne
Mensch“ 165 ganz am Anfang hört, ist den „Instinkt“: die „Stimme Gottes“ 166 . Bald, durch
Erfahrung, fängt die Vernunft an. Und durch die Vernunft liefert er auch die freien Willen in
seine Hand. Mit diesen Geschenken von Natur kultiviert der Mensch seinen „Instinkt zum
Geschlecht“, die „Sittsamkeit“ und die „Erwartung des Künftigen“, aber er kennt gleichzeitig
die „Üppigkeit“, die von der kultivierteren Vernunft entspringenden „Laster“ 167 und die
156
Ibid. 9.
Ibid. 9.
158
Ibid. 20-27.
159
Ibid. 20.
160
Ibid. 24.
161
Ibid. 25.
162
Ibid. 27.
163
Ibid. 28-44.
164
Ibid. 29.
165
Ibid. 31.
166
Ibid. 30.
167
Ibid. 35.
157
27
Furcht vor dem Tod168. Wegen der Vernunft, die ihm die Freiheit gegeben hat, kann er nicht
mehr ein bequemes instinktives Leben führen. Ist das aber ein Fall des Menschen oder Strafe
gegen Menschen? Nein. Das gibt dem Menschen den Anlass, endlich den „Zweck der
Natur“ 169 bzw. sein „Vorrecht“ 170 zu begreifen und sich von den anderen Tieren zu
unterscheiden. So findet sich der Mensch in der „Gleichheit mit allen vernünftigen Wesen“171
und erfährt „Entlassung“ aus dem „Mutterschoße der Natur“ in die weite Welt, wo „soviel
Sorgen, Mühe und unbekannte Übel auf ihn warten“ 172 . Der Mensch hat aber niemanden
dafür zu tadeln bis auf sich selbst, weil der gegenwärtige unbequeme Zustand sein „eigene
Wahl“173 ist. Trotz aller jetzigen Mühseligkeiten ist es schon unmöglich, nachdem er seine
Freiheit genossen hat, wieder in die „Dienstbarkeit (unter der Herrschaft des Instinkts)“174
zurückzukehren. Denn die Bestimmung seiner Gattung besteht eben in diesem „Fortschreiten
zur Vollkommenheit“175, den Streben und Beiträgen der Menschen selbst. Das „letzte Ziel der
sittlichen Bestimmung der Menschengattung“ ist also der Zustand, wo die „vollkommene
Kunst wieder Natur wird“176. Diese Natur ist selbstverständlich nicht die Natur, die früher die
Menschen geherrscht hat. Sie ist die Natur, die von den Menschen geschaffen wird und nach
der die Menschen immer streben. Der Vollzug solcher Harmonie zwischen Kultur und Natur
wird dann das letzte Ziel der Natur sein. Dieses Beispiel weist kurz und trefflich hin: was die
Vernunft zwingt, ist die Bestimmung des Menschen. Das Sollen bleibt immer das Sollen.
Aber der Träger des Sollens ist weder die Natur noch die Vernunft, sondern der Mensch.
Zwar war das die Natur, das dem Menschen seine Vernunft belehrt, aber das ist die Arbeit der
Menschen, sich nach der Vollkommenheit richtet.
Was macht aber die Erfahrung des Menschen? Ist dieses Beispiel nicht eine bloße Theorie?
Kant antwortet darauf in Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt
aber nicht für die Praxis (1793) mit Nein. Der Mensch kann nicht durch Erfahrung zu wissen
glauben, „was ein Mensch ist und was man von ihm fordern kann“177. Er ist bloß ein Schuler
der „Schule der Weisheit“ 178 , ein „durch seine eigene Vernunft gewissen Pflichten
unterworfenen Wesen“ und nichts mehr. Was der Mensch vielmehr wissen wollen soll, ist, ob
die menschliche Natur eigentlich die Anlagen hat, „immer zum Bessern“ fortzuschreiten und
168
Ibid. 31-33.
Ibid. 33.
170
Ibid. 34.
171
Ibid. 34.
172
Ibid. 34.
173
Ibid. 44.
174
Ibid. 32.
175
Ibid. 35.
176
Ibid. 38.
177
KANT (1992), 19.
178
Ibid. 19.
169
28
das „Böse jetziger und vergangener Zeiten sich in dem Guten der künftigen“ verlieren können
zu werden179. Sinkt man mal wieder in die Tiefe den Lastern, kann solcher Zustand „vielleicht
rührend und belehrend sein“. Aber, daß die Laster so in der Wirklichkeit vermehren werden,
ist nach der „Moralität eines weisen Welturhebers und Regierers“ 180 unerträglich: Das ist
wider die Natur nicht nur deshalb, weil die menschliche Natur nicht im Bösen versunken
bleiben kann und will, sondern auch deshalb, weil sie immer „Achtung für Recht und
Pflicht“181 in sich lebendig hat. Aus diesem Grund ist es anzunehmen, daß das menschliche
Geschlecht stets „im Fortrücken in Ansehung der Kultur“ steht, und dieser Fortschritt das
„Naturzweck“ des menschlichen Geschlechts ist, und daß der Prozess dieses Fortschritts nie
„abgebrochen“ sein wird, auch wenn er bisweilen „unterbrochen“ sein wird182. Die Erfahrung
findet daher seinen Platz in Recht und Pflicht und hier, in Recht und Pflicht, findet man, „was
ein Mensch ist und was man von ihm fordern kann“.
Wegen dieser Achtung für Recht und Pflicht hat man die Neigung, nicht im Bösen versunken
bleiben zu können und wollen. Diese „ursprüngliche Anlage zum Guten in der menschlichen
Natur“ zeigt Kant in der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793) als
„Elemente der Bestimmung des Menschen“ 183 je nach dem Zweck in drei Klassen,: Für die
Tierheit des Menschen als eines lebenden Wesens; Für die Menschheit des Menschen als
eines lebenden und vernünftigen Wesens; für seine Persönlichkeit als eines vernünftiges und
der Zurechnung fähigen Wesens. Für das erste Element ist Vernunft nicht erforderlich, weil es
physisch und bloß „mechanische Selbstliebe“184 ist, und deshalb hat es keine Vernunft. Das
zweite ist zwar auch physisch aber „vergleichende Selbstliebe (wozu Vernunft erfordert
wird)“185, und ist praktisch aber nicht für sich selbst. Das dritte ist die „Empfänglichkeit der
Achtung für das moralische Gesetz“, und ist praktisch für sich selbst, und hat „unbedingt
gesetzgebende Vernunft zur Wurzel“186 und auch Willkür. Sie alle gehören zur Möglichkeit
der menschlichen Natur, und daher sind sie „ursprünglich“. Der Mensch hat also potenziell
solche Elemente in sich, aus denen er auswählen kann, was für ein Wesen er werden will.
Nach seiner Vernunft „soll“ er sich für das dritte entscheiden, denn
179
Ibid. 41.
Ibid. 43.
181
Ibid. 48.
182
Ibid. 43.
183
KANT (2003), B15.
184
Ibid. B16.
185
Ibid. B17.
186
Ibid. B19.
180
29
„Der Mensch ist durch seine Vernunft bestimmt, in einer Gesellschaft mit
Menschen zu sein und in ihr sich durch Kunst und Wissenschaften zu kultivieren,
zu zivilisieren und zu moralisieren, wie groß auch sein tierischer Hang sein
mag, sich den Anreizen der Gemächlichkeit und des Wohllebens, die er
Glückseligkeit nennt, passiv zu überlassen, sondern vielmehr tätig, im Kampf
mit den Hindernissen, die ihm von der Rohigkeit seiner Natur anhängen, sich der
Menschheit würdig zu machen“187.
In dem „friedlichen Beisammensein“ mit anderen durch „wechselseitigen Zwang“ fühlen sich
die Menschen von der Natur zu einer „weltbürgerlichen Gesellschaft (cosmopolitismus)“188
bestimmt zu sein. Das ist die Schlussfolgerung, die Kant in seinem letzten Buch,
Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798), erreicht. Interessant ist, daß er hier wieder
zu dem Punkt der Notwendigkeit der menschlichen Reproduktion zurücklandet. Der Mensch
hat schon in sich die Neigung zum Guten, er muß aber auch zum Guten „erzogen“ 189
werden. Wer soll ihn erziehen? Ein Mensch soll ihn erziehen. Der Mensch vermehrt und
erzieht den Menschen. In diesem Sinne, „der Mensch ist zwar unheilig genug, aber die
Menschheit in seiner Person muß ihm heilig sein“190. „Einem vernünftigen, aber endlichen
Wesen ist nur der Progressus in Unendliche, von niederen zu den höheren Stufen der
moralischen Vollkommenheit, möglich“191.
Wenn die menschliche Natur zum höchsten Gute zu streben bestimmt ist, dann muß auch das
„Maß ihrer Erkenntnisvermögen“
192
zu diesem Zweck passend sein. Uns ist der
„Weltregierer“193, sein Dasein und seine Herrlichkeit, wohl verborgen und wir können nur
von ihnen mutmaßen. Aber dagegen ist uns das „moralische Gesetz in uns“ nicht verborgen.
Mit diesem Gesetz in uns findet man in sich „wahrhafte sinnliche, dem Gesetzt unmittelbar
geweihete Gesinnung“ und wird „das vernünftige Geschöpf des Anteils am höchsten Gute
würdig“194. Der Mensch ist daher der „Zweck an sich selbst“ 195; er ist nie ein Mittel. Und
das moralische Gesetz in ihm ist die „moralische Bestimmung“ von ihm, d.h. auch der „letzte
Zweck unseres Daseins“ 196.
187
KANT (2003), 261.
Ibid. 269f.
189
Ibid. 261.
190
KANT, KpV A155-156.
191
Ibid. A221.
192
Ibid. A263.
193
Ibid. A265-266.
194
Ibid. A265-266.
195
Ibid. A155-156.
196
KANT, KU B171.
188
30
Die Frage, was es in einem „künftigen Leben“197 wird, zeigt sich nur als einen „negativen
Begriff von unserem denkenden Wesen“198 und lässt sich nicht erklären. Das gilt auch für ein
„übersinnliches Wesen (Gott)“ 199. Auch wenn der Mensch den Gott als „Intelligenz“ denken
kann, kann er ihn keinesfalls als solches in der Sinnenwelt erkennen, weil die Anerkennung
des
Gottes
sein
Erkenntnisvermögen
200
notwendige“ „Wirkung in der Welt“
überschreitet.
Nur
als
eine
„moralisch-
kann der Mensch Gott erkennen.
----------
Kant zufolge wird der Weg des Menschen zur Vollkommenheit so bezeichnet:
1. Der Mensch hat von der Natur die Vernunft. Die Vernunft lehrt dem Menschen, was, das
sein soll, sein soll.
2. Durch die Erfahrung und freie Willen erzeugt der Mensch seine Achtung für Recht und
Pflicht. Unter Recht und Pflicht bekommt er die Freiheit und Willkür. Damit wird es für was,
das sein soll, den Weg zu was, das sein kann, eröffnet.
3. Das ist ein Fortschreiten zur Vollkommenheit. Um diesen Fortschreiten weiterzuführen, ist
die Erziehung nötig. Für die kontinuierliche Erziehung muss sich der Mensch nicht als
Einzelne, sondern in Bezug auf die Menschheit betrachten. In dieser Kontinuität steht die
Möglichkeit des Weges zur Vollkommenheit.
Die Bestimmung des Menschen soll also in dem zweiten Punkt liegen, wo er selbst was tut,
was er soll und kann, und wo weil der Weg vom Sollen zu Können sein eigenes Werk sein
soll und kann. Zur diesen Tätigkeit, „sollen deshalb können“, ist der Mensch bestimmt. M. a.
W.; der Mensch ist bestimmt, in der Gesellschaft recht und pflichtbewusst sowie tätig zu sein,
und damit sich der Menschheit würdig zu machen. Nicht zu vergessen ist die große
Bedeutung der Erziehung des Menschen. Ohne Erziehung würde die Idee der Menschheit und
sogar die der Bestimmung des Menschen selbst wie ein Kartenhaus stürzen. Die Erziehung ist
der Erfüllungsprozess des immer-besser-werden-Wollens, das das Sollen der Vernunft und
das Können der Erfahrung verbindet.
197
Ibid. B442.
Ibid. B442.
199
Ibid. B481.
200
Ibid. B482.
198
31
Das Wort „Erziehung“ erfährt im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts einen dramatischen
Wendepunkt, nämlich von dem pädagogischen zum politischen Begriff201. Hier ein Beispiel,
wo die beiden Begriffe gut gemischt sind.
„Die Endabsicht der Menschen ist durch die höchste Bildung seiner Kraft zu
einem Ganzen in Absicht seiner selbst, und der Gesellschaft zu gelangen. Wie ist
diese zu erreichen? Wie bringt der Mensch seine höhere Vollkommenheit zu
Stande? Wie entsteht die Erschlaffung seines Wesens? Durch Liebe und Achtung
wird der Mensch geadelt, durch Interesse entehrt, und nur, wenn er ins allgemeine,
mit Verzicht auf alles, selbst auf Dank, arbeitet; wenn er in sich die Menschheit,
das göttliche Bild siehet, und nichts zum Mittel erniedrigt, was die Ehre hat,
Zweck zu seyn: nur dann, dünkt mich, kann der Mensch sich einen moralischen
Zauberer dünken, wenn anders Zauberey und Moral nicht zu heterogen sind - Der
Verf. der Kreuz- u. Querzüge“ 202
Die Grundstimme ist offensichtlich die von Kant. Der Verfasser, der enge Freund Kants,
veröffentlicht anonym auch die Schriften für die „bürgerliche Verbesserung des Weiber“203
mit der Behauptung, daß die Frauen durch die Erziehung der „Bürgerinnen“204 würdig sind.
Der neue Trend richtet sich aber vielmehr konzentrierter nach der Nationalbildung und dem
Nationalbewusstsein. Niemand habe zu diesem Thema dem „heftiger und anspruchsvoller
Ausdruck gegeben“205 als Fichte. Ihm, unserem letzten Beispiel, wenden wir uns nun zu.
3.3. Johann Gottlieb Fichte
Die Bestimmung des Menschen von Fichte wurde 1800 publiziert und die Reaktion der
Gelehrtenwelt darauf sei „aufs Ganze gesehen, geradezu verheerend gewesen“206. Hier geht es
aber nicht um die Rezeption dieser Schrift, sondern um den Text selbst. Im Folgenden wird
201
Geschichtliche Grundbegriffe, Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd.1,
Stuttgart 1972, 508-551. hier besonders 512-528.
202
WYTTENBACH, JOHANN HUGO und NEVROR, JOHANN ANDREAS: Aussprüche des reinen Herzens
und der philosophirenden Vernunft über die der Menschheit wichtigsten Gegenstände. Bd.1, Leipzig 1796. 171.
203
HIPPEL, THEODOR GOTTLIEB v. (1741-1796): Über die Ehe, Berlin 11774-41793; Die bürgerliche
Verbesserung der Weiber, Berlin 1792; Nachlass über weibliche Bildung, Berlin 1801.
204
HIPPEL: Die bürgerliche Verbesserung der Weiber, 101.
205
Geschichtliche Grundbegriffe, 526.
206
FICHTE, JOHANN GOTTLIEB: Die Bestimmung des Menschen, Auf der Grundlage der Ausgabe von Fritz
Medicus, revidiert von Horst D. Brandt. Mit einer Einleitung von Hansjürgen Verweyen, Hamburg 2000. XXX.
32
versucht, den Text zusammenzufassen: er ist gegliedert mit „Vorrede“ und drei Büchern:
„Erstem Buch: Zweifel“, „Zweitem Buch: Wissen“ und „Drittem Buch: Glaube“.
Zunächst wird angekündigt, „was außer der Schule brauchbar ist von der neueren Philosophie,
sollte den Inhalt dieser Schrift ausmachen“207. In diesem Buch steht nichts, was bloß statisch
und historisch und wie in der Schule „auswendig“ gelernt werden soll, sondern das, was sich
mit dem »Ich«selbst und gerade in dem »Ich«, „wirklich“ und „in der Tat“ durch Reden mit
sich selbst entwickeln lässt. Daher ist es klar, daß das »Ich«, das im Folgenden redet,
keineswegs der Verfasser ist. Vielmehr wünscht der Verfasser, daß der Leser sich selbst als
das Ich betrachten wird und an diesem Thema nicht passive, sondern sowohl aktive als auch
wirklich teilnehmen wird.
»Ich« fange an mit der Frage: Was bin ich eigentlich? Wenn ich einen Blick auf die Natur
werfe, dann scheint es mir, daß jeder Gegenstand seine „bestimmte Anzahl von
Eigenschaften“ 208 hat und „alles, was da ist, ist durchgängig bestimmt; es ist, was es ist, und
schlechthin nichts anderes“ 209 , als ob die Bestimmungen der Gegenstände nicht von sich
heraus, sondern von etwas heraus, was von außen auf sich wirkt, ihre Daseins und
Wirklichkeiten hätten. Aber, weil diese Kraft auf die Daseins wirkt und weil ich diese Kraft
durch ihre Wirkung beschreiben kann (z. B. weil diese Kraft die Blumen blühen lässt, kann
ich
das
Blumen
beschreiben),
muss
diese
Kraft
das
„eine
solche
Wirkung
Hervorbringende“210 sein. Daraus ergibt sich, daß ein Dasein wohl ein Glied in der Kette der
strengen Naturordnung sein muss. Ein Gegenstand also wird mit dieser Kraft von außen und
dem Dasein von selbst ausgemacht. Ich bin daher selbst auch „ein Glied in dieser Kette der
strengen Naturnotwendigkeit“211 und, diese Kraft und mein Bewußtsein machen mich zu einer
bestimmten Person. Ich bin somit derjenige, der ich werden konnte, und gleichzeitig, der
notwendig ich werden musste. „Alles, was ich je bin und werde, bin ich und werde ich
schlechthin notwendig, und es ist unmöglich, daß ich etwas ander[e]s sei“212. Meine Person
bildet deshalb eine Äußerung der Naturkraft, d.h. die Menschen, aber das heißt nicht
unmittelbar, daß ich selbst eine bloß Äußerung der Naturkraft bin. Denn diese Äußerung ist
207
Ibid. 3.
Ibid. 7.
209
Ibid., 8.
210
Ibid., 13.
211
Ibid., 15.
212
Ibid., 19.
208
33
„etwas aus einer ursprünglichen und selbständigen Kraft Hervorgehendes“ 213 , namentlich
etwas, was in meinem Bewußtsein liegt. In diesem Sinne bin ich ein „selbständiges Wesen“214.
Ich bin frei in Mir, aber ich bin nicht frei in der Natur. Mein Bewußtsein findet nun in Mir
seinen festen Platz und hier, in meiner denkenden Natur, sind meine „Sein und Bewußtsein in
Vereinigung“215. Genauso wie ich mich selbst finde, finde ich den anderen Ich, also „den
Begriff von denkenden Wesen meinesgleichen“ 216 . „Ich nenne mich ich, und dich du: du
nennst dich ich, und mich du: ich liege für dich außer dir, wie du für mich außer mir liegst“217.
Gerade in diesem Zusammenhang zwischen „ich“ und „du“ entsteht das „vollendete
Bewußtsein des Universum[s]“ 218 . Hier liegt eben der Punkt des Überganges von dem
Besondern (ich bin ich selbst) zu dem Allgemeinen (ich bin außer dir). Durch meine Position
im Universum wird ferner nicht nur der Inhalt meiner Erkenntnisse bestimmt, sondern auch
mein Wille wird hier als das „unmittelbare Bewußtsein der Wirksamkeit einer unserer innern
Naturkräfte“ 219 begreiflich, aus dem ein sittlichen Gesetz sowie die Tugend ableitende
Handlung erfolgt. Zusammengefasst bin ich ein „durch das Universum bestimmte Äußerung
einer durch sich selbst bestimmten Naturkraft“220. Damit scheint es, daß mein Wissbegier bzw.
Verstand befriedigt ist.
Jetzt erhebt aber meine denkende Natur eine Frage: Ist es richtig, daß ich nicht handle,
sondern die Natur in mir handelt? Ist es nicht ein Widerspruch gegen meine denkende Natur?
„Mut gefaßt“221, merke ich mir nun, ich habe vielleicht in der oben geführten Untersuchung
geirrt und der Irrtum liegt vielleicht daran, daß Ich mit der Natur anfing und dann an meiner
Freiheit, die ich nur in mir und nicht in der Natur haben kann, ankam. Diese Freiheit ist gar
„nicht meine eigene, sondern die einer fremden Kraft außer mir“222. Ich will aber selbständig
für mich selbst Etwas bzw. selbst der „letzte Grund meiner Bestimmung“223 sein und eine
„innere eigentümliche Kraft“
224
haben. Ich sollte die Untersuchung „von dem
entgegengesetzten Ende aus wiederholen; damit ich nur einen Anfangspunkt für sie habe“225.
213
Ibid., 19f.
Ibid., 20.
215
Ibid., 21.
216
Ibid., 22.
217
Ibid., 23.
218
Ibid.
219
Ibid., 24.
220
Ibid., 25.
221
Ibid., 27.
222
Ibid., 28.
223
Ibid.
224
Ibid.
225
Ibid., 27.
214
34
Daher werde ich dieses Mal anfangen mit meiner Freiheit. Als der „eigentliche Sitz und
Mittelpunkt jener eigentümlichen Kraft des Ich“ 226 sind weder mein Körper noch meine
sinnliche Neigung, sondern mein Denken und Wollen geeignet, weil es weder um die
Äußerung der Naturkraft, noch die Beziehung darauf, geht. „Meine tätige Naturkraft soll nur
unter der Botmäßigkeit des Willens stehen“227. Ferner will ich der „Herr der Natur“ sein, und
sie soll mein „Diener“ sein228. So wird die Freiheit, die ich mir wünsche, und damit ich mich
selbst mache, zu dem, was ich sein werde. Um solche Freiheit zu ermöglichen, müsste ich
eine „doppelte Art des Seins“229 haben; das erste Sein enthält den Grund einer Bestimmung
des zweiten Sein. Ich bin „im bloßen Denken meines Zwecks“ 230 schon vorher, was ich
nachher werde; d.h. „ich bin vorher als Denkendes, was ich kraft des Denkens späterhin als
Handelndes bin“231. Dadurch mache ich mich zwar selbst und ich bin unabhängig und frei
vom Einflusse äußeren Kräften, jedoch die Frage nun ist, ob es wirklich sein kann. Denn
solche Freiheit scheint nur in „Intelligenzen“232, nicht in der Sinnenwelt, denkbar zu sein.
Während die erste Untersuchung unter der „Botmäßigkeit der Natur“ in der Sinnenwelt
bedingt ist, ist die zweite Untersuchung bedingt unter der „Botmäßigkeit der Kraft der
Zweckbegriffe und des Willens“233 in der intelligenten Welt. So stehen zwei „Systeme“234 eines der Natur und anderes der Freiheit - in meinem Denken, und doch widersprechen sie
einander. „Ich kann das letztere nicht tun, ohne mir selbst als unüberlegt und töricht zu
erscheinen; ich kann das erstere nicht, ohne mich selbst zu vernichten“ 235 . Was für einen
„unerträglichen Zustand der Ungewissheit, und der Unentschlossenheit“ 236 ! Nun frage ich
mich, welche „Macht“237 mich von diesem Zweifel retten kann.
Ich suche nach einem „Lichtschimmer“238, aber ich falle immer tiefer in das „Labyrinth“239.
Nun erscheint der „Geist“240 vor mir und stellt die Fragen. „Ich faßte Mut“241 und versuche,
sie zu beantworten. Es geht bei seiner Frage zunächst darum, woher ich weiß, daß die
226
Ibid., 28.
Ibid., 29.
228
Ibid.
229
Ibid., 30.
230
Ibid.
231
Ibid.
232
Ibid. 31.
233
Ibid.
234
Ibid. 31ff.
235
Ibid. 35.
236
Ibid.
237
Ibid.
238
Ibid. 37.
239
Ibid.
240
Ibid. 37ff.
241
Ibid. 37.
227
35
Gegenstände außer mir vorhanden sind. Der Geist gibt mir einen Tipp, daß ich bei aller
Wahrnehmung meinen eignen Zustand bloß durch mein Sehen, Hören und Fühlen etc.
wahrnehme, wobei ich „kein unmittelbares absolutes Gefühl“ vom Sehen, Hören und Fühlen
etc. habe, sondern ich fühle nur mittelbar durch einen andern Teil meines Leibes. So setzt der
Geist die „Unmittelbarkeit meines Bewußtseins“242 in Zweifel. Darauf aufbauend wird es mir
klar, daß ich keine „äußeren Sinne der Gegenstände, sondern nur besondere Bestimmungen
des Objekts des innern Sinnes, bzw. meiner Affektionen“243 sehe. Mein wirkliches Wissen ist
daher das Wissen von meinen Affektionen, d.h. ein unvollständiges Wissen, das durch ein
anderes ergänzt werden muß. Das ist „kein Bewußtsein der Dinge, sondern nur ein […]
Bewußtsein von einem […] Bewußtsein der Dinge“244. „Das Bewußtsein des Gegenstandes ist
nur ein nicht dafür erkanntes Bewußtsein meiner Erzeugung einer Vorstellung vom
Gegenstande“ 245 . Ich erzeuge also das zweite Bewußtsein durch das Bewußtsein meines
Leidens und das meines Tun; jenes ist die Empfindung und dieses das Denken. Ich bin mir
von dieser Erzeugung sicher, weil ich derjenige bin, der erzeigt. So begreife ich unmittelbar
alle mein Bewußtsein als mein Bewußtsein.
Nun aber fragt mich der Geist, was ich bin, der mein Bewußtsein erzeugt. Unter dem Begriff
„ich“ verstehe ich das „Zurückkehren des Wissens in sich selbst“ 246 , die „SubjektObjektivität“
247
, daß ich selber Subjekt und Objekt bin. Und ich betrachte diese
„Identität248“ des Subjekts und Objekts als mein Wesen als Intelligenz. Der Geist hat deshalb
Recht, wenn er sagt, „alles, was du außer dir erblickst, bist immer du selbst“249. Ich habe ja
das Bewußtsein namens „Anschauung“250 und „in allem Bewußtsein schaue ich mich selbst
an“251, wobei ich sowohl das Anschauende als auch das Angeschaute bin.
Durch die Beschäftigung mit diesen zwei Fragen ist es mir klar geworden, daß die
Empfindung selbst ein unmittelbares Bewußtsein ist und daß ich als Intelligenz mein
Empfinden anschaue und dadurch entsteht mir aus meinem Wesen her die „Erkenntnis eines
Seins“252, denn meine Empfindung verwandelt sich gerade hier in ein „Empfindbares“253. Ich
empfinde als ein praktisches Wesen und ich schaue an als einer Intelligenz; meine
242
Ibid. 38.
Ibid. 52f.
244
Ibid. 53f.
245
Ibid. 59.
246
Ibid. 63.
247
Ibid.
248
Ibid.
249
Ibid. 66f.
250
Ibid. 67.
251
Ibid. 66f.
252
Ibid. 67.
253
Ibid.
243
36
Empfindung und Anschauung wird durch messendes und ordnendes Denken verknüpft und
die Empfindung wird auf den Anschauung übertragen254. Mit Hilfe des Geistes bin ich befreit
von der Verzweiflung, und habe das „System der Freiheit gefunden, das, einheitlicher und
geschlossener als das System der Natur, wirklich ein Wissen ist, weil es ein reines Wissen
meiner selbst ist“255.
Abschließend sagt der Geist, „daß das Bewußtsein eines Dinges außer uns absolut nichts
anderes ist, als das Produkt unsers eignen Vorstellungs-Vermögens, und daß wir über das
Ding nichts anderes wissen, als was wir darüber hervorbringen“256. Alles, was ich weiß, ist
infolgedessen bloß mein Bewußtsein selbst, wodurch die ganze Sinnenwelt entsteht. Dieses
Wissen ist aber nicht Realität, weil es Wissen ist. Es kann keine Wahrheit geben, „denn es ist
in sich selbst absolut leer“257. Es scheint nun, „das Anschauen ist der Traum; „das Denken
[…] ist der Traum von jenem Träume“258. Ja, das Denken versetzt mich „in ein Jenseits der
Wirklichkeit“259 und „Ich habe eingesehen, und sehe klar ein, daß es so ist“260.
„Ich kann es nur nicht glauben“261! Wo finde ich dann meine Realität, meine Wirklichkeit?
Ich suche weiter nach einem „Organ“262, das ich dem Geist zufolge besitze und durch das ich
die Realität ergreifen kann.
Was ich suche ist, „etwas außer der bloßen Vorstellung Liegendes, das da ist, und war, und
sein wird“ 263 . „Im Innersten meiner Seele“ 264 wird es laut betönt; nicht bloßes Wissen,
sondern Tun ist meine Bestimmung. Ich höre also, daß ich „zum Handeln“ bestimmt bin und
deshalb wird mein Wert durch mein Handeln bestimmt. Diese Aussage klingt mir genau das
zu sein, was ich gerade suche. Denn, wenn ich handle, dann weiß ich unmittelbar, daß ich
handle und wie ich handle. Dieses Wissen erwerbe ich nur durch mein Handeln, und nicht
umgekehrt. Deshalb gibt mir mein Handeln etwas außer dem Wissen Liegendes, bzw. etwas
völlig Unabhängiges. Und solche Stimme klingt mir nun „ein Trieb zu absoluter,
unabhängiger Selbsttätigkeit“ 265 zu sein. Gerade in der Beziehung zwischen mir und der
254
Ibid. 73.
LASSON, GEORG: Johann Gottlieb Fichte und seine Schrift über die Bestimmung des Menschen, Berlin
1908. 32.
256
FICHTE: op.cit. 77.
257
Ibid. 85.
258
Ibid. 83f.
259
LASSON: op.cit. 34.
260
FICHTE: op.cit. 84.
261
Ibid.
262
Ibid. 85.
263
Ibid. 87.
264
Ibid.
265
Ibid. 88.
255
37
Stimme finde ich „meine Selbständigkeit als Ich“266, weil ich - der „Subjekt und Objekt in
Einem, das allgegenwärtig Bewußtseiende und Bewusste, Anschauende und Angeschaute,
Denkende und Gedachte zugleich“267 ist - mich nicht an ein Sein „anknüpfen“268 kann; d.h.
ich beruhe nicht (bloß) auf meinem Sein oder dem Denken. Ich beruhe vielmehr auf etwas
anderes; namentlich auf dem „Glauben“269. Der Glaube ist also ein „Entschluß des Willens,
das Wissen gelten zu lassen“270. Aus diesem Willen, nicht aus dem Wissen, nicht aus dem
Verstand, komme Ich und eben dadurch werde Ich Ich. Mein Denken ist also ein „absolutes
Eins“271, das aus mein Trieb und Willen besteht und zunächst durch meinen Trieb begründet
ist. Dieser Trieb versucht jedoch, mir „eine gewisse Denkart“ aufzudrängen. Und ich habe
hier Auswahl, ob ich dieser gezwungenen Denkart folge, ohne mein Sehvermögen auszuüben,
oder nicht. Wenn ich meine Blindheit überwinde und den Zwang erblicke, dann wird der
Zwang verschwinden, „sobald er gesehen wird“ 272 . „Ich hätte blind dem Zuge meiner
geistigen Natur folgen können. Ich wollte nicht Natur, sondern mein eignes Werk sein; und
ich bin es geworden, dadurch, daß ich es wollte“273. So werde ich „durchaus mein eignes
Geschöpf“274 sein. Ich habe also verstanden, daß sich mein Denken notwendig auf mein Tun
bezieht und daß mein Tun dadurch unabhängig von der natürlichen, von dem Trieb
abgeleiteten, Denkart sein kann, den Zwang von der Natur zu erblicken. Damit handle ich mit
meiner Freiheit und Bewußtsein. Um diese Freiheit zu haben, muss ich jenen Zwang
erblicken; „dies ist meine Bestimmung“ 275 . Im Folgenden untersuche ich diese meine
Bestimmung näher.
Die „Stimme in meinem Innern“276, der ich glaube, ist die „Stimme meines Gewissens“277.
„Auf sie zu hören, ihr redlich und unbefangen ohne Furcht und Klügelei zu gehorchen, dies
ist meine einzige Bestimmung, dies der ganze Zweck meines Daseins“ 278 . „Durch diese
Gebote des Gewissens allein kommt Wahrheit und Realität in meine Vorstellung“279. Um die
Realität zu erkennen, darf ich keineswegs diese Gebote bzw. meine Bestimmung verleugnen.
266
Ibid. 89.
Ibid. 88f.
268
Ibid. 89.
269
Ibid. 92.
270
Ibid. 93.
271
Ibid. 95.
272
Ibid.
273
Ibid.
274
Ibid.
275
Ibid.
276
Ibid. 97.
277
Ibid.
278
Ibid. 98.
279
Ibid.
267
38
Ein „bloßes reines Sein für mich“280 gibt es nicht: es gibt nur „Eine Beziehung auf mich“281
möglich: Meine Bestimmung ist daher „sittlich zu handeln“282 in meiner Welt - „Objekt und
Sphäre meiner Pflichten“ 283 -. Es ist mir notwendig anzunehmen, daß ich „nicht als ein
vernunftloses Ding, sondern als ein freies und selbständiges Wesen“284 überhaupt handle und
„auf eine gewisse Weise“ handeln „solle“285. Eben durch die von mir wollende Handlung bin
ich bewusst von der wirklichen Welt. „Wir handeln nicht, weil wir erkennen, sondern wir
erkennen, weil wir zu handeln bestimmt sind; die praktische Vernunft ist die Wurzel aller
Vernunft“ 286 . So werden mir „die Handelsgesetze für vernünftige Wesen“ 287 „unmittelbar
gewiß“288 und dadurch wird mir meine Welt auch gewiß. Ich kann solchen Handelsgesetze
nicht absagen, ohne daß mir die Welt und ich selbst in das „absolute Nichts“289 versinken.
Mithilfe meiner „Moralität“290 erhebe ich mich aus diesem Nichts und erhalte mich selbst bei
mir selbst.
Meine Handlung wird also durch meinen Willen, daß ich meiner inneren Stimme folge,
geführt und deshalb „soll nicht vom Zwecke abhängen: sondern ich soll schlechthin auf eine
gewisse Weise handeln, weil ich es einmal soll“291. Aus dieser meiner Handelsweise erfolgt
notwendig Zweck. Mit anderem Wort: „der unmittelbar gegebene Inhalt des Gebots bestimmt
den Zweck“292, und nicht umgekehrt. Dieses Gebot des Handelns öffnet „dem Auge meines
Geistes die Aussicht auf eine andere Welt“293. Diese andere Welt ist nicht das, was ich mit
meinem „sinnlichen“ Auge sehen kann, sondern ein Zustand, der mir eine „bessere“ Welt
anbietet294. Das Gebot des Handelns kündigt mir also die „absolute Forderung einer bessern
Welt“ 295 an. Das ist folgerichtig, denn ich kann nicht denken, daß ich als „Lastträger“ 296
bestimmt bin, obwohl es bei meiner jetzigen Lage der Fall ist. Ich frage mich nun aber, woher
diese jetzige Lage stammt, und dann fällt mir ein, daß sie sich nicht auf die Natur, sondern auf
280
Ibid. 100.
Ibid.
282
Ibid.
283
Ibid.
284
Ibid. 101.
285
Ibid. 102.
286
Ibid.
287
Ibid.
288
Ibid.
289
Ibid. 103.
290
Ibid.
291
Ibid.
292
Ibid. 104.
293
Ibid.
294
Ibid.
295
Ibid. 104f.
296
Ibid. 108
281
39
die Freiheit selbst zurückführen lässt. Das ist die Freiheit, „die die meisten und die
fürchterlichsten Unordnung unter unserm Geschlecht verursacht“ 297 . Ja, „des Menschen
grausamster Feind ist der Mensch“298! Von nun an geht es nicht mehr (nur) um mich, sondern
uns; die Menschheit. Denn es geht hier nicht mehr (nur) um meine Bestimmung, sondern die
Bestimmung unsers Geschlechts; diese Bestimmung der Menschheit ist es, sich zu einem
Einigen zu vereinigen. Wenn ich kurz einen Blick auf die Geschichte der Menschheit werfe,
dann erkenne ich die Geschichte der Bestrebung der Menschheit um den „Zweck unsers
irdischen Lebens“ 299 an. Angefangen mit der Verbreitung der Bildung und ferner durch
Gesetzgebung haben wir uns bestrebt um die „Sicherheit“300 im Staat und den „allgemeinen
Friede der Staaten“301, sowohl für uns als auch für unsere Nachbar. Ich habe zwar gesehen,
daß die Freiheit den Menschen die Unordnung verursacht, aber das hängt eigentlich von der
Gebrauchsweise der Freiheit ab. Das war also der „Gebrauch der Freiheit zum Bösen“302 und
solche Gebrauchsweise ist aufzuheben. Um das zu realisieren, müssen wir uns zum Gebrauch
der Freiheit auf das „Gute“303 wenden. Das ist der „Zweck unsers irdischen Lebens“304, der
nur „im Leben und durch das Leben“305 zu erreichen ist.
Aber was machen wir, wenn wir am Ziel erreicht sind? Ist dieses irdische Ziel, wie Menschen,
auch „begreiflich, und erreichbar, und endlich“306? Ist es endlich, dann wie wird es beenden?
Oder wird es überhaupt beenden? Wie ich schon gemerkt habe, möchte ich immer der inneren
Stimme von mir gehorchen, denn sie ist die Vernunft, die meinem Dasein zugeschrieben ist
und die Vernunft existiert um „des Daseins in der irdischen Welt“307 willen. Dieser Gehorsam
ist aber nicht den Zweck der irdischen Welt; „es muß sonach eine überirdische Welt geben,
für deren Zweck er diene“ 308 . Diese neue Welt ist nichts anderes als „dieser notwendige
Zweck selbst, den meine Vernunft dem Gebote hinzufügt“309. So stehe ich vor der „ewigen
Welt“310. Hier, in der Vernunftwelt, ist „der Wille“311 das Wirkende sowie das Lebendige; wie
297
Ibid.
Ibid.
299
Ibid. 117.
300
Ibid. 113. „Diese Gesetzt über die Sicherheit der Nachbarn ist notwendiges Gesetz jedes Staates, der kein
Räuberstaat ist“.
301
Ibid. 115.
302
Ibid. 116.
303
Ibid.
304
Ibid. 117.
305
Ibid. 118
306
Ibid.
307
Ibid.
308
Ibid. 120.
309
Ibid. 121.
310
Ibid. 122.
298
40
die Bewegung (Tat) das Wirkende in der Sinnenwelt. Der Wille ist ja das „lebendige Prinzip
der Vernunft“312, er ist selbst die Vernunft. Mein Wille umfasst die beiden Welten und ist also
die „Quelle des wahren Lebens, und der Ewigkeit“313. Ich stehe bloß im Mittelpunkt zwischen
diesen zwei Welten und bin „eine der Urkräfte für beide Welten“314, wie ein „Mittel zum
Zwecke“315. Daraus ergibt sich, daß ich einen „über dieses Leben hinausliegenden Zweck“316
haben muss. Und „der gute Wille nur kann es sein“ 317 , weil ich in diesem Leben diesen
Zweck befördern „wollen“ 318 muss, solang ich meiner Stimme gehorchen will. Daher kann
ich sagen, daß das gegenwärtige Leben an sich nicht die „ganze Absicht meines Daseins“319
ist; mein jetziges Leben ist vielmehr nur ein Anfang meines Existenz: das ist ein „Leben im
Glauben“320, das sich auf ein künftiges Leben bezieht und gerade dadurch einen Sinn hat.
„Den Sinn, mit welchem man das ewige Leben ergreift, erhält man nur dadurch, daß man das
Sinnliche und die Zwecke desselben wirklich aufgibt, und aufopfert für das Gesetz, das
lediglich unsern Willen in Anspruch nimmt, und nicht unsre Taten“321. Als Übergangspunkt
zwischen der Sinneswelt und Vernunftwelt wirke ich zwar nicht nur in der sinnlichen
Ordnung, sondern auch in der rein geistigen Ordnung, aber allein die letztere gibt mir dem
„letzten Bedeutung, Zweckmäßigkeit, und Wert“322. Wenn auch ich denke, daß ich am Ziel
erreicht bin, ist es nicht richtig: Es ist nur der Anfang. Von hier aus fängt mein „Glaube an
das Ewige“ 323 an und er führt mich zur „wahren Weisheit 324 “. Nur durch die „gründliche
Verbesserung meines Willens“ 325 , nur durch die „Verbesserung des Herzens“ 326 ist dieses
alles möglich.
Was ist aber die Folge meines Willens? Was soll sich daraus ergeben? „Offenbar ein
Gesetz“327; weil „Mein gesetzmäßiger Wille“328 nicht nur als „bloßes Wollen“ („ein innerer
Akt auf sich selbst“), sondern auch als „ein Faktum“ („Prinzip einer Reihe von geistigen
311
Ibid.
Ibid. 128.
313
Ibid. 129.
314
Ibid. 122.
315
Ibid. 126.
316
Ibid. 125.
317
Ibid. 126.
318
Ibid. 125.
319
Ibid.
320
Ibid. 126.
321
Ibid. 132.
322
Ibid. 129.
323
Ibid. 132.
324
Ibid. 134.
325
Ibid.
326
Ibid.
327
Ibid.
328
Ibid.
312
41
Folgen“) gesehen werden kann329. Als ein bloßes Wollen hängt also mein Wille von dem
Naturgesetz in der Sinnenwelt ab, während er als ein Faktum von einem „übersinnlichen
Gesetz in der übersinnlichen Welt“330 abhängt. In dem letzten Fall ist das Gesetz nicht mehr
rein mein Wille, sondern „ein Wille“ 331 . Durch diesen Wille werde ich sowohl mit mir
verbunden auch als mit allen anderen, denn er wirkt zwischen mir und meiner inneren Stimme
und ermöglicht, mich zu erheben in die andere Welt oder in ein „System von mehreren
einzelnen Willen ist: jene Vereinigung, und unmittelbare Wechselwirkung mehrerer
selbständiger und unabhängiger Willen miteinander“332. Hier handle ich selbst und finde die
„absolute Freiheit des Willens“ bzw. das „Prinzip“ meines Lebens 333. Nun ist es mir klar
geworden, daß mein Endzweck meines Daseins nicht in der Sinnenwelt seinen Platz findet.
Meine Bestimmung geht „über Zeit, und Raum, und alles Sinnliche hinaus“334. „Aller Tod in
der Natur ist Geburt, und gerade im Streben erscheint sichtbar die Erhöhung des Lebens. […]
nicht der Tod tötet, sondern das lebendigere Leben, welches, hinter dem alten verborgen,
beginnt, und sich entwickelt“ 335 . Aus diesem Grund begreife ich nicht meine ganze
vollständige Bestimmung. Ich kann das nur nicht, weil es mir zum Teil verborgen und ich will
das alles auch nicht wissen, weil es nur dem „Vater der Geister“336 ganz sichtbar ist. „Ich soll
darüber hinaus nichts wissen wollen“ 337 und ich soll mich vielmehr als „Mittel für die
Pflicht“338 betrachten und ferner streben danach, meine Pflicht zu erfüllen. In diesem Sinne
bin ich ein „Werkzeug des Vernunftzwecks“ 339 und ich bin bestimmt, sittlich zu handeln.
Dieses zu wollen ist nichts, was mir gezwungen ist, sondern mein „Wollen“ und ist deshalb
mein wahres Leben und mein wahres Wesen.
---------Diese ungeheuer komplexe, doch nicht ganz „merkwürdige“ 340 Schrift zeigt die Fichtesche
Antwort auf die Bestimmungsfrage etwa so:
329
Ibid. 136f.
Ibid. 137.
331
Ibid.
332
Ibid. 139.
333
Ibid. 140.
334
Ibid. 148.
335
Ibid. 158
336
Ibid. 150.
337
Ibid.
338
Ibid. 151.
339
Ibid. 153.
340
LASSON, op. cit., 8.
330
42
Das »Ich« hat erst Zweifel an dem Handlungssubjekt. Er will wissen, wer bei ihm eigentlich
handelt. Dieser Zweifel liegt also an der Unklarheit seines eigenen Bewusstseins. Ihm ist
nicht klar, wer das Bewußtsein erzeugt. Seiner Vernunft nach, soll derjenige, der das
Bewußtsein erzeugt, derjenige, der Subjekt und zugleich Objekt ist, sein. Um das »Ich« als
solches die Wirklichkeit zu erhalten, will er von dem bloßen Wissen ausspringen in das Tun,
in die praktische Handlung. Das »Ich« soll aus diesem Grund durch sein Wollen bzw. seine
Vernunft zum Handeln bestimmt sein. Das heißt auch, das »Ich« will sein Wollen immer
verbessern bis zum Zweck, der Erreichung an die bessere Welt. Dieser Verbesserungswunsch
gibt seinem Wollen die Zweckmäßigkeit und das Gesetz. Das, was das »Ich« für die
Verbesserung begreifen kann, ist zwar nur ein Teil von seiner ganzen Bestimmung. Die ganze
Bestimmung, besonders die in der überirdischen Welt, ist und bleibt ihm verbogen. Aber das
»Ich« will und deshalb soll die ganze nicht wissen, es ist ihm genug, sein Wollen (= Trieb) zu
erfüllen: d.h. seine Pflicht in seinem Verbesserungsprozess zu erkennen und erfüllen. Das
»Ich« zeigt sich auf diese Weise als Mittel für die Pflicht. Die Bestimmung des Menschen ist
daher, sittlich zu handeln, um die Pflicht zu erfüllen.
Bei Fichte bezieht sich die Bestimmungsfrage ganz auf das Bewußtsein. Durch die Suche
nach dem Bewußtsein geht das »Ich« immer tiefer und tiefer in sich selbst hinein. Das »Ich«
tut so, weil er es will. Nachdem das »Ich« sich, in der Tiefe von sich selbst, als die SubjektObjektivität entdeckt bzw. bestätigt hat, hat er das Bewußtsein ganz bei sich, damit er sogar
seine Bestimmung bestimmen kann, wie er will. Denn sein Wollen zeigt sich nun als seine
Vernunft. Er bestimmt sich dadurch, daß er sich bestimmen will.
Das »Ich« hat hier den sehr starken Trieb, „Wollen“. Das »Ich« behauptet sein Wollen von
Anfang an und hört nie auf. Z. B. das »Ich« will „selbständig für mich selbst Etwas bzw.
selbst der „letzte Grund meiner Bestimmung“341 sein und eine „innere eigentümliche Kraft“342
haben. Das Ich will überdies der „Herr der Natur“ sein, und will, daß die natur sein
„Diener“ sein343 soll. Als Folge dieses Wollens, oder, um dieses Wollen wirklich werden zu
lassen, sucht das »Ich« einen praktischen Ort. Dieser Ort ist das Tun, wo zwischen Sinneswelt
und Vernunftwelt liegt. Hier findet das »Ich« nicht nur sein Bewußtsein, sondern auch seine
Bestimmung. Sein Trieb zum Besserwerden setzt dem »Ich« seinen Zweck als Erreichung der
besseren Welt. Weder durch die Natur noch den Zweck wird das »Ich« bestimmt. Er ist
vielmehr durch sein Wollen zum Tun bestimmt. Die Stimme des Ich klingt wohl fast
341
FICHTE, op. cit., 28.
Ibid.
343
Ibid. 29.
342
43
egoistisch, aber das ist nicht so. Denn das Ich344 ist so bewusst von den anderen und wovon,
daß er mit ihnen gut umgehen will und soll. Nicht nur das Wollen von dem Ich, sondern auch
ein Wollen der Menschheit kann er deshalb auch denken.
Das »Ich« findet auf dem Weg zu seinem Bewußtsein seine Bestimmung und dadurch seine
Moralität, Recht und Pflicht. Er ist jetzt als sein „eignes Werk“345 ein absolutes Ein. Dieses
alles wird von seinem Wollen, „in dem Glauben“ nennt das das »Ich«, erzeugt. In dem
Glauben ist das »Ich« von dem Zweifel an seinem Bewußtsein befreit. Es ist aber nicht zu
verkennen, daß das »Ich« eigentlich sich selbst gerettet hat. Das ist die Arbeit, die ein
absolutes Ein bzw. ein absolutes Ich mit seiner absoluten Freiheit schafft.
4. Der Wandel der Bestimmungsfrage
Bei Spalding heißt die Bestimmung des Menschen, in den jetzigen Leben rechtschaffen und in
dieser Rechtschaffenheit glückselig zu sein. Das heißt auch „seine Vernunft auszuüben“,
„vernünftig zu sein“. Denn die vom Gott gegebene Vernunft belehrt uns das Recht, die Moral
und die Tugend. Diese Grundelemente werden erst durch den Mensch, als unsere Empfindung
von Recht und Pflicht, die Wirklichkeit erhalten und damit erkennen, was wir tun sollen. In
diesem Sinne ist der Mensch ein Mittel zwischen der Sinnenwelt und der Vernunftwelt.
Unsere Bestimmung in der überirdischen Welt können wir nie ganz erkennen, nur durch
Religion vermuten. Auf dem Rat der Stimme des Gottes und der Vernunft wird dem
Menschen sein Sollen bewusst. Durch das Bewußtsein seines Sollens hat er die Hoffnung des
Besserwerdens.
Dagegen ist der Mensch bei Kant kein Mittel, sondern Zweck. Der Mensch ist das Wesen,
immer aktiv nach der Vollkommenheit strebt. Mithilfe der Vernunft erkennt er sein Recht und
Pflicht in der Gesellschaft an und damit bekommt er nicht nur die Idee, was er tun soll,
sondern auch die Idee, was er tun kann. Mit diesem selbst erkannten Können strebt er weiter
nach der Vollkommenheit. So ist er bestimmt, in der Gesellschaft recht und pflichtbewusst
344
Nur von dieser Schrift ist das „Ich“ schwer zu ergreifen. Einen Anhalt dafür könnte man in seiner anderen
Schrift finden. Das Ich, z. B. Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, Hamburg 1979
(1796/97). 1-16, heißt ein freies Wesen, das seine eigene Wirksamkeit hat und gleichzeitig die Beschränkung
dieser Wirksamkeit durch das Objekt bzw. die andere vernünftige freie Wesen erkennt, und gerade in solcher
intersubjektiven Beziehung mit anderen ist diesem Ich sein eigenes Bewusstsein als ein vernünftiges Wesen mit
freien Willen zugeschrieben. Das Ich ist deshalb nicht nur das Sein eines Wesens, sondern auch ein Ort, wo ein
vernünftiges Wesen, trotz der Beschränkung durch das andere Wesen, mit seinen eigenen freie Wirksamkeit als
ein Handelndes ausüben kann.
345
FICHTE, op. cit., 95.
44
sowie tätig zu sein. Genauso wesentlich für die Selbstverbesserung ist die Erziehung. Auf
dem Rat der Stimme der Vernunft wird dem Menschen sein Sollen bewusst als sein Können.
Durch sein eigenes Können hat er die Möglichkeit des Besserwerdens.
Fichte betrachtet den Mensch zwar als Mittel, aber nicht ganz in dem Sinne Spaldings. Fichte
zufolge ist der Mensch ein Mittel zur Pflicht. Wohl verbindet der sich als Mittelpunkt die
Sinnenwelt und Vernunftwelt, jedoch zeigt er sich vielmehr als Ort, wo er seine Pflicht
erkennt und durch die Pflichterfüllung sich zu seinem Bewußtsein führt, damit wird sein
Wollen auch mit dem eigenen Verbesserungswunsch erfüllt. Der Mensch ist bei ihm deshalb
ein Mittel zu seinem Bewußtsein und als solches ist er bestimmt, sittlich zu handeln, erstens
in Bezug auf sich selbst und dann zweitens in Bezug auf den anderen. Auf dem Rat der
Stimme des absoluten Ich wird dem Menschen sein Wollen bewusst als Sollen. Durch das
Bewußtsein seines Sollens hat er den weiteren Trieb des Besserwerdens.
Was diese drei Antworten auf die Bestimmungsfrage andeuten, ist nicht unbedingt der
Bedeutungswandel der Bestimmungsfrage, vom Theologischen ins Anthropologische bzw. ins
philosophisch Anthropologische, durch die neue „Akzentsetzung“ 346 auf den Menschen,
sondern der Bedeutungswandel des Menschenbildes, des »Ich«-bildes. Der ideale Mensch,
oder die Form des Menschen, als gesellschaftliches moralisches sittliches pflichtbewusstes
Wesen ist bei den drei Philosophen im Grund genommen gemein. Der Inhalt des Menschen,
des »Ich«, ist aber verschieden. Das »Ich« bei Spalding war das als Mittel, bei Kant als
Zweck, und bei Fichte als eben »Ich«. Ich sehe vielmehr die Annährungsbewegung des »Ich«
zu dem »Ich«. Hier besteht keine Befreiung, die man beispielsweise bei einem
„anthropologischen Wende“, einer Entmythologisierung, einer Enttheologisierung, erwarten
würde, sondern die strenge Vertiefung in das Selbst. Dabei scheint mir, die
Bestimmungsfrage selbst von seiner bisherigen Rolle, den Menschen zu bestimmen, durch
den neuen Selbstbestimmungstrieb des »Ich« befreit zu sein. Von der Hoffnung über
Bewußtsein seiner Möglichkeit erreicht der Mensch nun den Trieb, selbst zu bestimmen. So
eröffnet die Bestimmungsfrage den neuen Anfang als Selbstbestimmungsfrage eröffnet, und
das Tor, das vor der Selbstbestimmungsfrage geöffnet wurde, scheint mir, noch offen zu sein.
346
D’ALESSANDRO, op. cit., 21.
45
5. Schluss - Die Bedeutung der Bestimmungsfrage -
Wie der frühere Überblick zeigt, können die drei Philosophen, die wir gerade gesehen haben,
selbstverständlich nicht einfältig als drei Pole zur Bestimmungsfrage im 18. Jahrhundert
gezeichnet werden. So habe ich auch nicht beabsichtigt. Ich bin ganz der Meinung, der „Weg
der Geistesgeschichte schreitet nicht von Gipfel zu Gipfel fort“ 347 . Ich hoffte aber, einen
groben Umriss dieses Themas durch diese drei Philosophen beschreiben zu können, und
wählte sie aus, teils wegen ihrer bekannten Relevanz, teils aber wegen meines Spürsinnes.
Mich frage ich nun, nach meiner Untersuchung, ob ich meinem bloßen Spürsinn durch
meinen Selbstbestimmungstrieb, oder durch die Bequemlichkeit, vertrauen gewollt habe. Die
Neigung zur Bequemlichkeit durch selbstverschuldete Unmündigkeit zu überwinden war ja
das Motto der Aufklärung. Aber „es ist so bequem, unmündig zu sein“
348
. Die
Bestimmungsfrage zeigte uns nicht nur unsere „Bestimmung“, sondern auch die Erneuerung
der Frage zur Selbstbeobachtung und die neue Aufgabe der Selbstbestimmung. Für diese
offene
Aufgabe
sind,
neben
dem
berühmten
Kantschen
Wahlspruch,
die
soziale/philosophische Fragen der deutschen Aufklärung überhaupt nicht veraltet, sondern
vielmehr immer noch lebendig wie würdig. Einen Rückblick auf ihre Fragestellung zu werfen,
trägt für uns zur Entdeckung der Genese unserer Fragen bei. Hoffentlich trägt meine Arbeit
auch dazu bei.
347
348
CASSIRER, op. cit., 380.
Kant (1999), 20.
46
6. Literatur
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Cambridge, in: Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance,
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Selbständigkeitserklärung
Hiermit versichere ich, daß ich die Arbeit selbständig angefertigt, außer den im Quellen- und
Literaturverzeichnis sowie in den Anmerkungen genannten Hilfsmitteln keine weiteren
benutzt und alle Stellen der Arbeit, die anderen Werken dem Wortlaut oder dem Sinn nach
entnommen sind, unter Angabe der Quellen als Entlehnung kenntlich gemacht habe.
Seiko Tasaki
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