„Was der Patient am dringensten braucht, ist eine Orientierung in seinem Umfeld” Bei Augenerkrankungen, die zum Verlust der Sehfähigkeit führen, können Implantate ein Minimum an visueller Orientierung geben. Seit etwa zehn Jahren wird an diesen Implantaten gearbeitet. In Deutschland entwickelt das Epiret-Konsortium eine auf der Netzhaut aufliegende Prothese. Erste Erfahrungen legt das Subret-Konsortium mit einer Prothese vor, die unter die Netzhaut implantiert wird. Elektronik lässt das Auge wieder sehen R etina-Implantate sollen bei den zwei wichtigsten Augendegenerationskrankheiten helfen: der unheilbaren Retinitis Pigmentosa, die erblich bedingt ist, und der im Alter sehr häufig auftretenden Makula-Degeneration. An Letzterer leiden allein in Deutschland etwa zwei Millionen Menschen. Die Makula ist ein wenige Quadratmillimeter großes Areal der Netzhaut, auch gelber Fleck genannt. Hier liegt der Punkt des schärfsten Sehens. Durch die Ablagerung von fettähnlichen Stoffen degeneriert die Makula, das heißt, Sinneszellen werden zerstört. Der Prozess beginnt meist nach dem 70. Lebensjahr und schreitet langsam voran. Anfangs glaubt der Betroffene, mehr Licht zum Lesen zu brauchen, oder meint, die Kontraste werden schwächer. Später verschwindet die Farbwahrnehmung, und zum Schluss erkennt er selbst Personen kaum noch. Ziel des Implantats ist es, die degenerierten Elektrische Stimulation Fotorezeptoren mittels ersetzt Fotorezeptoren elektrischer Stimulation zu ersetzen. Dazu werden Arrays von Mikro-Fotodioden zwischen der Netzhaut und dem Pigment-Epithel der Retina implantiert. Bisherige Ergebnisse zeigen, dass ein stark eingeschränkter, aber geordneter Seheindruck entsteht. Langzeituntersuchungen an Tiermodellen belegen, dass das Implantat über einen längeren Zeitraum hinweg funktionsfähig ist. Anfangs glaubte man, ein unabhängiges Implantat anstelle des degenerierten Pigment-Epithels unter die Netzhaut implantieren zu können. Dieses sollte die Netzhaut direkt mit der elektrischen Energie aus den winzigen Fotodioden stimulieren. Früh zeigte 48 MED engineering 2010 Bildquelle: K.H. Knapp W 2010 Carl Hanser Verlag, Mbnchen www.med-eng.de Nicht zur Verwendung in Intranet- und Internet-Angeboten sowie elektronischen Verteilern. Medizinelektronik Retina-Implantat Bildquelle: Retina Implant AG Aufbau des unter der Retina eingebrachten Implantats sich jedoch, dass dies nur in einem extrem hellen Umfeld funktioniert. Daher hat man einen Weg verfolgt, bei dem die Mikro-Fotoelektroden des heutigen aktiven Implantats (Bild 1) zunächst als Helligkeitsmesser und im zweiten Schritt als Schalter dienen, der die nötige Energie zur Stimulation der Netzhaut entsprechend der W 2010 Carl Hanser Verlag, Mbnchen www.med-eng.de Nicht zur Verwendung in Intranet- und Internet-Angeboten sowie elektronischen Verteilern. 1 MED engineering 2010 49 Umfeldhelligkeit zuführt. Diese Energie wird dem Implantat induktiv als Hochfrequenz zugeführt. Eine solche induktive Stromversorgung (Bild 2b) wird schon bei Zehnprozentiges Sehvermögen a) b) 2 Bausteine des Implantats: a) links das fertige Produkt. Am unteren Ende des Flachbahnleiters ist der eigentliche Chip. Das weiße Keramikgehäuse beinhaltet die unter die Haut implantierte Empfängerspule für die Stromversorgung. b) Deren Empfangselektronik zeigt das Bild in der Mitte. c) Ganz rechts ist die Stromversorgung zu sehen Besser als der Blindenhund Cochlea-Implantaten genutzt, mit denen taube Menschen unter bestimmten Voraussetzungen ein begrenztes Hörvermögen wiedererlangen können. Zwei biologische Bedingungen sind die Voraussetzung dafür, dass ein Retina-Implantat funktioniert. Erstens muss die Optik des Auges mit der Linse funktionsfähig sein und ein (auf dem Kopf stehendes) Abbild des Umfelds auf der Netzhaut erzeugen. Zweitens muss die Netzhaut die vom Retina-Implantat erzeugten elektrischen Impulse aufnehmen und an das Gehirn weiterleiten können. Das vom Auge auf die Retina projizierte Bild wird dort 3 Der implantierte CMOS-Chip: Ganz rechts sind 4 x 4 Stimulationspunkte zu erkennen, mit denen sich gezielt Wahrnehmungskontrollen durchführen lassen in ein Muster aus elektronischen Reizströmen umgewandelt. Erzeugt wird dieses Muster von einem winzigen Fotodioden-Array. Die gemessenen Helligkeiten werden in kleine elektrische Ströme gewandelt, verstärkt und über stimulierende Elektroden an die darüberliegende Netzhaut abgegeben. Dabei nutzt man die Erkenntnis, dass ein noch funktionsfähiges Sehnetzwerk selbst bei einer degenerierten Netzhaut die Reizströme weiterleiten und verarbeiten kann. Natürlich kann man nicht die 100 Millionen Fotorezeptoren des menschlichen Auges ersetzen – aber diese Technologie steht ja auch erst am Anfang. Wichtigster aktiver Bestandteil des etwa 20 mm langen Implantats ist das 3 x 3 mm kleine Mikro-Fotodioden-Array (MPDA, Bild 3). Es besteht aus 1500 winzigen Fotodioden, die jeweils ein Pixelfeld bilden. Zu jedem Pixel gehören noch ein Differenzverstär- 24-Stunden-EKG ker, eine Anpassungsschaltung so- für das Auge wie die Elektrode, die die Verbindung zu den Nervenzellen in der Netzhaut herstellt. Die einzelnen Fotodioden sind rund 70 mm voneinander entfernt. Dr. Walter-G. Wrobel (Titelbild), Vorstandsvorsitzender bei Retina Implant, erläutert: »Was der erblindete Patient am dringendsten braucht, ist eine Orientierung in seinem Umfeld. Ideal wäre, wenn er auch noch Gesichter erkennen könnte. Dazu braucht man ein Gesichtsfeld von 10° bis 12° Öffnung. Die 37 x 37 Pixel auf dem Chipimplantat decken ein solches Gesichtsfeld ab«. Untersuchungen haben gezeigt, dass die Auflösung durch die räumliche Stromverteilung begrenzt wird. Die 70 x 70 mm Fläche pro Pixel reichen nach heutigen Erkenntnissen aus, um ein zehnprozentiges Sehvermögen wiederherzustellen (Bild 4). An der Spitze des eigentlichen Arrays (Bild 3 ganz rechts) ist ein Feld mit 16 Einzelelektroden, das sich für spezielle Untersuchungen mit einem externen Stimulator ansprechen lässt. Dieses Feld ist über Leiterbahnen aus Gold auf einem Träger aus Polyimid mit dem eigentlichen Array verbunden. An dieses Elektrodenfeld können von außen kontrollierte Reizströme angelegt werden, um die 50 MED engineering 2010 Bildquelle: Bild 3, Universitäts-Augenklinik Tübingen W 2010 Carl Hanser Verlag, Mbnchen www.med-eng.de Nicht zur Verwendung in Intranet- und Internet-Angeboten sowie elektronischen Verteilern. Medizinelektronik Retina-Implantat Bildquelle: Bild 2 a-c, Retina Implant AG Pulsformen je nach Sinneseindruck zu optimieren. Jede Fotodiode regt mit einem definierten Strom die darüberliegende Netzhautschicht an. Definiert heißt, die örtliche Helligkeit der jeweiligen Fotodiode wird mit der mittleren Helligkeit des gesamten W 2010 Carl Hanser Verlag, Mbnchen www.med-eng.de Nicht zur Verwendung in Intranet- und Internet-Angeboten sowie elektronischen Verteilern. c) MED engineering 2010 51 MPDA verglichen, um so zu einem möglichst guten Pixelkontrast zu kommen. Für die Verbindung zur externen Stromversorgung liegt unter der Haut vom Auge zum Ohr ein Leitbahnstreifen. Die Versorgungsenergie wird hinter dem Ohr durch eine Induktionsspule zugeführt. Sie nimmt von außen eine geringe Hochfrequenzspannung auf, die für die Stromversorgung des Chips in Gleichstrom gewandelt wird. Batterien (Bild 2c ) mit einer Betriebsdauer von bis zu 100 Stunden stellen die Stromversorgung von außen sicher. Die Versorgung des CMOS-Chips erfordert zwischen 2 und 5 mW. Diese wenigen Milliwatt erwärmen das Auge um 0,5 bis 1 °C, was vernachlässigt werden kann. Erste Implantierungen wurden bereits am Menschen vorgenommen, um die Reproduzierbarkeit der Ergebnisse zu Kontakt verifizieren. Das RetinaImplantat kostet in etwa so Retina Implant AG viel wie ein Cochlea-Im72770 Reutlingen Tel. +49 (0)7121 364030 plantat, also gut 25 000 Fax +49 (0)7121 36403-115 Euro. Dazu kommen die www.retina-implant.de Operationskosten (zirka 7000 Euro). Wenn man beSENSIMED AG CH-1003 Lausanne denkt, dass ein ausgebildeTel. +41 (0)21 311-9025 ter Blindenhund etwa das Fax +41 (0)21 911-9027 Gleiche kostet, ist das Imwww.sensimed.ch plantat überlegen, zu spät ist, da ein Glaukom keine Schmerzen verursacht. Vorbeugend sollte man regelmäßig den Innendruck des Auges beim Augenarzt kontrollieren lassen. Doch dies ist nur eine Momentaufnahme. Der Augeninnendruck schwankt im Laufe des Tages. Daher wäre eine 24-Stunden-Überwachung bei gefährdeten Patienten wünschenswert, so eine Art „24-Stunden-EKG fürs Auge“. Darauf hat sich die Firma SENSIMED mit dem ›Triggerfish‹ spezialisiert. Der Biomediziner Dr. Mateo Leonardi hat einen MEMS (Mikro-elektromechanischer Schaltkreis) entwickelt, der in eine weiche Ein- 4 Bildauflösung in der Simulation: ganz links das Originalbild, rechts davon die durch den CMOS-Sensor erzeugte Grundstruktur, die je nach eingestellter mittlerer Helligkeitskorrektur zu den beiden folgenden Bildwiedergaben führt W 2010 Carl Hanser Verlag, Mbnchen Raum zu orientieren. Das Interesse an Retina-Implantaten ist groß. Weltweit kommen jedes Jahr etwa 75 000 neue Patienten als potenzielle Nutzer infrage. Marktuntersuchungen lassen ein weltweites Implantatvolumen von mehr als 1 Milliarde US-Dollar erwarten. @ MD110005 www.med-eng.de Eine andere Augenerkrankung und die zweithäufigste Ursache für das Erblinden weltweit beruht auf einem überhöhten Augeninnendruck. Etwa vier Prozent der Weltbevölkerung über 40 Jahre leiden daran. Ein Glaukom (Grüner Star) entsteht, wenn die im Auge befindliche Kammerflüssigkeit – Lebensbasis für die Augenlinse – nicht mehr korrekt abfließen kann und so den Innendruck erhöht. Das schädigt den Sehnerv und führt zur langsamen Erblindung. Der Betroffene nimmt das erst wahr, wenn es 5 Die leitenden Ringe über der Linse sind Teile der aktiven Schaltung des Triggerfish-MEMS: Ein Ring ist eine kreisförmige Antenne. Ein anderer Ring ist der eigentliche Sensor, der den Augeninnendruck durch Veränderungen der Krümmung durch den wechselnden Innendruck des Auges erfasst malkontaktlinse eingebettet ist (Bild 5). Dieser Minichip arbeitet wie ein Dehnungssensor. Integriert ist außerdem ein Mikrosender, der die erfassten Daten via Bluetooth sendet. Für die Datenübertragung an den Speicher ist eine kleine Einweg-Antenne rund um das Auge aufgeklebt. Die geringe Betriebsenergie des Chips wird aus der Gegenrichtung vom tragbaren, batteriebetriebenen Speicher per Funk an den Chip übertragen. Das Messprinzip funktioniert gut, weil eine minimale Erhöhung des Innendrucks um 1 mm Hg eine gut überwachbare Krümmungsänderung der weichen Linse von 3 mm hervorruft. Die speziellen Softlinsen gibt es in verschiedenen Größen, da eine sichere Datenerfassung sonst nicht möglich ist. Wenn nötig kann die 24-Stunden-Messung einige Tage in Folge durchgeführt werden – es muss dabei täglich eine neue Linse eingesetzt werden. Dem Vernehmen nach steht SENSIMED mit STMicroelectronics in Kontakt, um die MEMSChips in größeren Stückzahlen herzustellen. Bisher sind diese 24-Stunden-Messungen nur in spezifischen Zentren in Europa oder in Augenkliniken möglich. So zeigt die Mikroelektronik neue, kostensparende Wege für die Medizintechnik auf. phil Knurrhahn ist freier Wissenschaftsjournalist. [email protected] 52 MED engineering 2010 Bildquelle: Bild 4, Dr. Stett, NMI; Bild 5, SENSIMED denn es bietet immerhin minimales Sehen. Der derzeit beste erreichbare Sehwinkel beträgt etwa 0,25 ° pro Pixel. Das entspricht in etwa der visuell wahrgenommenen Dicke eines Bleistifts bei ausgestrecktem Arm. Das gesamte erreichbare Gesichtsfeld wird durch biologische und technische Grenzen limitiert: Es liegt bei etwa 12 °, was ausreicht, um sich in einem www.med-eng.de Nicht zur Verwendung in Intranet- und Internet-Angeboten sowie elektronischen Verteilern. Medizinelektronik MEMS