SERIE PÄDIATRIE Rasche Frühförderung und emotionale Zuwendung MEHRFACHBEHINDERUNG: Diese Kinder schätzen andere Qualitäten an ihrem Leben als wir. Eine hochwertige Betreuung verbessert ihre Chancen auf ein weniger eingeschränktes Leben. BEHINDERUNG IST EIN ANDERSSEIN als die anderen, eine Einschränkung im Aktionsradius, den wir als Norm nehmen. Oft ist es sehr schwierig, mit behinderten Kindern zu kommunizieren, und scheinbar bleibt uns nur die Pflege und Versorgung des Körpers ohne Zugang zur Person. Meine berufliche Tätigkeit mit mehrfachbehinderten Kindern im Schwedenstift hat mir aber deutlich gezeigt, dass diese Kinder ganz andere Qualitäten an ihrem Leben schätzen. STÖRUNGEN DER MOTORISCHEN, KOGNITIVEN UND SPRACHLICHEN FÄHIGKEITEN Ursachen für eine Mehrfachbehinderung im Kindesalter sind angeborene Defekte des Gehirns, Sauerstoffmangel vor oder bei der Geburt und Hirnblutungen, z.B. als Komplikation bei Frühgeburt, Unfälle mit Schädel-Hirn-Trauma oder schwere Meningitiden. Mehrfachbehinderte Kinder sind nicht nur in ihren motorischen Fähigkeiten eingeschränkt, sondern haben meist auch Störungen der kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten sowie Anfallsleiden. Die sensomotorischen Ausfälle finden ihren Ausdruck in abnormen Haltungsund Bewegungsmustern bei gleichzeitig abnormem Muskeltonus. Aufgrund der Defizite auf verschiedenen Ebenen bezieht die Förderung mehrfachbehinderter Kinder viele verschiedene Fächer unter Koordination des Kinderarztes mit ein. Beim ersten Kontakt mit dem Kinderarzt werden Probleme erfasst und Lösungsmöglichkeiten überlegt. Denn meist kommen die Kinder nach wochenlangen Spitalsaufenthalten nach Hause und die Eltern sind zunächst mit den Anforderungen des täglichen Lebens überfordert. 36 ÄRZTE KRONE 24/06 Lebensfreude ist unabhängig vom Grad der Behinderung RASCHE FRÜHFÖRDERUNG WICHTIG Wichtig ist die rasche Einleitung einer Frühförderung. So können z.B. durch intensives krankengymnastisches Training bei zerebral geschädigten Kindern die Bewegungsstörungen gemildert werden. Das Gehirn besitzt im Säuglingsalter eine gewisse Kompensationsmöglichkeit und wächst im 1. Lebensjahr noch sehr stark. Eine Förderung sollte deshalb unbedingt in den ersten beiden Lebensjahren beginnen. Förderangebote wie die Sehfrühförderung, Ergotherapie, Physiotherapie oder Logopädie werden bedürfnisgerecht eingesetzt. So stimuliert die Sehfrühförderung die Sehreste und sollte unbedingt auch bei Kindern eingeleitet werden, die als blind gelten, da Sehreste oft nicht erfassbar sind. Vor allem schnelle, kontinuierliche Bewegungen werden von den Kindern erfasst. Sie sehen besonders gerne Autorennen oder Schiabfahrten im Fernsehen. Ziel von Physiotherapie und Ergotherapie ist es, die einzelnen Bedürfnisse und Fähigkeiten des Kindes zu erkennen und individuell zu fördern. Eine logopädische Betreuung von Anfang an dient vor allem dem Training des richtigen Schluckens und ist damit Voraussetzung für das Erlernen von Essen und Sprechen. Bei mehrfachbehinderten Kindern ist der Energieverbrauch aufgrund der Spastizität meist sehr hoch. Die begleitenden Schluckstörungen machen eine ausreichende orale Alimentation schwierig. WANN ERNÄHRUNGSSONDEN SINNVOLL SIND Manche Eltern sind den ganzen Tag fast ausschließlich damit beschäftigt, ihr behindertes Kind zu füttern. In diesen Fällen rate ich dringend zum Setzen einer Ernährungssonde (PEG-Sonde). Durch diesen kleinen operativen Eingriff wird das tägliche Leben deutlich erleichtert und es bleibt noch Zeit für andere Aktivitäten. Oft lehnen Eltern die Ernährungssonde ab, da sie meinen, ihr Kind würde das Essen dann vollkommen verlernen. Dies ist ein Irrtum. Unsere Kinder im Heim essen trotz Sonde sehr gerne. Essen wird allerdings nicht erzwungen. Meistens benötigen die Kinder wegen epileptischer Anfälle eine gute medikamentöse Einstellung und Therapieüberwachung durch einen Neuropädiater, um nicht durch das Anfallsgeschehen in der Entwicklung gehemmt zu sein. B l u t b i l d, Leberwerte und Medikamentenspiegel müssen regelmäßig überprüft werden. Weiters ist eine regelmäßige orthopädische Kontrolle sehr wichtig. Durch Muskelkontraktionen kann es zu schmerzhaften Fehlstellungen von Gelenken kommen. Diese können einerseits durch Physiotherapie aufgedehnt, andererseits durch Anpassung spezieller Schienen in ihrer Entwicklung vermindert werden. Vor allem eine passende Sitzversorgung mit angepasster Sitzschale ist von wesentlicher Bedeutung. Falls mit konservativer Therapie kein Erfolg mehr erzielt werden kann, gibt es operative Möglichkeiten oder auch die Möglichkeit, Botox gezielt in die kontrakten Muskeln zu injizieren und dadurch einer Fehlstellung entgegenzuwirken. EMOTIONALE ZUWENDUNG NICHT VERGESSEN Bei all den medizinischen Maßnahmen sollte jedoch nie die körperliche und emotionale Zuwendung außer Acht gelassen werden, die auch Auswirkungen auf die geistige Entwicklung des Kindes hat. Selbst ein gesunder Säugling kann sich bei mangelnder Zuwendung nicht entsprechend seinen Fähigkeiten entfalten und wird ein Entwicklungsdefizit aufweisen. Falls das Kind jedoch nicht immer zu Hause gepflegt werden kann, gibt es verschie- dene Institutionen, die bestmögliche Betreuung bieten. Ich selbst arbeite im Schwedenstift, einem Heim für schwerstbehinderte Kinder und Jugendliche. Unser geschultes Pflegepersonal und Spezialtherapeuten der Ergotherapie, Physiotherapie, Logopädie und Sehfrühförderung sind in liebevoller Weise um ihre Schützlinge bemüht. Unser Vorteil: der sonderpädagogische Kindergarten und eine basale Klasse im Haus. Hier gibt es, je n a c h freien Plätzen, auch die Möglichkeit einer Urlaubsunterbringung. Denn nicht nur das behinderte Kind braucht Zuwendung, sondern auch die betreuenden Eltern müssen sich von dem teilweise sehr aufwendigen Alltag erholen können. NEOBRAIN Besserer Schutz des Gehirns bei Frühgeborenen In der EU kommen jährlich 60.000 „Frühchen“ mir einer Hirnschädigung zur Welt. Im Rahmen des EU-Projektes NEOBRAIN (Neonatal Estimation Of Brain Damage Risk And Identification of Neuroprotectants) gehen Wissenschaftler der Univ.-Klinik für Kinder- und Jugendheilkunde Innsbruck gemeinsam mit der Innsbrucker BIOCRATES Life Sciences GmbH und 12 weiteren internationalen Partnern nun den Fragen zur Frühdiagnostik und medikamentösen Therapie nach. Ziele des dreijährigen Forschungsprojektes sind: ● Identifizierung von Biomarkern für frühe Hirnschäden in Tierversuchen und die Erstellung eines Marker-Profils bei Kindern, die vor der 28.Woche geboren wurden. ● Entwicklung von Strategien zum Schutz des Gehirns. ● Knüpfung eines internationelen Forschungsnetzwerks. ● Entwicklung von Medikamenten. AN MUTTER-KIND-PASSUNTERSUCHUNGEN ERINNERN Oft ist jedoch im Säuglingsalter noch nicht klar, ob überhaupt oder in welchem Ausmaß eine Behinderung besteht. Hier ist der regelmäßige Kontakt mit dem Kinderarzt sehr wichtig, um Entwicklungsverzögerungen rasch zu erkennen und an entwicklungsdiagnostischen Zentren weiter abklären zu lassen. Allen Eltern sollte daher eindringlich dazu geraten werden, unbedingt die Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen durchführen zu lassen. Dr. ANDREA SCHWAIGER, Fachärztin für Kinder- und Jugendheilkunde in Hinterbrühl, Niederösterreich und Heimärztin im Schwedenstift in Perchtoldsdorf, einem Heim für schwerstbehinderte Kinder und Jugendliche, Mitglied der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde, [email protected] Forschungsleiter in Innsbruck ist Dr. Matthias Keller. Die Innsbrucker Universitätsklinik sichert sich mit NEOBRAIN die bestmögliche Behandlung von perinatalen Hirnschäden. Sie wird als eines der ersten Mitglieder der Projektgruppe über eine Datenbank für frühgeborene Patienten verfügen und kann auch in der medizinischen Aus- und Weiterbildung punkten, weil führende Forscherinnen und Forscher ihr Wissen direkt weitergeben werden. ♦ ÄRZTE KRONE 24/06 37